IM KREUZFEUER

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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Vorige Story

P R O L O G

Seit der Wiederkehr der mächtigen Hexe Anthelia ist einiges in Bewegung geraten. Die Tochter des dunklen Feuers, eine schwarzmagisch geschaffene Kreatur in Gestalt einer verführerisch schönen Frau, hat sich den Wissenschaftler Richard Andrews unterworfen und ihn mit ihrer Magie zu einem tödlichen Gehilfen gemacht, der für sie die Lebenskraft junger Frauen raubt. Weil er dabei Verbrecherbanden in die Quere kommt, jagen diese ihn und töten ihn beinahe. Der US-Amerikanische Zaubereiminister hält die Aktivitäten der dunklen Kreatur unter dem Teppich, zum Unwillen der im Laveau-Institut zur Abwehr dunkler Kräfte arbeitenden Jane Porter, die sehr gut mit der Familie des unterjochten Mannes bekannt ist.

Um der nichtmagischen Welt zu zeigen, daß es sich bei dem fieberhaft gejagten Massenmörder nicht um Richard Andrews gehandelt hat wird ein wandlungsfähiger Mitarbeiter des Zaubereiministers, Ronin Monkhouse, dazu beauftragt, Richard Andrews' Rolle zu spielen und sich von der Bundespolizei FBI als Richard Andrews finden, verhören und verstecken zu lassen.

Anthelias junger Kundschafter in der sogenannten Muggelwelt, Cecil Wellington, hilft der Hexenführerin bei diversen Abwehrmaßnahmen. Ebenso schafft Anthelia es, den diebischen Kobold Picklock unter ihre Kontrolle zu bringen, der für sie Spion und Materialbeschaffer sein soll.

Im Mai versucht der böse Magier Voldemort, über eine Hinterlassenschaft Slytherins, Kontrolle über die bezauberten Gemälde in Hogwarts und darüber hinaus zu bekommen. Doch dieses Vorhaben scheitert. Der von seinen Anhängern dunkler Lord genannte Schwarzmagier ist gezwungen, seine Deckung zu verlassen und der Welt zu zeigen, daß er tatsächlich wiedergekommen ist, weil er Kenntnis von einer Prophezeiung haben will, die sein und Harry Potters Schicksal betrifft. Auch dieses Vorhaben scheitert. Doch Voldemort bekommt Hilfe aus dem Ausland. Der syrische Zauberer Ismael Alcara, Meister der Golemkunde, bietet ihm seine Dienste an und erhält den Auftrag, bis zum Julibeginn einhundert Golems zu schaffen und nach England einzuschmuggeln.

In Amerika sucht und findet Voldemort mögliche Anhänger in vier Zauberern, die wie er eine Erstarkung der reinblütigen Zaubererschaft wollen. Anthelia bekommt Wind davon und nimmt sich diese Leute vor. Als der dunkle Lord dann höchstpersönlich im Sumpfgebiet der Everglades in Florida erscheint, kommt es zur ersten Begegnung zwischen der Führerin der Spinnenschwestern und dem dunklen Lord. In einem heftigen Duell bringen sich beide an den Rand der Niederlage. Weil Anthelia einen magischen Gürtel besitzt, in dem die Abwehrkraft gegen 22 verschiedene Todesarten steckt, unter anderem noch fünf Widerstandszauber gegen den tödlichen Fluch, und weil sie in weiser Voraussicht ihren magischen Avatar vorher schon beschworen hat, geht sie aus dem Duell als knappe Siegerin hervor. Weil sie denkt, daß Voldemort nicht getötet werden kann und auch nicht will, daß Harry Potter dabei stirbt, schenkt sie dem dunklen Magier das Leben und läßt ihn gedemütigt vom Schlachtfeld abziehen. Daß sie damit weitere unschuldige Leben gefährdet weiß sie. Doch sie hat bislang keine Möglichkeit, den Zauberer zu vernichten, der seinen ersten Tod überstehen konnte.

Die FBI-Agentin Maria Montes, die mit Richard Andrews und seiner Gebieterin aneinandergerät, wird auf Befehl von Zaubereiminister Pole gedächtnismodifiziert. Denn er will nicht, daß mehr als die Leute, zu denen Elysius Davidson und Jane Porter vom Laveau-Institut, der muggelstämmige Zauberer Zachary Marchand, der beim FBI arbeitet und er gehören, von der in den Staaten umgehenden Tochter des dunklen Feuers wissen. Bei der Konferenz, wo über die Umtriebe des gefährlichen Massenmörders in der Maske Andrews' diskutiert wird, trifft sie den Kobold Picklock, der das Treffen auskundschaftet und erregt damit auch das Interesse Anthelias, weil die Verbindung zwischen ihr und Picklock abrupt zerstört wird. Ohne es zu ahnen gerät Maria Montes ins Fadenkreuz der Spinnenschwestern.

Voldemort gewinnt durch Alcara eine schlagkräftige Armee von Golems, die er einsetzt, um hunderte von Muggeln anzugreifen. Sowohl die nichtmagische als auch die magische Welt werden von seinen Terroranschlägen erschüttert. Weil es dem Herrn der Todesser nicht gelingt, die ranghöchste Sabberhexe Großbritanniens auf seine Seite zu ziehen, läßt er ihren Heimatwald niederbrennen. Sie kann jedoch entkommen und zwingt den Zauberer Tim Abrahams, den sie als Jungen von sich abhängig gemacht hatte, sie und ihre Verwandten nach Amerika ausfliegen zu lassen, wo Anthelia mit ihr Kontakt aufnimmt.

Maria Montes freut sich auf ihren Urlaub vom anstrengenden und gefährlichen Beruf. Mit ihrem Ehemann Enrique will sie in das Land ihrer Vorfahren reisen.

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"Du hast noch einen Tag zeit, Mädchen, um dich zu entscheiden, ob du in meine Firma eintrittst oder in der Tiefkühltruhe des Leichenschauhauses liegen willst", drohte der dunkelhaarige Mann im schnieken Anzug Paulina Morientes an. Die gerade zweiundzwanzig Jahre alte Frau mit dem wasserstoffblonden Harschopf, die in diesem verrufenen Viertel Sevillas als Gatita, das Kätzchen auftrat, sah den gefährlich wirkenden Mann sehr beklommen an. Das war Sancho Gomez, die rechte Hand von Ramon Sánchez, dem Wolf von Andalusien. Was dieser Mann sagte war bitterernst. Wenn Sánchez sie und bestimmt noch andere Berufskolleginnen für seine Lasterhäuser haben wollte, dann ging der nicht zimperlich vor. Doch sie wußte, daß sie niemals für dieses Scheusal arbeiten würde. Denn sie hatte schon jemanden, für den sie arbeitete und welcher zum einen sehr fürsorglich und zum anderen sehr großzügig zu den Mädchen war.

"Señor Gomez, ich weiß, daß Sie immer machen, was Sie sagen. Aber ich bleibe hier. Wenn Ihr Patron meint, mich für seinen Laden haben zu können, soll der sich mit meinem Patron unterhalten. Der schwarze Engel ist Ihnen doch sicherlich bekannt, oder?"

"Das hat deine kleine Freundin Laura auch behauptet, als Señor Sánchez sie engagieren wollte und ihm so blöd kam. Was mit der dann passiert ist weißt du doch noch, oder?" Fragte Gomez zurück

"Natürlich weiß ich das", gab Paulina eingeschüchtert zurück. Lauras Körper war genau vor zwei Wochen in einem Müllcontainer in der Nähe der Plaza de España aufgefunden worden, vom Hals bis zum Unterleib aufgeschlitzt und kahlgeschoren. Auch sie war vorher von Sancho Gomez besucht worden, hatte sie Paulina und anderen Straßenmädchen erzählt.

"Also morgen um zehn Uhr abends bist du beim goldenen Turm oder wirst um elf Uhr eingelagert. Kapiert?"

"Das bringen Sie nicht, Señor. Der schwarze Engel wird Sie dafür massakrieren. Sie wissen doch, was mit Ortega und seinen Leuten passiert ist."

<>"Ortega? Komm, Mädchen, der ist mit seinem Privatjet abgeschmiert. Pilotenfehler. Das hat mit deinem schwarzen Engel nix zu tun gehabt", erwiderte Sancho überlegen grinsend. Paulina sah ihn nur verständnislos an und schwieg.

"Also, Mädelchen, morgen um zehn beim Turm oder um elf in einem Kühlfach", wiederholte Gomez seine Drohung und machte auf dem Absatz kehrt, um mit überlegenem Schritt davonzustolzieren. Paulina fröstelte es trotz der auch zu dieser Abendstunde immer noch hohen Temperaturen hier. Was brachte es ihr, wenn Sánchez und Gomez dafür bezahlen würden, wenn sie ihr was taten, wenn sie selbst tot war? Doch andererseits wußte sie auch, daß sie den schwarzen Engel nicht hintergehen durfte. So oder so bangte das wasserstoffblonde Straßenmädchen um sein Leben.

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Maria Montes schlug die Augen auf, als der einzelne Klingelton erklang, daß der Pilot die Anschnallzeichen wieder eingeschaltet hatte. Sie fühlte, daß die große Maschine bereits in den Sinkflug übergegangen war und wohl in wenigen Minuten in Madrid landen würde, der ersten Station ihrer Spanienrundreise, die ihr Mann Enrique und sie in einem Mietwagen machen wollten. Die mexikanischstämmige Beamtin aus den Staaten rieb sich den Schlaf aus den Augen und blickte aus dem ovalen Fenster der Boeing 747 hinaus, gerade als die Stewardess auf Englisch und Spanisch verkündete, man würde bald landen. Enrique schnarchte unter seiner Decke neben ihr beinahe lauter als das Summen der Triebwerke und Klimaanlage zusammen. Erst als eine der Flugbegleiterinnen an ihrer Sitzreihe vorbeikam und die Schlafdecke sachte zupfte, wachte Marias Mann auf.

"Hups, sind wir schon gelandet?" Fragte er und gähnte.

"Nein, Señor, wir landen erst in zehn Minuten. Aber der Kapitän hat die Anschnallzeichen eingeschaltet", antwortete die dunkelhaarige Flugbegleiterin mit freundlichem Lächeln.

"Achso, ich bin schon angeschnallt", grummelte Enrique und schlug die Decke zurück, sodaß sie sehen konnte, daß er den Sicherheitsgurt bereits umgelegt hatte. Die Stewardess nickte ihm zu und fragte, ob er die Decke noch benötige. Er schüttelte den Kopf und gab ihr die Wolldecke in den Farben der Iberia-Fluglinie zurück.

"Danke für den Erste-Klasse-Flug, Cariño. Ich konnte wunderbar schlafen", wisperte seine Frau ihm zu. Er strahlte sie an und erwiderte:

"Du und ich haben das Jahr heftig geschuftet, und du hast sogar dein Leben riskiert. das war selbstverständlich, daß du mit allem Komfort reisen solltest, Puri." Er liebte es, den Gönner zu geben, wenn er dafür von seiner Frau bewundert und geliebt wurde und nebenbei noch großen Abstand vom Alltag bekommen konnte. Er hatte es sehr begrüßt, daß seine Frau nach der Sache mit dem Purpurhaus in Muddy Banks so rasch wieder genesen war und sie vier Wochen Sonderurlaub erhalten hatte, nachdem sie diesen Richard Andrews gefunden hatten, dessen Doppelgänger diese scheußlichen Verbrechen begangen hatte.

Maria dachte indes daran, welches Jahr hinter ihr lag. Sie hatte erfahren müssen, daß sie die Fähigkeit besaß, Wesen aus einer magischen Welt zu sehen, war von diesen angegriffen worden und hatte dieses und jenes aus der für sie bis dahin geheimen Zaubererwelt mitbekommen, ja auch, daß ihr Kollege in New Orleans selbst ein Zauberer war, der im FBI darauf achtete, daß aus der geheimgehaltenen Zaubererwelt nichts in der nichtmagischen Welt bekannt wurde. Sie fragte sich zwar immer noch, was der kleine Mann mit den spitzen Ohren gewollt hatte, der die Konferenz im Hauptquartier auskundschaften wollte. Doch jetzt war Urlaub, und sie würden nach zehn Jahren einmal wieder in Spanien sein, um die Stätten zu besuchen, von denen aus die Besiedlung Amerikas begonnen hatte. Außerdem wollten sie die Naturansichten Spaniens besuchen, um dort, weit ab vom Getümmel amerikanischer Städte, einige ruhige Stunden des Friedens zu verbringen. Doch ob das möglich war, wenn Enrique sein Mobiltelefon mitgenommen hatte, wußte sie nicht.

Die Boeing landete um 20.54 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit auf dem internationalen Flughafen Barajas. Durch einen Fluggasttunnel wechselten Maria und Enrique Montes in die Ankunftshalle über. Hier zeigten sie dem Beamten der Guardia Civil, der für die Zoll- und Einreiseformalitäten zuständig war, ihre Pässe und gaben an, daß sie für vier Wochen in Spanien Urlaub machen wollten. Danach hieß es geschlagene dreißig Minuten am Kofferkarussell warten, bis sie ihre zwei Koffer und die Reisetasche hatten, die sie beim Antritt des Überseeflugs in New York aufgegeben hatten. Danach suchten sie die Filiale einer Autovermietung im Terminal 1 des Flughafens auf und handelten einen Mietvertrag für einen blaumetallikfarbenen VW Passat aus, der vollgetankt auf einem der von der Agentur belegten Parkplätze außerhalb des Terminals wartete.

"So, der Karte nach sind das von hier fünfzehn Kilometer in südwestlicher Richtung bis zum Stadzentrum", sagte Enrique, als er das Gepäck verstaut hatte und hinter dem Steuer platzgenommen hatte. Maria saß neben ihm und betrachtete noch einmal die Karte, die im Handschuhfach bereitgelegen hatte. Sie nickte und sagte ihrem Mann, welche Strecke er nehmen mußte. Auch ein Stadtplan Madrids lag im Handschuhfach, so daß sie den Standort des hiesigen Hilton-Hotels ohne größere Probleme fanden. Enrique beschwerte sich zwar zwischendurch über die ihm undiszipliniert wirkende Fahrweise der Madrilenischen Autofahrer und Fußgänger, schaffte es aber, den Wagen unverbeult an sein Ziel zu bringen. Nachdem sie ihr Gepäck untergestellt hatten aßen sie im Hotelrestaurant zu Abend, bevor sie einen nächtlichen Stadtbummel durch die spanische Hauptstadt machten. Maria freute sich, endlich Abstand von allen Schrecken und Heftigkeiten der letzten Monate finden zu können. Übermorgen, am 22. Juli, würden sie losfahren, um das Land ihrer europäischen Vorfahren zu erkunden.

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Ramon Sánchez freute sich. Zwei der fünf von ihm umworbenen Mädchen hatten sich bereiterklärt, von morgen an für ihn zu arbeiten. Der aufstrebende Schwerverbrecher, der sich bisher im Drogenschmuggel von Afrika nach Europa betätigt hatte, wollte das einträgliche Geschäft mit Prostitution und Waffenhandel ausbauen. Dazu hatte er sich einige verschwiegene Häuser zugelegt, die angeblich Mietshäuser waren und Platz für mindestens hundert leichte Mädchen boten. Sein Problem war nur, daß er gerade mal halb so viele Dirnen in seinen Diensten hatte und sich gegen die Lokalgrößen der verschiedenen Städte durchsetzen mußte, die erst sehr ungehalten reagierten, bis er Sancho und andere Vollstrecker losgeschickt hatte, denen eindeutig klarzumachen, daß er es sehr ernst meinte. Tja, einige hatten das erst begriffen, als sie schon tot waren. Andere hatten versucht, ihn vom Markt zu drängen und waren von seinen Leibwächtern "in notwehr" erschossen worden. Als er jedoch hörte, da gebe es jemanden, der sich "Der schwarze Engel" nannte und wohl viele Mädchen in Sevillas und Granadas Sündenvierteln unter Vertrag hatte, wollte er diesen auch noch dazu bringen, ihn als neue Größe der Region anzuerkennen.

"Was ist mit dem Kätzchen, Sancho?"

"Ich habe der Kleinen deine Botschaft überbracht, Don Ramon. Mal sehen, ob die heute abend beim Turm steht. Wenn nicht ...", sagte Sancho mit bösartigem Grinsen.

"Das will ich schwer hoffen, Sancho", gab Ramon gefährlich klingend zurück. "Ich habe nicht vor, jetzt aufzugeben, nur weil dieser mysteriöse Kerl ..." das marineblaue Telefon auf seinem Schreibtisch trällerte. Er griff zum Hörer und meldete sich ganz ruhig mit seinem Namen. Immerhin unterhielt er auch eine Firma für landwirtschaftliche Geräte und hatte in dieser Eigenschaft einen guten Draht zum Landwirtschaftsministerium und verschiedenen Bauernverbänden und Dorfvorstehern geknüpft.

"Eh, Don Ramon, eben hat mein Kumpel bei der Gerichtsmedizin durchdringen lassen, daß diese Laura neben der Schmetterlingstätowierung noch eine nur im ultravioletten Licht sichtbare Tätowierung am linken Bein hat, so'n komisches Symbol, das wie eine Hieroglyphe oder so'ne germanische Rune aussehen könnte. Die vermuten, deren Patron hat ihr das reinmachen lassen, um sie zu kennzeichnen", sagte eine aufgeregte Stimme am anderen Ende der Leitung. Ramon grinste.

"Ach was, Felipe. Seit wann kennzeichnen irgendwelche Leute ihre Mädchen mit schwer sichtbar zu machenden Symbolen?"

"Das weiß ich nicht, Don Ramon", sagte Felipe am anderen Ende der Leitung. "Ich hörte nur davon, daß sie wohl die erste mit so'ner Tätowierung sei. Vielleicht kannst du ja was damit anfangen."

"Kriege raus, wie dieses Zeichen aussieht oder faxe es mir irgendwie zu, am besten zusammen mit anderen unverständlichen Symbolen. Dann lasse ich meinen Computerexperten das rauskriegen!" sagte Ramon Sánchez. Felipe bestätigte den Befehl und legte wieder auf.

"Tja, könnte interessant sein, wer der das verpasst hat", sagte der machthungrige Verbrecher zu seinem Gehilfen Sancho. Dieser grinste feist und meinte:

"Wenn das wirklich dieser schwarze Engel gewesen ist, der die so markiert hat, hat der das nix genützt."

"Hmm, aber wenn die wirklich für den gelaufen ist, könnten wir Probleme kriegen. Du weißt doch, was mit Bernardo Ruiz passiert ist, der wohl auch eine von dessen Mädchen angegrabscht hat."

"Stimmt, den haben die doch an der Bergstraße nach Granada mit nach hinten gedrehtem Kopf gefunden. Aber wenn diese Paulina für den liefe, hätten wir schon längst einen Anruf gekriegt, daß wir die bloß in Ruhe lassen sollen", sagte Sancho Gomez.

"Du wirst es heute abend herausfinden. Wenn der Bus am goldenen Turm steht, und die Kleine steigt da nicht ein, nimm sie vom Markt!"

"Aber sicher doch, Patron", erwiderte Sancho mit sadistischer Vorfreude.

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Der zweistrahlige Privatjet von Senator Wellington ging sacht auf der Landebahn des Flughafens Orly nieder. Henriette Wellington schien sichtlich mit Energie aufgeladen zu werden, kaum daß sie französischen Boden unter den Füßen hatte.

"Ich hoffe, deine Eltern haben sich nicht verspätet", sagte Senator Wellington zu seiner Frau. Diese erwiderte schelmisch:

"En Français, s'il vous Plaît!"

"Erst wenn deine Eltern uns gefunden haben, Henriette", knurrte Wellington. Zwar konnte er die Sprache Voltaires und De Gaulles gut genug, um nicht zu verhungern, sah es aber nicht ein, mit seiner Frau Französisch zu sprechen, wenn sie unter sich waren. Der gemeinsame Sohn Cecil hatte weniger Probleme damit. Erstens hatte seine Mutter ihm ihre Sprache von Kindesbeinen an beigebracht. Zweitens hatte sie mit ihm auf dem Flug hierher noch einmal geübt. Aber er schwieg, bis seine Großeltern mütterlicherseits sie außerhalb des Landebereiches begrüßten. Dann zeigte er seinem Vater, warum das Wort Muttersprache so berechtigt war.

"Es ist schade, daß ihr nicht länger bei uns wohnen wollt, Henriette", sagte Monsieur Lacrois in der hiesigen Landessprache zu seiner Tochter. Senator Wellington verzog dabei das Gesicht und erwiederte schnell:

"Robert, nichts für Ungut. Aber euer Land ist so groß, daß wir unmöglich alles an einem Tag besuchen können. Deshalb können wir nur zwei Tage bleiben." Jetzt verzog Robert Lacrois das Gesicht, weil sein Schwiegersohn geantwortet hatte und nicht seine tochter.

"Wir bleiben nur die zwei Tage, weil wir Cecil die Loire, die Provence und die Normandie zeigen wollen, Papa", sagte Mrs. Wellington noch. Das schien ihrem Vater zu genügen. Ihre Mutter fragte Cecil, wie gut er denn die französische Sprache könne und machte mit ihm ein wenig Konversation über die Schule, den Alltag und seine Hobbies. Zwar verstand Großmutter Sophie nicht, was Cecil an der Sängerin Madonna oder Rockbands wie AC/DC faszinierte, nahm es aber als gutes Gesprächsthema hin, um seine Französischfertigkeiten zu testen. Als sie dann im Haus der Lacroises waren, traf Cecil seinen Onkel Jean-Claude, der mit seinem Sohn Albert zu Besuch war, um die Gäste aus Amerika zu begrüßen. Zusammen zogen sie dann los, um sich die Weltstadt an der Seine anzusehen. Dabei fiel Cecil ab und an jemand auf, der irgendwie beiläufig mit einem Fotoapparat auf sie einschwenkte, doch sehr schnell ein anderes Motiv suchte. Cecils Vater sprach mit Großvater Robert über die derzeitige europäische Politik und forschte so dezent wie möglich nach, wie der laufende Präsidentschaftswahlkampf in den USA bei den Franzosen ankam. Dann sah Cecil noch eine Frau in graublauem Rock und azurblauer Bluse, die dichtes, dunkles Haar besaß und die Wellingtons kurz musterte. Er wollte seine Eltern auf die beiden aufmerksam machen, als das Mobiltelefon des Senators klingelte.

"Mußte das sein, daß du das jetzt die ganze Zeit anhast, Cherie?" Fragte Mrs. Wellington ihren Mann auf Französisch. Dieser warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu und holte das kleine Funktelefon aus der Jackettasche.

"Ja, Wellington hier! ... Das habe ich Ihnen aber gesagt, daß ich mit meiner Familie in Urlaub bin. Wo genau müssen Sie nicht wissen. .. Das kriegt Dole auch ohne mich hin, Audrey. Bitten Sie Graham Jordan darum, die Tour zu organisieren! ... Wie? ... Ach, verstehe", sagte der Senator, verabschiedete sich und legte wieder auf.

"Na, hat Clintons Herausforderer ein Problem?" Fragte Cecil gehässig grinsend.

"Der hat kein Problem, sondern sein Wahlkampftourmanager. Aber das habe ich gerade geklärt", blaffte Reginald Wellington. "Dieser unmoralische Bastard, der gerade im weißen Haus sitzt, wird dieses Jahr abgewählt, ob mit oder ohne meine Hilfe."

"Oh, dann sind wir ja beruhigt", sagte Cecil ironisch. Daß er nicht die selbe politische Auffassung wie sein Vater hatte war dem ja bekannt, und ob der sich immer wieder darüber beschwerte oder nicht, für Cecil blieben die Republikaner alte, spießige, heuchlerische und elitäre Banditen, die nur die Oberschicht bedienen wollten, mit Hilfe der Mittel- und Unterschicht. Doch hier waren sie in Frankreich und weit genug weg von dem Wahlkampftheater.

"Lass dich nicht wieder auf sinnlose Wortwechsel ein!" Wisperte eine weiblich klingende Stimme in seinem Kopf. Cecil erstarrte für einen winzigen Moment. Hatte dieses Hexenweib ihn auch hier noch unter Kontrolle? "Ja, es hat", kam eine direkte Antwort auf diese gedachte Frage.

"Was ist, Cecil? Schlechtes Gewissen, weil du deinem Dad mal wieder widersprochen hast?" Fragte der Senator mit ungehaltener Betonung.

"Neh, mir ist nur gerade eingefallen, daß die hier in Europa mit unserem Wahlkampf nichts zu tun haben, solange der nicht vorbei ist. Warum soll ich mich da vor Grandpa Robert und Gran Sophie mit dir drüber zanken, wer eigentlich ins weiße Haus gehört oder nicht."

"Clinton ist doch cool", sagte Albert lässig. "Auf jeden Fall besser als die anderen Typen, die da so rumlaufen."

"Junger Mann, pass auf was du sagst!" Drohte der Senator. Doch Albert grinste nur.

"Kannst du das auch akzentfrei sagen, Onkel Reginald?" Stichelte er.

"Außerdem verbitte ich mir jede Drohung gegen meinen Sohn, Reginald", mischte sich Onkel Jean-Claude ein. "In deinem Land bist du bestimmt wichtig und einflußreich. Aber hier bist du nur Gast, Reginald."

Cecil genoss es, daß sich die männlichen Verwandten nun gegenseitig in wilden Wortgefechten ergingen, während Cecils Mutter ihren Sohn hinter sich herzog und zum Invalidendom führte, wo das Grab von Kaiser Napoleon angelegt war.

"Tja, wenn der England erobert hätte wäre Louisiana doch französisch geblieben", gab Cecil grinsend einen Kommentar ab, als er über die Geschichte des einst so gefürchteten Feldherrn informiert wurde.

"England ist nicht Amerika", sagte Mrs. Wellington. Nun, wo sich ihr Mann doch in eine politische Auseinandersetzung hatte verwickeln lassen und sie mit ihrem Sohn alleine war, genoss sie es, mit ihm ihre Muttersprache zu sprechen. Dann sah Cecil den Mann wieder, der eben mit der Kamera herumgefuhrwerkt hatte. Er stand zwanzig Meter von ihnen entfernt und richtete das Objektiv gerade auf die Grabstätte, als er einen merkwürdig entrückten Gesichtsausdruck bekam, die Kamera sinken ließ und sich schnell zurückzog. Cecils Mutter sah es auch und fragte, was das jetzt war.

"Hmm, der Typ ist mir eben schon aufgefallen, Mom. Wahrscheinlich wollte der uns fotografieren. Dann fiel ihm was wichtigeres ein.

"Du hast recht, den Herrn kenne ich. Das war Roland Bouvier, einer von so einem Klatschblatt. Warum ist mir der nicht vorher aufgefallen?"

"Ach der, der Dad und dich damals andauernd verfolgt hat und das mitgekriegt hat, daß ich schon unterwegs war?" Fragte Cecil amüsiert grinsend. "Dachte, der wäre schon im Rentenalter."

"Der war damals nicht viel älter als dein Vater und ich", flüsterte Mrs. Wellington, an Ohren und Wangen errötend. Cecil grinste noch breiter. Natürlich hatte er im Internet mal nach seiner Familiengeschichte gesucht und Artikel aus Frankreich gefunden, wo sein Vater als aufstrebender Anwalt und Parteigänger der Republikaner seine Mutter kennengelernt und dann wohl die republikanischen Moralvorstellungen ausgeblendet hatte. Jedenfalls mußte er spätestens dann seine jetzige Frau, Cecils Mutter heiraten, als besagter Monsieur Bouvier herausgekriegt hatte, daß die junge Sprachenstudentin Henriette Lacrois in freudiger Erwartung war. Zumindest konnte Cecil verstehen, was seinen jetzigen Vater so gegen den amtierenden US-Präsidenten aufbrachte, dem ja viele Verfehlungen unterstellt wurden. Er, Senator Wellington, war erwischt worden und hatte wohl oder übel Konsequenzen daraus ziehen müssen, während Clinton Präsident werden und es vielleicht noch weitere vier Jahre bleiben konnte. Das amüsierte Cecil Wellington, der vor neun Monaten noch Benjamin Calder geheißen hatte.

"Der hat uns bestimmt fotografiert, um die alte Story weiterzuführen", knurrte Mrs. Wellington. "Aber wieso sah der gerade so aus, als habe er geträumt?"

"Wahrscheinlich hat er in Gedanken das Geld gezählt, was er für die Bilder kriegt", vermutete Cecil. Doch fiel ihm etwas anderes ein, das wesentlich heftiger sein konnte. Diese Anthelia, die gerade eben wieder telepathisch zu ihm gesprochen hatte, könnte auf die Idee gekommen sein, unliebsame Fotografen zu verhexen, um sie entweder von den Wellingtons fernzuhalten oder sie besser versteckt handeln zu lassen. Schnell wandte er sich um. Vielleicht stand Anthelia ja irgendwo in der Menge und beobachtete ihn. Doch nein, sie mußte nirgendwo stehen, wo er doch quasi ihre Bild-Ton-Außenstelle in der nichtmagischen Welt war und sie sofort wußte, wo er war, wenn sie es wissen wollte. Dann war das mit dem Paparazzo Bouvier wohl doch was ganz normales gewesen.

"Sollen wir Dad davon erzählen?" Fragte Cecil seine Mutter.

"Ich erzähle es ihm, wenn wir alleine sind. Wenn er meint, dagegen angehen zu müssen, soll er das tun, ohne daß Maman, Papa und Jean-Claude was davon mitbekommen", sagte Mrs. Wellington, diesmal die englische Sprache benutzend.

Draußen vor dem Dom herrschte eine winterliche Stimmung, zumindest empfand das Cecil so im Bezug auf seinen Vater, die Großeltern, Onkel Jean-Claude und Albert. In dieser kalten Stimmung, die sich vor allem in gegenseitigem Anschweigen und dem Austausch ungehaltener Blicke äußerte, wagte es auch Cecil nicht, irgendwas zu sagen.

Die Sturheit, für die Senator Wellington berühmt war, zwang ihn dazu, kein einziges Wort zu sprechen, weil die Verwandten entweder nur Französisch von ihm hören wollten oder jede Lautäußerung von ihm als Kapitulation verstanden würde. Cecil und Albert unterhielten sich über Popmusik. Onkel Jean-Claude arbeitete bei einem Musikverlag und brachte seinem Sohn zwischendurch Proben von baldigen Neuerscheinungen mit. Als sie sich im Haus der Lacroises von den wie Kindergartenkinder schmollenden Erwachsenen absetzen konnten, erzählte Albert:

"Du stehst immer noch auf Madonna, wie ich höre. Na ja, das Kind, was die sich von ihrem persönlichen Trainer hat machen lassen hält die in den Schlagzeilen. Aber wenn die nicht bald auch in der Musik was neues rüberbringt, könnte die bald beerbt werden. Papa hat Drähte zu 'ner britischen Musikfirma, die den Markt hier auslotet und deshalb neue Projekte rüberschickt. Da ist was im Busch, was Leute wie Madonna heftig an die Wand drücken wird", sagte Albert sehr überlegen dreinschauend.

"Das Ding mit den Nachfolgerinnen, Albert. Jedesmal wenn jemand versucht, die Königin vom Trhon zu schupsen, macht die was neues. Cyndi Lauper hat's nicht geschafft, Kylie Minogue nicht ganz und von den anderen Disco-Püppchen aus England hat der auch keine wirklich das Wasser abgraben können."

"Tja, aber wenn mehrere sich zusammentun, Cecil. Ich weiß, ihr Amerikaner haltet euch für die einzigen, die Supermucke machen können. Aber wenn ich Papa richtig verstanden habe, hat da wer 'ne Gruppe Mädels zusammengestellt, die in den nächsten Wochen raketengleich durchstarten. Papa wollte mir die CD nicht lassen. Hat wohl Angst, ich würde die abziehen und die Mucke vorher schon verscherbeln. Deshalb habe ich noch nicht mitgekriegt, wie die Mesdemoiselles heißen. Sollen aber fünf Stück sein, sagt Papa."

"Soso, fünf auf einmal", grinste Cecil. "Das zeigt doch nur, wie genial Maddys Musik ist und auch ihr Auftreten. Dad hat es ja vor vier Jahren voll aus den Socken gehauen, wo die mit ihrem Erotica-Album rauskam. Vom Untergang der Zivilisation und dem Verfall der Werte hat er gelabert, und daß Billy Clinton dann auch noch Präsident wurde hat dem ganzen die Krone aufgesetzt. Also, Albert. Wir kurven ja noch einige Wochen in eurem Land herum. Wenn Onkel Jean-Claude diese fünf Wundermädels rüberwachsen läßt, ich bin da, um's zu testen."

"Ich nehme dich beim Wort, Cecil", sagte Albert. Dann redeten sie noch über französische Rap-musik, was Cecil grinsen machte. Als Ben Calder hatte er Rapper verehrt und konnte sich nicht vorstellen, daß die Franzosen da mithalten konnten.

Weil die Stimmung auch während des Abendessens nicht besser werden wollte, bat Albert seinen Vater darum, mit Cecil zu Freunden gehen zu können. Der Senator wollte es Cecil verbieten. Doch seine Frau sagte energisch:

"Wenn du dein Telefon nicht mitgehabt und diesen ganzen Unsinn hier angefacht hättest, könntest du mit deinem Sohn zusammen das Kulturleben unserer schönen Hauptstadt genießen. Aber weil der Junge genauso ein Anrecht auf Urlaub hat wie du und ich, solltest du ihm gönnen, daß er lieber mit Jungs seines Alters gute Laune erlebt als mißmutige Sturheit."

"Darüber unterhalten wir uns noch mal", knurrte Senator Wellington auf Englisch. Albert bewegte seine Lippen so, als wolle er "Quak, quak, quak" sagen und grinste albern dabei. Letzthin bekamen er und Cecil die Erlaubnis, bis elf Uhr auszugehen, allerdings sollte Cecil sein Mobiltelefon mitnehmen, in dem ein kleiner Satellitenpeilsender versteckt war, falls er in Schwierigkeiten geraten sollte. Cecil grinste, als er das verwanzte Handy einschaltete und fortsteckte. Sein Vater fürchtete eine Entführung. Wie niedlich! Dabei wäre er letztes Weihnachten fast von Killern in Hubschraubern ermordet worden, die eigentlich hinter seiner neuen Freundin Laura Carlotti her waren. Daß er jetzt noch lebte hatte er seinen fragwürdigen Schutzengeln aus Anthelias Hexenclub zu verdanken. Mist! Er wollte doch nicht an diese Hexe denken.

Wie von seinem gestrengen Vater gefordert blieb Cecil mit Albert nur bis kurz vor Elf aus. Als sie zurückkehrten waren die Wellingtons noch auf. Die Zeitverschiebung hielt sie wach. Cecil bedankte sich für die Ausgeherlaubnis und erzählte, wo er gewesen war. Dann zog er sich in das für ihn reservierte Zimmer zurück und dudelte seine Lieblingssängerin über Diskman.

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Alfredo, der Fahrer eines großen Reisebusses, wartete schon geschlagene dreißig Minuten auf Sancho Gomez, der am goldenen Turm von Sevilla ausgestiegen war, um sich nach Paulina umzusehen. Dreißig andere junge Frauen und ein paar jugendliche Ausreißerinnen, die im Verkauf ihrer Körper ein tolles Abenteuer zu sehen schienen, hatten sich bereits im Bus verteilt und redeten über Gott und die Welt. Doch wo war Sancho, der Reiseleiter? Als er nun eine Dreiviertelstunde lang nichts von ihm hörte oder sah, rief er seinen Chef Ramon Sánchez über Mobiltelefon an und meldete ihm, daß zwar dreißig Fahrgäste eingestiegen waren, der Reiseleiter aber fehlte.

"Wie, der fehlt? Der ist um halb zehn mit dir ausgestiegen und hat einen Fahrgast gesucht, der noch zusteigen sollte. Jetzt wartest du schon bald bis elf? Fahr los und bring deine Fahrgäste zum Hotel Pasión!" Herrschte der machtgierige Verbrecher seinen Handlanger an.

"Geht klar, Jefe", erwiderte Alfredo und wollte gerade zum Mikrofon greifen, als ein Kommandotrupp der Guardia Civil den Bus umstellte und zehn Beamte in schußsicheren Westen durch die drei offenen Türen hereinsprangen.

"Alle bleiben ruhig wo sie sind!" Rief Einer der Polizeitruppler. "Sie sind alle festgenommen wegen Förderung und Betreiben gewerblicher Unzucht!"

"Hallo, Señor, da liegt ein Mißverständnis vor", sagte Alfredo sehr nervös. "Ich soll eine Gruppe junger Mädchen, die eine Reise nach Madrid gebucht haben aufnehmen und hinfahren. Das hat mit Prostitution doch nichts zu tun."

"Señor Colonades, Alfredo?" Fragte einer der Guardia-Männer. Alfredo nickte unwillkürlich, bevor ihm klar wurde, daß er sich gerade ausgeliefert hatte und er erbleichte. "Aha, der Fahrer von Señor Sánchez", triumphierte der Polizist und wollte gerade nach seiner Dienstwaffe langen, als Alfredo mit dem linken Fuß einen unter dem Kupplungspedal versteckten Knopf niedertrat und die Luft anhielt. Laut zischend strömte aus den sonst für kühle Luft vorgesehenen Düsen ein dunstiger Nebel in die Kabine ein, der die eingedrungenen Beamten wie auch die dreißig leichten Mädchen betäubte. Der Fahrer fischte unter den Sitz und zog eine Gasmaske hervor, die er sich mit geübter Schnelle über das Gesicht stülpte und das betäubende Gas fleißig weiter ausströmen ließ, bis er sah, wie die draußen lauernden Beamten dösig wurden und dann umkippten. Dumm gelaufen, dachte Alfredo und startete den Motor des Busses, schloss die Türen und setzte so tolldreist zurück, daß er fast einen der bewußtlosen Guardia-Männer überfahren hätte. Dann verließ er die Parkbucht und beschleunigte. Das freigesetzte Gas würde vier Stunden vorhalten. Das hatte er mit seinem Chef so geplant, falls es im Bus zu einer Meuterei kommen würde. Wahrscheinlich würden die Leute von der Guardia Civil nicht wissen, wo er genau hinfahren würde. Es sei denn ... Natürlich hatte sie jemand verpfiffen, und er konnte sich auch denken, wer es gewesen war, Sancho Gomez. Aber das sollte der Wolf von Andalusien dann regeln, wenn seine neue Ware ordentlich ausgeliefert war. Doch wohin mit den bewußtlosen Polypen? Ach ja, die Strecke von hier nach Granada war schön weitläufig. Da konnte er die mitgeschleppten Männer getrost rauswerfen, am besten ohne ihre Funkgeräte.

Als er gerade auf die Autobahn wechseln wollte, um erst einmal zwanzig Kilometer zwischen sich und Sevilla zu bringen, traute er seinen Augen nicht, als wie aus dem Nichts heraus eine der schönsten Frauen erschien, die er jemals im Leben gesehen hatte. Alles an der stimmte. Vom langen, nachtschwarzen Haar, das ihr weit den Rücken herabreichte, über die wasserblauen Augen, dem hellbraunen Hautton, der ihn an Kaffee mit viel Milch denken machte, bis zu ihren unbestreitbar weiblichen Formen und der biegsamen Figur. Der Bus begann zu schlingern, und ihm fiel siedendheiß ein, daß er noch fuhr. Er trat auf die Bremse und lenkte den Reisebus nach Rechts, um ihn neben der Autobahnauffahrt zu stoppen. Als er das Fahrzeug zum stehen gebracht hatte, keuchte er vor überstandenem Schrecken. Viele seiner Passagiere waren nach vorne gerutscht. Zum Glück wirkte das Betäubungsgas noch. Doch warum machte es dieser unbeschreiblich schönen Frau da nichts aus, deren Alter er nicht einschätzen konnte? Er sah ihr tief in die Wasserblauen Augen, fühlte, wie er förmlich darin versank, immer mehr von seinem klaren Verstand zurücklassend. Dann überkam ihn der Gedanke, daß das Gas ja nicht mehr wirken konnte, wenn diese Traumfrau da seelenruhig auf ihn zuschreiten konnte, und er nahm seine Gasmaske ab. Daß dies absolut falsch gewesen war, fiel ihm nicht ein, als ihm die betäubenden Schwaden durch Mund und Nase in Lungen und Nervensystem drangen und ihn von einer Sekunde zur anderen in die tiefe Dunkelheit und Lautlosigkeit der Bewußtlosigkeit stürzten.

Etwa eine Stunde später hatten Polizeistreitkräfte den Bus gefunden und ihre vom Betäubungsgas niedergeworfenen Kollegen und die ebenfalls betäubten Prostituierten herausgeholt. Doch wo war der Fahrer? Sie fanden eine Gasmaske neben dem Fahrersitz. Doch der Fahrer selbst war verschwunden.

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"Eh, Jefe, die haben den Bus umstellt", gab Felipe, der zweite Chauffeur und Spezialist für tödliche Verkehrsunfälle seinem Geldgeber durch. Eigentlich war es seine Aufgabe gewesen, dem Bus mit den neuen Mädchen im respektvollen Abstand zu folgen und zu sichern, daß der nicht verfolgt wurde. Und jetzt hatte den ein ganzes Guardia-Kommando geentert, wie Piraten ein altes Segelschiff.

"Wenn Alfredo gut drauf ist wird er die Schwarzmützen schon los", sagte Sánchez über Handy. "Aber danke für die Warnung! Ich mache sofort alles unsichtbar, was Guardia-Augen nicht sehen sollen. Sancho hat mich wohl verpfiffen. Deshalb ist der nicht aufgetaucht, dieser Drecksack."

"Oh, die Guardias fallen alle um wie die Fliegen", sagte Felipe. Sánchez schien mit dieser Meldung gerechnet zu haben und beruhigte seinen Beobachtungsposten. Als der Bus dann anfuhr, sollte Felipe vor Ort bleiben, um zu überwachen, wie die ausgeschalteten Polizeitruppler reagierten, wenn sie wieder zu sich kamen. Felipe bestätigte den Befehl und wartete. Tatsächlich erwachten schon nach zehn Minuten die ersten Leute der Guardia Civil und machten sofort Meldung bei ihrer Dienststelle. Felipe konnte aus sicherer Entfernung beobachten, wie sie in ihre Wagen stiegen und wohl hinter dem Reisebus herjagten.

"Mist! Ich rufe sofort Alfredo an, daß der bloß nicht auf die Autobahn fährt", knurrte der Wolf aus dem Mobiltelefonlautsprecher. Dann klickte es, und er war nicht mehr dran.

"Und was mache ich jetzt?" Fragte sich Felipe. Er wartete keine Minute, da klingelte sein Telefon wieder. Don Ramon Sánchez war dran, ziemlich verstimmt klingend.

"Ich kriege den nicht dran, Felipe. Mach, daß du da wegkommst, bevor die dich auch noch kassieren!"

"Geht klar, Jefe! Wohin?"

"Zur Zuflucht, Felipe. Ich werde dahinkommen, wenn ich den Rückzug gut genug abgesichert habe."

"Ja, Don Ramon", bestätigte Felipe und startete den Motor seines getunten Seat Ibiza, um so schnell es ging im immer noch dichten Autoverkehr Sevillas unterzutauchen.

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Ramon Sánchez wußte, wenn irgendwas von ihm rauskam, mußte er sich schleunigst verdünnisieren. Zuerst nahm er die fünf CDs mit den brisanten Daten aus seinem Minitresor an der Rückwand eines alten Radios, das er von seinem Großvater geerbt hatte und warf alle verräterischen Dokumente dem Reißwolf zum Fraß vor. Der dabei herausgekommene Papiermüll wanderte durch den Müllschlucker in den hauseigenen Brennofen. Dann holte er den Laptop-Computer, der die illegalen Aktivitäten enthielt und packte ihn in einen großen Koffer unter Wäschestücke für drei Wochen. Er würde schnell machen, bevor man ihn in seiner Wohnung, die gleichzeitig auch sein Büro war aufgreifen konnte. Gerade hatte er alle unliebsamen Beweise so verstaut, daß er nun ganz ruhig abziehen konnte, da hörte er es an der Haustür läuten. Seine beiden Leibwächter sahen nach, wer es wohl sein mochte. Ramon wollte im Fall, daß es die Polizei war, durch einen geheimen Hinterausgang verschwinden und griff bereits nach seinem Koffer, als er eine wohlklingende Frauenstimme hörte, die zu den vorgeschickten Leibwächtern sprach, besser auf sie einsang, als gehöre sie einer Opernsängerin, die ihren Fans etwas von ihrer Kunst zeigen wollte. Was sollte das denn jetzt bedeuten?

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Er hatte es mit einer Mischung aus Bewunderung, Verachtung aber auch Unbehagen zur Kenntnis genommen, daß Lord Voldemort, der größte Schwarzmagier Britanniens, wieder aufgetaucht war. Für Don Alfonso Espinado, dem ungekrönten König der dunklen Bruderschaften der iberischen Halbinsel und der Pyrenäen, bedeutete das, daß er entweder bald ein Handlanger dieses mächtigen Magiers, sein gleichberechtigter Partner oder schlicht und ergreifend ein toter Mann sein würde. In seiner versteckten Burg hoch in den Bergen der Sierra Nevada mochte er vor den Leuten des hiesigen Zaubereiministeriums sicher sein, zumal die bisher immer gegen ihn verloren hatten. Aber vor jenem, der verschwunden war und wieder aufgetaucht war, würde er sich nicht sicherfühlen können. Als er dann von einem anderen Zauberer erfuhr, Voldemort habe sich eine Armee aus Golems zugelegt, die ihm wohl ein orientalischer Zauberkünstler beschafft hatte, überkamen den sehr machtversessenen Magier Wellen unbändiger Angst. Mit einer solchen Streitmacht würde dieser Voldemort die ganze Zaubererwelt hinwegfegen. Doch er hatte auch etwas, daß ihm große Macht verlieh: Die Armee der Wiedergänger, sowie eine Herde von zwanzig Pyrenäischen Purpurpanzern, den größten und grausamsten Drachen westeuropas. Vor Jahren schon hatte er herausgefunden, wie man junge Drachen mit Zaubertränken darauf abrichten konnte, auf bestimmte, magisch übertragene Töne zu reagieren, die ursprüngliche Wildheit zu vergessen und wie Marionetten an langen, unsichtbaren Fäden seinen Befehlen zu gehorchen. Außerdem stand er im guten Kontakt mit Selvano Cortoreja, dem Anführer einer Gruppe von Werwölfen, die sich nicht länger ausgegrenzt fühlen wollten und alle haßten, die ihnen nachstellten und ihnen durch die Zaubereigesetze das Leben zur Hölle machten. Selvano war ihm was schuldig, weil Espinado ihn vor der Hinrichtung durch Werwolfbeseitigungstrupps des Zaubereiministeriums gerettet hatte, damals vor fünfundzwanzig Jahren, wo die Antiwerwolfgesetze erlassen worden waren, um die Ausbreitung der Lykantrhopie in Spanien einzudämmen. Tja, und weil ihm Selvano und seine Artgenossen immer wieder Blut zum experimentieren überlassen hatten, war es ihm gelungen, einen Trank zu entwickeln, der die tierische Natur eines Werwolfs unabhängig vom Vollmond hervorholte, den Lykantrhopen dabei aber noch mehr Stärke und vor allem einen Rest geistiger Kontrolle über ihren Körper verschaffte. Lykonemisis-Trank hatte er diesen Trank getauft, von dem Selvano Cortoreja mehr als begeistert war. Dessen Gefährtin Lunera hatte sogar gemeint, nun könne sich die Rasse der Werwölfe auch auf natürlichem Wege fortpflanzen. Denn im Wolfszustand gezeugte Nachkommen würden mit Sicherheit noch stärkere Werwölfe, die eines Tages bestimmt auch ohne den Trank auskommen würden. Weil der Trank so wirksam war, hatte er, Espinado, sich vor fünf Jahren darauf eingelassen, selbst ein Werwolf zu werden, um so zum Herrscher der Zauberer und Lykanthropen aufzusteigen. Er belächelte es, daß Voldemort die in Großbritannien lebenden schwer zu überzeugen vermochte. Außer Fenrir Greyback und seinen fanatischsten Artgenossen lebten noch solche Lykanthropen auf den britischen Inseln, die ihr Dasein nicht als besondere Natur, sondern als unheilbare Krankheit begriffen und sich von den Zauberern alles gefallen ließen. Tja, und weil er ein Meister der Nekromantik war, hatte er in seiner Burg hunderte von willenlosen Sklaven und konnte sie jederzeit auf die Menschheit loslassen, ihm neue Opfer zuzuführen. Leider vermochten seine lebenden Leichen nicht, Lebendige durch Bisse oder Kratzwunden zu einem der ihren zu machen, wie es die afro-karibischen Zombies vermochten. Aber deren Geheimnisse würde er auch noch lüften und damit eine wirklich unschlagbare Streitmacht bei der Hand zu haben. Sicher, mit einem asturischen Vampirfürsten und den Meigas Galiziens hatte er sich einmal ziemlich heftig übernommen, weil der Vampir keine Werwölfe leiden mochte und die Waldhexen, die seit Urzeiten eher der sogenannten Lichtseite zugeneigt waren, ihm, kaum daß er sich von Selvano und Lunera hatte beißen lassen ziemlich heftig nachgestellt hatten, bis er seine Bergfestung gegen ihre Magie gesichert und alle Wälder darum herum niedergebrannt und mit einem Pflanzenbannfluch jedes Nachwachsen anderer Bäume verhindert hatte. Denn die Meigas zogen ihre Kraft aus lebenden Pflanzen, und gegen den Vampirfürsten half jede Menge Knoblauch, an den ja sehr leicht heranzukommen war. Hinzu hatte er um seine Burg einen Wassergraben gezogen, in dem das Wasser ständig mit der Gewalt eines Wildbachs nach heftigem Regen zirkulierte. Auch das hielt jeden Vampir von ihm fern.

Espinado mochte es, in königsblauen Umhängen herumzulaufen. Wenn er seine Anhänger, einfache Zauberer, die ihn verehrten und ihm nacheiferten, in seinem Audienzsaal empfangen wollte, trug er für gewöhnlich einen königsblauen Brokatumhang mit silbernen Verzierungen an den Schultern und einen purpurfarbenen Kegelhut mit goldenem Rand. So erwartete er auch jetzt einen späten Besucher, der sich vor einem Tag mit der gebotenen Ehrerbietung angemeldet hatte, Sucelo Montemiedo, der gerade durch die drei Meter hohe Flügeltür aus eisenbeschlagenem Steineichenholz trat und sich sofort auf den roten Marmorboden warf und die letzten vier Meter wie ein total unterwürfiger Hund auf den hohen Lehnstuhl Espinados zukroch und in dieser Demutshaltung blieb, bis der Herr dieser Festung seinen linken Fuß mit leichtem Schwung gegen den Kopf des Besuchers stieß und dann sagte:

"Steh auf, Sucelo! Was bringst du mir für nette Neuigkeiten?"

"Don Alfonso", begann der Besucher, kaum daß er sich wieder hingestellt hatte, "Ich habe einen Brief von ihm bekommen, dem Engländer, dem Wiederkehrer. Er fordert mich auf, ihn dir zu übergeben, da er offenbar deine Festung nicht finden konnte, um seine Diener herzuschicken."

"Was auch gut so ist", grinste Espinado. Seine moosgrünen Augen starrten gehässig auf den durch die Unterwürfigkeit zerzausten Umhang Montemiedos. "Gib mir diesen Brief, Sucelo!" Sagte er dann mit drohendem Unterton in seiner leicht angerauhten Stimme, die jeden Hörer an ein Tor mit rostigen Scharnieren denken machte. Montemiedo griff in seinen Umhang und holte einen Umschlag aus giftgrünem Pergament hervor, den er so hielt, daß Espinado ihn greifen konnte, ohne die Hand seines Untergebenen berühren zu müssen. Er hob den Umschlag vor sein Gesicht, legte ihn dann in die Linke Hand und holte seinen Zauberstab hervor, den er mit einer schnellen Kombination ineinander fließender Bewegungen über dem Pergament ausschlagen ließ. Der Umschlag reagierte jedoch nicht.

"Kein Fang- und kein Findefluch. Offenbar hat dieser Voldemort aus seinem letzten Versuch gelernt", grinste Espinado und zog eine Pergamentseite aus dem Umschlag. Er las leise und verzog das Gesicht. Eine Mischung aus Verachtung, Verwunderung und Angst formte seine Züge. Er las erneut und warf den Brief in die Luft. Mit einem Flammenstoß aus dem Zauberstab ließ er ihn zu feiner Asche verbrennen, die auf den Boden Rieselte, bevor Espinado sie mit einem Säuberungszauber verschwinden ließ.

"Wie stellt er sich das vor, die Tochter des schwarzen Wassers unterwerfen?" Knurrte Espinado. "Bildet er sich ein, dieses Weib würde einem Kurzlebigen gehorchen?" Dann wurde ihm klar, daß Montemiedo immer noch vor ihm stand. Er zwang sich zu einer strengen Haltung und sagte mit fester Stimme: "Sucelo, ich werde diesem Magier eine Antwort schreiben. Hat er dir eine Eule geschickt?"

"Ja, Don Alfonso", erwiderte Montemiedo unterwürfig dreinschauend.

"Gut. In zehn Minuten habe ich die Antwort fertig. Dann nimm den Brief mit und schicke ihn an den Wiederkehrer zurück! Wage ihn aber nicht zu lesen!"

"Jawohl, Don Alfonso", erwiderte Sucelo ruhig. Er verließ den Audienzsaal und wartete folgsam, bis sein Meister den Brief fertig hatte. In einem fest verschlossenen Umschlag übernahm er das Antwortschreiben und ging an den blitzenden Ritterrüstungen vorbei, die einen unheilvollen Verwesungsgeruch verströmten, hinaus auf den steinigen Hof, wo gerade ein Tierwesen wie ein übergroßer Schäferhund mit kurzer Schnauze und silbrighellem Fell wie das Licht des Vollmondes durch das risige, dunkelrot gestrichene Tor hereintrottete und den Weg vor sich mit der Nase erschnüffelte. Montemiedo schrak zurück. Er war zwar ein sehr mächtiger Zauberer, doch die Möglichkeit, von diesem Geschöpf gebissen und mit dessen Fluch infiziert zu werden, weckte eine unabstreitbare Panik in ihm. Das Wesen spürte wohl diese erwachende Angst und hob den Kopf. Gierig sog es die Luft und damit Montemiedos Geruch in die schwarze, feuchte Nase ein, ließ kurz die rosarote Zunge aus dem Maul hervorlugen und stellte die spitzen Ohren auf Horchstellung. Es vergingen zwanzig bange Sekunden, bis das Geschöpf nach links schwenkte und in einem weiten Bogen um Montemiedo herumtrottete. Das Klicken der Spitzen Krallen auf dem kalten Stein des Hofes klang für den Zauberer wie die Musik zu einem bösen Traum, bevor das darin wütende Grauen sichtbar wurde. Er beobachtete mit bangem Blick, wie das wolfartige Wesen durch die hohe Tür zum Hauptgebäude trabte, die hinter ihm wieder zufiel. Es war also zutrittsberechtigt, wofür es wohl einen Halben Liter eigenes Blut gegeben hatte, womit sein wahrer Name auf die Tür gemalt worden war. Denn so hatte Espinado alle ihm treuen Anhänger zu willkommenen Besuchern seiner Festung gemacht. Als sich der Zauberer wieder dem Tor zuwandte trat ein Mann in einem schwarzen Wollumhang durch das Tor und sah Montemiedo an.

"Ah, ich rieche, sie ist schon durch die Tür", knurrte der Neuankömmling beängstigend. "Wolltest du rein oder raus, Bibberbergler?"

"Lass mich in Ruhe, Cortoreja!" Stieß Montemiedo verächtlich aus und fischte nach seinem Zauberstab. Der Fremde, dessen Gesicht von einem struppigen schwarzen Geflecht aus Kopf- und Barthaaren verhüllt wurde, lachte nur und eilte an Sucelo vorbei. Er legte seine Hand auf die Tür und konnte keine Sekunde danach hindurchschlüpfen. Montemiedo eilte schnell durch das Tor und über die Zugbrücke über den laut rauschenden Graben hinweg. Kaum hatte er mehr als hundert Schritte Abstand zwischen sich und das Brückenende gebracht, disapparierte er mit lautem Knall.

Don Alfonso indessen freute sich, als er das wolfartige Wesen mit dem mondlichtfarbenem Fell hereintrotten sah und sog den tierhaften Geruch in seine Nase ein.

"Bist in jeder Form ein schönes Mädchen, Lunerita", säuselte er mit tiefer Stimme und langte nach dem Nacken des Geschöpfs, um es zu kraulen. Da trat der Mann im Wollumhang herein und sah Alfonso mit seinen dunkelbraunen, stechenden Augen an. Er wirkte ungehalten, wenn auch auf der Hut vor einem Angriff.

"Noch ist sie mein schönes Mädchen, Alfonso. Wenn du was von und mit ihr willst mußt du an mir vorbei, und das wäre höchst unbrüderlich."

"Man darf eine Schönheit doch noch bewundern dürfen, Selvano", lachte Alfonso, während ihm das vor ihm hockende Tierwesen liebevoll die Hand abschleckte wie ein Hund. Dann stellte es sich auf die Hinterbeine und verharrte in dieser Haltung, während es wie unter heftigen Schmerzen zuckte und sich um das Gleichgewicht ringend wandt. Dabei zog sich das mondhelle Struwelfell zurück, am Kopf ins Weizenblond übergehend. Die kurze Schnauze schrumpfte zu einem anmutigen Gesicht, hellhäutig mit silbergrauen Menschenaugen, während die Beine und arme etwas länger und dicker wurden, aus dem Oberkörper sinnliche Rundungen erblühten und das Wesen so innerhalb einer halben Minute zu einer biegsamen Frau wurde, deren nackter, hellhäutiger Leib nur von zwei halbmondförmigen Narben oberhalb des Bauchnabels verunziert wurde, die bleich und zackig hervorstachen, da wo sie vor zweiunddreißig Jahren von einem Werwolf gebissen und zu einer Artgenossin gemacht worden war.

"Ich finde es sehr schön, daß du mich in jeder Form magst, Alfonso", schnurrte die Wolfsfrau, Lunera Molinera Tinerfeña und lächelte den Herrn dieser Festung strahlendweiß an. Dann wandte sie sich Selvano zu und sagte ruhig: "Warum so eifersüchtig, mein Großer? Alfonso hat alles Recht, mich genauso zu mögen wie du mich magst. Doch wir sind nicht hergekommen, weil wir uns um mich zanken wollen, oder?"

"Nein, natürlich nicht, Lunera", knurrte Selvano und nahm seinen Wollumhang ab, unter dem er eine Leinenhose und eine schwarze Lederweste ohne Ärmel trug und warf Lunera den Umhang zu. "Zieh ihn dir an, Mädchen, bevor unser Gastgeber vor lauter Gier nach dir nicht mehr an sich halten kann!"

"Nur für dich, Großer", schnurrte Lunera und bedeckte ihren bloßen Leib mit dem Wollumhang. Dann kam Selvano auf den Punkt, weshalb er und seine Gefährtin hergekommen waren.

"Hirudazo wird langsam lästig, Alfonso. Wenn du ihn noch länger duldest, hat er sich eine Armee dieser Blutschlürfer zugelegt. Du weißt, er will einen von uns haben, um ihm Blut auszusaugen, damit er rausfinden kann, ob die achso böse Sonne ihm bald nichts mehr tun kann. Wenn er das schafft, werden alle unsere Brüder und Schwestern dran glauben müssen. Du weißt das doch."

"Natürlich weiß ich das, Selvano, und daß wir noch leben verdankt ihr mir, weil ich alle Bücher über Tränke, die einem Blutschlürfer unsere Anpassung an den Tag geben können eingesammelt habe. Er kann nur rumpfuschen. Der einzige von seiner Art, der das damals rausgefunden hat ist schon vor einhundert Jahren draufgegangen. Aber wir haben größere Probleme. Ich habe euch von diesem Zauberer aus England erzählt, der es irgendwie geschafft hat, nicht getötet werden zu können. Der ist wieder da und will mit mir zusammenEuropa unterwerfen. Er hat doch echt von mir verlangt, ich soll Itoluhila unter meinen Bann zwingen. Offenbar hat ihm einer von meinen Möchtegernschülern gesteckt, daß ich vor vierzig Jahren vier echte Haare dieser Kreatur in meinen Besitz gebracht habe. Wenn ich das bis zum Letzten Julitag nicht geschafft habe, will er seine Steinmonster herschicken, um meine Burg zu suchen. Greyback, ein Anbeter dieses Magiers, will sich in drei Tagen mit mir treffen, um zu verhandeln, wie er und ich uns Europa aufteilen wollen. Der will das Bärenfell verteilen, bevor der Bär erlegt ist. Was soll ich mich da über diesen Dunkelmondler aufregen. Wenn er wieder seine Lakeien losschickt, rammen wir denen eben wieder alte Eichenholzpflöcke durch die vermodernden Rippen oder hängen sie zum Braten in die Sonne, wie vor einem Jahr gerade erst. Das wird seinen Größenwahn sicher runterkühlen."

"Alfonso, du unterschätzt diesen Blutschlürfer", schnarrte Selvano, während seine Gefährtin unter dem Umhang zu schwitzen begann. "Der ist auch ein Zauberer, und nicht gerade schwach. Du hattest es von diesem Voldemort. Natürlich habe ich auch gehört, daß der alte Greyback ihm nachläuft wie so'n schlapper Haushund und sich auch noch was darauf einbildet. Sage dem ruhig, du würdest gerne mit ihm zusammenarbeiten, wenn der diesen Hirudazo für dich erledigt. Übrigens, was ist denn Itoluhila. Der Name ist mir bis heute nicht untergekommen."

"Sei froh, Selvano. Dieses Weib ist die Hölle in Frauengestalt. Sie gehört zu den Abgrundstöchtern, durch sehr finstere Fruchtbarkeitsmagie entstandene Weiber, die nicht sterben können und ähnlich wie die Vampire vom Leben anderer Menschen zehren", Selvano funkelte ihn an, "nur anders, durch wilde Paarung mit denen."

"Wie hast du die Blutschlürfer gerade genannt, Alfonso. Du weißt, dieses Wort ist uns Brüdern des Mondes verboten", schnaubte Selvano wütend.

"Ach, vergesse ich immer wieder, daß wir die ja nicht beim Namen nennen dürfen", feixte Alfonso. Das Getue der Werwölfe um die alte Fehde zwischen den Vampiren und ihnen nervte ihn manchmal. Doch er war ja selbst ein Werwolf und sollte sich davor hüten, all zu heftig gegen deren Gepflogenheiten zu verstoßen. Dann sagte er noch: "Wie dem auch sei, Selvano, diese Kreatur ist sehr gefährlich, weil sie aus sich selbst heraus mächtige Elementarzauber wirken kann, wenn sie genug Lebenskraft von sogenannten Kurzlebigen einverleibt hat. Denn sie sind zum ewigen Leben verdammt und uns Zauberern mindestens ebenbürtig." Er verschwieg dem schwarzhaarigen Werwolf, daß er davon ausging, daß Abgrundstöchter wie Itoluhila den üblichen Magiern sogar überlegen waren. Laut sagte er noch:" Wir haben also ein größeres Problem als diesen Blutschlürfer, Selvano."

"Können wir dieses Weib nicht beißen?" Fragte der Werwolf in Hose und Weste. "Wahrscheinlich würde sie gut schmecken."

"Du kannst froh sein, daß ich dir deine Unwissenheit nachsehe, Selvano", schnaubte Alfonso verärgert. "Die kann Blutschlürfer genauso auslöschen wie dich oder mich. Die kann andere Geschöpfe mit dunkler Kraft förmlich wittern. Dann hast du nur zwei Chancen: Ganz lieb Männchen machen wie ein braver Haushund oder zu ihrem Bettvorleger werden, über den dann alle latschen, die sie sich für ihre Art Festschmaus hineinholt. Was anderes geht für dich und deine Süße nicht. Wobei die Lunera wohl gleich abmurksen würde, weil sie wohl nicht auf Frauen steht, wie ich gerade so weiß. Im Grunde leben wir alle auch nur noch, weil ich diese vier Haarsträhnen habe und damit meinen Wohnort und meine Gefährten vor ihr schützen kann. Mehr ist aber nicht drin, sofern ich nicht bereit bin, einen kraftzehrenden Zauber zu bemühen, um meine Magie über ihre zu stellen. Das ärgert mich. Aber ich muß es wohl tun, sofern dieser Voldemort es nicht schafft, aus meinem Brief schlau zu werden und ihn als Respektsgeste würdigen kann."

"Deine Probleme mit diesem Engländer sind uns egal", schnarrte Selvano sehr ungehalten. "Wir wollen diesen Blutschlürfer loswerden. Mach das erst! Dann kannst du mit dieser Höllenbraut spielen."

"Ich weiß, Lunera und du habt mich durch euren Biß zu einem Bruder von euch gemacht, Selvano. Aber untersteh dich, mir befehle erteilen zu wollen", schnaubte Alfonso und hielt übergangslos seinen Zauberstab in der Rechten. "Crucio!" Unter teils menschlichen, teils tierhaften Schreien und wilden Zuckungen lag Selvano von den wildesten Schmerzen gepeinigt am Boden, die sein Körper empfinden konnte. Lunera versuchte, ihn aus der Ausrichtung des Zauberstabs zu zerren. Doch dabei geriet ihre schlanke Hand in den Wirkungsbereich des Fluches und zuckte so heftig zurück, daß die Werwölfin vom Schwung des nach hinten fliegenden Arms nach vorne niedergerissen wurde und den schwarzen Wollumhang verlor. Wie ein aufblitzendes Licht im Dunkeln glänzte ihr nun wieder nackter Leib im Schein der Kerzen im Audienzsaal. Alfonso, von diesem Anblick aus der Konzentration gerissen, verwackelte den Zauberstab, und der Folterfluch verflog unmittelbar. Unter den Nachwirkungen keuchend und jammernd lag Selvano am Boden, während Lunera den heruntergefallenen Umhang wieder aufhob und sich locker über die hellen Schultern warf, darauf bedacht, keine Strähne ihres weizenblonden Haares darunter einzuklemmen.

"Wenn dieser Fürst Hirudazo mir auch lästig wird, fertige ich den ab. Aber das erst, wenn ich es raushabe, wie ich dieses Abgrundsweib kleinkriegen kann, Selvano. Erst dann", blaffte Alfonso Espinado sehr verärgert. "Wenn du nichts anderes von mir willst, dann hau ab! Lunerita kann bleiben oder mit dir gehen. Los, raus!"

"Alfonso, Bruder. Du kannst doch so nicht mit meinem Gefährten reden", warf Lunera ein und machte ein zuckersüßes Gesicht mit verführerisch blickenden Augen. "Sei nicht so böse zu ihm, ja!"

"Da hat der Maurer ein Loch gelassen", bellte Alfonso nun sehr gefährlich und wies dem sich langsam erholenden Werwolf die Tür, die wie auf Kommando aufschwang. Lunera blickte von Selvano zu Alfonso und wieder zurück. Dann nickte sie. Sie streifte den Umhang wieder ab, warf ihn Selvano zu und schloß die Augen. Für eine Sekunde stand sie starr da, als müsse sie sich auf etwas konzentrieren. Dann durchzuckte sie etwas, was sie in einer Mischung aus Schmerz und Lust aufschreien ließ. Keuchend fiel sie auf Hände und Knie, während Schauer irgendwelcher Schmerzen durch den Leib liefen. Die Verwandlung von der Frau zur Wölfin geschah innerhalb weniger Sekunden. Als ihr das mondlichtfarbene Fell gewachsen war und sie mit einem kurzen Heulton aus der gewachsenen Schnauze die Vollendung hinausschrie, zog Selvano den Umhang über und eilte durch die geöffnete Tür hinaus. Wie eine dressierte Hündin folgte ihm seine Gefährtin. Dann fiel die Tür wieder ins Schloß zurück.

"Will der mir doch vorschreiben, was ich zuerst zu erledigen habe", stieß Alfonso zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Sicher, Fürst Hirudazo war ein mächtiger Feind. Doch lebte nur nachts und floh Sonne, Feuer und fließendes Wasser. Dieser Voldemort und die von diesem bestellte Unterwerfung der Abgrundstochter Itoluhila waren ungleich gefährlicher. Auch die Folterung Selvanos hatte seinen aus der Furcht erwachsenen Ärger nicht ganz befriedigen können. Doch er mußte seine hohe Stellung behaupten. Denn Selvano war nie zum Zauberer ausgebildet worden und ihm daher immer noch weit unterlegen. Ja, und weil Alfonso sich selbst zum Werwolf hatte machen lassen, brauchte er nicht einmal den verfluchten Biß zu fürchten, den alle anderen Zauberer fürchten mußten. Er verließ seinen Audienzsaal und begab sich in seine Bibliothek, aus der er zwei Bände verbotener Bücher holte, mit denen er sich in sein Laboratorium tief unter der Burg begab, damit er herausbekam, wie er Voldemorts Forderung erfüllen konnte. Dabei zählte er sein Leben nur noch in Tagen. Sicher, er hatte ein Testament verfaßt, daß zwei Monate nach seinem Tod in dieser Burg zum Vorschein kommen würde. Doch was brachte es ihm, wenn er seinem Erben, den er selbst nicht einmal aussuchen konnte, nicht anleiten konnte, wie er das Erbe benutzen sollte?

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Es war am Morgen des 26. Juli 1996, als ein Einsatzkommando der Guardia Civil unter Leutnant Esteban Fuentes das Anwesen von Ramon Sánchez umstellte. Fuentes hatte in der Nacht, in der der Bus mit den dreißig angeheuerten Prostituierten von der Polizei festgesetzt worden war einen Richter geweckt, der ihm einen Durchsuchungs- und einen Haftbefehl ausgestellt hatte. Die Beweise waren nun ausreichend, den sogenannten Wolf von Andalusien an die Kette zu legen.

"Feuerschutz, wenn wir reingehen!" Befahl Fuentes über Funk. Eine Truppe Scharfschützen zielte sorgfältig auf alle Fenster und die Eingangstür, während der Polizeileutnant mit Sergeante Gabriel Marquez auf das Haus zuging, immer auf der Hut vor einem plötzlichen Ausfall.

"Leutnant, ich denke, der Vogel ist ausgeflogen, weil wir seinen Bus kassiert haben", flüsterte Marquez, ein drahtiger Polizist, der sich als Sprengstoffexperte und Meisterschütze mit der Pistole hervorgetan hatte.

"Das fürchte ich auch, Marquez", raunte Fuentes. "Aber wir müssen sichergehen. Außerdem könnten wir in dem Haus was interessantes finden."

Marquez untersuchte sorgfältig die Tür auf angebrachte Sprengfallen, bevor der Leutnant die Klingel betätigte, die mit melodischem Ding-Dong im Haus erklang. Als aber nach einer Minute niemand öffnete und auch niemand durch die zwei Hinterausgänge und die Fenster zu entwischen versucht hatte, machte sich Marquez daran, das Hochsicherheitsschloß zu knacken. Nach dreißig sekunden gab er es jedoch auf und platzierte eine kleine Sprengladung. Die Polizisten traten zehn Schritte zurück, dann löste Marquez die Haftladung per Fernzünder aus. Mit lautem Knall zerbarst die Tür in einem Blitz und aufquellendem Rauch. Dann gab der Leutnant das Signal zum Sturm. Polizisten in Schutzwesten und Gasmasken preschten wohlgeordnet in die pompöse Eingangshalle und sicherten die Räume. Dabei stießen sie auf zwei sehr athletisch gebaute Männer mit automatischen Pistolen, die tot im Wohnzimmer lagen. Als sie das Arbeitszimmer fanden, mußte Marquez einen elektronischen Zünder entschärfen, der mit einer im Haus versteckten Sprengladung verbunden war. Doch als sie die Tür gefahrlos öffnen konnten, fanden sie nur einen aufgeräumten Schreibtisch und einen wuchtigen, schwarzen Bürosessel vor. Der Computer stand stumpfgrau glänzend unter dem Tisch.

"Der wird gleich zur Datensuchabteilung gebracht", gab Fuentes eine Anweisung. Dann rief ein Einsatzbeamter:

"Leutnant Fuentes, wir haben das Schlafzimmer gefunden! Die Tür war von innen zugeschlossen, Señor!

"Und?" Fragte der Guardia-Offizier.

"Keiner drin, nur abgelegte Männerkleidung, italienische Luxusgarderobe, Señor!" Rief der Beamte zurück. Fuentes überließ das Arbeitszimmer seinen Kollegen und eilte in das 50 Quadratmeter große Schlafzimmer, in dessen Mitte ein rundes, mit roten Seidenlaken bezogenes Bett stand. Bilder und Skulpturen mit erotischen Motiven, zwei große Eichenschränke und ein mannshoher Spiegel, der mit einem Dutzend Dübeln unter der Decke befestigt war, Kristalleuchter mit halb herabgebrannten roten Kerzen und ein Kronleuchter, bestückt mit zehn 100-Watt-Birnen, sowie ein flauschiger, rot-schwarz gestreifter Teppich schmückten diesen Raum, der als Tempel sinnlicher Freuden benutzt wurde. Über einem der vier hochlehnigen Polsterstühle hingen eine mitternachtsblaue Jacke, eine farblich dazu passende Hose, ein blütenweißes Hemd und eine schwarze Lederkrawatte. Auf dem Stuhl lag eine zusammengeknüllte Garnitur tigergemusterter Unterwäsche und ein wie nebenbei hingeworfenes Paar Socken. Unter dem Stuhl standen schwarzglänzende Lackschuhe mailänder Fertigung.

"Sieht so aus, als hätte der Herr des Hauses sich ausgezogen und hinlegen wollen", sagte Fuentes. Ein Kollege hob mit der behandschuhten Rechten Kissen und Decken vom Bett an und fand einen rubinroten Seidenpyjama.

"Tja, aber den hat er nicht angezogen", bemerkte der Polizist. Fuentes nickte und deutete auf die Wände und Fenster. Die Fenster waren verschlossen und mit Sicherheitsschlössern zugesperrt. Die Scheiben bestanden aus bruchsicherem Glas. Schwarze Samtvorhänge hingen halb zugezogen davor.

"Marquez, prüfen Sie die Schränke auf elektronische Vorrichtungen wie Türöffner oder Sprengfallen!" Befahl Fuentes. Der Sprengstoffexperte bestätigte den Befehl und prüfte mit seiner Ausrüstung die wuchtigen Schränke, die jeder für sich ein kleines Zimmer sein konnten. Während Fuentes mit der Spurensicherung, der Gerichtsmedizin und dem diensthabenden Staatsanwalt telefonierte, fragte er sich, wo Sánchez abgeblieben war. In einer Nische nahe dem Hintereingang hatten sie einen blauen Hartschalenkoffer gefunden, der wohl noch untersucht werden mußte.

"Sieht so aus, als habe der Wolf die Flucht ergreifen wollen und wurde von irgendwem gestört", sagte Fuentes.

"Für mich sieht es so aus, als habe der Verdächtige sich noch einmal im Bett vergnügt", meinte ein Polizist, der das rote Bett genauer untersuchte, peinlich darauf bedacht, keine wilden Bewegungen mit den Decken und Kissen zu veranstalten, um eventuelle Spuren nicht zu verwirbeln. Fuentes besah sich das aufgewühlte Laken und nickte, weil er unzweideutige Spuren wohl vor kurzem stattgefundenen Geschlechtsverkehrs erkannte.

"Okay, die Räume bleiben jetzt unverändert, bis die Spusi alles registriert hat!" Ordnete Leutnant Fuentes an.

In den riesigen Schränken war kein Hinweis auf Sánchez oder eine Geheimtür zu finden. eine tragbare Ultraschallsonde, die eigentlich als Hindernisfrühwarner für blinde Menschen entwickelt und von einem findigen Beamten auch als berührungslos arbeitendes Spürgerät umfunktioniert worden war, konnte keinen Hohlraum finden, kein noch so winziges Versteck.

"Der kann unmöglich splitternackt aus einem geschlossenen Schlafzimmer verschwinden", grummelte Marquez, den die Abwesenheit Sánchez' sichtlich nervös machte. Er starrte auf das Bett, auf die flauschigweichen Kissen und schien förmlich mit den Augen an etwas hängen zu bleiben. Er beugte sich vor und begutachtete etwas auf dem mittleren Kissen. Fuentes folgte diesem Beispiel und betrachtete den roten Seidenstoff. Dann fiel es ihm auf, ein mindestens einen halben Meter langes, nachtschwarzes Frauenhaar.

"Liegen lassen!" Befahl Fuentes. "Das sollen unsere DNA-Künstler untersuchen."

"Also hatte der Sex mit einer schwarzhaarigen Frau, bevor er verschwand", vermutete Marquez.

"Tja, und wo ist die dann mit ihm hin?" Fragte Fuentes ungehalten. Dieses Haar verspottete seine kriminologischen Fähigkeiten. Denn jetzt galt es, zwei Personen zu finden, die aus einem von innen verschlossenen, mit Sicherheitsfenstern versehenen Raum ohne doppelten Boden und geheimen Ausgängen verschwunden waren.

"Sieht fast so aus, als wären die rausgebeamt worden, Leutnant", meinte ein Guardia-Beamter spöttisch.

"Ja, oder sie haben sich beide so heftig ausgetobt, daß sie sich dabei in Luft aufgelöst haben", blaffte Fuentes. Die Möglichkeit, daß jemand aus diesem Raum verschwunden war, ohne mehr Spuren zu hinterlassen als ein langes Haar erschien ihm aberwitzig.

Seine Laune wurde auch nicht besser, als Staatsanwalt Felipe Ortega zusammen mit dem Polizeiarzt Dr. Castillo eintraf. Der Staatsanwalt, ein in Ehren ergrauter, leicht korpulenter Mann mit Goldrandbrille, besah sich den Tatort, an dem bereits die Spurensicherungsexperten ihre Künste spielen ließen. Castillo begutachtete die beiden Leichen und stellte fest, daß sie wohl irgendwie an einem Kreislaufstillstand gestorben waren. Näheres wollte er aber erst nach der Autopsie sagen. Nach dem Grad der Totenstarre schloss Castillo darauf, daß sie wohl vor sieben Stunden ums Leben gekommen waren, also kurz vor Mitternacht am 25. Juli.

"Wir haben mittlerweile rausgefunden, daß es sich um Fausto Garcia und Manolo Gaudi handelt", erzählte Fuentes dem Staatsanwalt, der neben Dr. Castillo stand und die beiden äußerlich unverletzten Toten betrachtete. "Das waren Leute von Carlos Lopez, der vor einem Jahr von Rivalen ermordet wurde. Offenbar gehörten sie zur Erbmasse seiner Drogenhändlerbande."

"Ja, aber wo ist Sánchez, Leutnant Fuentes?" Wollte der Staatsanwalt wissen.

"Wissen wir nicht", sagte Fuentes verbittert. "Wir müssen noch alle Spuren prüfen."

"Sie haben Spuren am Bett des Verdächtigen gefunden? Darf ich mir die ansehen?" Erkundigte sich Castillo. Fuentes nickte und zeigte ihm das mit erotischem Pomp überfrachtete Schlafzimmer.

"Zumindest macht der keinen Hehl draus, wofür er ein Schlafzimmer braucht", sagte der Doktor und betrachtete das Bett. Als er dann nach dem schwarzen Haar griff, zuckte es in seinen Augen, als habe er einen leichten Stromstoß bekommen. Dann hielt er das Haar hoch und betrachtete es.

"Ich brauche nur einen Zentimeter davon, um eine DNA-Analyse durchführen zu lassen", sagte der Arzt. "Allerdings bringt das nicht viel, wenn wir die Person noch nicht kennen."

"Was Sie nicht sagen", grummelte Marquez. Dann sah er zu, wie Dr. Castillo das lange Haar vorsichtig in eine kleine Plastiktüte steckte und die Tüte sorgfältig zuklebte.

"Okay, die Möbel und die Teppiche werden zur Untersuchung ins Kriminaltechnische Institut gebracht. Vielleicht schicken wir Proben davon auch zur Zentrale nach Madrid", sagte einer der Spurensicherungsexperten zu Fuentes. Dieser nickte und fragte, wann man mit ersten Ergebnissen rechnen könne.

"Vor morgen ist da nichts zu erwarten", mußte der Fachmann eingestehen. Doch Fuentes nickte wieder. Das war ja klar, daß solche Dinge nicht übereilt werden durften.

Beim Abrücken wurde eine Stahlplatte an Stelle der fortgesprengten Haustür an der Hauswand befestigt und ein Siegel an der Hintertür, der Garage mit dem schnittigen Alpha Romeo, sowie der Terrassentür angebracht. Dann wurde das Haus sich selbst überlassen.

Castillo interessierte das gefundene Haar mehr als die beiden Toten. Deshalb wollte er die nötige Probe davon zuerst nehmen, bevor er den Rest an das Labor für mikroskopische und chemische Untersuchungen schickte. Er selbst betrachtete es unter einem Kameramikroskop und wollte eine Videosequenz davon aufnehmen. Doch irgendwie erschien das einzelne Haar so unscharf, als sei das Objektiv beschlagen. Er konnte die Unschärfe nicht herausbekommen. Das machte ihn schon stutzig. Als er leicht frustriert seinen Blick vom Monitor abwandte, auf dem gräuliche Schlierenmuster um einen undeutlichen schwarzen Schatten tanzten, traute er seinen Augen nicht recht. Neben seinem Arbeitsstuhl hing weißer Dunst in der Luft. Er glaubte, das Starren auf einen unscharfen Fleck auf dem Monitor habe seine Augen irritiert. Doch als der Dunst immer dichter wurde, überkam ihn Unbehagen. Dann stand vor ihm eine menschliche Gestalt, die ihn kurz mit wasserblauen Augen anblickte. Seine Frustration und das Unbehagen verschwanden in einer Woge warmer Geborgenheit. Dann nahm er wie in Trance das Haar vom Objektträger und legte es in ein Reagenzglas. Dann schüttete er vorsichtig konzentrierte Schwefelsäure hinein und wartete, als sei das ganz normal, bis er das Reagenzglas wie beiläufig auf den Objektträger fallen ließ, wo es zersplitterte und die Säure sofort den Metallrahmen anfraß. Dann hörte er eine Stimme in seinem Kopf:

"Du hättest mit dem Haar nur unnötig neue Fragen aufgeworfen, Miguel. Teile deinen Leuten mit, es habe einen Unfall gegeben!"

Castillo schien aus einem Traum zu erwachen, sah, was passiert war und vermutete, daß er aus Versehen ein mit Säure gefülltes Reagenzglas auf den Objektträger hatte fallen lassen. Er ärgerte sich, daß dabei das ganze Haar restlos zerstört worden war und die Säure keine verwertbaren DNA-Reste übriggelassen hatte. Um nicht in Ungnade zu fallen untersuchte er die beiden Toten und stellte fest, daß sie wohl einem hochwirksamen Nervengift zum Opfer gefallen waren, das wohl als Kontaktgift gewirkt hatte. Gut, daß die Beamten und er alle Handschuhe getragen hatten. So blieb nur noch die Frage, wohin war Ramon Sánchez verschwunden, und wer war die Frau, mit der er sich vergnügt hatte?

Was diese anging so konnten die Spurensicherungsleute merkwürdigerweise keine Spuren von ihr in der Bettwäsche oder der Matratze finden, als habe Ramon mit einem Geist geschlafen. Was wirklich geschehen war, hätte den Polizisten und Kriminalwissenschaftlern jedoch Zweifel an ihrem Verstand bereitet.

__________

Der Morgen des sechsundzwanzigsten Juli begrüßte das Ehepaar Montes mit einem wunderbaren Sonnenaufgang. Schon um sechs Uhr waren sie auf und frühstückten im Speisesaal des gemütlichen Hotels in einem Vorort von Sevilla. Die letzten Tage waren herrlich entspannend gewesen. Maria hatte die Museen in Madrid besichtigt, sich von ihrem Mann vor dem Königspalast fotografieren lassen und immer wieder wohlwollend geschmunzelt, wenn die Einheimischen sie fragten, von wo in Mexiko sie denn komme. Daß Enrique und sie in den Staaten lebten hatten sie nur dem Portier erzählt. Sie verschickten Postkarten an ihre Freunde und Verwandten und kauften Andenken, von denen sie hofften, daß ihr Gepäck dadurch nicht zu schwer würde. Dann waren sie losgefahren und hatten sich innerhalb von vier Tagen bis Sevilla durchgearbeitet.

Als sie ihr Hotel verließn und zu ihrer für einen Tag angesetzten Stadttour aufbrachen, klingelte Enriques Handy. Er nahm ab und sagte:

"Digame!" Dann mußte er grinsen und sprach englisch weiter. Es war ein Geschäftspartner, der etwas über einen gerade abzuwickelnden Handel wissen wollte. Maria sah ihren Mann verärgert an, weil dieser zwischendurch sagte, er könne sofort zurückkehren, wenn bei der Transaktion ein Problem auftreten würde. Dann sagte er, er sei nun in Südspanien und würde hier mindestens eine volle Woche bleiben. Er verabschiedete sich und legte auf.

"Ich hätte dieses verfluchte Ding verstecken sollen", knurrte Maria gereizt. "Können die in deiner Firma nicht mal einen einzigen Handschlag alleine tun?"

"Puri, sei froh, wenn die mich noch brauchen. Wenn die ohne mich alles hinbekämen könnten die mich abservieren. Das hätte also nichts gebracht, das Telefon zu verstecken. Du weißt genau, daß ich erreichbar bleiben muß, wie du doch auch."

"Nur mit dem Unterschied, daß es in meinem Büro genug fähige Leute gibt, die mich mal vertreten können", schimpfte Maria. "Aber du hältst dich für unentbehrlich."

"Als Chef muß ich das sein, Puri. Also komm, sei wieder lieb! Ich habe Dunning gesagt, wie er weitermachen kann. Der läßt uns jetzt erst einmal in Ruhe."

"Ja, bis Jefferson anruft, dann Maywood, dann Vargas und dann noch Richmont", gab Maria verbiestert zurück. Enrique sah sie abbittend an.

"Ich habe alles delegiert, Puri. Jetzt haben wir Ruhe, Querida."

"Hoffentlich", knurrte Maria. Dann erkannte sie, daß die Aufregung ihr nicht weiterhalf. Ihr Mann hatte einen verantwortungsvollen Posten und mußte daher auch bereitstehen, wenn es irgendwo klemmte. Außerdem wollte sie sich nicht wegen derlei Störungen den Urlaub vermiesen lassen. So lächelte sie wieder freundlich und sagte ihrem Mann, daß sie nicht ihm böse war, sondern nur nicht mochte, wenn sie andauernd gestört würden. Er nickte und meinte, daß er das auch nicht haben wolle. Dann verließen die Montes' ihr Hotel und besuchten die Sehenswürdigkeiten Sevillas wie die Kathedrale mit dem Grab von Christoph Columbus. Sie bestiegen den hohen Turm, in dem es an Stelle von Treppen kleine Rampen gab, ein Überbleibsel aus der Zeit, wo dieser Turm noch zu einer arabischen Moschee gehört hatte und die Mohezine, die Gebetsrufer, zu Pferd den Turm erklommen hatten, um die gläubigen zu den vorgeschriebenen Anrufungen Allahs aufzufordern. Maria dachte mit gemischten Gefühlen daran, wie zwiespältig ihre Kirche, die römisch-katholische Kirche doch damals gewesen war. Ein Hort der Geborgenheit und Sicherheit auf der einen, eine gnadenlos brutale Organisation auf der anderen Seite. Die Vertreibung der spanischen Juden nach dem Sieg über die arabischen Fremdherrscher, sowie die Inquisition, die Angst und Schrecken, Mißtrauen und Unterdrückung mit sich gebracht hatte, waren an Orten wie diesen nicht nur Kapitel aus den Geschichtsbüchern, sondern greifbare Vergangenheit. Sicher, keine Religion der Welt konnte sich völlig frei von Nachstellungen andersgläubiger erklären. Doch es beunruhigte sie doch, daß eine Heilslehre in Ländern wie Spanien als Instrument der Unterdrückung mißbraucht wurde. Und von hier aus war die Eroberung Amerikas ausgegangen, wo gierige Machthaber und Machtheischende Kirchenfürsten Hand in Hand die Ureinwohner terrorisiert hatten. Ernando Cortez galt zwar als der Nationalheld Mexikos, doch wie heldenmütig war es, arglose und waffentechnisch unentwickelte Völker auszurotten? Doch über dieses Thema diskutierte sie schon lange nicht mehr.

Wie überlegen die arabische Baukunst der ihr folgenden Christlichen war vermittelte bereits der Besuch der Alcazar, des ehemaligen Herrscherpalastes von Sevilla. Maria freute sich bereits auf die Alhambra, die alte Festung in Granada, deren Architektur und Gartenanlagen noch eindrucksvoller sein mußten.

Nach einem ausgiebigen Stadtbummel und der Besichtigung der wichtigsten Gebäude Sevillas führte Enrique seine Frau zu einem Abendessen in ein Restaurant aus, in dem er vor zwei Tagen sowohl einen verschwiegenen Tisch als auch eine Paella für zwei Personen vorbestellt hatte. Satt und mit sich und der Welt zufrieden brachen sie dann kurz vor Mitternacht auf, um in ihr Hotel zurückzukehren. Als sie über den Parkplatz schlenderten, wo ihr VW wartete, fühlte Maria unvermittelt einen kurzen, eisigen Schauer und ein leichtes Zittern unter ihrer Brust. Sie erschrak und sah sich rasch um. Doch nichts war zu sehen, was diesen kurzen Schauer erklären konnte. Lediglich ein hauchdünner Nebelstreifen über dem Gitterrost der Ventilation wiegte sich im flackernden Licht der Neonlampen. Dann war auch dieser Nebel verflogen.

"Was hast du, Puri?" Fragte Enrique besorgt, weil seine Frau so abrupt stehengeblieben war und sich irritiert umschaute.

"Ich glaubte, was gehört zu haben, das wie eine entsicherte Pistole klang, Enrique. Berufskrankheit."

"War wahrscheinlich das Abkühlen vom Dach. War ja heute ziemlich heiß hier", meinte Enrique Montes belustigt. Maria nickte. Wie hätte sie ihrem Mann auch erzählen können, daß dieses kurze, eiskalte Kribbeln mit ihrem silbernen Kreuz zu tun hatte, von dem sie erst seit dem letzten Oktober wußte, daß es tatsächlich ein mit schützenden Zauberkräften angereichertes Schmuckstück war. Sie hatte bis dahin nicht an Zauberei geglaubt und war sich sicher, daß ihr mann dies auch heute noch nicht tat.

"Wird Zeit, daß wir ins Bett kommen", sagte Enrique. "Die vielen Eindrücke machen uns beide heftig müde."

"Hast recht, Cariño", pflichtete Maria ihrem Mann bei. So verdrängte sie den eiskalten Schauer. Es konnte auch reine Einbildung gewesen sein, weil sie wohl langsam genug Abstand gefunden hatte, daß durch den Berufsstress verschüttete Gefühle und Gedanken langsam wieder an die Oberfläche stiegen. Sie nahm sich vor, nicht an die magische Welt zu denken. Dann würden auch diese Eindrücke nicht mehr wiederkommen.

Der Passat scherte aus der Parkbucht aus und rollte auf die Straße zurück, um zum Hotel zurückzukehren.

Kaum war der Wagen fort, erschien wie aus dem Nichts heraus eine Frau im langen, wasserblauen Kleid, das jede ihrer Bewegungen sachte fließend unterstrich. Sie ging in das Restaurant und suchte nach dem Oberkellner.

"Können Sie mir bitte sagen, wer die Eheleute waren, die hier gerade hinausgegangen sind?" Fragte sie den Mann. Sie sah ihm dabei tief in die Augen. Auf übersinnliche Weise fühlte sie den Widerstand des Mannes, der ihr eigentlich nicht verraten wollte, wer die beiden Touristen waren. Doch der Widerstand zerfloss so rasch, daß die Frau befriedigt lächelte.

"Das waren die Eheleute Montes. Sie hatten für heute Abend einen Tisch bei uns", sagte der Ober leicht weltentrückt. Die Bilder der beiden tauchten in seinem Bewußtsein auf und versanken wieder darin. Die Fremde nickte und bedankte sich für die Auskunft. Dann dachte sie konzentriert, daß der Ober den Eindruck behalten sollte, sie habe ihn nach Tischreservierungen und Speisen befragt und verließ das Restaurant wieder. Außerhalb des rechteckigen Lichthofes der Neonbeleuchtung des Eingangs verschwand sie übergangslos und ohne jedes Geräusch.

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Roland Bouvier witterte die Story des Lebens. Die achso ehrbaren Wellingtons hatten sich wieder in sein Revier gewagt. Ja, der Junge, den er damals nur von einem per Vitamin B abgezweigten Ultraschallbild gesehen hatte, war zu einem attraktiven Burschen aufgewachsen, der, wenn er sich mal nach jungen Frauen umsehen würde, bestimmt für einige herrliche Schlagzeilen gut war. Doch als er Mutter und Sohn alleine in den Invalidendom gefolgt war, überkam ihn etwas so heftiges, daß er sich nicht dagegen wehren konnte. Eine Woge alle Gedanken und Sorgen hinwegfegender, glückselig machender Leere überflutete sein Bewußtsein, sodaß er perplex stehenblieb und nichts tun konnte. Dann hörte er eine Stimme in seinem Kopf.

"Komm heraus und gib der Frau im roten Hosenanzug deine Kamera!" Wie an Fäden gezogen verließ Bouvier den Dom und ging auf einen erdbeerroten Renauld zu, vor dem eine braunhaarige Frau in einem kirschroten Hosenanzug wartete. Als wäre es nur ein unwichtiges Ding reichte er der ihm völlig fremden seine Kamera, in der der Film mit den Wellingtons enthalten war. Die Fremde öffnete die Kamera, holte den Film heraus und setzte ihn dem Sonnenlicht aus, sodaß das silbrigweiße Material schlagartig tiefschwarz anlief. Der Film war nun total wertlos. Er wollte der Fremden gerade die Meinung über diesen Zerstörungsakt sagen, als sie ihm die Kamera ohne Film zurückreichte.

"Wir möchten nicht haben, daß du die Wellingtons weiter beschleichst", sagte die Frau in monegasischem Dialekt. "Verstehst du?"

"Sie haben meinen Film belichtet. Wissen Sie, wie wichtig die Bilder darauf sind?" Knurrte Bouvier. Da überkam ihn wieder die Gedanken vertilgende Woge glückseliger Leere, und er hörte dreimal den eindringlichen Befehl:

"Kehre zu deiner Zeitung zurück und lass die Wellingtons in Ruhe!"

Bouvier versuchte zwar, sich gegen diesen Befehl zu sträuben. Doch es gelang ihm nicht. Als er fort war, öffnete sich die Beifahrertür des Renaulds und ein Frauenkopf mit strohblondem Haar nickte heraus.

"Schwester Louisette, das war Gut. Wir dürfen nicht zulassen, daß der Junge von Sensationsberichterstattern und Voyeuren umlagert wird, wenn wir ihn zu den Orten schicken, die ich noch einmal begutachten lassen möchte", sagte die Fremde im Dialekt der Provence, der Heimat ihrer längst verstorbenen Mutter.

"Wir dürfen nicht hierbleiben, höchste Schwester", wisperte die Frau im Hosenanzug. Die Blondhaarige nickte zustimmend und schwang sich auf den Beifahrersitz zurück. Louisette Richelieu, eine muggelstämmige Hexe und Anhängerin der vor einem Jahr wieder aufgetauchten Nichte Sardonias, bestieg ihren Wagen und fuhr mit ihrer sehr mächtigen Beifahrerin davon, um an einem nicht so einsehbaren Ort Posten zu beziehen.

Antehlia, die Führerin der Spinnenschwestern, hatte sich höchstpersönlich nach Paris begeben, nachdem sie die Stratons und Romina Hamton mit den Dingen in Amerika betraut hatte. Dido Pane bekam weiterhin Unterricht von Pandora und Patricia. Außerdem wachte Ardentia Truelane über alles, was das Zaubereiministerium der Staaten so tat.

"Der Knabe hat es wohl bemerkt, daß dieser lästige Bildermacher von mir verflucht wurde", sagte Anthelia unterwegs. "Nun, er weiß ja, daß ich ihn weiterhin überwache. Das wird ihn davon abhalten, wider meine Pläne zu handeln und sie folgsam auszuführen, soweit ich ihn dazu verwenden kann."

"Denkst du nicht, daß die Desumbratoren uns auf die Spur kommen könnten, höchste Schwester?" Fragte Louisette Richelieu.

"Sicher könnten sie den Imperius-Fluch erfassen. Aber unsere Mitschwestern im Zaubereiministerium werden schon verhindern, daß sie gezielt nach uns suchen können. Selbst wenn die Leute dieses Grandchapeau uns jagen sollten, würde es mich nicht davon abbringen, meiner alten Heimat so nahe es geht zu kommen. Überhaupt, weißt du mehr über diese Angelegenheit, die so viele Hexen und Zauberer dorthin verschlagen hat?"

"Natürlich, höchste Schwester. Dort findet morgen und übermorgen eine Hochzeit statt. Die älteste Tochter der Familie Dusoleil wird Bruno Chevallier heiraten. Da die Dusoleils mit den Odins verwandt sind, hat sich auch die respektable Madame Aurélie Odin dort eingestellt. Weil die Chevalliers ein Spross der Latierres sind, sind auch die Bewohner von Schloß Tournesol dort eingetroffen. Wahrscheinlich wird die gerade Mutterfreuden entgegensehende Madame Ursuline Latierre am alljährlichen Schachturnier teilnehmen, das heute zu ende geht."

"So, das findet also auch wieder statt. Du sagtest, ein Jüngling namens Julius Andrews habe es im letzten Jahr gewonnen. Dann ist er wohl auch dort?" Fragte Anthelia. Sie mußte sich anstrengen, nicht zu gefühlsmäßig zu klingen. Denn der Gedanke, den mit starken Zauberkräften begabten Sohn des von ihr gejagten Abhängigen Hallittis ganz in der Nähe zu wissen, aber nicht an ihn heranzukommen, wühlte ihr sonst so beherrschtes Inneres auf.

"Natürlich ist er da. Das hätte sonst in der Zeitung gestanden, wenn nicht", sagte Louisette Richelieu. "Da er ja auch am Sommerball teilnehmen wird, dürfte er bis zum 29. Juli dort bleiben. Darf ich fragen, was dich an diesem Jungen so interessiert, höchste Schwester?"

"Du darfst, Schwester Louisette. Er ist sehr kundig, hat, soweit ich es erfuhr, einen höchst interessanten Stammbaum und ist einigen Herrschaften Frankreichs wohl so wichtig, daß sie ihn im letzten Jahr direkt aus England herüberholten und dann in Beauxbatons weiterlernen ließen. Das erweckt meine Neugier und mein berechtigtes Interesse, mehr über diesen Jungen zu erfahren, von dem ich auch aus anderen Quellen weiß, daß er für unsere Sache wichtig werden könnte, je danach, wie er weiter angeleitet wird. Nun, dann werde ich den Jüngling Cecil in zwei Tagen nach Marseille befehligen, von wo aus er versuchen mag, in die Nähe Millemerveilles zu gelangen. Kennst du die Rezeptur von diesem Trank, der Unfähige dort ohne geistige Belastung verweilen läßt?"

"Leider nicht, höchste Schwester. Offenbar liegt es in Millemerveilles selbst. Dort komme ich leider nicht hinein, wie ich vor einem Jahr schmerzhaft feststellen mußte", erwiderte Louisette.

"Nun, die Wehr meiner höchst respektablen Tante wurde damals schon sehr gründlich und kraftvoll errichtet und nach ihrem Tode wohl noch verstärkt. Selbst mir wird dadurch der Weg in ihr Reich verstellt. Das erzürnt mich. Aber ich werde nicht darauf verzichten, das Erbe der großen Sardonia anzutreten", erklärte Anthelia. Dann sprach sie mit Louisette über die französische Muggelwelt und wie die Ereignisse in England auch dort aufgenommen worden seien.

__________

Sie war zu schönum eine gewöhnliche Frau zu sein. Ramon Sánchez hatte sich sofort und ohne Gegenwehr auf diese makellose Erscheinung eingelassen, die ihn am Abend zuvor aufgesucht hatte. Sie hatte ihm erzählt, sie wäre eine Botin des schwarzen Engels und habe ihm ein Angebot zu machen. Er hatte sie dann dazu überredet, mit ihm ins Bett zu steigen, wo er sich hemmungslos mit ihr ausgetobt hatte. Dabei waren ihm die Sinne geschwunden. Doch wo war er jetzt?

Er stand in einer Felsenhöhle, die wie ein natürlich gewachsener Dom aus Granit und Basalt um ihn herumlag. Er war nun wieder hellwach und erinnerte sich an dieses weibliche Wunderwesen, das ihm die heißeste Nacht seines Lebens beschert hatte. Die Frau hatte mehr Tricks drauf als alle Straßenmädchen, die jemals für ihn gearbeitet hatten. Doch wo war er hier? Wieso hatte diese Höhle keinen Ausgang? Er fühlte sich etwas kalt. Als er merkte, daß er immer noch nackt war, erschrak er. Man hatte ihn in diese Felsenhalle verschleppt, ohne einen Faden am Leib. Wozu war das gut? Dann kam ihm die Erleuchtung, und er erschrak, daß ihm schlagartig wieder heiß wurde. Dieses Weib hatte ihn in eine Falle gelockt. Ja, sie arbeitete für diesen schwarzen Engel. Warum hatte er das nicht bedacht? Dieser Kerl hatte ihm diese Superschnalle geschickt, um ihn aus dem Weg zu schaffen. Wahrscheinlich sollte er hier verhungern, weil er keinen Ausgang fand. Aber wie war er hier hineingeraten?

"Hallo, ist hier wer?!" Rief Ramon ängstlich. Er sah sich um. Es war dunkel bis auf einen rötlichen Schimmer, der wie schwache Kohlenglut auf ihn wirkte. Als wäre das rote Glimmen eine Kerzenflamme und er eine Motte, wurde Ramon Sánchez von der Quelle der Leuchterscheinung angezogen. Langsam ging er Schritt für Schritt auf den gleichbleibenden Lichtschein zu. Dabei berührten seine nackten Füße eine dicke Matratze oder Matte. Er erschrak und taumelte zurück. Dann riss er sich zusammen und bückte sich, um zu sehen, was es genau war. Vor ihm lag eine etwa zehn Zentimeter dicke Strohmatte, die mit einem weichen, seidigen Tuch umspannt war. Im gespenstischen Rot der Lichtquelle konnte er nur ein dunkles Rechteck ausmachen. Was sollte das hier? Einige Sekunden verharrte er auf dieser Matte, dann ging er weiter auf die rote Lichtquelle zu.

Er meinte, sein Verstand müßte aussetzen, als er keinen halben Meter vor einem zwei Meter hohen Gefäß mit zwei wuchtigen Henkeln stehenblieb. Das war doch nicht normal, wie dieses Ding da vor ihm glomm, ohne einen Hauch Hitze abzustrahlen. Er streckte vorsichtig seine Finger vor und berührte erst zaghaft, dann entschlossen die metallische Oberfläche. Ein warmes, kribbelndes Gefühl durchpulste seine Finger, dann seine Hand. Dieses Gefäß fühlte sich an wie eine glattpolierte Platte, die von innen her leicht erwärmt wurde und irgendwie vibrierte.

"Ja, er ist schön, mein Lebenskrug", ertönte unvermittelt eine warme Frauenstimme von hinten. Sánchez wirbelte herum, wobei er mit dem linken Ellenbogen gegen das gewaltige Gefäß stieß. Ein lautes, gonggleiches Pong hallte durch die Höhle, und sein Ellenbogen schmerzte heftig. Gleichzeitig erstrahlte der überdimensionale Krug in gleißendem Gold und erleuchtete die gesamte Höhle. Vor ihm stand jene überirdische Schönheit im wasserblauen Kleid, mit den langen, nachtschwarzen Haaren und der wie Milchkaffee gefärbten Haut. Dann fiel es Ramon ein, daß sie ihn durch einen Blick aus ihren Augen in diese wohlige, willige Stimmung versetzt hatte, und er vermied es, sie anzusehen.

"Du verfluchtes Miststück! Wie bin ich hierhergekommen?"

"Ich habe dich getragen, Cariño. War nicht so schwer, nachdem wir beide uns so wohltuend miteinander beschäftigt haben", säuselte die Unbekannte, diese außerweltliche Erscheinung.

"Du arbeitest für den schwarzen Engel, hast du behauptet, bevor ich Vollidiot mit dir in die Kiste gestiegen bin. Was hast du mir eingetrichtert?"

"Kein Rauschgift. Das mag ich nicht", sagte die Fremde und versuchte, direkten Blickkontakt mit Ramon zu bekommen. Doch dieser schloss sofort die Augen, wenn er sich nicht weiter drehen konnte. Doch umdrehen wollte er sich nicht, damit die Frau ihn nicht von hinten niederschlagen würde.

"Wenn du mich umbringen willst, du Schlampe, dann mach es besser jetzt. Sonst bring ich dich um", knurrte Ramon.

"Ohne mich kommst du hier nicht heraus", lachte die Fremde und trat auf den Gangster zu, der bereits Anstalten machte, sie anzuspringen, um sie zu erwürgen. "Ich habe dich deshalb am Leben gelassen, weil ich dir ein Angebot machen möchte, daß du besser nicht ablehnen solltest."

"Du mir?" Fragte Ramon gehässig.

"Ja, ich", erwiderte die Fremde sehr selbstsicher. "Denn es war schön mit dir, so wohltuend. Sowas möchte ich nicht so einfach wegwerfen."

"Ach, kann es dir sonst keiner so besorgen, Luder? Wie heißt du noch mal? Loli?!"

"So habe ich mich dir vorgestellt, Ramon Sánchez. Aber kommen wir zum Punkt. Du hast nur zwei Möglichkeiten. Entweder du findest dich damit ab, daß du ab heute nur noch mir gehörst, wie die anderen netten Männer, die sich schon für mich erwärmt haben, oder ich lasse dich endgültig verschwinden. Such's dir aus!"

"Du mich verschwinden. Hast du doch schon. Aber was würde dein Anführer sagen, wenn du einfach bestimmst, was du mit mir machst? Ich will diesen Kerl sehen, diesen schwarzen Engel!"

"Du willst, wie niedlich", lachte die Frau höchst erheitert. "Nun, wollen wir mal nicht so sein. Du siehst den schwarzen Engel gerade vor dir."

"Du? Glaube ich nicht. Ein Weib als Patron von Hottepferdchen? Das hätte ich doch sofort gepeilt. Abgesehen davon hätten dich andere Jungs schon längst hochgenommen."

"Tja, versucht haben sie es. Glaube mir, Ramon, daß es nicht lustig ist, immer wieder mit solchen brutalen Kurzlebigen herumzustreiten. Aber ich sage die Wahrheit. Ich bin die Beschützerin der freien Mädchen, die ihren Körper nur für ihr eigenes Wohl anbieten, ohne von Leuten wie dir geschröpft und mißhandelt zu werden. Du hast Laura umbringen lassen und wolltest Paulina auch umbringen lassen, nur weil du meinst, alle Liebeskünstlerinnen des Landes hätten dir ihren Lohn abzutreten. Du wurdest mir lästig, und dein Lakei Sancho auch. Jetzt hast du die Wahl, die dadurch entstandenen Schulden zu bezahlen oder für alle Zeiten aus der Welt zu verschwinden. Such's dir aus, Cariño!"

"Zur Hölle mit dir", schnaubte Ramon und sprang vor, um die Fremde zu erwürgen. Er bekam sie zwar am Hals zu fassen. Doch in dem Moment hatte sie ihn mit stahlhartem Griff umklammert und hob ihn vom Boden. Er versuchte sie zu schlagen. Doch seine Hiebe prallten von ihrem Kopf ab wie von einem prallen Gummiball. Sie versuchte ihn wieder anzusehen. Doch er schloss die Augen und trat nach ihr. Sie lachte nur und meinte:

"Du bist schön stark, Ramon. Schade, daß du so einfältig bist. Sieh mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede!"

Damit du mich wieder hypnotisierst, du Hexe", fauchte Ramon. Dann fühlte er eine wuchtige Ohrfeige auf jede Wange klatschen.

"Ich bin keine Hexe. Ich bin viel mehr als sowas", fauchte die Unheimliche, die Ramon körperlich hoffnungslos überlegen war. Er hielt seine Augen geschlossen, während er weiter versuchte, die Widersacherin zu treffen. Dies nutzte sie aus und ließ von ihm ab, sodaß seine Schläge und Tritte plötzlich ins leere gingen und er hinten überfiel. Er stürzte auf den Boden. Dann war sie plöztlich auf ihm und drückte ihn nieder.

"Es würde zu lange dauern, dich richtig zu kultivieren, du kleiner Barbar. Schade. Dann sei es eben die letzte Gabe, die du mir überreichen kannst", zischte die Unheimliche. Ramon kämpfte gegen eine infernalische Übermacht an. Er wollte sie nicht noch einmal ansehen. Solange er sie nicht ansah war er sein eigener Herr. Doch was nützte es, wenn sie stärker als vier Männer war? Er wollte seinen Zorn hinausbrüllen, hoffte auf jemanden, der irgendwo da draußen vor der Höhle stand. Doch sein Ruf wurde zu einem erstickten Gurgeln, als sie ihm mit zwei Fingern die Luft abdrückte. Schon tanzten rote Kreise vor seinen geschlossenen Augen. Er hörte sein Herz unter heftigem Rauschen. Dann lachte die Unheimliche ihn aus.

"Du hast mein Angebot verworfen. Ich brauch dich nicht mehr in deinem bisherigen Zustand. Vielen Dank für deine Kraft, die du mir jetzt geben wirst!"

Ramon fühlte, wie die stahlharten Hände der Fremden ihn wie einen kleinen Sack Daunen hochrissen und er fortgetragen wurde, bis er mit Schwung über die runde Kante des Metallgefäßes gekippt wurde. Er öffnete entsetzt die Augen und blickte in eine orangerote Tiefe, in der es nebelhaft waberte und strudelte. Dann tauchte er in diese halbstoffliche Substanz ein und fühlte, wie er darin zerfloss, wie sein Körper sich verflüchtigte und seine Gedanken sich zerstreuten. Dann war es vorbei. Ramon Sánchez, den Wolf von Andalusien, gab es nicht mehr.

Die unheimliche Frauengestalt, die den achso machthungrigen Verbrecher gerade in den goldenen Krug gestürzt hatte, fühlte die warmen Wogen einer immer heftigeren Wonne, die sie von Sekunde zu Sekunde heftiger erfüllte, sie aufstöhnen und dann auf dem Höhepunkt in unentbehrlicher Lust aufschreien ließ. Ja, dieser Berufsverbrecher hatte tatsächlich eine Menge körperliche und geistige Energie besessen, die nun ihr gehörte. Sie schloss den Krug wieder und legte sich auf ihre Strohmatte, um sich von der heftigen Wallung zu erholen. Diesen Sancho hatte sie nicht ganz nehmen können, weil dieser sich mit Aufputschmitteln vergiftet hatte. Doch sie brauchte unverdorbene Lebenskraft, und deshalb hatte sie ihn irgendwo im Gebirge ausgesetzt, nachdem sie seinem Gedächtnis alles ausgesaugt hatte, was sie über Ramon Sánchez wissen mußte, um dessen unseliges Unternehmen zu zerschlagen. Doch Sánchez selbst war ihr mit Leib und Seele zum Opfer gefallen. Dieser Narr. Er hätte ihr Jahrelang sehr gut helfen können und wäre von ihr immer wieder belohnt worden. Doch wer nicht wollte der hatte schon.

Die Frau, die sich Ramon als Loli vorgestellt hatte schrak hoch, als fremde Bilder in ihr Bewußtsein einströmten. Es war nicht die wohlvertraute Nähe einer ihrer Schwestern, sondern ein mit Macht versuchter Vorstoß, ihren Geist zu erreichen, zu überwinden. Sie sah Blitze und Feuerbälle vor sich und fühlte eine kalte, immer mächtiger werdende Willenskraft, die ihre Gedanken zu durchdringen trachtete.

"Itoluhila, Tochter des schwarzen Wassers, höre mich und folge mir!" Erklang aus dem Spektakel von Feuer und Licht eine befehlende Gedankenstimme. Wer war das? Wer hatte diese Macht, in ihren sonst so unbezwingbaren Geist hineinzuwirken? "Itoluhila, Tochter des schwarzen Wassers, höre mich und folge mir!"

"Nein", stieß die so bedrängte einen heftigen Gedanken in die Wellen sie zu unterjochender Magie. "Nein, ich werde dir nicht folgen!"

"Höre mich und folge mir, Itoluhila, Tochter des schwarzen Wassers!" Drängte die Gedankenstimme nach. Das überragend schöne wie höllisch gefährliche Wesen kämpfte mit seiner ganzen Geisteskraft gegen die immer stärker werdende Gewalt an, bis es kurz vor dem Zusammenbruch stand. Mit einem starken Aufbäumen ihrer Widerstandskraft sprang sie von der Matte, hangelte sich zum Krug hinauf, pflückte den Deckel herunter und ließ sich kopfüber hineinfallen. Im Bad freigesetzter Lebenskraft gewann sie ihre ganze Kontrolle zurück und schleuderte einen von Wut und Widerwillen getragenen Energiestoß in die Richtung, aus der sie bedrängt wurde. Sie hörte beinahe den Aufschrei, als der Angreifer getroffen aus ihrem Bewußtsein hinausgestoßen wurde, und kurz sah sie das Gesicht eines älteren Mannes mit moosgrünen Augen in einem gleißenden blau-roten Lichtschauer. Dann war der Feind aus ihrem Kopf verbannt. Sie konnte wieder klar denken, schwamm und atmete im orangeroten Medium erbeuteter Lebensenergie. Das war die Höhe! Wer wagte es, sie, eine Tochter Lahilliotas, so dreist anzugreifen, ihren Willen zu unterdrücken, um sie zu einem niederen Werkzeug seiner eigenen Launen zu machen? Das durfte sie nicht ungestraft lassen! Sie überlegte im Schutz des Lebenskraftbades, wer der Mann mit den moosgrünen Augen sein mochte. Dann fiel ihr auf, daß sie noch nicht alle Spuren ihrer Taten verwischt hatte. Anders als ihre hitzige Schwester Hallitti legte Itoluhila es nicht darauf an, öffentlichen Aufruhr zu verursachen. Daß sie die Jahrhunderte nicht im magischen Tiefschlaf verbringen mußte verdankte sie dem Umstand, immer besonnen, ja auch zurückhaltend unter den Kurzlebigen zu wirken. So mußte sie das wohltuende und beschützende Bad wieder verlassen, um ihre Taten zu verschleiern. Doch wie konnte sie sich vor einem weiteren Angriff schützen? Denn dieser Feind hatte ihr gezeigt, daß er sie überrumpeln konnte, wenn sie nicht aufpaßte. So trank und inhallierte sie genug Lebenskraft, um einen weiteren Gedankenangriff sofort mit voller Wucht zurückzuschlagen, vielleicht sogar in den Geist des Angreifers vorzustoßen und ihn ihrerseits zu überwältigen. Dann entstieg sie ihrem Lebenskrug und verschwand aus der unterirdischen Höhle, die sie seit Jahrhunderten als Heim und Fluchtort nutzte.

In den Straßen Sevillas sprach sie noch einmal mit Paulina, die in ihr nur eine Kollegin und Vermittlerin des großen Beschützers kannte, begab sich unsichtbar zum Haus Ramons und bekam mit, wie jemand eines ihrer Haare berührte, das sie wohl unachtsamerweise im Bett des Verbrechers verloren hatte. Ein kurzer Schauer durchlief sie und den Polizeiarzt. Dann konnte sie seine Gefühle wahrnehmen. Sie mußte ihn daran hindern, dieses Haar mit den modernen Techniken zu untersuchen. So folgte sie ihm und zeigte sich ihm, damit sie ihm durch Blickkontakt und Gedankenkontrolle die Anweisung erteilen konnte, das einzelne Haar von ihr zu vernichten. Kaum berührte die Säure das Haar, fühlte sie einen Hitzeschauer in sich. Dann war es auch schon vorbei. Der Arzt tat, was sie ihm eingegeben hatte, und sie konnte verschwinden.

Sie horchte immer wieder, ob der unheimliche Angreifer sich erneut vorwagen würde. Doch bis zum Abend blieb es ruhig. Sie strich in einer wie Nebel erscheinenden halbstofflichen Form durch die Straßen und überlegte, ob sie in dieser Nacht einen ihrer sechs willigen Anbeter aufsuchen sollte, um von ihm etwas frische Lebenskraft zu genießen, als sie an einem großen Haus vorüberzog, in dem die Kurzlebigen köstliche Speisen genossen. Da fühlte sie auf einmal einen leichten Schlag, der durch sie hindurchging. Gleichzeitig schien die Welt um sie herum zu verschwimmen. Dann sah sie ein Paar, offenbar Eheleute, wobei die Frau eine gleißend helle Aura umgab, die sie fast nicht durchblicken konnte. Das war keine gewöhnliche Frau. Irgendwas in dieser Aura drängte Itoluhila zurück, schien sie körperlich fortschieben zu wollen. Dann stieg die Frau mit ihrem Mann zusammen in ein Auto und fuhr davon. Itoluhila wartete, bis sie die starke Aura nicht mehr wahrnehmen konnte und betrat das Haus, um den zu fragen, der die Gäste hier an ihre Tische führte. Als sie wußte, wer die beiden waren, kehrte sie in ihre Höhle zurück, um die Nacht in ihrem Lebenskrug zuzubringen. Am nächsten Tag würde sie sich erkundigen, woher diese Leute gekommen waren und warum diese Frau eine so starke Aura umfloss, die nicht von ihr selbst ausging.

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"Er hat also meine Nachricht erhalten", freute sich Lord Voldemort, als eine leicht zerzauste Waldohreule in sein Arbeitszimmer im Riddle-Haus hereinsegelte. Einige Ruß- und Ascheflocken hingen noch im Gefieder des Vogels, der sehr eifrig einen Umschlag am rechten Bein vorzeigte.

"Dann wollen wir doch mal sehen, was der kleine Alfonso so schreibt", schnarrte Voldemort, während er mit seinen bleichen Spinnenbeinfingern den Umschlag öffnete und eine Pergamentseite herauszog. Als er das tat fiel ein mehrfach zusammengeknotetes Stück schwarzen Haares zu Boden. Voldemort rief nach seinem Diener Wurmschwanz, der gerade von einem längeren Aufenthalt bei seinem doch noch zur Vernunft gekommenen Verbündeten Snape zurückgekehrt war. Der kleine, dickliche Zauberer mit dem grauen Haarschopf trat eilfertig in das Zimmer des dunklen Lords und hob auf dessen Befehl hin das Haar auf.

"Oh, mein neuer Freund schreibt, er habe diese Haarsträhne von einer richtig langen Haarsträhne der Abgrundstochter Itoluhila abgeschnitten, um mir ein Spielzeug an die Hand zu geben, Wurmschwanz", kicherte der grausame Hexenmeister. "Er meint, damit könne ich ja ausprobieren, ob ich die nicht unter meinen Willen zwingen kann. Er würde es selbst ausprobieren."

"Herr, dieses Weib ist doch bestimmt gefährlich", quiekte Wurmschwanz ängstlich. Sein Herr und Meister lachte schallend laut.

"Denkst du, ich würde mich für eine Kreatur so interessieren, die völlig harmlos ist? Wurmschwanz, ich will diese Höllenmädchen in meine Armee der düsteren Kreaturen einreihen, wenn es mir endlich gelingt, diese ewige Fehde zwischen Vampiren und Werwölfen zu unterbinden. Ich kann Igor Dserschinski nur als Verbündeten kriegen, wenn ich Greyback in den Wind schieße. Genau das habe ich nicht vor. Wie käme ich denn dazu, mir reinreden zu lassen, wie und mit wem ich meine Ziele verfolge? Nein, ich werde es anders regeln", sprach Voldemort und starrte noch einmal auf das schwarze Haar. Dann überlegte er wohl, was er damit anstellen konnte. Schließlich funkelte er sehr zornig mit den scharlachroten Augen.

"Dieser Kerl will mich in eine Falle locken, Wurmschwanz. Wenn ich dieses Stückchen Haar hier als Verbindung zwischen ihr und mir benutze, müßte ich mich ständig auf sie konzentrieren und könnte nichts anderes tun. Zudem könnte sie sich meiner Kontrolle entwinden und mich dann angreifen. Ein Haar alleine reicht nicht aus, um dieses Wesen zu bannen. Dieser Espinado hält mich für einen Idioten. Das werde ich ihm nicht durchgehen lassen. Wenn es stimmt, was mir die Dementoren erzählt haben, kann ich bald ein mächtigeres magisches Erbe antreten und mir die Kontrolle dieser sogenannten Abgrundstöchter sichern, wenn ich meine treuen Diener ausschicken kann, mir was ganz wichtiges zu holen."

"Was ist das, Herr?" Fragte Wurmschwanz. Voldemort funkelte ihn bedrohlich an.

"Hat dich nicht zu kümmern, Wurmschwanz." Er dachte daran, daß er prüfen wollte, ob an einem Erbe Sardonias vom Bitterwald mehr dran war als nur ein Gerücht. Doch er selbst konnte dort nicht hin, wo diese Hinterlassenschaft war. Um nicht den Eindruck aufkommen zu lassen, er habe Espinados Falle durchschaut und wage nicht, sie auszulösen, sowie als starker Anführer der Zaubererwelt bestätigt zu werden schrieb er dem spanischen Zauberer einen Brief, in dem er ihm erklärte, daß er gerade an einer sehr wichtigen Sache arbeitete und es ihm daher überlassen müsse, daß die Tochter des schwarzen Wassers zu einer willigen Verbündeten wurde. Diesen Brief schickte er noch am selben Tag los, bevor er aus dem Riddle-Haus disapparierte, um sich in einem Moor in Schottland mit hundert Dunkelheit verbreitenden Gestalten zu treffen, die sehr begierig auf einen Auftrag warteten.

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Maria schlief, während ihr Mann Enrique den Mietwagen auf der Straße nach Granada steuerte. Sie hatten ihr Gepäck im Kofferraum verstaut und waren sehr früh am Morgen, fast noch im Dunkeln, von ihrem Hotel aus aufgebrochen, um möglichst viel vom Tag in der alten arabisch geprägten Herrscherstadt zu verbringen, wo Christoph Columbus in der gerade eroberten Alhambra mit König Fernando und Königin Isabel zusammengetroffen war, um sie von einer Expedition über das westliche Weltmeer zu überzeugen, damit sie einen Seeweg nach Indien finden konnten. Was dabei herumgekommen war wußte ja jedes Kind. Columbus war zwar nicht der eigentliche Entdecker Amerikas, hatte diesen Kontinent jedoch für die europäischen Machthaber interessant gemacht.

Links und rechts der Straße erhoben sich wie mit Puderzucker bestreute Zacken die schneebedeckten Gipfel der Sierra Nevada, die im Licht der Morgensonne glühten. Dieses Gebirge wollten die Montes' nach ihrem Granada-Ausflug noch eingehender durchstreifen. Enrique war leidenschaftlicher Bergsteiger, und seine Frau hatte im Rahmen ihrer Ausbildung auch einen Kurs im Klettern absolviert, um selbst in unwegsamen Gegenden noch beweglich zu bleiben.

Enrique merkte, daß er wohl zu früh aufgestanden war. Denn zwischendurch flackerte es vor seinen Augen, und er mußte sich anstrengen, den Blick auf die Straße gerichtet zu halten. Als er einen dunklen Schatten in der Ferne ausmachte, meinte er schon, eine weitere Ermüdungserscheinung gaukelte ihm das vor. Doch als er keine hundert Meter entfernt die Silhouette eines orientierungslos herumstaksenden Menschen ausmachte, durchzuckte ihn ein heißer Schrecken. Mit voller Wucht trat er auf die Bremse, sodaß die Gepäckstücke mit Wucht gegen die Rückbank krachten und seine Frau und er mit Urgewalt in die Sicherheitsgurte geschleudert wurden. Laut quietschten die Reifen des Passats, als er durch die Bremsung leicht nach vorne unten gedrückt auf das Hindernis zuraste. Keine zehn Meter vor der Gestalt blieb der Wagen endlich stehen. Auf Enriques Stirn perlte kalter Schweiß, und er keuchte wie nach einer heftigen Anstrengung.

Maria, jäh aus ihrem Schlaf gerissen, blickte ihren Mann sehr irritiert an und fragte: "Was ist passiert, Cariño?" Dann sah sie die Gestalt auf der Straße, die wie unter Drogen auf sie zustakste. Es war ein Mann, wohl mitte dreißig, muskulös und mit schwarzem, zerzaustem Haar. Er ging leicht vorn übergebeugt auf den Passat zu, wobei er zwischendurch sein Gesicht zu einem dümmlichen Grinsen verzog, um dann ein merkwürdig zufriedenes Lächeln zu zeigen. Maria lief ein kalter Schauer über den Rücken, als sie die Augen des Mannes sah. Sie blickten unstet umher, fanden offenbar keinen Punkt, auf den sie sich ausrichten konnten und flatterten zwischendurch hektisch, als durchleide der Fremde einen Anfall. Dann hörte sie das irre Lachen des fast überfahrenen Mannes.

"Ach du großer Gott", stöhnte Enrique, als der Fremde genau auf den Wagen zustolperte und dabei wilde Grimassen schnitt.

"Wo kommt der denn her?" Fragte Maria sichtlich bestürzt. Dann überlegte sie, ob der Mann da geisteskrank war oder unter Drogen stand.

"Enrique, bleib im Wagen. Ich sehe mir den Mann näher an!" Sagte Maria, als der beängstigend unkontrolliert wirkende Mann genau vor dem Wagen stand und die Hand hob. Enrique legte den Rückwärtsgang ein und trat aufs Gas, sodaß der VW ein Dutzend Meter zurücksprang.

"Maria, der Typ ist doch irre. Siehst du das nicht?" Warf Enrique Montes verstört dreinschauend ein. "Der ist bestimmt nicht harmlos."

"Eben, und deshalb muß ich mit dem reden, Enrique. Ich habe die psychologische Grundausbildung und das Kampfsporttraining. Du nicht", stellte Maria unmißverständlich klar. Enrique warf ein:

"Maria, manche geisteskranken Menschen können viermal so stark werden wie ungestörte Leute. Wenn der dir was tut hast du vielleicht keine Chance."

"Wie gesagt, ich habe das Kampfsporttraining, Enrique. Wenn er dir was tut kannst du dich vielleicht nicht so gut wehren wie ich", beharrte Maria darauf, den wohl bedauernswerten Menschen zu befragen. "Rufe über dein Telefon die Polizei her!"

"Du bist lustig, maria. Wir sind mitten in der Sierra Nevada, überall Funklöcher, abgesehen davon, daß die wohl hier nicht so viele Sender hingesetzt haben", knurrte Enrique. Dann öffnete er die Tür und wollte aussteigen. Da fiel es ihm ein, daß es auch eine Falle von Autobahnräubern sein konnte und schloß die Tür wieder.

"Maria, könnte sein, daß das ein Hinterhalt ist", sagte er und startete den Motor wieder. "Lass uns schnell weiterfahren!"

"Und der Mann? Kuck dir den doch an. Das kann so keiner spielen", sagte Maria. Doch Enrique hatte bereits den ersten Vorwärtsgang eingelegt und tippte auf das Gaspedal. Da kam aus der Gegenrichtung ein Lastwagen, der die Halbe Straßenbreite beanspruchte. Sofort bremste Enrique und fuhr so weit rechts heran wie möglich. Der Fremde lachte schrill und ohne ersichtlichen Grund, als der Laster auf ihn zutuckerte und keine zehn Meter vor ihm zum stehen kam.

"Okay, Enrique. Ich geh jetzt alleine da raus und kläre das. Versuch die Polizei zu erreichen. Vielleicht kriegst du hier ja doch ein Netz", sagte Maria, rieb sich den letzten Schlaf aus den Augen und verließ den Wagen. Ihre Sinne und ihr Körper spannten sich sofort an. Sie war für solche Einsätze ausgebildet, wo Leute im Drogenrausch zu Berserkern werden konnten und dann tatsächlich ein vielfaches der üblichen Körperkraft entwickeln konnten.

"Hallo, Señor, Sie stehen ....", schimpfte der LKW-Fahrer, der sich aus dem Führerhaus lehnte. Dann sah er, in welchem Zustand der Fremde war und bekam Augen bald so groß wie die Scheinwerfer seines Wagens.

Maria näherte sich dem Mann behutsam, um bloß keine Aggressionen zu wecken. Der Mann auf der Straße wandte sich wieder ihr zu und starrte sie an, als sehe er durch sie hindurch. Doch er mußte sie registriert haben, erkannte Maria, weil er nun den rechten Arm hob und kraftlose Winkbewegungen damit vollführte. Offenbar war dieser Mensch da doch noch empfänglich für seine Umgebung. Das hieß, sie konnte vielleicht mit ihm sprechen.

"Entschuldigung, Señor, kann ich Ihnen helfen?" versuchte Maria den Kontakt. Der Mann vor ihr grinste wieder dümmlich und glotzte sie an. Aus seinen Mundwinkeln tropfte Speichel.. Ja, offenbar war dieser Mensch wirklich krank, zumindest nicht in bester Verfassung.

"Um Himmels Willen bleiben Sie von dem weg, Señora!" Rief der Lastwagenfahrer unbedacht. Maria zuckte genauso zusammen wie der Fremde. Der drehte sich mechanisch um und starrte den LKW-Fahrer an, der schnell die Tür zuschlug.

"Sie Idiot", knurrte Maria nur, als der Mann auf den Laster zusteuerte. Maria lief ihm nach und näherte sich ihm auf Armlänge.

"Hallo, kann ich Ihnen helfen?" Fragte sie wieder. Der Mann drehte sich um und sah sie an. Irgendwie meinte Maria, er erkenne sie, weil für einen winzigen Augenblick das unkontrollierte Mienenspiel einem freudigen, ja wiedererkennenden Ausdruck wich.

"Heh, du bist nicht Loli, häh?" Zischte der Mann und kicherte. "Neh, du bist nicht der schwarze Engel. Du bist nicht Loli-hi-hi-hi." Er lachte wild und hemmungslos. Dann stammelte er: "Tolles Mädchen, Superweib. War richtig ... richtig scharf auf mich." Dabei sah er sehr lüstern auf Maria, die instinktiv einen Schritt zurückwich und sich auf einen Angriff einstellte. Dann verzog der Mann sein Gesicht zu einer angstvollen Fratze und heulte: "Ich war böse. Habe kleine Mädchen umgebracht. Loli mag das nicht. Böser Sancho! Böser Sanchooooo!" Er fiel zu Boden und wand sich wie unter heftigen Schlägen. Dann schniefte er etwas, das Maria nur halb verstand. Sie vermeinte nur das Wort "Engel" herauszuhören, bevor der Mann sich offenbar wieder beruhigte und sich aufzuraffen versuchte. Doch seine durchtrainierten Arme schinen jede Kraft verloren zu haben. Vier Versuche benötigte der mann, bevor er sich stark schwankend auf die Füße stellte.

"Wer ist Loli?" Fragte Maria vorsichtig, als der Fremde wieder auf sie zutorkelte.

"Frau aus der Hölle ... Satansweib. Meine Loli."

"Wie bitte?" Fragte Maria alarmiert und trat unbedacht auf den Fremden zu. Dieser streckte seinen rechten Arm aus und packte ihr an den linken Arm. Sie hieb aus Reflex zu. Ihre Handkante landete krachend an der Stirn des Mannes und betäubte ihn. Schlaff sank er zu Boden.

"Maria, komm da weg!" Rief Enrique Montes und eilte auf sie zu.

"Der Mann ist wirklich krank, Enrique. Ich mußte ihn betäuben", keuchte Maria.

"Ich kriege hier kein Netz!" Fluchte Enrique und starrte böse auf sein Handy, als wolle es ihn ärgern. Maria ging auf den Lastwagen zu und klopfte an die Tür. Von drinnen hörte sie den Fahrer mit jemandem sprechen. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um durch das Seitenfenster zu schauen und erkannte, daß der Lastwagenfahrer in das Mikrofon eines Funkgerätes sprach. Dieser merkte wohl jetzt erst, daß er beobachtet wurde und sagte:

"Ja, hier ist noch'n Paar in 'nem blauen Passat, 'n Tourist mit seiner Alpha. Gut, du machst das mit den Schwarzmützen?"

"Geht klar, Silberfuchs!" Kam eine blechern verzerrte Männerstimme aus dem Lautsprecher. Der Lastwagenfahrer hängte das Mikrofon in die Halterung zurück und wandte sich der Tür zu. Maria trat weit genug zurück, um die schwere Tür nicht vor den Kopf zu kriegen.

"Ich habe Kollegen von mir über die Funke durchgegeben, daß hier so'n halbnackter Mann herumläuft. Hier kriegt man ja kein gescheites Telefonnetz. Da ist die CB-Funke immer noch besser", sagte der Fahrer und kletterte aus dem Führerhaus. Maria nickte ihm dankbar zu und deutete auf den immer noch bewußtlosen.

"Haben Sie ein Seil oder was anderes dabei. Vielleicht sollten wir den Mann fesseln."

"Logo, Señora!" Erwiderte der Fahrer und enterte seinen Wagen, um wenige Minuten später mit mehreren Stricken herauszukommen.

"Das Abschleppseil ist zu dick. Die Stricke hier brauche ich dann, wenn ich rutschgefährdete Ladung auf der Fläche festmachen muß", sagte er. Maria nahm die Stricke und schnürte den gerade wieder erwachenden mann am Boden so gekonnt zusammen, daß er weder Arme noch Beine bewegen konnte.

"Mann, ich fahre schon seit zwölf Jahren die Tour, weil die Autobahnen meinem Chef zu teuer sind", sagte der Lastwagenfahrer, der sich als Juan Bautista Martinez Gambero vorstellte. Maria stellte sich und ihren Mann ebenfalls vor.

"h, Mexiko! Habe ich mich doch nicht verhört. Da haben Sie aber wohl 'ne weite Reise hinter sich", sagte Juan amüsiert. Dann fiel ihm wieder ein, daß sie nicht zum Schwatzen hier standen. Sie legten den Gefesselten auf zwei Wolldecken und diskutierten darüber, was ihm wohl passiert sein mochte. Doch Enrique vermutete, er könne eine Droge abgekriegt haben, die das Gehirn schädigte. Juan dachte eher an eine länger bestehende Krankheit. Maria überlegte, was die Worte des Mannes bedeuten mochten. Er hatte von einer Loli, einem schwarzen Engel und vor allem von einem Satansweib geredet, das richtig scharf auf ihn gewesen sei, aber auch über irgendwas böse gewesen sein sollte. Dann hatte er noch geredet, er habe kleine Mädchen umgebracht und was von einem bösen Sancho gewimmert. Ob er so hieß, Sancho?

Eine halbe Stunde später rückte die Guardia Civil mit zwei Einsatzwagen und ein Ambulanzwagen mit Notarzt und Sanitätern an. Die Polizeibeamten untersuchten die Straße und schwärmten in die Umgebung aus, um eventuelle Spuren zu sichern. Der Arzt untersuchte den Mann, gab ihm nach eingehender Begutachtung ein starkes Beruhigungsmittel und ließ ihn von seinen Helfern auf eine Trage schnallen. Er sollte zunächst in ein forensisches Institut gebracht werden, wo man ihm Blut, Harn und Haarproben entnehmen würde. Als der Krankentransporter abgefahren war, sagte einer der Polizisten, alle Zeugen möchten noch auf das Eintreffen eines Inspektors Rodrigo Molinar warten. Maria nickte dazu bestätigend. Natürlich war es jetzt wichtig, alles zu untersuchen, was diesen Vorfall anging. Es dauerte dann noch eine Stunde, bis ein Mercedes mit zwei Kriminalbeamten und ein Einsatztrupp Spurensicherung, sowie ein Hundeführer mit einem schwarz-braun-weißen Schäferhund eintraf. Der Hund bekam eine auf einem Taschentuch gesicherte Schweißprobe des Aufgefundenen zu schnuppern, wedelte kurz mit der buschigen Rute und lief dann mit der Nase knapp über dem Boden los, um die Spur des Mannes zurückzuverfolgen. Sein Führer eilte mit zwei Beamten hinterher, während sich Inspektor Molinar, ein stattlicher Herr mit angegrautem, schwarzem Haarschopf und intelligenten grauen Augen mit den Montes und Juan über den Vorfall unterhielt. Maria berichtete ihm, was der Fremde zu ihr gesagt hatte und schloß damit, daß er wohl mit einer Loli zusammengewesen war.

"Er erwähnte wirklich einen schwarzen Engel, Señora Montes?" Fragte der Inspektor.

"Ja, das tat er, Inspektor", sagte Maria bekräftigend.

"Nun, ich weiß nicht, ob ich Ihnen das erzählen darf, Señora, aber Sie sind ja quasi eine Kollegin von mir", druckste der Kriminalbeamte herum. "Der Mann, den Ihr Mann fast überfahren hätte, ist ein gemeingefährlicher Verbrecher, ein Schläger und Mörder, der für einen Bandenführer in der Gegend gearbeitet hat. Wir haben ihn sofort identifiziert, als die Schutztruppe uns sein Digitalfoto zugemailt hat. Das erklärt jedoch noch nicht, wie dieser Mann in diesen bedauernswerten Zustand versetzt wurde."

"Das weiß ich auch nicht", sagte Maria Montes. Dann, wo der Inspektor ihr schon so viel gesagt hatte, fragte sie, ob die Bezeichnung "Schwarzer Engel" etwas bedeuten mochte. Der Inspektor nickte.

"mag sein, daß sein Anführer sich mit einem der bislang mächtigsten Kriminellen des Landes angelegt hat. Es gibt unter den Prostituierten welche, die unseren Informanten was von einem schwarzen Engel erzählt haben, der sie beschützt und der sie weitestgehend frei arbeiten läßt. Tatsächlich sind größere Zuhälter verschwunden, die diese Mädchen feindlich übernehmen wollten. - Der letzte muß wohl der Chef von Sancho Gomez gewesen sein. Ich werde es mit den entsprechenden Kollegen besprechen."

"Nun, es ist nicht meine Aufgabe, mich weiter damit zu befassen", sagte Maria Montes, die ihre Berufsneugier unterdrücken mußte. Sie hatte Urlaub und war mit Enrique hier, um sich vom Berufsstress zu erholen. Sollten bitte andere die bösen Leute jagen und fangen, während sie in Spanien war.

"Stimt, Señora Montes. Aber wir benötigen Sie wohl noch einmal als Zeugen. Wo kann ich Sie erreichen?"

"In Granada im Hotel San Cristóbal", gab maria Auskunft und holte die Unterlagen heraus. Sie hatten ja schon vorgebucht. "Da wir heute erst dort eintreffen, weiß ich noch nicht, welche Zimmernummer wir haben werden. Soll ich Sie noch einmal anrufen, wenn wir das wissen?"

"Das wäre sehr dienlich", sagte der Inspektor und gab ihr seine Visitenkarte mit der Durchwahl seines Büros und seiner Mobilfunknummer. Gerade in dem Moment klingelte sein Handy. Enrique wunderte sich, daß der Polizist einen Anruf bekommen konnte, wo er doch kein Netz bekommen konnte. Der Inspektor zog das kleine Telefon hervor und drückte die Annahmetaste. Er meldete sich und wartete. Dann sagte er:

"Die Leiche wird sofort obduziert. Der Arzt soll seinen Kollegen von der Forensik sagen, welches Mittel er ihm gegeben hat, um beim Drogennachweis nicht davon irritiert zu werden. Ich bin so schnell es geht bei Ihnen."

Als der Inspektor sein Funktelefon wieder zurück ins Jackett steckte, sah er maria Montes sehr verdutzt an.

"Sind Sie sicher, daß ihr Karateschlag den Mann nicht tödlich verletzt hat?" Fragte er. Maria nickte. "Nun, Sancho Gomez ist nicht wieder aus der Betäubung aufgewacht. Irgendwie hat sein Körper entweder auf das Betäubungsmittel allergisch reagiert oder Ihr Schlag hat eine unbeabsichtigte Gehirnschädigung verursacht. Das wird geklärt. Begleiten Sie mich bitte zu meiner Dienststelle!"

"Wie, ist meine Frau jetzt verhaftet?" Empörte sich Enrique Montes. Der Inspektor sah ihn warnend an und sagte ungehalten:

"Sie ist nicht verhaftet. Aber bis wir geklärt haben, daß es nicht ihre Schuld war, möchte ich sie gerne in der Nähe haben. Sie verstehen, daß ich so handeln muß."

"Wie konnten Sie eigentlich telefonieren, wo ich kein Netz hier kriegen kann?" Wollte Enrique Montes wissen. Der Inspektor sah ihn etwas mißmutig an und meinte dann:

"Mobiler Sender, damit ich unabhörbar und direkt mit nur telefonisch erreichbaren Stellen sprechen kann. Unsere Telefone sind dreimal so leistungsfähig wie die zivilen Geräte. Mehr müssen Sie nicht wissen."

"Enrique, du fährst ins Hotel und klärst unser Zimmer ab! Dann kommst du bitte mit dem Wagen zur Dienststelle!" Sagte Maria Montes und gab ihrem Mann die Karte des Inspektors. Ohne Probleme stieg sie zu dem Polizeibeamten in den Mercedes und fuhr mit ihm davon. Juan sagte zu Enrique:

"Haben Sie Ihre Frau jetzt kassiert, weil die den Irren umgehauen hat? Das mußte die doch machen, wenn ich das richtig mitgekriegt habe."

"Der Irre ist tot", knurrte Enrique. "Offenbar ist der unterwegs gestorben, und sie müssen jetzt klären, ob meine Frau damit was zu tun hat. Dabei haben wir für zwei Uhr Nachmittags Karten für die Alhambra. Können wir da nicht rein, kriegen wir nur die Gartenanlagen zu sehen", raunzte Enrique. Juan sah ihn mitleidsvoll an und fragte vorsichtig, ob er noch was für ihn tun könne. Enrique schüttelte den Kopf. Dann verabschiedete er sich von Juan und wünschte ihm noch eine unbeschwerte Weiterfahrt. Als der Laster endlich weitergefahren war, stieg Enrique in den Passat und fuhr nach Granada, wo er im Hotel San Cristóbal das vorbestellte Doppelzimmer bezog und zusammen mit einem Hotelbediensteten das Gepäck dorthin brachte.

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Alfonso Espinado hatte es nicht geschafft. Sein Zaubertrank, in dem Hexenkelchsamen, Drachenblut und sein eigenes Blut enthalten war und das er mit winzigen Fragmenten eines Haares Itoluhilas angereichert hatte, hätte ihm innerhalb seines magischen Kreises aus Geistes- und Willensrunen die Kontrolle über Itoluhila geben müssen. Er hatte Kontakt bekommen, ihren wahren Namen immer wieder gedacht und den Widerstand fast gebrochen. Doch dann war er mit Urgewalt zurückgeschlagen worden und hatte für fünf Sekunden nur noch Sterne gesehen. Sein Kreis aus goldener Zaubertinte hatte rote Funken versprüht und war verblaßt.

"Ich wußte, daß dieses Weib mächtig ist. Aber ich dachte, ich hätte alle Vorkehrungen getroffen, um das auszugleichen", knurrte Alfonso. Dann fiel ihm auf, daß bei der Gegenwehr vielleicht etwas von ihm offenbart worden war. Er hatte in jenem Buch, in dem der Fernkontrollezauber beschrieben stand gelesen, daß bei einer erfolgreichen Abwehr dem auserwählten Opfer zumindest das Aussehen des Angreifers enthüllt wurde. Das machte ihm nun Angst. Denn Itoluhila konnte ihn nun suchen und sich für die freundliche Behandlung revanchieren oder gar einen gleichartigen Gegenangriff durchführen. Sofort zog sich Alfonso in einen silbernen Kreis zurück, in dem Mondphasensymbole und Runen der Ruhe und Unantastbarkeit eingeschrieben waren. Mit einer silbernen Nadel stach er sich in den Finger und ließ einige Tropfen Blut in das Zentrum des Kreises tröpfeln. Damit hatte er nun einen Rückzugsraum, der ihm einen vollen Mondzyklus lang Schutz vor Fernflüchen oder magischer Fernbeobachtung bot. Doch er konnte ja nicht immer in diesem Kreis hocken. Diesen wollte er nur als Fluchtort benutzen, wenn er fühlte, daß er angegriffen würde. Doch im Moment wollte er ruhig abwarten, ob die Abgrundstochter zurückschlagen würde oder nicht. Er würde es daran sehen, daß der silberne Kreis bläulich aufleuchtete und zwölf blutrote Verbindungslinien zwischen Mittelpunkt und Rand erglühen würden. Doch mehr als zwei stunden später, in denen nichts dergleichen passierte, überkam den Zauberer und Werwolf ein dringendes Bedürfnis, eines der Badezimmer seines Schlosses aufzusuchen. Außerdem wollte er mehr von seinem Lykonemesis-Trank brauen. In einigen Tagen war wieder Vollmond, und er hatte keine Lust, als unkontrollierbare Bestie herumzulaufen, sondern wollte die dann aufgezwungene Verwandlung dazu nutzen, mit Selvano und Lunera durch die kargen Bergwälder zu streifen und arglose Menschen zu überfallen, zu töten oder auch zu Artgenossen zu machen. Er dachte an Lunera, die er immer heißer begehrte. Sie war wunderschön als Frau und als Wölfin. Sie zu besitzen und seine Kinder von ihr austragen zu lassen heizte den Magier so heftig an, daß er keuchte. Ja, und Lunera hatte ihm immer wieder unterschwellig bedeutet, daß sie ihn nicht zurückweisen würde, wenn er Selvano nicht mehr respektierte und sie offen umwerben würde. Doch ob er diesen Moment jemals erleben würde war nun äußerst fraglich. Denn jetzt hatte er sich Itoluhila zur Feindin gemacht, die schlimmer war als der Vampirfürst Hirudazo. Oder war dieser Voldemort noch gefährlicher? Immerhin hatte Alfonso ihm ein kleines Stückchen Haar Itoluhilas zugeschickt. Sollte der doch auch versuchen, sie zu unterwerfen. Gelang dem das nicht, würde sie ihn wohl auch angreifen.

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Die Dunkelheit und Kälte waren unerträglich. Voldemort mußte sich arg anstrengen, sich nicht auch noch von den Wellen unbändiger Verzweiflung übermannen zu lassen. Hundert meterhohe, in lange, schwarze Umhänge mit großen Kapuzen gehüllte, rasselnd ein- und ausatmende, nach verfaulendem Fleisch stinkende Kreaturen umringten ihn, den dunklen Lord. Früher hätte man glauben mögen, sie hätten ihn eingekreist, um ihn festzunehmen. Doch diese Ungeheuer waren ihm hörig, wollten nur wissen, welchen Auftrag er ihnen erteilen würde.

"Meister, was können wir für dich tun", erscholl eine dröhnende Stimme, die nicht nur in Voldemorts Ohren, sondern auch in seinem Geist widerhallte. Er sah sich um, wo die Stimme hergekommen sein mochte und sah einen Dementor, der etwas näher bei ihm stand. Er hatte sich niemals die Namen dieser Wesen merken können, weil sie teils gesprochen, teils gedacht werden mußten. So sagte er zu jedem höherrangigen Dementor nur Truppführer.

"Truppführer, sammle an die zweihundertfünfzig deiner Kameraden und fahre über den Kanal ins Land der Franken hinüber. Dort selbst sollst du im Süden ein Dorf suchen, daß von sehr starken Zaubern umschlossen wird wie eine Käseglocke. Geht dort rein und sucht nach einem Gegenstand, der tot ist aber doch irgendwie von Gedanken durchsetzt ist. Ja, nehmt am besten alles mit, was euch an Zaubersachen in die Hände fällt! Das Dorf heißt Millemerveilles. Geht dort rein, wenn es tiefe Nacht ist! Dann habt ihr leichtes Spiel."

"Meister, dieser Ort ist mir bekannt", knurrte die dröhnende Stimme des Truppführers. "Dort hat doch diese Hexe gewohnt, die welche von uns damals auf ihre Seite zerren wollte. Können wir da überhaupt rein?"

"Das müßt ihr ausprobieren", gab Voldemort verächtlich zurück. Er wußte aber jetzt schon, daß Dementoren eben wegen Sardonia die unsichtbare Umhüllung des Dorfes durchdringen konten, weil sie einen Teil ihrer Macht in sich trugen, die sie bei ihrer Vernichtung absorbiert hatten. Allerdings, das wußte er auch schon längst, durften die Dementoren nie bei Sonnenlicht in das Dorf hinein, weil die Kraft der Sonne sie dort sechsmal mehr schwächte als sie es anderswo tat. Die Dementoren zischten, wisperten und raunten miteinander. Dann sagte der Truppführer:

"Wir werden tun, was du uns gesagt hast, meister. Es wird uns ein Vergnügen sein."

"Das hoffe ich", schnarrte Voldemort über die Maßen gehässig. "Am besten rückt ihr am achtundzwanzigsten Juli dort ein. Dann tanzen diese Idioten ihren Mittsommerball und freuen sich heftig. Genug Futter für euch."

"Danke, Meister. Das werden wir uns nicht entgehen lassen", lachte der Truppführer vorfreudig. Seine Artgenossen sogen schlürfend die Luft ein und gaben ein unirdisches Lachen von sich. Voldemort fühlte, wie er unter einer Welle Verzweiflung zusammenbrechen würde. Schnell dachte er den mentalen Zauber, den er vor dreißig Jahren erfunden hatte, um sich die Auswirkungen der Dementoren vom Hals zu halten. Es wirkte. Die Macht dieser Wesen berührte ihn nur noch körperlich. Dann flogen sie wie Schatten des Unheils davon und ließen den dunklen Lord alleine in einer menschenverlassenen Moorlandschaft zurück. Das Licht der Sterne kehrte zurück, und die Geräusche der nachtaktiven Moortiere klangen ungefiltert zu ihm herüber. Voldemort grinste. Das würde ein schöner Schock für diese überheblichen Leute in Millemerveilles, daß er ihnen die Dementoren auf den Hals schicken konnte, wann er es wollte. Wie auch immer es ausgehen würde. Sollten sie dort eindringen und erfolgreich sein, konnte er die Leute da beliebig erpressen, um alles von denen zu kriegen, was er haben wollte. Sardonias Erbschaft würde ihm bald schon gehören. Er allein, Lord Voldemort, hatte das Recht darauf. Sicher, es gab von diesen Nachtfraktionshexen genug, die allzugern an die Hinterlassenschaften Sardonias heranwollten. Doch die kamen ja doch nicht nach Millemerveilles hinein und hatten damit kein Recht darauf. Für diese Hexen würde es bald ein böses Erwachen geben. Das freute ihn so lange, bis er an das heftige Duell in den Everglades zurückdenken mußte, wo eine Hexe, die mächtiger war als diese alte Moralhüterin Amelia Bones, ihn im Duell besiegt und gedemütigt hatte. War sie auch eine dieser Nachtfraktions-Hexen? War sie womöglich dazu erzogen worden, Sardonias Erbschaft an sich zu bringen? Ihm fiel ein, daß sein Imperius-Fluch ihr nichts anhaben konnte, ja daß er nur einen Kinderchor den Marsch von Sardonias Töchtern hatte singen hören können. Sie hatte seine legilimentischen Angriffe mit großer Wucht zurückgeschlagen und war - das empfand Voldemort immer noch als größte Beunruhigung - sogar gegen den tödlichen Fluch Avada Kedavra immun gewesen. Sie hatte ihm gesagt, sie heiße Lia. Doch von dieser Hexe hatte er bis dahin nie etwas gehört, und sie konnte doch nicht so unauffällig solche Zauberkräfte entwickelt haben. Dann fiel es ihm wieder ein, daß sie ein Gesicht hatte, daß einer Schwester des jungen Bartemius Crouch gehört haben mochte. Dafür hatte sie sich sehr hochmütig bei ihm bedankt. War sie vielleicht eine Hexe aus früherer Zeit, die es angestellt hatte, ohne Horcrux unsterblich zu werden? Falls ja, dann hatte sie etwas gefunden, das ihm, Voldemort sicher besser gedient hätte. Aber wer war sie dann? Wer immer sie war, sie würde bald seinen Zorn zu fürchten lernen. In dieser Gewissheit disapparierte der Dunkle Lord.

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Der Brunnen Fontaine du Roi René sprudelte munter im Licht der südfranzösischen Sonne, als Cecil Wellington mit seiner Mutter die Cours Mirabeau entlangschlenderte. Ihm gefiel diese Stadt, Aix-en-Provence. Sie war eine geniale Mischung aus uralter Siedlung und moderner Industriestadt. Sowas hatten sie in den Staaten nicht. Cecils Tante Annemarie sah ihn vergnügt an, als er den alten Brunnen wie ein Weltwunder bestaunte.

"Gut, daß unser Bürgermeister sich geweigert hat, einem eurer überreichen Landsmänner die beiden Brunnen zu verkaufen. Hier gehört er hin und nicht in den Vorgarten eines Aufschneiders", sagte Madame Lacrois. "Oder denkst du da anders, Cecil?"

"Passen irgendwie besser hier hin, Tante Annemarie", erwiderte Cecil rasch. Die französische Sprache ging ihm nun, da er sie mehrere Tage hintereinander benutzte, immer besser über die Lippen. Fast hätte man denken können, er sei ein geborener Franzose, der nur zu lange in den Staaten gelebt hatte und nun wieder die vertraute Sprache pflegen müsse.

"Schade, daß dein Vater sich das nicht ansehen wollte", sagte Mrs. Wellington bedauernd. "Aber er muß ja unbedingt mit seinen Parteifreunden videokonferieren."

"Dieser bescheuerte Wahlkrampf", knurrte Cecil, weil er fand, seine Mutter wolle von ihm unterstützt werden. Tatsächlich war er sehr froh, daß sein wichtiger Vater sich von dessen Freunden hatte bequatschen lassen, im Büro eines befreundeten Handelsunternehmens die moderne Videotechnik auszunutzen, um einige Punkte im laufenden Präsidentschaftswahlkampf zu klären. für den Kandidaten der Republikaner sah es im Moment nicht sonderlich gut aus. Doch Cecil freute das, daß er mit seiner Mutter die berühmten Städte der Provence ohne Gefahr politischer Streitgespräche besuchen konnte. Aix war schon eine tolle Stadt, deren Alter und deren Neuheiten ihn an eine Art Alltags-Disneyland denken machten. Apropos Disneyland: Albert wollte mit Cecil wohl mal für zwei Tage nach Eurodisney, wenn "Das Pflichtprogramm" durch war und Cecil die Verwandten und ihre Wohnorte besucht hatte. Was Albert nicht wissen konnte, weil er es nicht wissen durfte, Cecil hatte vor der Abreise in die Provence eine telepathische Anweisung Anthelias erhalten, sich am Abend, wenn sie in Marseille zu abend gegessen hatten, heimlich von seinen Eltern abzusetzen. Die Schwestern der Hexe wollten dafür sorgen, daß sie in Ruhe schliefen, während er alleine in die Umgebung fahren und sich umsehen sollte. Anthelia hatte ihn beauftragt, in die Nähe eines Ortes zu gelangen, den sie wohl mal sehr wichtig gefunden hatte. Das sollte er morgen also tun, am 28. Juli.

"Wie weit interessiert dich eigentlich die Malerei?" Fragte Tante Annemarie ihn. Cecil sah sie an und meinte, daß er von echten Kunstbildern nicht so viel wußte, um da irgendwas zu zu finden. So führte ihn die Tante zusammen mit ihrer Schwägerin Henriette Wellington in das Paul-Arbaud-Museum, wo sie ihm einige Bilder erläuterte, unter anderem von Paul Cézanne, der hier gelebt hatte oder Leihgaben aus dem Gugenheim-Museum in New York. Cecil meinte anschließend, daß er vielleicht noch Jahre brauchte, um das zu kapieren, was an den Bildern so faszinierend sein sollte. Damit überspielte er seine Langeweile. Denn irgendwie sagten ihm die Bilder überhaupt nichts oder wirkten für ihn nur wie Gekritzel. Doch seine Tante war Kunstlehrerin an einer Oberschule hier und würde ihm hunderte von Vorträgen halten, wenn er das zugab. Also tat er so, als sei er im Moment beeindruckt, könne das aber nicht richtig ausdrücken.

Abends saßen die Wellingtons bei den hier lebenden Lacroises und genossen die provenzalische Küche.

"Schön, daß die Stadt dir gefallen hat", sagte Senator Wellington mit erhabener Betonung. "Ich hatte schon befürchtet, dein jugendlicher Hang zu trivialem Getöse und Computern hätte dich für die Sehenswürdigkeiten hier blind gehalten."

"Du hast das gerade nötig", dachte Cecil für sich. Laut sagte er: "Das ist doch voll cool hier, Daddy. Da stehen alte Schlösser rum, wo mal echte Grafen und Könige drin gewohnt haben, und gleich daneben ist eine Computerfirma. Irgendwie ist das genial, daß hier sowas geht. Außerdem interessiert mich Geschichte genauso wie das Internet oder Madonnas Musik, die du ja deshalb nur Getöse nennst, weil du sie in deinem achso wichtigen Job nicht mehr hören darfst. Da geht ja nur noch Beethoven oder Mozart."

"Pass ja auf!" Knurrte Reginald Wellington. Doch seine Schwägerin grinste amüsiert. Daß er hier einen schwereren Stand hatte, weil er nur geduldet war, weil seine Frau von hier stammte und sein Sohn sich mit der Sprache leichter tat als er, mußte der Berufspolitiker immer bedenken. Sich hier unbeliebt zu machen tat ihm gewiß nicht gut. Deshalb beließ er es bei einem ungehaltenen Blick an die Adresse seines Sohnes.

Am nächsten Morgen fuhren die Wellingtons mit einem Mietwagen nach Marseille weiter, um die Mittelmeerstadt in bester amerikanischer Touristenmanier in einem Tag zu besichtigen.

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Inspektor Molinar zündete sich eine Zigarette an. Maria Montes rümpfte die Nase. Sie hatte seit ihrer Schulmädchenzeit nicht mehr geraucht und empfand es als unnötige Belastung. Der Polizeiinspektor bemerkte wohl, daß sie den Qualm nicht sonderlich mochte. Sie sagte ruhig:

"Wenn es sie beruhigt, zu rauchen, dann machen Sie dies bitte ohne mich!"

"Oh, ich vergaß zu fragen", erkannte der Polizeiinspektor und drückte seine Zigarette im Porzellanaschenbecher aus, der als Urne Dutzender aufgerauchter Zigaretten auf dem Schreibtisch stand. Dann unterhielt er sich ruhig mit maria Montes über die Sache mit Sancho Gomez und fragte sie noch einmal, wie genau der Mann sich geäußert hatte. Maria erklärte es noch einmal. Dann wollte sie wissen, ob der Mann nicht vorher schon mit einer gefährlichen Droge in diesen Zustand versetzt worden sei. Vorstellbar war es, daß er entführt und von irgend jemandem mit dieser Loli zusammengebracht worden war, quasi als seine Henkersmahlzeit. Molinar grinste feist. Doch dann mußte er überlegen, ob an dieser heftigen Hypothese nicht doch mehr dran war. Sicher, was der Mann gesagt hatte hatte nur Maria Montes gehört. Ob vom FBI oder nicht, stimmen mußte das nicht unbedingt. Aber daß sie den schwarzen Engel erwähnt hatte gab ihm zu denken.

"Nun, wer genau dieser sogenannte schwarze Engel ist wissen wir wie gesagt nicht. Es gibt bisher nicht mehr als die Erwähnung von leichten Mädchen, die für ihn arbeiten sollen. Vielleicht ist es aber auch eine Legende, um sich vor anderen Zuhältern zu schützen und übermütige Kunden unter Kontrolle zu halten. Das hat es schon gegeben."

"Sie gehen also davon aus, daß dieser Mann den Wahnsinn nur gespielt hat?" Fragte maria Montes. Dann schüttelte sie den Kopf. "Ich habe den Mann genau angesehen, seine Bewegungen, seine Augen, seine Mimik. Ich habe genug in forensischer Psychologie gelernt, um einen vorgetäuschten Irrsinn von echtem Wahnsinn unterscheiden zu können. Manchmal kann dieses Wissen über Leben und Tod entscheiden."

Der Inspektor nickte. Doch Maria fühlte, daß er ihr nicht so einfach glaubte. Es klang ja auch zu abenteuerlich, daß ein bekannter Schwerverbrecher von einem auf den anderen Tag zu einem sabbernden Geisteskranken wurde. Was konnte sowas bewirken? Drogen oder gezielte Verletzungen des Gehirns erschienen ihr da die wahrscheinlichsten Mittel. Doch er hatte was von einem Satansweib aus der Hölle gestammelt. Nein! Sie durfte jetzt nicht paranoid werden, nur weil sie zweimal mit Phänomenen der schwarzen Magie in Berührung gekommen war. Doch war das wirklich so abwegig? Nein, das konnte nicht sein. Was immer den Mann um den Verstand gebracht hatte mußte naturwissenschaftlich erklärbare Ursachen haben.

Das Telefon läutete. Inspektor Molinar nahm den Hörer ab und meldete sich. Maria sah auf ihre Uhr und stellte fest, daß sie gerade erst eine halbe Stunde bei dem Inspektor war. Dieser hörte zu, nickte einmal, dann verzog er das Gesicht zu einer ungläubigen Grimasse. Er sprach, wobei er die freie Hand und die Füße mitbenutzte und erteilte den Befehl, den Ort eingehender zu untersuchen. Er legte auf und wollte sich Maria wieder zuwenden, als der Apparat erneut läutete. Zerknirscht nahm er den Hörer ab und meldete sich wieder. Dann sagte er nur noch:

"Der Schlag war's also nicht. Das können Sie mit Sicherheit ... Verstehe. Was genaueres also erst in einer Stunde? ... Geht in Ordnung!"

Maria erkannte, daß man wohl sehr schnell den Toten untersucht hatte. Ihr Schlag gegen ihn hatte also nicht den Tod verursacht. Der Inspektor nickte ihr erleichtert zu und sagte:

"Nun, eine gründliche Röntgenuntersuchung hat gezeigt, daß der Karateschlag nur zu einem Hämatom außerhalb der Schädeldecke geführt hat aber nicht das Gehirn direkt verletzt hat. Damit sind Sie nur noch als Zeugin wichtig, müssen jedoch nicht festgehalten werden."

"Das freut mich doch", versetzte Maria kalt. Das war eine Stunde verschwendete Zeit, die sie mit ihrem Mann besser auf dem Weg ins Hotel und dann zur Alhambra hätte verbringen sollen. Immerhin erbot sich der Inspektor, die amerikanische Kollegin persönlich ins San Cristóbal zu fahren. Sie nahm das Angebot an.

Unterwegs fühlte Maria wieder dieses kurze, eiskalte Vibrieren unter ihrer linken Brust. Was bedeutete das? Sie wandte sich um und sah hinter dem Wagen für einen Moment einen weißen Dunstschleier. Doch als sie genauer hinsehen wollte, war der auch schon wieder verschwunden, und das merkwürdige Gefühl ließ auch nach. Stattdessen dachte sie an Moses Greenthal, der zwei Monate zuvor beim Sturm auf das Purpurhaus bei Muddy Banks gestorben war. Wie kam sie jetzt darauf? Sie hatte doch alles verdrängt, was mit dem Tod ihres Kollegen zu tun gehabt hatte. Außerdem hatte sie Urlaub! Wahrscheinlich war es die Aufregung gewesen, diesen wohl verrückten Mann gefunden zu haben und dann noch verdächtigt zu werden, ihn fahrlässig umgebracht zu haben. Doch dieses kalte Vibrieren unter der Brust, wo ihr silbernes Kreuz hing, das in der Tat magische Kräfte besaß, machte ihr doch Sorgen. Konnte es sein, daß jemand oder etwas versuchte, sie aus der Ferne zu verhexen? Abwegig war dies nicht, seitdem sie Zeugin dieses Überfalls düsterer Geschöpfe geworden war und erfahren hatte, daß es in Europa einen Bund schwarzer Magier gab, dessen Anführer dem Satan selbst nacheiferte. Hatte man sie etwa auf der schwarzen Liste, wie einige Mafia-Banden in den Staaten sie und andere FBI-Leute standardmäßig auf ihren Abschußlisten führten? Ganz auszuschließen war es nicht. Sie beschloß, etwas wachsamer zu sein als im Urlaub nötig war.

Der Inspektor setzte Maria vor den Stufen zum Portal des San-Cristóbal-Hotels ab und wünschte ihr trotz aller Unannehmlichkeiten noch einen schönen Tag.

"Ihre Aussagen haben wir ja. Und wenn wir näheres wissen, das Ihre Anwesenheit erforderlich macht, melden wir uns bei Ihnen. Bitte haben Sie verständnis dafür, daß wir allen Spuren nachgehen müssen!"

"Natürlich habe ich Verständnis dafür, Inspektor", sagte Maria Montes kühl. Dann lächelte sie zum Abschied und verließ den zivilen Wagen, mit dem der Inspektor sie hergebracht hatte.

Im Hotel selbst wartete ihr Mann im Restaurant, wo er sich mit Kaffee und Bocadillos die Zeit vertrieb.

"Ach, haben sie dich laufengelassen?" Fragte Enrique erst zynisch grinsend. Maria nickte und meinte:

"Ich verstehe auch nicht, was das sollte, Enrique. Kriege ich auch so'n Brot?" Fragte sie und deutete auf Enriques Teller. Er nickte und winkte dem Kellner, ihr auch von den mit Thunfisch belegten Broten zu geben.

Am Nachmittag besuchten sie die Alhambra und bestaunten die alten Gebäude aus der Zeit der arabischen Vorherrschaft, die Mosaike in den Palästen, die kunstvoll beschnittenen Bäume in den Gartenanlagen der Generalife, die wie Rundbogengänge aus Pflanzen wirkten und den nie vollendeten Palast Karls V., jenes deutsch-römischen Kaisers, der einst über ein Reich regiert hatte, in dem die Sonne niemals untergehen konnte, weil es sich über alle von Spanien neu kolonisierten Teile rund um die Welt erstreckt hatte. Maria staunte über den Hauch der Geschichte, der sie hier umwehte. Enrique meinte nur einmal:

"Ist schon spannend, was an einem Ort so stattgefunden hat, was die ganze Welt bewegt hat." Doch mehr gab es dazu nicht zu sagen.

Abends gönnten sich die Montes' eine Folkloreschau mit Flamenco und Tapas. Da sie ausgelost hatten, daß Maria fahren würde, gönnte sich Enrique einige Gläser Wein. Doch der Wein hatte es wohl in sich. Als sie um kurz nach zwölf Uhr nachts den Rückweg in ihr Hotel antraten, war Enrique sichtlich angeheitert und lachte manchmal albern über irgendwas, das ihm wohl gerade durch den Kopf ging. Maria fragte ihn einmal, ob er nur von dem Wein getrunken habe. Er antwortete ihr bereits mit leichten Sprechstörungen:

"N-nein, Puri, auch von den Cocktails da."

"Oha, dann jammer mir bloß nichts vor, wenn du morgen einen dicken Kopf hast!" Tadelte Maria ihren Mann. Dieser grinste darüber.

Im Hotel schaffte es Enrique gerade noch, sich bettfertig umzuziehen und hinzulegen, während Maria noch über die Ereignisse des Morgens nachdachte. Woran mochte dieser Sancho Gomez erkrankt sein? Oder war er angegriffen worden? Hatte man ihn eventuell in eine Falle gelockt und unter Drogen gesetzt, die tatsächlich das Gehirn geschädigt hatten? Grauenhafte Vorstellung, dachte Maria, der einfiel, daß es bestimmte Psychopharmaka gab, die in Überdosen zu heftigen Schäden führen konnten. Was auch immer dieser Gomez verbrochen hatte, solch ein Schicksal war keinem zu wünschen. Immer wieder sah sie den Mann mit leerem Blick vor sich, wie er etwas von einer Loli und einem Satansweib stammelte. Sie wußte, daß die Kurzform Loli für Dolores stand, in ihrem Geburtsland Mexiko auch als Lolita ein gebräuchlicher Mädchenname war. Falls ein solches "Satansweib" existierte, dann paßte der Name heftig. doch was sollte sie sich jetzt darüber den Kopf zerbrechen. Morgen würden sie in die Berge fahren, um eine lange Wanderung zu machen. Das würde sie von diesem Vorfall am Morgen ablenken.

Maria schlief tief und fest. Enrique, der zunächst wie ein Stein geschlafen hatte, war mitten in der Nacht von irgendwas geweckt worden. Der wohlige Rausch des andalusischen Weins hatte schon etwas nachgelassen, und er fühlte sich so munter, als habe er einen vollen Tag geschlafen. Dann fühlte er auch, daß er ins Bad mußte. Offenbar waren die vier Gläser Wein und die drei Cocktails ihm heftig in die Blase gegangen. Er stand so leise es ging auf, zog seine Hausschuhe an und schlich hinüber in das hellblau gekachelte Badezimmer. Er schloß die Tür und erleichterte sich. Doch irgendwie meinte er, als er den Hebel an der Zisterne niederdrückte, er wäre nicht allein in diesem Raum. Doch das war bestimmt eine Sinnestäuschung. Denn er konnte weder jemanden sehen noch hören. Denn seine Frau schnarchte nicht, und durch die Tür war nichts von ihr zu hören. Doch das Gefühl, nicht mehr allein zu sein überkam ihn immer stärker. Er blickte zum Fenster hinaus, ob jemand davorhing, was im fünften Stock wohl schwer vorstellbar war und der Balkon nicht unter dem Badezimmerfenster entlangführte. Während er angestrengt über das Lichtermeer Granadas mit den glühwürmchengleich dahinhuschenden Autoscheinwerfern etwas suchte, was der Logik nach nicht da sein konnte, bewegte sich der marineblaue Plastikvorhang vor der Dusche ganz sachte. Dann, wie aus dem Nichts, stand sie hinter dem Vorhang, die milchkaffeehäutige Frau mit dem langen, nachtschwarzen Har. Ihr Körper glitzerte wie unter einem Film aus Wasser, als habe sie gerade eine ausgiebige Dusche genommen. Sie streckte ihre rechte Hand mit den rosarot lackierten Fingernägeln aus und berührte Enrique am Rücken. Dieser zuckte zusammen und stieß einen kurzen Schreckenslaut aus. Als er dann herumfuhr und der Fremden, die völlig unbekleidet in der Duschkabine stand in die wasserblauen Augen blickte, fühlte er, wie dieser Blick ihm tief ins Gehirn drang und fühlte ein inniges Bedürfnis, seinen Pyjama abzustreifen und zu der Fremden in die Duschkabine zu schlüpfen. Weder Argwohn noch ein schlechtes Gewissen seiner Frau Maria gegenüber hielten ihn zurück. Er näherte sich der Fremden Schönheit, die ihre Arme weit ausgebreitet hatte und ihn erwartungsvoll anlächelte. Bedenkenlos ließ er sich nach vorne fallen und wurde sofort von den warmen, weichen Armen der überirdischen Frau umschlungen. Sie wurde von seinem Gewicht an die Wand gedrückt, wo sie sich selbst anlehnte, die Beine anzog und den Mann in ihren Armen mit einer schlangengleichen Gelenkigkeit die Beine um den Unterleib schlang. Enrique sehnte den Moment herbei, da er mit dieser Frau eins werden würde. Doch da verschwammen alle Bilder vor und um ihn, und er fühlte sich in einen dunklen Schacht stürzen. Er glaubte schon, er habe das hier nur geträumt, als er auf einer Strohmatte wieder zu sich kam. Er lag auf dem Rücken. Die Frau aus der Dusche stand neben ihm und sah ihn sehr erfreut an.

"Schön, daß du meiner Einladung gefolgt bist, Enrique Montes. Ich hoffe, du machst dir nicht allzu große Sorgen um deine Frau", sagte sie mit einer warmen Stimme, die Enrique durch alle Fasern des Körpers pulste. Er sah sie an und erkannte jetzt, daß er wohl nicht träumte.

"Verdammt, wo bin ich hier, und was bist du für eine?"

"Du bist in meiner Zuflucht, Enrique. Und ich bin María Teresa Loli Herrero. Zumindest heiße ich seit vierzig Jahren so in eurer Welt", erwiederte die unheimlich schöne und überirdisch mächtige Frau, die seelenruhig und unverhüllt neben dem Mann stand, den sie gerade aus einem Hotelzimmer entführt hatte, ohne daß seine Frau das bemerkt hatte. Enrique spürte Angst und Wut in sich aufsteigen. Doch die Fremde merkte das wohl und sah ihn sehr genau an. Da ebbten diese Gefühle wieder ab und wichen einer unerklärlichen Geborgenheit. Doch sein Verstand war noch nicht völlig niedergerungen. Er ließ Enrique fragen:

"Was soll ich hier?"

"Ich will wissen, was deine Frau an sich hat, daß ich sie nicht klar sehen oder ihre Gedanken erfassen kann. Es war schon ein heftiges Stück Arbeit, dich überhaupt zu mir zu holen. Diese vermaledeite Lichtaura, die sie umgibt reicht mehr als fünf Meter weit. Zum Glück verlangte dein Körper nach dem törichten Trinken dieses Gährungsgiftes nach Erleichterung. So konnte ich dich zu mir bringen. Dir persönlich werde ich nichts böses tun. Im Gegenteil, wenn du stark genug bist, wirst du von mir die größten Freuden deines Lebens erfahren und dir wünschen, nur noch mit mir zusammen zu sein", sagte die Fremde selbstsicher. Enrique wollte aufstehen. Doch bleierne Schwere hielt ihn auf der Matte.

"Bleibe ruhig liegen und schlafe dich frei vom Rest dieses widerlichen Gebräus, das du geschluckt hast! Ich werde dich wieder wecken, wenn du für mich bereit bist." Ihre Worte wirkten wie ein Zauberspruch auf Enrique. Seine Augenlider fielen wie tonnenschwere Stahltore über seine pupillen, und er trieb in die wohltuende Bewußtlosigkeit eines tiefen Schlafes davon.

"Morgen werde ich aus dir herausholen, was ich über deine Frau und diesen Kerl Sancho wissen muß", dachte Maria Loli Herrero. "Es kann nicht angehen, daß eine Kurzlebige von einer solchen Lichtaura umgeben ist." Sie wollte sich gerade neben den in den Schlaf befohlenen Enrique Montes legen, da fühlte sie wieder diese Macht, die wie ein Ruf aus weiter Ferne zu ihr drang und sie zu unterdrücken suchte. Wieder klang ihr wahrer Name in ihrem Bewußtsein.

"Itoluhila, Tochter des schwarzen Wassers, höre mich und folge mir!" In Wogen aus Feuer und Licht stürmten diese Worte auf ihren Geist ein. Doch die Tochter der Lahilliota war diesmal auf den Angriff vorbereitet. Sie sammelte ihre Willenskraft, bündelte sie zu einem festen, unnachgiebigem Magiekonzentrat und schleuderte es wie einen Pfeil aus tiefschwarzem Eis in die Wogen aus Feuer und Licht zurück.

"Nein, du Feigling! Ich werde dir nicht folgen", trieb sie diesen Gegenschlag an. Diesmal schien es, als habe der Feind in ihrem Kopf mehr Macht angesammelt. Doch als sie fühlte, wie ihr Gegenstoß ihn traf, hörte sie seinen Aufschrei. Sie sprang körperlich in ihren Lebenskrug, trank förmlich neue Energie und bohrte mit unerbittlicher Entschlossenheit nach. Sie fühlte, wie der Fremde seine Balance verlor und sein Angriff aus der Ferne in den Dimensionen von Raum und Zeit zerstreut wurde. Dann sah sie sein Gesicht und zwang sich, es nicht aus dem Bewußtsein zu verlieren. Sie fühlte, wie ihr weit entfernter Gegner unter dem Gegenschlag zuckte und wankte.

"Wer bist du?!" Schleuderte sie einen eindringlichen Gedanken in die Ferne. Sie sah einen Kreis aus gold-rotem Licht, der den Angreifer umschloss. Sie hörte ihn in Gedanken aufschreien und fühlte eine aufflammende Angst. Dann zerbarst die Lichtmauer. Sie stieß vor, um mehr über den sie angreifenden Feind zu erfahren. Wie ein großer Felsbrocken in einen gefrorenen See durchschlug ihr magischer Fernangriff die Oberfläche des feindlichen Bewußtseins und wühlte es auf. Sie hörte Fragmente von Wörtern, klammerte sich mit ihrem Willen daran fest und versuchte, sie zusammenzusetzen. Sie sah den mossäugigen Fremden, der aufsprang und in wilder Panik in einen silbernen Kreis hineinsprang, der jäh aufflammte und ihren Gegenangriff zurückprällte. Doch dabei hörte sie einen Namen: "Alfonso Espinado!" Dann traf sie ihre zurückgeworfene Kraft und betäubte sie für einen Moment. Weil ihre gesammelte und in diesem Krug konzentrierte Lebenskraft wie ein Meer im Sturm wogte und brodelte, fand sie wieder zu sich. Sie hörte die Stimmen von ihr überwältigter Männer und Jungen, die sich aus dem aufgewühlten Lebensstoff herauslösten und wieder darin versanken wie aufgewirbelter Sand. Dann beruhigte sich die Essenz in der sie badete. Die magische Fernschlacht war vorbei. Weder sie noch der andere hatte sie für sich entscheiden können. Schlag und Gegenschlag hatten beide zurückgedrängt. Beide hatten sich in einen schützenden Bereich zurückgezogen. Doch die Fronten waren nun klar. Sie wußte, wer der Feind war. Er hatte vorher ja schon gewußt, wer sie war. Aber wie schaffte er das, sie so gezielt anzugreifen? Als ihr dieser Gedanke kam, fiel ihr ein, wie sie vor vierzig Jahren nach einem wilden Kampf gegen Leute des Zaubereiministeriums für eine Viertelstunde bewegungsunfähig in einem Haus in Bilbao herumlag. ein zauberer, damals wohl gerade Assistent der Abteilung zur sogenannten Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe, hatte ihr über den Kopf gestreichelt und sich dann zurückgezogen, wohl aus Angst, sie könnte sich rasch erholen und ihn angreifen. Ja, das mußte es sein. Er hatte ihr heimlich Haare vom Kopf geraubt und diese wohl gut verwahrt, womöglich so bezaubert, daß sie ihn vergessen mußte. Ja, sie hatte nie wieder an diesen Mann gedacht, der sie damals angerührt hatte. Jetzt, wo sie zweimal aus der Ferne angegriffen worden war und das Gesicht und den Namen des Mannes erfahren konnte, konnte sie sich wieder an diese Einzelheit erinnern. Um das Ministerium darüber zu täuschen, daß sie noch aktiv war hatte sie ein halbes Jahr lang in Frankreich gelebt und sich wie gewöhnliche Kurzlebige verhalten, von den drei Abhängigen, die sie sich gesichert hatte abgesehen. Doch ihre mächtigen Zauberkräfte hatte sie nicht mehr benutzt. Dann war sie zurück in ihre Heimat gereist und hatte den Lebenskrug weiter benutzt und sich wie ein gewöhnliches Straßenmädchen Geld und Lebensenergie von sexbedürftigen Männern geholt, sachte aber genug, um nicht in den langen Winterschlaf zu fallen, in dem sieben ihrer Schwestern lagen. Sie hatte Gefallen an der käuflichen Liebe gefunden und beschlossen, den kurzlebigen Frauen, die ganz für sich alleine arbeiten wollten, als ihnen unbekannte Schutzherrin aufzutreten. Seitdem war sie der schwarze Engel.

Die Frauengestalt, die sich María Teresa Loli Herrero nannte, wartete eine volle Stunde, bis sie ihrem Lebenskrug wieder entstieg und sich neben Enrique Montes legte. Wenn er wieder aufwachte, würde sie ihn zu sich nehmen, sachte aber unumkehrbar.

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Maria Montes schrak auf, als sie von einem dunklen Schatten träumte, der über ihr Bett fiel und sie eiskalt umarmte. Ein Blitz, zusammen mit einem wilden Rütteln unter ihrer Brust, riss sie aus diesem düsteren Traum. Sie keuchte angestrengt und hörte ihr Herz in den Ohren pochen. Sie dachte daran, sich wieder zu beruhigen. Es war doch nur ein Alptraum gewesen. Sie drehte sich um, wollte ihren Mann Enrique berühren ... und griff ins Leere. Sie erschrak erneut. Wo war er? Sie legte ihre Hand auf die Matratze, wo ihr Mann beim Einschlafen noch gelegen hatte. Sie fühlte sich kalt an, zumindest so, daß hier schon lange kein Wärme abgebender Körper mehr gelegen hatte. Angst beschlich die FBI-Agentin. Eine unbestimmbare Angst, von der sie nicht wußte, wo sie herkam. Sie schaltete die Nachttischlampe ein und sah sich um. Enriques Straßenkleidung hing immer noch über einem der Sessel. Vielleicht hatte ihn, den Mexikaner, weit von der Heimat Montezumas Rache ereilt, dachte Maria und mußte trotz der immer noch lauernden Furcht grinsen. Dann war er wohl im Badezimmer. Sie wartete eine Minute, aus der zwei wurden, dann drei. Dann rief sie:

"Cariño, bist du im Bad?! Geht's dir nicht gut?!" Zehn Bange Sekunden wartete Maria auf eine Antwort - vergeblich. Sie sprang förmlich aus dem Bett, lief ohne Pantoffeln zur Badezimmertür und klopfte an. Wieder kam keine Antwort. Ja, sie hörte auch nichts und niemanden dort drinnen. Entschlossen drückte sie die Klinke herunter und zog an der Tür. Doch sie gab nicht nach. Sie war von innen verriegelt. Sie klopfte erneut und rief nach ihrem Mann. Doch von drinnen kam keine Antwort. Schnell sah sie sich um. Enriques Hausschuhe standen nicht vor dem Bett. Also hatte er sie wohl angezogen. Doch warum antwortete er nicht, wenn er sich im Bad eingeschlossen hatte? Ihr Gefahreninstinkt signalisierte ihr Alarmstufe Rot. Enrique war etwas passiert, was sie nicht mitbekommen hatte. Sie mußte die Badezimmertür aufbekommen.

Sie wußte, daß die Tür von innen mit einem Schieberiegel versperrt werden konnte. Also war mit einem Schraubenzieher oder Schraubenschlüssel nichts zu machen. Blieb also nur grobe Gewalt. Doch sie wollte die Tür nicht einfach eintreten, ohne jemanden offizielles dabei zu haben. So griff sie zum Telefon und drückte die Taste für die Rezeption.

"Ja, bitte!" Kam eine Frauenstimme aus dem Hörer. Maria sagte nun ruhig, daß ihr Mann wohl ohnmächtig im Badezimmer läge und sie die Tür nicht aufbekäme. Ein Mitarbeiter des Hotelpersonals wurde losgeschickt, sich darum zu kümmern. Maria zog hastig ihre Ausgehkleidung über, um dem Hotelangestellten nicht im geblümten Nachthemd entgegenzutreten. Als dann nach nur vierzig Sekunden ein junger Mann vor der Zimmertür stand und sich als Rico Jerez vorstellte, führte sie ihn zum Badezimmer. Er besah sich die Tür und holte ein Brecheisen ausseiner Werkzeugtasche. Sehr geübt setzte er es so an, daß er mit einer kraftvollen Hebelbewegung die Verriegelung aufbrach und die Tür ohne weiteren Widerstand aufschwang. Maria konzentrierte sich, ruhig zu bleiben. Wahrscheinlich lag ihr Mann wirklich bewußtlos im Badezimmer. Doch das einzige, was im Badezimmer lag, waren die Pantoffeln und der kurze, himmelblaue Schlafanzug auf dem Vorlegetuch vor der Duschkabine. Der Vorhang hing einen Spalt breit offen da. Das Fenster war fest verschlossen. Doch wo war Enrique?

"Sind Sie sicher, daß ihr Mann ins Bad gegangen ist?" Fragte Jerez. Maria schüttelte den Kopf. Natürlich hatte sie davon nichts mitbekommen. Jerez hob den Toilettendeckel an um zu sehen, ob hier vor kurzem noch etwas hinuntergespült worden war. Tatsächlich hingen noch einige Wassertropfen am Ausgang des Zulaufrohres, konnte Maria auch sehen.

"Er war also hier", sagte Jerez, der zu den Hoteldetektiven gehörte. "Aber wie ist der hier herausgekommen?"

"Er muß schon lange auf gewesen sein. Seine Seite vom Bett war schon kalt, und ich weiß genau, daß er mindestens zwanzig Minuten darin gelegen hat."

"Ja, und dann ist er ins Badezimmer gegangen, hat sich komplett ausgezogen und die Toilette benutzt. Und dann?"

"Die Frage stelle ich mir auch", erwiderte Maria, die einen heißen Verdacht hatte, den sie jedoch weder begründen noch laut aussprechen konnte. Sie überlegte hastig, ob jemand einen Raum durch das Fenster verlassen konnte, es aber danach völlig korrekt verschlossen war. Sie erinnerte sich an Planspielchen, wie jemand in einem hermetisch verschlossenen Raum ermordet werden konnte, ohne daß der Mörder selbst im Raum blieb oder beim Verlassen nicht als Mörder auffiel.

"Wann ist das Badezimmerfenster zuletzt repariert oder ausgetauscht worden?" Fragte Maria Montes den Hoteldetektiv.

"Vor zwei Jahren sind bruchsichere Fenster eingesetzt worden", sagte Jerez. "Wie kommen Sie darauf?"

"Weil es möglich sein könnte, daß jemand das Fenster aufgebrochen, Enrique entführt und dann das fenster von außen verriegelt hat und dann die zerbrochene Scheibe gegen eine neue auszutauschen, sodaß es aussieht, als sei das Fenster von innen verriegelt worden."

"Genialer Zaubertrick", lachte der Detektiv. "Aber die Fensterscheiben können nur mit einem Dampfhammer eingeschlagen werden, und dann hätte der große Magier ja hunderte von Scherben im Zimmer verteilen müssen. Das hätten Sie unmöglich überhören können. Außerdem haben wir Alarmdrähte da einbauen lassen, um das menschliche Ungeziefer fernzuhalten. Und wie sollte der Trickser dann die Scheibe gegen eine neue ausgetauscht haben? Das Glas wurde in Metallrahmen geliefert, die fest im Fenster selbst verschweißt wurden. Wir haben uns da jeden möglichen Aufwand gemacht, um die Fenster aller Zimmer so einbruchssicher wie möglich zu kriegen", sagte der Detektiv und begutachtete das Fenster. ja, alles war in bester Ordnung. Von außen hätte niemand es öffnen oder schließen können, ohne die Scheibe zu demolieren. Doch gerade das machte das Verschwinden Enriques so unerklärbar. Es sei denn, man sprach nicht von einem Zaubertrick, sondern von echter Magie.

"Holen Sie bitte die Polizei, damit sie die Spuren sichert!" Verlangte Maria Montes. Sie fing leicht zu zittern an. Der Verdacht, den sie hatte, mußte entkräftet werden. Wenn Enrique nicht auf eine sehr leise und spurenarme Weise aus dem Badezimmer verschwinden konnte, dann blieb nur das Wirken übernatürlicher Mächte. Ihr Mann war bestimmt kein Zauberer, der wie Zachary Marchand einfach im Nichts verschwinden konnte. Also mußte ihn jemand aus der magischen Welt entführt haben. Doch bevor sie das als Lösung des Rätsels hinnehmen wollte, sollte die Polizei das Badezimmer untersuchen. Eine weitere Frage war, warum Enrique völlig nackt verschwunden war. die Zauberer und Hexen, denen sie im Verlauf des letzten Jahres begegnet war, konnten alle statthaft bekleidet aus dem Nichts auftauchen und wieder darin verschwinden.

Die Guardia Civil rückte an und untersuchte das Badezimmer. Sie fanden Reste von Harnsäure im Toilettenbecken, sowie die Fußabdrücke der Montes', nackt oder mit Hausschuhen. In der Duschkabine fanden sie zwei merkwürdige Fußabdrücke, die sich dadurch hervorhoben, daß sie die saubersten Stellen im Duschbecken waren, als habe jemand gezielt bestimmte Konturen durch gründliches Putzen nachgezeichnet.

"Das hatten wir aber noch nie, negative Abdrücke", grummelte ein Beamter und trug das Ergebnis in einen Handheld-Computer ein. Sein Kollege nickte und verließ das Hotelzimmer, um mit seinem Kollegen vor der Tür zu sprechen. Als dann unvermittelt sechs Männer in leuchtendroten Umhängen mit sonnengelben Kragen und Ärmelsäumen im Zimmer auftauchten und mit einem Wink eines Zauberstabes die Tür verschlossen wurde hatte Maria die Bestätigung, das Enrique ein Opfer magischer Gewalten geworden sein mußte. Sie hob die Hände, darauf hoffend, daß man ihr nichts anhaben konnte, falls die Magier alle Spuren übernatürlicher Ereignisse verwischen wollten.

"Wo kommen die denn ...?" Fragte einer der Polizisten, als etwas ihn auf der Stelle stehen ließ. Alle Guardia-Leute erstarrten, auch Rico Jerez. Die Zauberer nahmen die Notizen und frisierten sie um, wo Maria dabeistand. Sie tat so, als habe auch sie der Erstarrungszauber überwältigt. Doch ihr Kruzifix hatte nur leicht gezittert und den Angriff vereitelt. Keiner der Zauberer hatte das bemerkt. Sie waren mit den Spuren beschäftigt, bis sie alles beseitigt oder umgeändert hatten, was auf schwarze Magie hindeuten mochte. Dann hörte Maria ein Wort, das tief in ihr nachhalte: "Obleviate!" Jeder der sechs Zauberer hielt seinen Stab auf einen Polizisten, den Detektiv oder Maria gerichtet. Alle bekamen einen weltentrückten Blick. Doch Maria fühlte nur ein dumpfes Pochen durch den Leib gehen, als sei ihr Kruzifix ein tiefgekühltes, dennoch sehr lebendiges äußeres Herz, das im wilden Takt schlug. Gleichzeitig fühlte sie etwas in ihrem Kopf rütteln und schütteln. Vor ihren Augen tanzten bunte Funken, die zu unscharfen Bildern wurden, die kamen und sofort wieder gingen.

"In Ordnung, die sind behandelt", sagte einer der Zauberer und sprach eine Formel auf einen Polizisten, sodaß dieser sich wieder bewegte. So wurde jeder nun freigesprochen. Dann nickte der Zauberer seinen Kollegen zu. Mit einem sechsstimmigen Plopplaut verschwanden sie einfach. Maria stand noch solange auf demselben Fleck, bis die anderen wieder normal dreinschauten. Dann hörte sie, wie einer der Polizisten sagte:

"Tja, der mann ist also durch das Badezimmerfenster getürmt und verschwunden. Kommen Sie morgen bitte in das Büro von Inspektor Molinar, Señora Montes!"

"Er ist durch das Fenster?" Fragte Maria und eilte ins Badezimmer. Da sah sie das geöffnete Fenster, an dessen sims ein Bergsteigerhaken festgemacht war, an dem ein reißfestes Seil in die Tiefe hinabreichte. Kein Zweifel, Enrique mußte sich mit der Bergsteigerausrüstung von ihr abgesetzt, regelrecht abgeseilt haben. Jetzt mußte sie so tun, als wisse sie nicht, was ihren Mann zu solch einer Flucht getrieben haben konnte.

Die Polizisten nahmen den Haken und die daran hängenden Kletterseile als Beweismittel mit und verließen das Hotelzimmer.

"Diese vermaledeiten Zauberer", knurrte sie, als die Polizisten abgerückt waren und sie perplex im Zimmer geblieben war. Diese Hexenmeister hatten die Kleidung verschwinden lassen, den Pyjama und die Hausschuhe auch. Ihr Mann war also anständig angezogen aus dem Badezimmerfenster gestiegen. So mußte es nun aussehen. Doch was war wirklich passiert?

Maria stand noch eine Weile am Fenster, als ein winziger Vogel, ein Sperlingskauz, einfach durch das geöffnete Fenster hereinflog und einen Umschlag in den Waschtisch fallen ließ. Dann drehte die Winzeule einfach um und schwirrte mit unhörbaren Flügelschlägen aus dem Fenster hinaus in die Nacht davon. maria schloß sofort das bruchsichere Fenster und betrachtete den Umschlag, den der Vogel ihr gebracht hatte. Sie nahm ihn und hielt ihn an ihr silbernes Kreuz. Doch dieses reagierte darauf nicht, und der Umschlag blieb auch heil. Sie erinnerte sich an die Worte Jane Porters, daß ihr Kreuz keine Zerstörungswaffe sondern nur ein Schutzamulett war. Dann öffnete sie den Umschlag und zog einen Pergamentzettel heraus.

Wir haben die Spuren des Verschwindens Ihres Mannes so umändern müssen, daß den Polizisten Ihrer Welt eine glaubhafte und nachprüfbare Lösung vorliegt. Da ich trotz Ihrer schauspielerischen Begabung mitbekommen habe, daß Sie für unsere Zauber unerreichbar waren, denke ich, daß Ihr Mann Ihretwegen auf magische Weise entführt wurde. Da ich davon ausgehe, daß Sie weiterhin an der Aufklärung seines Verschwindens interessiert sind, bitte ich sie, heute morgen um acht Uhr am Kloster St. Bruno zu warten. Ich werde sie dort abholen. Auch wenn Sie wohl von einer Falle ausgehen - was ich Ihnen nicht verübeln kann - möchte ich Ihnen versichern, daß ich nicht vorhabe, Ihnen etwas anzutun. Bis nachher also

                    Vergilio Fuentes Celestes

"Verdammt, hat der das doch mitbekommen, daß ich diesen Erstarrungszauber nicht abbekommen habe", dachte Maria Montes verbittert. Natürlich dachte sie daran, es könne eine Falle sein. Wie wollte sie dann darauf eingehen. Klar war für sie, daß die Zauberer jederzeit wieder bei ihr im Zimmer auftauchen konnten, um sie festzunehmen. Also hatten sie es nicht nötig, ihr eine Falle zu stellen. Sie überlegte noch, ob sie der Einladung folgen sollte, als der Zettel innerhalb von Sekunden vergilbte und zu Staub zerfiel, ebenso der Umschlag. Damit gab es keine Spuren, daß sie den Brief bekommen hatte.

"Nun, dann werde ich wohl drauf eingehen", dachte Maria Montes und überlegte, wie sie am schnellsten zum alten Kloster hinfahren konnte. Denn eines war ihr auch klar, daß ihr Mann in großer Gefahr schwebte, und das tatsächlich ihretwegen.

__________

Espinado hatte Angst. Sein zweiter Angriff, zu dem er nun die doppelte Menge von einem Haar Itoluhilas benutzt hatte, war wiederum gescheitert. Nicht nur das. Diese Höllentochter hatte einen mentalmagischen Gegenstoß gelandet, seine Abwehr durchschlagen und ihn fast überwältigt. Er hatte sich noch seinen Namen denken hören können, bevor er in letzter Anstrengung in den silbernen Bannkreis geflüchtet war, wo kein Fernfluch ihn erreichen konnte. Doch nun wußte dieses Geschöpf, wer sie zweimal angegriffen hatte und würde jetzt auf ihn Jagd machen. Er wußte genug über die Töchter des Abgrundes, daß er davon ausging, daß sie bald schon heraushatte, wo er wohnte. Noch wußte er nicht, wie er sie abwehren konnte. Eines war ihm klar, daß er sie nicht noch einmal aus der Ferne attackieren durfte.

In jenem silbernen Kreis hörte er Selvano Cortoreja rufen. Was wollte der von ihm?

"Ich bin in meinem Labor, Selvano. Bleibe wo du bist! Ich komme sofort zu dir!" Rief er zurück und verließ widerwillig den silbernen Kreis. Hoffentlich schlug die Tochter des Abgrunds nicht in dem Moment zurück!

"Alfonso, dieser Blutschlürfer ist auf dem Weg hierher. Letzte Nacht hat eine von uns seine Diener in der Nähe von Valladolid gesehen. Fünf stunden später, kurz vor Sonnenaufgang hat Gustavo Moreno ihn selbst nahe Toledo gesehen. Dort wird er sich wohl mit seinen Blutschlürferkumpanen getroffen haben, die in den alten Burgverliesen rumhängen", knurrte Selvano Cortoreja sehr nervös. Sein struppiger Bart bebte förmlich vor Anspannung. Espinado sah seinen Werwolfbruder genau an und antwortete:

"War zu erwarten, daß er jetzt wieder Ärger macht, Selvano. Er hat wohl auch davon gehört, daß der englische Meister nach Getreuen sucht und weiß, daß ich dem nicht so abgeneigt bin. Wahrscheinlich will er den Osteuropäern zuvorkommen, die dem damals schon die Füße geküßt haben."

"Ich habe dir vor drei Tagen schon gesagt, du mußt den Kerl abfertigen. Aber du meinst ja, weil du zaubern kannst ...", knurrte Selvano und zog sich rasch zurück, um nicht wieder unter den heftigen Folterfluch geraten zu können. Alfonso lächelte bösartig und erwiderte:

"Ich habe dir gesagt, daß ich erst andere Dinge zu erledigen habe. Aber wenn du so viel Angst vor diesem Blutschlürfer hast, dann komm mit deiner Süßen und allen Brüdern und Schwestern, die sich vor dem fürchten ruhig in mein trautes Heim. Heute nachmittag ist Greyback zu Gast, um mit mir über seinen großen Freund zu reden. Vielleicht interessiert es dich ja, was der zu sagen hat."

"Kann der denn spanisch?" Fragte Selvano verbittert dreinschauend.

"Nicht daß ich wüßte, Bruder. Aber ich kann Englisch."

"Ich aber nicht", blaffte Selvano ungehalten. Alfonso meinte, daß das sein Problem sei. Selvano knurrte dann noch: "Trotzdem komme ich mit Lunera und zehn anderen Brüdern her. Besser wär's, wenn du deine verfaulten Kadaver rausschickst. Die stinken uns zu heftig."

"Och, Bruder. Ich kriege davon nicht genug, weil es meine Macht ist, die da so duftet", erwiderte Alfonso gehässig. Dann sah er, wie Selvano aus dem Audienzsaal davonging.

"Dieser Hirudazo will's also wissen. Sein Pech, daß ich um die Burg in Hundert Meter Umkreis eine Apparitionsmauer hochgezogen habe. Da wird er wohl über den Graben müssen, und der ist voll fließendem Wasser."

Er ging durch alle Räume seiner Burg und sprach dabei mit den an der Wand lehnenden Rüstungen. Er wollte gerade neue Anweisungen an seine fünf Hauselfen erteilen, als er fühlte, wie etwas nach seinem Geist tastete. War das dieser Voldemort? Als er dann das Gefühl verspürte, am Strand eines pechschwarzen Ozeans zu stehen, über dem tiefe, dunkle Wolken die Sonne mehr und mehr verhüllten und eine sehr energische Frauenstimme zu ihm flüsterte, wußte er, Itoluhila hatte ihn aufgespürt.

"Alfonso Espinado, höre mich und antworte mir! Du hast mich beleidigt, mich zu unterdrücken versucht wie eine niedere Magd. Das werde ich dir heimzahlen, und zwar bald."

Alfonso eilte unter den immer drängender in sein Bewußtsein strömenden Anrufen Itoluhilas in sein Labor und sprang in den silbernen Kreis, bevor er den letzten Rest Willenskraft verlor und dieser Kreatur noch geantwortet hätte. Schlagartig ebbte der gedankliche Fernangriff ab. Er wußte, sie hatte nur mit ihm gespielt. Sie hatte nicht mit voller Wucht zugeschlagen, sondern ihm die Zeit gelassen, sich in Deckung zu bringen. Sie wollte ihn spüren lassen, wer von ihnen beiden die Katze und wer die Maus war. Doch er würde ihr zeigen, daß er ein Wolf war und sie, wenn sie sich als Katze sah, seine Wut fürchten mußte. Solange sie nicht wußte, wo er zu finden war, konnte er sich vor ihren magischen Fernangriffen verschanzen. Er wiederum konnte zwischendurch neue Angriffe wagen, wenn er die Dosis der von ihr erbeuteten Körperfragmente verdoppelte. Ja, es mußte ihm gelingen, wenn der nächste Schluck des Trankes fertig war und er einen neuen Fernbeeinflussungskreis gezogen hatte, dieses Weib zu unterwerfen, bevor es ihn erreichte.

Am Nachmittag trafen Selvano, Lunera und mehr als zwanzig andere Werwölfe ein, die Alfonso großzügig auf die mehr als hundert Zimmer verteilte, die sein bescheidenes Paradies bot. Die Hauselfen servierten rohes, blutiges Fleisch. Selvano genoss zwar das ihm hingestellte Fleisch, warf jedoch ein, daß er lieber lebendes Fleisch fressen würde. Daraufhin beschloss Alfonso, seine Wiedergänger loszuschicken, für seine Gäste Beute zu machen.

Als ein grauhaariger Mann in schwarzem Umhang vor der Zugbrücke auftauchte, dessen dunkle Augen hungrig dreinschauten, stand Alfonso gerade mit Lunera und Selvano im Wehrgang über dem Tor.

"Seht, da ist unser Ehrengast", sagte er leise. Lunera sah den Besucher an, der das geschlossene Tor anstarrte, als könne er es mit seinem Willen öffnen.

"Espinado, ich bin hier!" Bellte der Ankömmling wie ein wütender Hund. Er benutzte die englische Sprache und klang für Selvano daher sehr befremdlich.

"Ich sehe dich, Fenrir!" Rief Alfonso zurück. "Möchtest du zu mir hereinkommen?!"

"Natürlich", knurrte der grauhaarige Besucher verstimmt. Alfonso zog seinen Zauberstab und murmelte ein Wort, worauf das Tor aufschwang. Greyback überquerte die Brücke und durchschritt das Tor.

"Wer von euch beiden will mit runter?" Fragte der Burgherr seine beiden Gefährten. Selvano und Lunera nickten. Lunera hatte sich ein sonnengelbes Wollkleid übergestreift.

Sie begrüßten Greyback hinter dem Tor und brachten ihn in den Festsaal, wo sie sich hinsetzten und über zwei Stunden unterhielten. Espinado hörte sich an, was der englische Werwolf zu sagen hatte. Im wesentlichen waren es forderungen Voldemorts, die er zu überbringen hatte. Espinado sagte einmal dazu:

"Wenn dein mächtiger Freund mit mir was aushandeln möchte, kann er mich gerne besuchen. Aber die bedingungslose Unterwerfung kann er sich abschminken, Fenrir. Ich bin hier seit über fünfzig Jahren eine Institution und habe sehr gute Kontakte in alle Bereiche der spanischen Zaubererwelt. Meine Macht ist gefürchtet und meine Freunde sind sehr treu zu mir, nicht wahr, Selvano?" Die Frage hatte er auf Spanisch gestellt. Selvano fragte, was wahr sein solle. Dann lachte er.

"Sage diesem Kerl, wir brauchen diesen Voldemort nicht, wenn der uns nicht entgegenkommt und diesen Hirudazo erledigt!"

"Nun", setzte Alfonso wieder auf englisch an, "Selvano Cortoreja ist mein bester Freund hier. Er fragt, ob dein Freund in England stark genug wäre, eine ganze Bande von Vampiren zu erledigen, die ihm im Moment lästig wird?"

"Vampire? Ich dachte, du hättest dich mit diesen Bleichgesichtern verbündet, Alfonso. Der dunkle Lord geht davon aus, daß du mit Hirudazo oder anderen Bleichlingen gut auskommst, obwohl du angeblich einer von uns bist", knurrte Greyback. Alfonso zog die Ärmel seines blauen Umhangs hoch und zeigte je eine weißliche halbmondförmige Narbe vor. Greyback besah sie sich und nickte. Selvano grinste den englischen Werwolf triumphierend an und meinte:

"Sage dem Grauschopf, wir könnten uns nach belieben verwandeln wie diese Animagusluschen. Frage ihn, ob er das auch kann?"

"Ich habe mit Selvano und seiner Bruderschaft des Mondes einen Pakt geschlossen, der Bruderschaft beizutreten und sie mit etwas zu versorgen, was uns mächtiger macht als andere Lykanthropen vorher, wenn sie mir dabei hilft, meine Macht zu behalten. Wir mögen die Vampire unter Hirudazos Kommando noch weniger als du oder dein dunkler Lord. Deshalb fragte Selvano, ob dein Freund uns helfen würde, diesen Blutschlürfer loszuwerden."

"So mächtig bist du also wohl nicht, Bruder", lachte Greyback. "Du hast Ärger mit diesem selbstherrlichen Nachtvogel Hirudazo. Aber wenn der dunkle Lord ihn dir vom Hals schaffen soll, dann nur, wenn du dich ihm unterordnest. Glaube mir, du bist dabei besser dran als wenn du hier den Landesherren spielst."

"Nun, er will mit mir zusammenarbeiten, Bruder", sagte Alfonso selbstsicher. "Von Unterwerfung ist da doch keine Rede. Also, was kriege ich dafür, wenn ich mit ihm das Gebiet teile?"

"Keinen Ärger", schnaubte Greyback verbittert. Alfonso übersetzte das. Selvano lachte rauh und laut darüber. Greyback starrte ihn feindselig an, dann seine Gefärhtin Lunera, sog dabei die Luft in seine Nase und meinte:

"Mann, die Kleine sieht sehr lecker aus. Die ist doch nicht auch eine von uns?"

"Ey, lass bloß deine gelben Krallen von meiner Süßen!" Schnarrte Selvano, als Greyback seine Hand mit den gelblichen Fingernägeln nach Luneras Oberkörper ausstreckte. Diese sah verstimmt auf Greyback und hilfesuchend zu Selvano hinüber. Alfonso erkannte, daß er sofort handeln mußte, wollte er nicht haben, daß die beiden Werwölfe sich als Männer um diese Frau schlugen. Sicher, er könnte davon profitieren. Aber dafür war jetzt der falsche Zeitpunkt. Greyback knurrte nur unwirsch und zog seine Hand zurück, als er lange genug auf Selvanos erhobene Schultern gestarrt hatte.

"Ein anderer Punkt Alfonso. Diese Schickse, die der dunkle Lord fertigmachen will, was ist mit der?"

"Wenn er mich läßt, kann ich sie schaffen", knurrte Alfonso. "Sonst soll er sie selbst angehen, und ich wünsche ihm viel Spaß dabei."

"Ist auch nicht mein Ding", knurrte Fenrir Greyback. Dann fiel ihm noch etwas ein:

"Du hast getönt, ihr wäret mächtiger als wir anderen. Wie soll das gehen?"

"Das sage ich dir nicht, Fenrir. Was ich kann und weiß behalte ich für mich, weil es gefährlich genug war, daran zu kommen."

"Dann hast du nur große Töne gespuckt", schnarrte Greyback verächtlich. alfonso sah Lunera an und flüsterte ihr was zu. Sie griff unter ihr Kleid, holte eine kleine Phiole heraus, entkorkte sie und schluckte den Inhalt hinunter. Ein Beben ging durch ihren Körper. Dann wirkte sie so, als sei sie mit neuer Kraft aufgeladen worden. Sie streifte ihr Wollkleid ab, unter dem sie nichts anderes trug und ließ sich mit dem Oberkörper nach vorne sinken. Greyback sah sie lüstern an, bekam aber von Selvano einen warnenden Blick zur Antwort. Dann verwandelte sich Lunera in die Wölfin mit mondlichtfarbenem Fell. Greyback sah sie mit einer Mischung aus Begierde und Erstaunen an. Sie saß nun auf dem Stuhl wie ein großer Hund. Einige Sekunden blieb sie in der Wolfsgestalt, bevor sie sich unter Krampfartigen Zuckungen wieder zurück in die weizenblonde Frau verwandelte, die sie war. Selvano warf ihr sofort das Kleid über, das sie sich dann noch korrekt zurechtzog.

"Kein Vollmond mehr nötig", grinste Greyback. "Ein Trank also. Aber dann fehlt doch die wilde Lust am Töten."

"Dir vielleicht", erwiderte Alfonso. "Wir jagen auch mit diesem Trank immer noch so gut wie ohne ihn, können aber gezielt an Orte, wo wir Beute machen wollen. Du machst das ja auch, wenn ich mich recht entsinne."

"Ja", schnaubte Greyback mit einem selbstzufriedenen Gesichtsausdruck. Dann fragte er, ob er auch etwas von diesem Wundertrank bekommen könne und wielange der vorhalte. Alfonso verneinte beide Fragen. Er wolle nur denen davon geben, die sich ihm unterordneten. Da Greyback aber wohl kaum seinen herrn und Meister verraten würde, bekäme er davon eben nichts.

"Er wird das Rezept aus dir rausfoltern, Alfonso", knurrte Greyback verärgert. "In drei Tagen ist er hier und wird es dir entreißen." Er sprang vom Stuhl auf und sah Lunera an. "Für diesen Bauernburschen bist du zu schade, Mädchen. Mit mir wärest du besser dran."

Alfonso übersetzte das, weil er wollte, daß Selvano darauf reagierte. Dieser sprang auf und sagte:

"Das ist meine und bleibt meine, du grauhaariger Flohsack. Wenn du die haben willst mußt du an mir vorbei wie jeder andre Idiot, der das schon gewagt hat, sie blöd anzuquatschen."

"Oh, mui macho!" Brüllte Greyback, wohl die paar Brocken Spanisch verwendend, die er kannte.

"Davon darfst du ausgehen", knurrte Selvano. Auch das übersetzte Alfonso mit innerer Genugtuung.

"Ich werde gleich aufbrechen, dem dunklen Lord entgegenzugehen. Er wird sich freuen, daß du so stark bist, Alfonso. Bis später, meine Mondgöttin." Er bedachte Lunera mit öligem Grinsen und verließ den Festsaal.

"Hier stinkt's nach Aas!" Grummelte er, als er an einer silbernen Ritterrüstung vorbeikam, deren Visier geschlossen war. Dann durchschritt er das Tor und überquerte den Graben mit fließendem Wasser.

"Daß du hinter meiner Lunera herbist weiß ich. Aber dieser Engländer wird seine Dreckspfoten von ihr lassen, wenn ich ihm nicht die Kehle zerreißen soll", blaffte Selvano Alfonso an. Dieser nickte. Sollten die beiden sich gegenseitig massakrieren, wenn die Zeit dafür günstig war.

__________

Maria fuhr den Passat zur verabredeten Stelle und stieg aus. Sie hatte mit dem Gedanken gespielt, die Polizei herzubestellen. Doch die hätte ihr nicht helfen können. Als sie nun einige Minuten nach der vereinbarten Zeit darauf lauerte, von irgendwoher einen lauten Knall zu hören, aber nichts geschah, fragte sie sich, ob sie nicht doch in eine Falle gelockt worden war. Da trat ein attraktiver Mann mit dunkelbraunem Haar und runden, wasserblauen Augen in einem fuchsroten Umhang aus dem Schatten der Klostermauer. Er lächelte Maria an und blieb zwei Schritte vor ihr stehen, wobei er ruhig die Hände erhob und die leeren Handflächen nach vorne streckte.

"Sie brauchen nicht so zu tun, als seien Sie wehrlos", knurrte Maria. Der mann grinste jungenhaft und senkte die Hände.

"Sie sind Maria Purificación Montes aus Jackson, Mississippi, USA, geboren in Los Alamitos im mexikanischen Bundesstaat Colima. Ich bin Vergilio Fuentes Celestes, Mitarbeiter in der Abteilung zur magischen Strafverfolgung. Freut mich, daß Sie meiner spontanen Einladung gefolgt sind." Er näherte sich Maria und breitete die Arme aus. Sie wich zurück und sah ihn sehr mißtrauisch an. Da streckte er ihr nur eine Hand aus, die Maria kurz und oberflächlich ergriff und sofort wieder losließ. Sie erkannte ihn als den Zauberer, der diesen Obleviate-Zauber gegen sie versucht hatte. Sie war darauf gefaßt, daß er sie sofort behexen würde, wenn sie ihm erzählte, was sie vor fremden Zaubern schützte. Doch der Mann vor ihr, den sie altersmäßig auf um die vierzig einschätzte, machte nicht den Eindruck, auf eine Gelegenheit zu lauern, ihr etwas zu tun. Eher wirkte er so, als müsse er ihr unbedingt etwas sagen, dürfe es aber nicht sofort. Sie horchte in sich hinein, ob der Mann da vor ihr eine echte Bedrohung war. Doch sie konnte nichts dergleichen empfinden.

"Sie haben versucht, mir das Gedächtnis für das Verschwinden Enriques zu nehmen. Oder was sollte dieser Zauber?" Fragte sie kühl.

"Das ist leider unser Job, um die Geheimhaltung der Zaubererwelt zu gewährleisten", sagte Vergilio Fuentes Celestes. "Aber ich habe gemerkt, daß ich bei Ihnen nicht durchdringen konnte. Abgesehen davon, daß Sie auch dem Bewegungsbann widerstanden, obgleich Sie sich sehr diszipliniert ruhig verhalten haben. Deshalb mußte ich davon ausgehen, daß Sie bereits mit unserer Welt in Kontakt stehen und entsprechende Gegenzauber mitführen. Welche das sind und warum Sie diese erhalten haben soll mich nicht kümmern. Es ist nur wichtig, zu klären, wer von der Entführung ihres Mannes profitiert."

"Das weiß ich auch nicht", sagte Maria Montes. "Ich habe nur mitbekommen, daß sie in der Dusche merkwürdige Fußabdrücke gefunden haben und die Tür und das Fenster fest verschlossen waren."

"Nun, vielleicht sollten wir die Sache nicht hier besprechen. Sie haben ein Automobil, wie ich hören konnte. Am besten fahren wir zu meiner Schwester, einer Expertin für Zauberwesen und dunkle Künste, also das, was auch Sie unter schwarzer Magie verstehen."

"Und Sie meinen, ich sollte Ihnen so blind vertrauen?" Fragte Maria skeptisch. Der Zauberer vor ihr sah sie etwas betreten an. Wie hatte er auch damit rechnen können, daß sie ihm so einfach vertraute? Dann sagte sie: "Ich gehe davon aus, daß Sie kein Problem hätten, mich überall anzugreifen und zu töten, wenn es Ihnen darum ginge und mich nicht erst an diesen Ort zitieren mußten. In Ordnung, ich fahre mit Ihnen zu dieser Hexe. Wie heißt sie überhaupt?"

Almadora Fuentes Celestes. Sie wohnt östlich von Granada in einem alten Landhaus, das bereits die Mauren hier gebaut haben", sagte Vergilio. Maria Montes nickte und brachte den Fremden zu ihrem Auto. Was der Zauberer nicht wußte: Sie hatte ihr Mobiltelefon eingeschaltet und kurz vor dem Treffpunkt die Nummer ihres Hauses in Jackson gewählt, wo der Anrufbeantworter aufnahmebereit war. Da das Band unbespielt war, würde dieser alles aufzeichnen, was sie gerade und in der nächsten Stunde erlebte. So fragte sie unterwegs immer sehr deutlich nach Orientierungspunkten und Richtungsänderungen. Vergilio sagte es ihr arglos. So fuhren sie eine Dreiviertelstunde, bis sie östlich der Stadt einen von hohen Eichen gesäumten Feldweg fanden, in den sie hineinfuhren. Am Ende des Weges erhob sich ein großer Erdhügel, der mit Gras und niedrigen Büschen bewachsen war. Vergilio hieß Maria, vor dem Hügel anzuhalten und bat sie, auszusteigen. Sie gehorchte. Noch würde ihr Anrufbeantworter mitschneiden, was passierte.

Sie erklommen die Hügelkuppe über einen so engen Zickzackpfad, auf dem sie nicht nebeneinander laufen konnten. Vergilio ging voran, was Maria sehr recht war. Es war ja immer noch möglich, daß er sie hier überfallen und irgendwie unschädlich machen wollte. Sie hatte bei Jane Porter eine Hexe kennengelernt, deren Fachgebiet die Verwandlungskunst war. Niemand würde eine Spur von ihr finden, wenn es diesen Leuten darum ging, sie verschwinden zu lassen.

Auf der Hügelkuppe sah sie nur einen hohen Busch. Doch als Fuentes Celestes seinen Zauberstab zückte und mehrere Winkbewegungen ausführte, löste sich der Busch auf und machte einem großen weißen Haus Platz. Sie gingen darauf zu, bis die Tür aus Eichenholz aufschwang und eine etwas untersetzte Frau mit der gleichen Haar- und Augenfarbe Vergilios im kirschroten Kittel heraustrat.

"Ah, Vergilio, hast du dich wieder erinnert, wo deine große Schwester wohnt? Oh, du bringst Besuch mit", begrüßte sie den Zauberer und umarmte ihn herzlich. Dann sah sie Maria an und winkte ihr lächelnd zu. "Oh, hat mein kleiner Bruder endlich eine Frau gefunden, die er mir vorstellen kann?" Maria mußte über diese Frage grinsen. Wußte diese Frau da nicht, was los war?

"Dori, die Frau ist eine Muggel", zischte der Zauberer der Hexe im kirschroten Kittel zu. Sie nickte ihm zu und winkte Maria erneut zu.

"Sie brauchen keine Angst zu haben. Ich habe nicht vor, Sie zu verfluchen", verkündete sie mit dem Charme eines Kindes. Maria mußte ungewollt lächeln. Dann schritt sie voran, hinter Vergilio her, durch die Haustür. Drinnen lief ihnen ein katzenartiges Tier mit ockergelbem Fell und erdbraunen Tupfen entgegen. Maria erkannte sofort, daß das Tier nicht normal sein konnte, weil der Schwanz in einer buschigen Quaste endete und die Ohren etwas größer waren. Das Tier lief auf Maria zu, während die Hexe ihm besorgt nachsah, strich der FBI-Agentin um die Beine und fing an, wohlig zu schnurren. Maria, die in ihrer Kindheit nie Probleme mit Hunden oder Katzen gehabt hatte, hockte sich hin und wartete, ob das merkwürdige Wesen sich von ihr anfassen ließ. Tatsächlich drückte sich das Geschöpf, von dem sie jetzt genau sah, daß es ein Männchen war, an ihre Hände und ließ sich das seidenweiche Fell streicheln. Dabei schnurrte es noch behagter.

"Hui, das soll eine Muggelfrau sein, Vergilio? Rottatze ist ja ganz hin und weg von ihr", wunderte sich die Hexe und hockte sich ebenfalls hin, sodaß die beiden Frauen sich in die Augen sehen konnten. Das Tier maunzte erfreut und genoss die Streicheleinheiten der Besucherin. Maria sah, daß die Vordertatzen wie in kupferroten Socken zu stecken aussahen.

"Was ist das für ein Wesen?" Fragte sie interessiert.

"Ein Kniesel, so heißt dieses Tierwesen. Normalerweise hält er alle Nichtmagier auf Abstand, und bei Ihnen kam er sofort an und wollte gekrault werden. Sind Sie wirklich keine Hexe?"

"Gott bewahre", entfuhr es maria unüberlegt, bevor ihr klar wurde, daß diese Frau vor ihr wohl eine ausgebildete Hexe war und sich beleidigt fühlen könnte. Deshalb sagte sie schnell: "Ich meine, ich bin mit meinem Leben soweit zufrieden, Señora."

"Señorita", korrigierte die Hexe Maria. Dann meinte sie, sie und Vergilio mögen ihr folgen.

In einer großen Halle, in der ein großer Tisch und zahlreiche Stühle standen und ein Marmorkamin mit verschiedenen Tonfiguren auf dem Sims eine gewisse Erhabenheit vermittelte setzten sie sich hin. Maria bestaunte die Bilder mit lebendigen Motiven an den Wänden, alles Hexen oder Zauberer, darunter viele, die den Geschwistern Fuentes Celestes sehr ähnlich sahen.

Rottatze sprang auf Marias Schoß und rollte sich zu einer schnurrenden Fellkugel zusammen, während sie berichtete, was sie in Spanien schon erlebt hatte. Auf die Frage, woher sie von der zaubererwelt wisse antwortete sie, daß sie im letzten Jahr eine Begegnung mit Dementoren gehabt hatte und das nur überlebt habe, weil sie ein altes Erbstück gerettet habe, in dem wohl nur für sie wirksame Zauberkräfte eingelagert seien. Sie erwähnte Jane Porter, die der Hexe hier wohl bekannt war.

"Die Dame kenne ich. Habe lange nichts mehr von ihr gehört oder gelesen. Aber wir sind ja beide auch oft in der Welt unterwegs", sagte Almadora Fuentes Celestes. Dann nahm sie ihren Zauberstab und murmelte: "Monstrato Incantatem!" Vor marias Brustkorb flirrte es für einen Sekundenbruchteil golden auf. Dann knackte es leise, und Almadora verlor fast den Zauberstab.

"Sieh an, da hat sich jemand große Mühe gegeben, Ihr Erbstück gegen das Auffinden zu sichern", sagte sie und probierte noch den Vivideo-Zauber aus, der überhaupt nicht anschlug. Dann fragte sie Maria, was sie in Spanien erlebt habe, daß jemand aus der Zaubererwelt ihren Mann entführen könnte. Maria berichtete alles, was sie bisher erlebt hatten, besonders das Zusammentreffen mit dem völlig verwirrten Mann auf der Straße. Almadora nickte und wandte sich dann ihrem Bruder zu, den sie vorwurfsvoll anfunkelte und fragte:

"Sagg mal, habt ihr da nicht aufgepaßt? Wenn jemand vielleicht von einer bösen Kreatur um den Verstand gebracht wird ist das eine Sache für uns."

"Wir haben keinen Hinweis darauf bekommen, Dori", knurrte Vergilio. "Was immer den erwischt hat muß mit Gift oder Zaubertränken vorgegangen sein. Außerdem haben die Muggel fiese Wirkstoffe erfunden, die das Gehirn verändern können. Was hängst du dich jetzt daran auf?"

"Weil das ein Hinweis ist, Vergilio. Der Mann hat von einer Satansfrau gesprochen, sagt Señora Montes und daß sie ihm gutes getan hat. Dann stirbt er im Krankenhaus, und keiner weiß warum."

"Ups, das habe ich überhaupt nicht bedacht", sagte Vergilio und lief tomatenrot an. "Glaubst du, sie ist wieder aufgetaucht?"

"Wer sonst, Vergilio. Sie hat sich nach dem Kampf vor vierzig Jahren gut versteckt und wohl sehr vorsichtig ernährt, damit wir ihr nicht wieder auf die Spur kommen. Alle haben ja geglaubt, sie wäre in den langen Schlaf gefallen."

"Von wem haben Sie es, oder darf ich das nicht wissen?" Fragte Maria vergrätzt.

"Öhm, ist eine Frage, wie gut das ist, wenn Sie es wissen", druckste Vergilio herum. Seine Schwester sah ihn vorwurfsvoll an und blickte dann Maria Montes an.

"Ich fürchte, eine alte Kreatur ist durch irgendwas auf Sie aufmerksam geworden und hat Ihren Mann entführt, um näheres über Sie zu erfahren."

"Eine alte Kreatur?" Fragte Maria. Da fiel ihr ein, wie Enrique und sie nach dem Restaurantbesuch auf dem Parkplatz gestanden hatten und ihr silbernes Kreuz so eiskalt wurde und vibriert hatte. Sie hatte nur einen Nebelstreifen sehen können, der sich sofort verflüchtigt hatte. Sie erzählte Almadora Fuentes Celestes, daß ihr Zauberartefakt wohl auf irgendwas reagiert hatte und sie nur einen Nebelstreifen gesehen hatte. Das genügte Almadora wohl. Sie nickte und sah sie sehr ernst an.

"Nun, wir müssen davon ausgehen, daß diese uralte Kreatur hinter Ihnen her ist, weil Sie ihr aufgefallen sind. Sie hat Ihren Mann entführt und hält ihn nun gefangen. Was natürlich auch passieren kann ist, daß sie ihn zurückschickt, aber unter ihrem Bann stehend, daß er Sie ausspionieren oder angreifen soll."

"Ist dieses Wesen ein Vampir?" Fragte Maria erschrocken dreinschauend.

"Nein, kein Vampir. Zumindest kein Blut saugender Vampir", sagte Almadora."

"Ich weiß nicht, ob wir ihr das erzählen dürfen, Almadora. Muggel sollten das an und für sich nicht wissen", zischte Vergilio. Maria feuerte einen sehr verächtlichen Blick auf ihn ab und warf ein:

"Deshalb murksen Sie ja auch mit den Erinnerungen anderer Leute herum, nicht wahr? Ich weiß was Dementoren sind, Señorr. Ich habe schon welche getroffen. Ich weiß, daß es viele der Kreaturen aus den Sagen und Mythen doch gibt oder mal gegeben hat. Sie sagen, es ist kein Vampir. Ist es ein Werwolf oder was?" Bei dieser Frage fühlte sie, wie ihr silbernes Kreuz sachte vibrierte und etwas in ihrem Kopf zu verrutschen schien, sachte aber spürbar.

"Nun, da Wir Ihren Mann nur retten können, sofern wir ihn in zwei Tagen wiederfinden, sollten wir es Ihnen sagen", sagte Almadora. "Sie haben vielleicht gehört, daß die Urfassung der Bibel nicht Eva als die erste Frau auf Erden angibt. Das Buch bezieht sich dabei auf einen Vorgang, der vor über viertausend Jahren im Zweistromland, dem heutigen Irak, passiert ist, wo eine gewisse Lahilliota, die bei den Juden auch Lilith geheißen hat, die Urmutter einer Gruppe weiblicher Dämonen wurde, weil sie mit den Männern, der Bibel nach Adam, nichts mehr zu schaffen haben wollte. Wir aus der magischen Welt wissen, daß es diese Frau gab, eine sehr sehr mächtige Magierin, die dem Größenwahn verfallen ist, Nachkommen aus sich selbst heraus zu erzeugen. Diese Lahilliota hat dann mit dunklen Ritualen und mächtigen Zaubern neun Töchter aus sich selbst heraus erschaffen, in Form einer magisch bewirkten Jungfernzeugung. Sie starb bei der Geburt der neunten von ihnen, hatte ihnen jedoch die Fähigkeit vererbt, durch die Lebenskraft anderer Menschen unsterblich zu werden." Maria Montes sah Almadora bange an. Sie ahnte, worauf das hinauslief. Bei den Namen Lahilliota und Lilith hatte sich in ihrem Kopf wieder was geregt, und ihr Kreuz hatte wieder sacht vibriert, als wäre es durch die Namen angestubst worden. "Die heftigste Form, körperlich-seelisch Energie zu entfachen ist der Beischlaf, die körperliche Liebe. So haben diese neun Töchter sich darauf spezialisiert, Männer, Frauen und Jungen gefügig zu machen und sich mit ihnen zusammenzufinden. Manche dieser Opfer starben, weil ihre überirdischen Partnerinnen sehr hungrig waren. Doch die meisten verfielen ihnen und waren von da an willige Gefolgsleute. Da diese Wesen meistens bei Nacht über ihre wehrlosen Opfer herfielen und sie dabei in einem traumartigen Dämmerzustand hielten, fielen sie fast gar nicht auf, anders als Vampire, die eindeutige Spuren hinterlassen. Von diesen neun Töchtern, die die Zaubererliteratur als Töchter des Abgrunds bezeichnet, wurden im Verlauf der Jahrtausende sieben durch Kämpfe so sehr ausgezehrt, daß sie in einen tiefen Schlaf verfielen, der schier endlos dauert. Zwei von denen konnten sich jedoch über die Jahrhunderte bis in unsere zeit wachhalten und handeln im Verborgenen."

"Sie sprechen von Succubi, die von der katholischen Lehre erwähnt werden", erkannte Maria Montes. Almadora nickte bestätigend. Maria erkannte im selben Moment, was sie da für eine grausame Wahrheit enthüllt hatte. Enrique war ohne Kleidung aus seinem Badezimmer verschwunden. Wenn ein solches Wesen ihn geholt hatte, dann würde es ihn auf die erwähnte Art aussaugen, ja in seinen Bann schlagen. Oder war er schon tot? Nein! Sie wollte nicht daran denken. Er mußte doch zu retten sein.

"eine dieser Abgrundstöchter streift seit mehr als einem Jahrhundert in Spanien herum. Wir wissen nicht genau, wo sie sich versteckt hält", sagte Vergilio. "Sie handelt sehr vorsichtig und hinterläßt keine Spuren."

"Dann glauben Sie nicht, daß Enrique noch lebt? Was passiert mit ihm, wenn er stirbt?"

"Dann ist er tot und bleibt es. Allerdings wird, wenn sie ihn nicht bewußt irgendwo hinlegen will, keiner seine Leiche finden", sagte Almadora völlig unbekümmert, wie das bei Maria ankommen würde.

"Ich fürchtete schon, er würde wie ein Vampir oder Werwolf selbst ... Oh verdammt!" Erwiderte Maria und wurde kreidebleich. Wieder vibrierte ihr silbernes Kreuz, und in ihrem Kopf fühlte sie etwas wie einen Schluck Wasser hin- und herplätschern. Bunte Lichtpunkte tanzten für einen Moment vor ihren Augen. Die Erkenntnis traf sie heftig, daß sie seit mehr als drei Monaten hinter einem Mann herjagten, der gut und gern ein Opfer eines solchen Wesens geworden sein mußte. Sie fragte rasch:

"Sie sprachen von nur zwei nicht schlafenden Kreaturen dieser Art. Ist eine davon in Amerika unterwegs?"

"Nicht, daß ich wüßte", sagte Almadora, die glaubte, Maria wolle sich nur erkundigen, wo die zweite Kreatur herumstreune. Vergilio hingegen wurde blaß.

"Moment, haben Sie in den Staaten Sachen, die auf die Existenz dieser Kreatur hinweisen?"

"Nicht direkt, zumal sich die Sache doch irgendwie aufgeklärt hat", sagte Maria. Doch konnte es nicht sein, daß die für sie glaubhaften Hinweise absichtlich verfälscht worden waren, um die nichtmagische Welt zu täuschen? Doch warum vibrierte dann ihr Kruzifix, wenn sie daran dachte? Wollte es sie warnen oder an etwas erinnern?

"Also, wir wissen von der zweiten Tochter des Abgrunds, die nicht schläft, daß sie im arabischen Raum ihr Jagdrevier hat", sagte Almadora. Rottatze, der immer noch auf Marias Schoß lag, hob seinen Kopf und sah Maria leicht irritiert ins Gesicht.

"Gut, dann war das nur eine Frage", erwiderte Maria so ruhig klingend wie möglich. Dann wollte sie wissen, wie man Enrique finden und retten könne?

"Wir Brauchen ein Haar oder ein anderes Körperfragment von ihm. Am besten wäre Blut. Dann hätten wir eine Möglichkeit, ihn zu suchen", sagte Almadora Fuentes Celestes."

"Ich habe eine Haarbürste, wo einige seiner Hare drankleben", sagte Maria Montes.

"Dann sollten wir sie sofort holen", sagte Vergilio. Seine Schwester nickte.

"Können Sie sie nicht herzaubern?" Fragte Maria.

"Dazu müßte ich sie gut genug kennen", sagte Almadora bedauernd. So brachen Maria und Vergilio auf, um die Haarbürste zu holen, mit deren Hilfe sie Enrique Montes orten wollten.

__________

Enrique Montes wußte nicht, wielange er geschlafen hatte. Als er wieder aufwachte, hockte die unheimliche Frau neben ihm und streichelte zärtlich über seinen Körper und sprach mit beruhigenden Worten auf ihn ein. Er geriet dabei in eine wohlige, ja begierige Stimmung und rückte von sich aus an die Frau heran, die ihn einfach so hier auf diese Strohmatte gelegt hatte. Er dachte nicht an seine Frau und ob er ihr untreu werden würde oder nicht. Er gab sich dem Augenblick hin und nahm die überirdisch schöne Frau in die Arme, streichelte sie seinerseits, liebkoste sie mit immer eindeutigerem Begehren und verspürte einen rauschartigen Zustand großer Freude, als sie sich immer enger an ihn kuschelte, bis sie beide sich näher waren als es für einen treuen Ehemann erlaubt war. Die Wellen aus Wärme und Bewegung, Wonne und Erregung schlugen höher und höher, wurden zu einem Rausch des Glücks, den Enrique selbst in den wildesten Nächten mit Maria nie so überwältigend empfunden hatte und hörte sich und die sündige Schönheit ihre Leidenschaft in die Höhle hinausschreien. Doch dabei empfand Enrique auch etwas wie eine schlagartige Ermüdung, ein Abgleiten in einen halbohnmächtigen Dämmerzustand, als habe diese verbotene Liebe ihn aller Kraft beraubt. Er fühlte, wie ihn Loli mit ihren Küssen und Handgriffen in Stimmung hielt, wie sie ihn wieder mit sich vereinigte und ihn nahm, weil er es wollte. Er verlor sich in diesem wilden Wirbel der Leidenschaften bis er erneut den Höhepunkt erreichte. Dann glitt er wieder in eine wohlige, tiefe Dunkelheit hinüber, die ihn schaukelte wie das Wasser ein Schiff.

Die Frau, die sich María Teresa Loli Herrero nannte, glitt von ihrem in die Ohnmacht getriebenen Liebespartner fort und wartete, wie die von diesem übernommene Lebensenergie in ihr pulsierte. Sie hatte während des Aktes tief in seine Erinnerungen hineingeblickt. Doch was seine Frau Maria an sich hatte, wußte er nicht. Er würde jetzt für einen halben Tag in dieser ausgezehrten Starre bleiben. Zumindest hatte sie ihn nicht an den Rand des Wahnsinns getrieben, wie sie es mit Sancho getan hatte. Doch der hatte sich doch gegen sie zu wehren versucht, sie sogar körperlich angegriffen und verwerflicherweise eine Aufputschtablette geschluckt, um seinen Körper stärker zu machen. Da hatte sie ihn mit Urgewalt alles wichtige Wissen aus den Erinnerungen gesogen, ihn in einem Zustand unrettbarer Verwirrung einen tag liegen lassen und ihn dann im Gebirge ausgesetzt. Nun, er war wohl gefunden worden. Doch seine Lebenskraft war schon zu sehr erschöpft, um ihn noch retten zu können. Enrique Montes hingegen hatte sich ihr ohne weiteres hingegeben und sich von ihr nehmen lassen. Das war ihr recht gewesen. Denn sie wollte niemanden wirklich töten, den sie in ihr Reich holte. Doch was sollte sie nun mit ihm anstellen? Sie konnte ihn noch einige Tage hier behalten und dann ohne große Erinnerungen an sie in seine Welt zurückbringen. Sie konnte ihn kultivieren und zu einem weiteren Unterwürfigen machen. Da kam ihr eine Idee. Wenn der Mann nicht wußte, was seine Frau für eine mächtige Aura umgab, dann konnte er es für sie herausfinden. Sie strich ihm mit den Händen über den Kopf und murmelte dabei Zauber, die seine Erinnerungen zu einem einzigen Traum verklärten. Dann ritzte sie ihn mit einem Fingernagel zwischen Bauch und Brustkorb und sprach dabei einen Zauber, der bewirkte, daß etwas von ihrer gerade von ihm erhaltenen Kraft in ihn zurückströmte und wieder zu ihr floss, hin und her, innerhalb von zehn Sekunden zehn Mal. Für diesen Trick dankte sie ihrer Schwester Ilithula, die irgendwo in den Wüsten Arabiens wohnte und dort wie sie ein behutsames Auskommen hatte. Die Schwingung des gemeinsamen Seins hatte sie diese Kraftpendelei genannt, die einer Tochter Lahilliotas ermöglichte, einen Menschen mit ihrer Energie anzureichern, um ihn zu einem Köder einer nichtstofflichen, magischen Angelschnur zu machen. Wenn er seine Frau länger als eine Sekunde berührte, würde sie von der in ihm nun schlummernden Magie überwältigt. Sie ließ den so von ihr angereicherten erst einmal ruhen. Wenn er etwas besser erholt war, würde sie ihn in gewöhnliche Kleidung stecken und irgendwo in der Nähe der Stadt aussetzen, wo sie ihn sich geholt hatte. Sollten die Polizisten oder die Dummköpfe von der magischen Strafverfolgung ihn doch verhören. Er würde nur wissen, daß er aus seinem Hotel verschwunden war, aber nicht, wohin und für wie lange. Dann dachte sie an Espinado. Dieser Kurzlebige hatte sie geärgert. Das würde er bald büßen. Ihn würde sie gnadenlos einverleiben, erst körperlich und dann mit Wonne in ihren Lebenskrug eintunken, um seine Seele zu verzehren. Er konnte sie nur mit Haaren von ihr angegriffen haben. Diese würde sie suchen und finden. Vielleicht sollte sie ihn nicht ganz in den Lebenskrug werfen, sondern nur so hineinhalten, daß seine seelische Energie abfloss, er aber noch als mehr oder weniger lebendig übrigblieb, damit sie ihn grausam zugerichtet an einen Ort in der Zaubererwelt legen konnte, als abschreckendes Zeugnis, sie oder ihre Schwestern nicht noch einmal anzugreifen. Schwestern? Da kam ihr eine Idee.

Sie kniete sich hin und stellte sich das Bild einer blaßgesichtigen, rothaarigen Frau mit goldenen Augen vor. Sie fühlte, wie ihre Schwester Hallitti von ihr berührt wurde und bekam Kontakt.

"Was willst du schon wieder von mir, Itoluhila!" Fragte Hallitti auf rein gedankliche Weise.

"Sei nicht so bösartig zu mir, Schwester! Ich habe da nur eine Frage an dich. Hast du seit deiner Ankunft in Amerika eine Frau getroffen, die eine besonders starke Aura aus Licht um sich hatte, die du nicht durchblicken konntest?"

"Was du nicht sagst, Itoluhila. Die habe ich getötet, als mein treuer Erfüllungsgehilfe mir die Leben dieser Freudenmädchen besorgt hat. Sie gehörte zu den Ordnungshütern, die das Haus stürmen und meinen so braven Richard gefangennehmen wollten."

"Du hast sie getötet?" Fragte Itoluhila.

"Natürlich, Schwester. Sie umgab irgendein widerlicher Lichtzauber, wohl etwas aus ihrer Lebensfreude gespeistes. Doch ich konnte es mit dem dunklen Feuer durchschlagen. Da war sie weg, tot."

"Ach, wirklich?" Fragte Itoluhila.

"Meine Kräfte sind deinen überlegen, Schwester. Ich habe dieses Weib getötet."

"Das bezweifle ich, daß dein Feuer meiner Macht des dunklen Wassers überlegen ist. Wasser löscht Feuer und Eis kühlt die ärgste Hitzequelle, auch wenn deine Flammen selbst die Kälte des tiefen Kosmos verbreiten", gab Itoluhila belustigt zurück. "Nun, dann ist diese Frau eben tot. Ich hörte nur davon, daß es solch eine Frau gegeben hat."

"Dann lass mich bitte in Ruhe. Ich muß Richard noch einmal losschicken, es wird Zeit, daß ich ihn ersetze. Doch ich will ihn noch nicht ganz aufgeben, solange ich nicht weiß, was ich anstellen muß, um vollwertigen Ersatz zu finden. Außerdem suche ich nach jener starken Kraftquelle, die mir helfen kann, die schlafenden Schwestern zu erreichen und zu wecken. Wenn ich sie habe, wirst du es mitbekommen."

"Du meinst ernsthaft, eines der alten Artefakte zu finden und den körperlosen Wächter zu überwältigen, Hallitti? Nun, dies dürfte dich viel Kraft kosten."

"Eben. Deshalb werden Richard und ich in den nächsten Tagen mehrere Leben erbeuten müssen."

"Schwester, ich kann dich nur noch einmal warnen, nicht so hemmungslos dreinzuschlagen. Diese Menschen sind nicht nur Futter für uns. Sie garantieren uns unsere Existenz. Aber dies tun sie nur, wenn wir uns mäßigen und sachte von ihnen kosten."

"Das ist deine Meinung, Schwester. Ich habe mich entschieden", dachte Hallitti zurück. Dann zog sie sich zurück und überließ Itoluhila sich selbst.

"Was meinte sie damit, sie müsse vollwertigen Ersatz finden?" Fragte sich die Tochter des schwarzen Wassers. Sie dachte daran, daß dieser Mann, Richard, unweckbare Zauberkräfte hatte. Mochte es sein, daß er Verwandte hatte, die ebenfalls unweckbare oder sogar verwendbare Zauberkräfte besaßen? Ihr war dies im Moment egal. Sie wollte nur zwei Dinge: Sie wollte wissen, was es mit der magischen Aura um Maria Montes auf sich hatte und diesen Frechling Espinado bestrafen.

__________

Anthelia saß zusammen mit Louisette Richelieu in deren behaglichem Wohnzimmer und lauschte einer CD mit Musik aus dem 17. Jahrhundert. Anthelia versetzte diese Musik in ihr erstes Leben zurück, in die Zeit, wo ihre Tante gerade auf dem Höhepunkt der Macht war, bis sie sich mit den Dementoren übernommen hatte. Sie sprach kein Wort mit Louisette, bis etwas ans Wohnzimmerfenster klopfte. Louisette stand auf und öffnete das Fenster. Ein Rauhfußkauz segelte herein und steuerte Anthelia an. Am rechten Bein des Vogels war ein blau-weiß-roter Ring befestigt. Am linken Bein baumelte ein winziger Umschlag. Anthelia prüfte den Umschlag auf versteckte Flüche oder Meldezauber und öffnete ihn. Sie nahm einen kleinen, zweifach gefalteten Zettel heraus und zog diesen auseinander. Der Zettel schien Leer. Sie tippte ihn mit dem Zauberstab an und murmelte: "Vox Araneae!" Sofort leuchteten hellgrüne Buchstaben und Zahlen auf. Sie Lauteten:

"Höchste Schwester, Julius Andrews kommt am 30.07. nach New Orleans. Ardentia!"

"Interessant", murmelte Anthelia und warf den Zettel in die Luft, um ihn mit "Vanesco Solidus" spurlos verschwinden zu lassen.

"Eine wichtige Nachricht?" Fragte Louisette. Anthelia überlegte. Dann nickte sie. Der Sohn von Richard Andrews, der Ruster-Simonowsky-Zauberer, kam also nach Amerika. Sicherlich würde er bei dieser Jane Porter einquartiert werden, an deren Haus sie nicht so einfach herankonnte. Andererseits würde er wohl nicht dort eingesperrt sein. Mochte es möglich sein, ihn zu beobachten, vielleicht sogar mit ihm Kontakt aufzunehmen?

"Ich muß am 30. Juli wieder in Amerika sein", sagte Anthelia nur. "Eine Angelegenheit, deren Tragweite ich selbst prüfen muß."

"Dann bleibst du nicht solange hier, wie dein Schützling in Frankreich ist, höchste Schwester?" Fragte Louisette. anthelia schüttelte den Kopf. Dann sagte sie sehr entschieden:

"Gerade dann, wenn ich fort bin habt ihr ihn gut zu beobachten. Es ist wohl sicher, daß er in diesem Land nichts zu befürchten hat. Aber ich will ihn nicht verlieren. Passiert dies dennoch, bestrafe ich die Schuldige oder die Schuldigen dafür."

"Verstanden, höchste Schwester", seufzte Louisette, die sich zurecht angesprochen fühlen mußte.

Anthelia versenkte sich nach dem Lesen des Zettels in die Wahrnehmungen Cecil Wellingtons, der gerade mit seinen Eltern durch die Straßen Marseilles fuhr. Am Abend würde sie ihn in die Nähe Millemerveilles dirigieren. Vielleicht konnte er sogar über die Grenze treten.

Es knallte im Flur. Anthelia zog sich sofort aus Cecils Sinneswelt zurück und richtete ihren Spürsinn für fremde Gedanken auf den Flur aus, wo sie eine sichtlich aufgeregte Hexenschwester erkannte.

"Höchste Schwester hier?" Fragte die gerade apparierte mit starkem Akzent. Louiesette antwortete nicht. Sie sah Anthelia an. Diese erwiderte auf Spanisch, was Louisette nicht verstehen konnte:

"Ich bin in diesem Raum, Schwester Carmela!"

Eine schwarzgelockte Hexe mit dunkelbraunen Augen in einem leuchtend roten Umhang mit gelben Rüschen trat in das Wohnzimmer ein. Louisette deutete auf einen freien Stuhl. Die leicht außer Atem keuchende Besucherin nickte ihr dankbar zu und setzte sich hin.

"Ich mußte zu dir kommen, höchste Schwester, weil sich die Ereignisse überschlagen. Es hat eine Entführung eines Muggels aus einem verschlossenen Badezimmer gegeben. Den haben sie vor einer halben Stunde in einer Seitenstraße vom Platz der granaddinischen Kathedrale gefunden. Dann sind die Diener des Vampirfürsten Hirudazo auf Wanderschaft und könnten heute Abend noch in Andalusien eintreffen. Mein offizieller Vorgesetzter vermutet, er sucht eine Entscheidung im Kampf um die Macht gegen den Zauberer Alfonso Espinado und seine lykanthropischen Freunde."

"Sieh mich bitte an, Schwester Carmela!" Forderte Anthelia. Die schnellste Weise, alle notwendigen Informationen zu erhalten war, sie aus Carmela Campos Erinnerungen zu schöpfen. Sie ließ es sich gefallen, daß Anthelia sie gründlich legilimentierte, bis sie sagte:

"Soso, das Ehepaar Montes befindet sich also in deinem Revier, Schwester Carmela. Offenbar hat die bei euch herumspukende Abgrundstochter beschlossen, ihr Geheimnis zu enthüllen und den Ehemann verschleppt. Daß sie ihn zurückgegeben hat erstaunt mich nicht sonderlich. Wahrscheinlich hat sie ihn mit ihrer Magie versklavt und zum Mord an seiner Frau angestiftet. Das mit diesem Espinado ist nicht unwichtig. Immerhin gewahrte ich von anderen Schwestern, daß der Emporkömmling seine schmutzigen Klauen nach europäischen Spießgesellen ausstreckt. Espinado gilt als mächtig genug, ihm entweder gute Dienste zu leisten oder sein ärgster Widersacher zu werden. Offenbar geht jener Blutfürst Hirudazo darauf aus, die Macht Espinados in einem Gewaltstreich zu brechen. Weiß man, wo dieser Alfonso Espinado sich verkrochen hat?"

"Ich weiß es nicht, höchste Schwester", sagte Carmela Campo sehr betrübt. Anthelia nickte. Natürlich wußte sie es nicht, weil Anthelia es ja sonst erfahren hätte. Dann sagte Carmela:

"Einer aus dem Archiv für Zaubereigeschichte hat mal was von einer Burg erzählt, die sich zwischen den Gipfeln der Sierra Nevada verbergen soll und seit Jahrhunderten dunklen Zauberern gehört hat. Allerdings ist über den genauen Standort dieser alten Burg nichts bekannt. Wir müßten suchen."

"Geh davon aus, daß der Vampirfürst weiß, wo sie ist, Schwester Carmela. Er würde sich wohl kaum eine lange Reise und anstrengende Suche nach unterirdischen Verstecken aufhalsen, wenn er nicht wüßte, wo er suchen muß."

"Ja, aber Hirudazo zu suchen und zu fragen wäre schwierig. Unsere Jäger dunkler Kreaturen suchen ihn schon, seitdem bekannt wurde, daß er sein asturisches Versteck verlassen hat. Es ist sogar gelungen, einen der Lykantrhopen zu fangen, der als Kundschafter in der Bruderschaft des Mondes arbeitet und uns über diesen Selvano Cortoreja auf dem laufenden hält."

"Vielleicht weiß der, wo sich dieser Espinado versteckt", vermutete Anthelia. Dann fragte sie weiter: "Wo ist diese Maria Montes gerade? Wie hat sie die Entführung ihres Gatten mitbekommen?"

"Unsere Spurenverwischungstruppe hat sie und die Muggelpolizisten gedächtnismodifiziert. Sie geht davon aus, ihr Mann sei wohl mit Bergsteigerausrüstung aus dem Hotelzimmer entschlüpft, vielleicht, weil er ihrer Überdrüssig ist", sagte Carmela. "Dann ist sie früh morgens aufgebrochen und sucht wohl in der Stadt nach ihm. Wo sie jetzt genau ist, weiß ich nicht."

"Alles muß man selber machen", knurrte Anthelia wütend. "Ihr hättet diese Frau bewachen und verfolgen müssen. Sie ist im Besitz eines Zaubers, von dem ich nicht weiß, von wem sie ihn bekommen hat."

"Höchste Schwester, das konnten wir nicht wissen. Bis heute morgen wußten wir noch nicht einmal, daß sie überhaupt in Spanien ist", beteuerte Carmela, in deren Augen die nackte Angst stand. Anthelia beruhigte sich wieder und nickte.

"Natürlich wußtet ihr das nicht, weil sie von der Zaubererwelt nicht überwacht wird. Sie kann reisen wo immer sie hin will. Nun, ich werde mich zu dem Gasthof begeben, in dem sie einkehrte und versuchen, sie dort zu finden, wenn sie mit ihrem Gatten heimkehrt oder zumindest herausfinden, wo sie gerade ist", sagte Anthelia. Dann erbat sie sich von Louisette unauffällige Muggelkleidung, schlüpfte in die für sie ungewohnten, engen freizeithosen, zog ein T-Shirt über und disapparierte zusammen mit Carmela Campo. Louisette fragte sich, ob Anthelia ihren Plan aufgeben würde. Falls nicht, sollte sie den Jungen besser selbst beschatten. So disapparierte sie ebenfalls aus ihrer Wohnung und landete in einem Keller eines abbruchreifen Hauses im Hafenviertel von Marseille. Von dort aus nutzte sie die öffentlichen Verkehrsmittel, um in die Nähe des Hotels zu kommen, wo die Wellingtons abgestiegen waren. Dort versteckte sie sich und nahm mentiloquistischen Kontakt mit einer anderen Spinnenschwester auf, die Cecil beschattete.

Anthelia indes erreichte mit Carmela einen Berg in der Nähe Granadas. Dort gab sie ihr die Anweisung, in ihre Abteilung zurückzukehren. Anthelia wartete, bis Carmela disappariert war und verwandelte sich in eine große Krähe. In dieser Gestalt flog sie die vier Kilometer zum Stadtrand Granadas und mischte sich unter einen Schwarm anderer Krähen, die zwischen den Häusern und in den Hinterhöfen nach essbarem Abfall oder darüber herumwuselnden Insekten jagten. Da sie in ihrer Animagusgestalt die Lautäußerungn der von ihr angenommenen Tierart verstehen konnte, hörte sie, daß bei einem großen Haus mit vielen Fenstern immer viel zu holen war. Fast wäre sie mit einem ranghöheren Männchen zusammengeraten, daß seiner Sippschaft die besten Beutereviere erhalten wollte. Doch sie war nicht darauf aus, von einer Krähe zerhackt zu werden und verließ den Schwarm, um zum Hotel San Cristóbal zu fliegen, wo sie sich auf einem Baum niederließ und mit ihrem Gedankenspürsinn lauschte, ob irgendwer im Hotel an Maria Montes dachte. Es war eine harte Geduldsprobe, aus dem Gewirr verbaler gedachter Worte und oberflächlicher Gefühlsregungen etwas herauszuhören. Dann tauchte jemand mitten in der Tiefgarage auf, ein zauberer, wie sie sofort erkannte. Er eilte zum Aufzug und fuhr hinauf, bevor er wohl daran dachte, seinen Geist okklumentisch abzuschirmen. Doch Anthelia wußte bereits genug von diesem Mann. Sie flog von ihrem Baum herunter und landete hinter einem Philodendronstrauch, wo sie sich in ihre ursprüngliche Gestalt zurückverwandelte. Dann krachte es, und sie war einfach verschwunden.

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Sie hatten den Mann, der in der Nacht aus einem Zimmer des San-Cristóbal-Hotels verschwunden war in der Nähe der Kathedrale wiedergefunden. Er trug schlichte Freizeithosen und ein Polohemd, aber keine Unterwäsche. Auch hatte er weder Geld noch Ausweispapiere bei sich gehabt. Ein Streifenpolizist hatte den offenbar schlafenden Mann in der Seitenstraße gefunden und nach seinem Namen gefragt.

"Ich bin Enrique Montes", grummelte er wie unter den Auswirkungen eines schweren Katers.

"Was? Sie sind Enrique Montes?" Fragte der Streifenbeamte nach. Der Mann vor ihm nickte schwerfällig. Dann stand er schwankend auf und fragte, wo er sei. Der Polizist sah ihn mißtrauisch an und sagte ihm, er sei in der Nähe der Kathedrale von Granada. Dann wurde Enrique Montes zur nächsten Polizeiwache gebracht, wo er eine Viertelstunde lang Fragen beantworten mußte. Doch auf die Fragen, wieso er aus dem Badezimmer geklettert war, wo er sich den Tag über herumgedrückt hatte und wieso man ihn nun wie betäubt am Straßenrand finden konnte, vermochte Enrique keine Antwort zu geben. Er wurde in ein Krankenhaus gebracht, wo man ihn auf Verletzungen und möglichen Drogeneinfluß untersuchen wollte. Einer der Polizisten, die den Transport begleiteten notierte sich eifrig was, von dem die anderen nichts mitbekamen. Als Enrique in einem der Untersuchungszimmer war, fragte der Polizist seinen Kollegen, ob er mal kurz austreten könne. Er bekam die Erlaubnis und suchte die Herrentoilette auf. Dort prüfte er, ob alle Kabinen leer waren und auch niemand vor einem der Becken stand. Dann verschwand er mit leisem Plop. Etwa zehn Sekunden vergingen, da tauchte er mit ähnlichem Geräusch wieder auf, nutzte die Gelegenheit, sich hier zu erleichtern und verließ den gefließten und gekachelten Raum ganz manierlich zu Fuß. Er hatte seine Meldung gemacht. Doch weil Montes im Moment von nichtmagischen Kollegen bewacht und von Ärzten und Krankenschwestern umsorgt wurde, war ohne ein neues Großaufgebot an Gedächtnisveränderungstrupps nicht heranzukommen. Denn den Polizisten, der einfach aus einem leeren Toilettenraum verschwinden und dort wieder auftauchen konnte, interessierte es brennend, wer Enrique Montes verschleppt hatte und warum er wieder aufgetaucht war.

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Vergilio Fuentes Celestes saß schweigend neben Maria Montes, als diese den Mietwagen zum San Cristóbal zurücklenkte. Er rechnete damit, daß man sie eventuell noch einmal befragen würde, wieso ihr Mann verschwunden war. Er hatte einen gültigen Polizeiausweis dabei und trug unter seinem Umhang gewöhnliche Stadtkleidung. Als Maria den Wagen in die Tiefgarage fuhr, legte Vergilio den Umhang unter den Beifahrersitz und stieg mit Maria Montes aus. Unbehelligt erreichten sie das Zimmer 532 und holten sich die Haarbürste. Da klingelte Marias Mobiltelefon. Vergilio zuckte zusammen. Maria lief leicht rot an. Das wollte sie den Zauberer doch nicht wissen lassen, daß sie ein Funktelefon dabeihatte. Dennoch zog sie es hervor und meldete sich.

"Hallo, Puri, wir haben schon den ganzen Abend versucht, dich und Enrique zu erreichen. Aber bei Enrique ist immer die Mailbox drangegangen und bei dir war andauernd besetzt", sagte die Stimme eines älteren Mannes mit mexikanischem Dialekt. Maria grummelte in sich hinein und sagte nur:

"Onkel Pedro, ich suche Enrique gerade. Er ist aus mir unerfindlichen Gründen aus unserem Hotelzimmer verschwunden, hat sich mit unserem Kletterzeug aus dem Badezimmerfenster abgeseilt."

"Huch, warum macht der sowas denn?" Staunte der Mann am anderen Ende der Leitung. Maria erwiderte nur, daß das ja noch geklärt werden müsse. Dann sagte sie rasch:

"Ich rede mit Tante Isabel und dir, wenn ich näheres weiß, Onkel Pedro. Im Moment möchte ich gerne bei der Suche helfen."

"Ja, aber Tante Isabel wollte unbedingt wissen, ob du Ende August zu Onkel Manolos Fünfzigstem kommen kannst."

"Achso, klar! Sage ihr bitte, ich möchte jetzt erst herauskriegen, was mit Enrique passiert ist. Wenn ich das weiß, rufe ich sie oder Onkel manolo sofort an."

"Verstehe, du mußt deinen Schatz erst wieder einfangen", scherzte Onkel Pedro. Maria verzog das Gesicht, klang aber amüsiert als sie antwortete:

"Natürlich, Onkel Pedro. Bis später!"

"Bis Später, Mädelchen!" Verabschiedete sich der Anrufer. Es klickte im Handy, und Maria legte auf.

"Die liebe Verwandtschaft sorgt sich, ob ich zu einer Feier kommen kann. Wie schön alltäglich", bemerkte Maria, während sie das Mobiltelefon fortpackte.

"Sie haben mir nicht erzählt, daß Sie so ein Fernsprechding dabei haben", sagte Vergilio Fuentes Celestes merkwürdig verstimmt. Maria meinte:

"Warum sollte ich auch? Sie sind ein Zauberer, brauchen sowas also nicht. Und ich wollte erreichbar bleiben, falls man Enrique doch irgendwo wiederfindet. Was stört Sie also daran?"

"Nun, ich weiß, daß man ein solches Telefon, wenn es eingeschaltet ist, wie einen Funkpeilsender verfolgen kann. meine Schwester hätte es bestimmt nicht gern, wenn die Muggelpolizei herausbekommt, wo Ihr Telefon war, als es vorübergehend ausfiel, ohne anständig abgemeldet zu werden."

"Es fiel aus?" Fragte Maria Montes kühl. Vergilio nickte.

"In hundert Metern Umkreis um das Haus meiner Schwester funktioniert nichts elektronisches. Sie wissen doch, Magie kann Elektronik überlagern." Maria nickte. Das hatte sie schon einmal gehört, daß künstliche Elektrizität von starker Magie gestört werden konnte und übersinnliche Medien in einem Raum voller Elektronik ihre Gaben einbüßten. Doch so konkret hatte sie das nicht bedacht. Nun ja, immerhin hatte das Handy als Einwegfunkgerät gut funktioniert. Sie würde also zu Hause ein volles Band mit den Richtungen zum Celestes-Haus vorfinden. Dann sagte sie zu Vergilio: "Es wird als Funkloch erklärt werden, also als Zone, wo Signale nicht durchkommen können."

"Das dürfen Sie meiner Schwester erklären, wenn wir wieder bei ihr sind", sagte Vergilio entschlossen und wollte schon mit der Haarbürste aus dem Zimmer, als das Telefon erneut klingelte. Maria nahm ab und lauschte. Dann sprach sie Englisch:

"Das ist ja schön für dich, Zach. ... Och, dann hast du ja was zu tun in den drei Wochen. ... Ich bin jetzt mit Enrique im Urlaub. Mal die Seele baumeln lassen. ... Ja, kapiere ich. Aber mit den beiden mußt du ja dann richtig viel unternehmen oder? ... Okay, verstehe, die nette Oma hat sich gegen deinen obersten Chef durchgesetzt und jemanden gesucht, der die beiden herumführt. ... Joh, mach's gut, Zach!"

"Diese Geräte können ja richtig lästig werden", meinte Vergilio. maria nickte.

"Manchmal schon. Das war ein Kollege, der mir sagte, daß er jetzt Urlaub hätte und ich ihn im Bedarfsfall unter seiner Handy-Nummer erreichen könnte. Aber der ist in New Orleans und ich ja in Spanien."

"Und er hat Gäste im Urlaub?" Forschte Vergilio neugierig nach.

"Ja, eine Mutter und ihren vierzehnjährigen Sohn aus Frankreich. Die können aber beide gutes altes Inselenglisch. So hat sich der Kollege ausgedrückt."

"Das ist nicht zufällig der Kollege, der sich Ihnen als einer von uns offenbart hat?" Wollte Vergilio wissen.

"Eben der. Ich vermute sogar, die beiden Gäste sind auch eine Hexe und ein Zauberer, weil diese Jane Porter ihm die vermittelt hat."

"Aus Frankreich, die Englisch können", gab Vergilio grinsend von sich. Dann erkannte er, daß es ernstere Dinge gab und schlug vor, mit der Bürste zum Haus seiner Schwester Almadora zurückzukehren. maria willigte ein.

Als sie kurz vor dem Ziel waren, klingelte das Handy schon wieder. Maria hielt an und nahm ab. Dann bekam sie einen sehr aufgeregten Gesichtsausdruck und fragte, ob sie wirklich Enrique Montes gefunden hatten. Sie nickte, obwohl das am anderen Ende keiner sehen konnte.

"In Ordnung, ich komme sofort zu Ihnen in die Wache. Wir können dann zusammen hinfahren um zu klären, ob er es wirklich ist."

"Bitte, sie haben Ihren Mann gefunden?" Fragte Vergilio. Maria nickte verhalten.

"Sie haben einen halbbewußtlosen mann in einer Seitenstraße gefunden, in der Nähe der Kathedrale. Er weiß jedoch nicht, wie er dahingekommen ist. Jetzt wollen sie, daß ich hinfahre und ihn mir ansehe, ob es wirklich mein Enrique ist", sagte Maria.

"Hmm, das klingt nicht gut", sagte Vergilio. "Sollte sie ihn zurückgegeben haben? Soll ich mitkommen?"

"Wenn er es nicht ist, sollten Sie mit Ihrer Schwester herausfinden, wo er ist. Wenn er es ist, brauche ich Sie wohl nicht mehr. Weil dann wäre die Geschichte mit dieser Succubus wohl erledigt, weil Ihre Schwester doch behauptet hat, die würde ihre Opfer bei sich behalten."

"Das hat Dori so nicht gesagt", warf Vergilio sehr energisch ein. "Sie hat gesagt, sie macht diese Männer zu ihren willigen Abhängigen. Kann sein, daß Ihr Mann, wenn er es wirklich ist, von dieser Kreatur freigegeben wurde, um Sie zu ködern. Vielleicht soll er sie ermorden oder betäuben, damit sie leichteres Spiel hat. Am besten fahre ich mit."

"Gut, einverstanden. Bringen Sie ihrer Schwester aber bitte die Haarbürste, wenn er es doch nicht sein sollte", sagte Maria Montes. Vergilio nickte und verließ den Wagen, um zu Fuß zum Haus seiner Schwester zu gehen. Denn die schnelle Ortsversetzung klappte in der Nähe des Hauses nicht, hatte Almadora ihr erzählt. Maria wartete im Wagen, bis Vergilio auf den Pfad getreten war, der zum Haus seiner Schwester führte. Dann legte sie den Rückwärtsgang ein, trat voll aufs Gas, ließ den Wagen dadurch ein Dutzend Meter zurückspringen, legte den ersten Gang ein, wendete und fuhr an und schaltete in den zweiten Gang, um den Passat so kraftvoll wie möglich zu beschleunigen. Sie dachte nicht daran, diesen Zauberer wie einen Babysitter mitzuschleppen. Wenn es wirklich ihr Mann Enrique war, dann wollte sie mit ihm reden, bevor übereifrige Zauberer ihn womöglich kassierten und verhörten. Ihr Temperament überkam ihre Intelligenz. Sie wollte das alleine herauskriegen, was mit ihm passiert war. So trieb sie den VW Passat mit mehr als erlaubter Höchstgeschwindigkeit zur Stadt zurück, wo sie mitten in einen Stau geriet. Sie ärgerte sich. Sicher, sie hatte von Zach Marchand erfahren, daß ein Zauberer nur an feststehenden Orten aus dem Nichts auftauchen konnte oder das Innere eines Fahrzeuges sehr gut kennen mußte. Aber hier war sie doch nun völlig hilflos.

Bange fünfzig Minuten später konnte sie weiterfahren und erreichte um drei Uhr Nachmittags die Polizeiwache, wo sie sich mit einem der Beamten unterhielt und dann in dessen Wagen zum St.-Ana-Krankenhaus fuhr, das ziemlich zentral gelegen war.

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Sucelo Montemiedo grinste. Sein vom Imperius-Fluch zur Spionage gezwungener Informant in der magischen Strafverfolgung hatte ihm gemeldet, daß sie den gesuchten Enrique Montes wohl gefunden hatten. Er hatte versucht, mit Don Alfonso zu reden. Doch der hatte gerade seine ganzen Werwölfe und diesen brutalen Greyback zu Gast. Da er seinem Meister einen großen Triumph bieten wollte, hatte er sich entschlossen, selbst hinter den Montes' herzujagen. So hatte er sich die Baupläne des San Cristóbal besorgt, einen guten Punkt zum Apparieren gesucht und war unbemerkt von den Muggeln dort aufgetaucht. Selbstsicher fuhr er mit dem Aufzug hinauf zur Rezeption. Er zückte seinen behexten Ausweis, der jedem, der ihn las vorgaukelte, Montemiedo wäre der, als wer immer er sich ausgab, Polizist, Geheimagent, Putzmann oder Postbote. So trat er an den Tresen des Portiers, legte ihm den Ausweis hin und stellte sich als Inspektor Ildefonso von der Guardia Civil vor. Er sagte:

"Ich habe den Auftrag, das Zimmer der Eheleute Montes nach Rauschgift abzusuchen, da bei der Untersuchung herausgekommen ist, daß der geflohene Enrique wohl ein Kurier aus Kolumbien ist und die Frau nur eine Schauspielerin, mit der er zusammen das Touristenehepaar spielt. Welche Zimmernummer haben diese Leute bei Ihnen?"

Der Portier sah perplex auf den angeblichen Dienstausweis und dann auf Montemiedo. Dann sagte er:

"Maria und Enrique Montes haben Nummer 532. Aber ich möchte Sie nicht ohne unseren Detektiv dort hinauflassen."

"Wie Sie meinen", sagte Montemiedo und wartete, bis der Detektiv gerufen war und sie aufbrechen konnten. Er hielt dem Portier unter dem Tresen den Zauberstab entgegen und sagte: "Mikramnesia!" Damit löschte er die Kurzzeiterinnerung des Muggels, zumindest die der letzten fünf Minuten. Mit dem Detektiv fuhr er im Aufzug nach oben, bis sie die fünfte Etage erreicht hatten. Dort suchten sie das Zimmer 532 auf.

"Wo ist denn ihr Durchsuchungsbefehl?" Fragte der Detektiv, Rico Jerez.

"Hier", grinste der angebliche Polizist und hielt ihm den Zauberstab entgegen. Jerez wußte nicht, was das sollte und reagierte überhaupt nicht.

"Imperio!" Klang ein Wort wie ein Befehl. Da überkam den Detektiv eine Woge grenzenloser Erleichterung. Alle Gedanken wurden aus seinem Gehirn gespült. Dann, als er in einem Meer totaler Sorglosigkeit trieb, dröhnte ein Befehl in seinem Geist, der widerhallte und sich zu einem unüberwindlichen Zwang vergrößerte. "Mach die Tür auf und komm mit mir in das Zimmer!"

Jerez gehorchte dem unhörbaren Befehl und schloß die Zimmertür auf. Dann ging er vor Montemiedo hinein. Dieser schloß die Tür von innen.

Mit einem weiteren Befehl schickte er den Detektiv in den geräumigen Kleiderschrank und schloss ihn darin ein. Dann begann er, das Zimmer zu durchsuchen. Er wollte wissen, warum Maria Montes so wichtig war, daß ihr Mann entführt worden war. Als er gerade eine Schublade des Nachttisches öffnete, wo nur Socke und Unterhosen lagen, sprach ihn eine Frauenstimme an.

"Du wirst da nichts finden, Montemiedo. Was immer dein Herr und Meister sucht, sie hat es immer bei sich." Montemiedo fuhr herum und hob den Zauberstab. Vor ihm stand eine Frau in Straßenkleidung, wie die Muggel sie trugen. Doch in ihrer rechten Hand lag ein silbriggrau glitzernder Zauberstab.

"Verdammt, wer bist du?" Knurrte Montemiedo und versuchte, einen wortlos ausgelösten Fluch zu wirken. Doch die Fremde war darauf gefaßt und blockte ihn ab, sodaß der Fluch in laut knisternden Blitzen zerstob. Dann packte etwas seinen Zauberstabarm und drehte ihn brutal um. Montemiedo warf einen erschrockenen Blick über die Schultern. Doch niemand sichtbares stand hinter ihm.

"Ich will wissen, was du und dieser Kerl, der sich in diesem Land als größter Zauberer bezeichnet hier wolt", sagte die Fremde mit einer warm klingenden Altstimme. Doch Montemiedo ließ sich nicht so einfach einschüchtern. Er sah die Fremde an, die ihn immer im Auge behielt. und meinte:

"Nachtfraktionshure, ey?"

"Na warte", sagte die Unbekannte und deutete mit dem Zauberstab auf Montemiedo. Dabei ließ die unheimliche Gewalt von ihm ab, die seinen Arm nach hinten gedreht hatte. Er ließ den Zauberstab wieder vorschnellen und rief:

"Stupor!"

Im selben moment, wo sein roter Schockblitz auf die Fremde zuraste, prällte ihm ein anderer roter Blitz den Stab aus der Hand. Der Schocker zersprühte noch im Flug zu einer orangeroten Funkenwolke, die der Flugbahn des davongeschleuderten Zauberstabs folgte.

"Ich habe mir gedacht, daß du mich sofort angreifen wirst, Montemiedo", knurrte die Hexe. "Crucio!" Für genau drei Sekunden durchlitt Montemiedo eine Hölle von Schmerzen in allen Fasern seines Körpers. Dann senkte die Hexe ihren Stab für einen Sekundenbruchteil, um ihn dann mit einer fließenden Bewegung erst nach oben und dann nach unten durchschwingen zu lassen. Um Montemiedo explodierte die Welt. Sie blähte sich auf wie ein Luftballon, in dem er selbst hockte und zusah, wie alles ins Riesenhafte wuchs. Für die Hexe hingegen schrumpfte er auf ein Hundertstel seiner Größe zusammen. Ein Gedanke von ihr reichte nun aus, ihn zu sich hinüberfliegen zu lassen. Dasselbe passierte mit dem Zauberstab. Wie eine gequälte Maus laut quiekend verschwand der eingeschrumpfte Zauberer in der freien Hand der Hexe, die mit dem Zauberstab auf den Kleiderschrank deutete und ihn aufspringen ließ. Dann belegte sie den Detektiv mit einem neuen Imperius-Fluch, dem nach dieser mit dem angeblichen Polizisten das Zimmer durchsucht aber nichts gefunden habe. Sie schickte ihn fort und verschwand mit dem immer noch in Panik quiekenden Montemiedo, als habe sie sich in Luft aufgelöst.

"Dir ist wohl klar, daß du nur noch eine Stunde zu leben hast?" Fragte Anthelia den gefangenen Sucelo Montemiedo. Dieser piepste:

"Du Dreckstück. Don Alfonso wird dich dafür töten oder zum Werwolf machen."

"Oho, jetzt kriege ich aber große Angst", feixte Anthelia. "Weiß er wo du bist? Nein, weiß er nicht, weil er mit diesem englischen Unhold Greyback zu tun hat und du ihm nicht gesagt hast, daß du in der Herberge der Montes' herumschnüffeln willst. Apropos, was hat dich geritten, denen nachzuschnüffeln?"

"Sage ich dir nicht", Viepte Montemiedo. Anthelia lachte amüsiert. Der Kerl war einfach unerschütterlich. Aber sie mußte es nicht von ihm hören, was er ihr freiwillig sagen würde. Mit einer lockeren Handbewegung warf sie ihn hoch in die Luft und fing ihn wieder auf. Er schrie mit einer Stimme, die bereits an der Grenze zum Ultraschall schrillte.

"Klein wie ein Insekt und genauso zerbrechlich", sagte Anthelia kalt und legte den Gefangenen auf den Boden des Kellers, in dem sie appariert war. "Ich lasse dich einfach hier, bis die Stunde um ist und du an der für dich zu dicken Luft erstickt bist. Dann können dich die Mäuse und Ratten fressen. Es sei denn, du erzählst mir, wo genau dein Herr und Meister wohnt. Das würde mich gnädig stimmen und dir noch ein paar ruhige Tage zu Leben lassen."

"Vergiss es, Schmutzweib!"

"Ach ja?" Fragte Anthelia und trat so nahe an Sucelo Montemiedo heran, daß sie ihn mit einem gezielten Tritt wie eine Schabe zerquetschen konnte. Er trippelte auf den winzigen Beinen zurück und warf die hauchdünnen Ärmchen wie zur Seite. Anthelia lächelte. Mit ihrer telekinetischen Kraft ließ sie ihn nach oben schweben, bis er auf Augenhöhe mit ihr war. Dann ließ sie ihn einen halben Meter fallen, um ihn dann federleicht landen zu lassen. Sie hielt ihren Zauberstab über ihn, ließ ihn ein paarmal kreisen und dachte "Remagno!" Sofort wuchs Montemiedo wieder zu seiner natürlichen Größe an, keuchte und zitterte.

"Verdammt, du Mistkröte, du elende ..."

"Taceto!" Dachte Anthelia nur, und der Zauberer vor ihr schwieg. Dann sagte sie laut: "Legilimens!"

Montemiedo hatte etwas Okklumentik gelernt. Doch als nun mit Urgewalt alle von ihm krampfhaft zu verbergenden Erinnerungen ins Bewußtsein aufstiegen, wußte er, diese Hexe da vor ihm war eine Meisterin ihres Faches. Es vergingen nur zehn Sekunden, da hatte sie alles aus ihm herausgeholt, was sie wissen wollte. Kaum war er wieder bei klarem Verstand, wollte er disapparieren. Doch Anthelia wirkte einen Verwandlungszauber, und Montemiedo wurde zu einer Kellerassel. Dann verschwand sie mit lautem Knall.

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Maria Montes erreichte das St.-Ana-Krankenhaus zusammen mit einigen Polizisten und wurde in ein Zimmer geführt, wo ein Mann im Bett lag. Sie sah ihn an und wußte, es war Enrique, ihr geliebter Mann Enrique. Sie beugte sich vor. Dabei vibrierte ihr silbernes Kreuz unvermittelt heftig, daß sie sogar ein leises Sirren von ihm hören konnte. Einer der Polizisten sah sie an. Enrique schrak wie unter einem elektrischen Schlag zusammen und fuhr auf.

"Was ist das?" Schrie er. "Was tut mir da so weh?!"

Maria trat erneut vor. Enrique schnellte von seinem Bett hoch und packte sie krampfhaft am Hals. Das Kreuz unter der Bluse zitterte nun so heftig, daß Maria meinte, es würde laut schreien. Dann flammte ein Gewitter aus roten, grünen, gelben, blauen und violetten Blitzen auf, warf alles im Zimmer um, bis auf Maria, von der die Blitze abprallten und gegen die Wände krachten. Enrique schrie auf, als er wie in einen Wirbel aus Funken gehüllt von Maria zurückprallte. Dann lag er ruhig auf dem Bett.

"Enrique, ist es vorbei?" Fragte Maria, als sie sah, daß sämtliche Polizisten in dem Raum ohnmächtig am Boden lagen. Doch Enrique erwiederte nichts. Er lag da, mit weit aufgerissenen Augen, die jedoch nichts zu sehen schienen. Maria erschrak. Dieses Bild kannte sie. So sah jemand aus, der einen heftigen Schock erlitten hatte und nun zwischen Koma und Wachzustand gefangen war. Sie begann zu weinen, weil sie fürchtete, Schuld an dieser Katastrophe zu sein. Selbst unter Schock stehend reagierte sie nicht, als die Tür aufflog und zwei Männer in dunklen Umhängen hereinstürzten. Sie fühlte einen harten Schlag auf den Kopf und verlor das Bewußtsein.

"Dann hat unser Freund bei der Muggelüberwachung doch recht gehabt. Dieses Weib ist gegen heftige Flüche immun", sagte einer der insgesamt drei Männer.

"Das kommt nicht von ihr her. Sie muß was immer es ist bei sich haben. Nehmt es ihr weg!" Sagte ein stämmiger Mann mit buschigen Augenbrauen und dunklem, verfilzten Haar. Seine beiden Kumpane beugten sich über Maria und begrabschten sie, wobei sie es sich nicht verkneifen konnten, ihr grob an die Brüste zu langen. Als einer dann die Halskette ertastete und freizog, lachten sie alle drei

"Ach wie niedlich, ein silbernes Kreuz", lachte der Anführer und griff danach. Doch da leuchtete das Kleinod grell auf, und in einer Mischung aus Schmerz und Schreck prallte der Zauberer zurück. Das Kreuz fiel wieder auf den Brustkorb Marias, schwach bläulich leuchtend.

"Das kann nicht sein", keuchte der davon zurückgeworfene. "Sowas geht doch nicht. Nehmt es ihr doch weg!" Doch kaum wollte einer der beiden anderen die Halskette fassen, knallte es, und die beiden Zauberer zuckten wie vom Blitz getroffen zurück. Das silberne Kreuz leuchtete nun noch heller, ging dabei in ein silberweißes Licht über.

"Wir müssen sie so mitnehmen. Wenn Don Alfonso wissen will, was damit los ist, müssen wir das Weib mitnehmen", sagte der Anführer. Dann sah er den mann auf dem Bett und grinste. "Den und die anderen brauchen wir nicht mehr." Er zog seinen Zauberstab und hielt ihn auf Enrique gerichtet. "Avada Kedavra!" Ein gleißender grüner Blitz sirrte laut wie ein hochgeschwindigkeitsgeschoss auf Enrique zu und traf ihn voll am Bauch. Die Augen des apathisch daliegenden ruckten noch einmal, dann lag er vollkommen reglos da. Nicht einmal der kleinste Atemhauch entrang sich seinen Lungen.

"Eh, machen wir die auch platt", sagte der zweite und deutete mit dem Zauberstab auf Maria. Sein Anführer jedoch packte ihn am Arm.

"Bist du wahnsinnig. Dieses Ding wehrt uns ab. Don Alfonso will wissen, was es damit auf sich hat. Wenn wir die umbringen kann sie es uns nicht mehr verraten. Außerdem weiß ich nicht, ob dieses Ding da nicht den Todesfluch auf dich zurückschleudert! Erinnere dich an diesen Potter-Bengel. Da weiß auch keiner, was den eigentlich gerettet hat."

"Ja, du hast ja recht", sagte der zweite Zauberer abbittend. Doch für die Polizisten, die immer noch am Boden lagen, fanden die drei Eindringlinge keine Verwendung mehr. Drei Todesflüche, drei Leichen. Dann packte der Anführer die niedergeschlagene Maria Montes und disapparierte mit ihr. Seine Kumpane folgten ihm eine Sekunde später.

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Vergilio Fuentes Celestes ärgerte sich grün und blau. Diese mexikanische Touristin - ach nein, sie kam ja aus den vereinigten Staaten - hatte ihn ausgetrickst. Sie war einfach losgefahren und hatte ihn abgehängt. Er ärgerte sich, daß er sie nicht gezwungen hatte, ihn zu seiner Schwester zu begleiten. Diese wartete bereits auf der hälfte des Weges und winkte ihm zu. Er stieg hoch und gab ihr die Haarbürste, bevor er im Geschwindschritt den Pfad hinunterrannte, aus der Apparitionssperrzone herauseilte und dann verschwand.

"Sie hat ihn verschaukelt", sprach Almadora zu Rottatze, der gerade den Pfad heruntertrottete und neben seiner Herrin stehenblieb. "Offenbar ist was passiert, was sie dazu veranlaßt hat, Vergilio zurückzulassen." Sie nahm die Bürste und ging in ihr Haus, wo sie bereits einen Zaubertrank aus ihrem Geheimlabor in eine kleine Schale gefüllt und in einen mit Runen geschmückten Kreis aus silberner Zaubertinte gestellt hatte. Sie begutachtete die Bürste, pflückte sieben Männerhaare heraus und warf sie in den Trank. Dann nahm sie den Zauberstab und sang eine Beschwörungsformel, die den Kreis aufleuchten ließ. Der Trank brodelte nun heftig, färbte sich dunkelbraun, bevor er glasklar wurde.

"Ich hoffe, ich habe es geschafft, gegen die Magie dieser Kreatur anzukommen", sagte sich Almadora, nahm die Schale mit dem nun wie Mineralwasser sprudelnden Gebräu auf und trank es vorsichtig. Es dauerte einige Sekunden, dann mußte sie sich hinsetzen. Alles schien sich um sie zu drehen. Dann fühlte sie, wie sie aus ihrer gewohnten Umgebung verschwand, besser, die Umgebung verschwand um sie herum. Sie fühlte, wie sie von etwas angezogen wurde, das nicht all zu weit fort war. Dann sah sie einen Mann mit dunklen Haaren, der gerade von Angehörigen der Guardia Civil in ein Zimmer geführt wurde, wo ein Mann im weißen Kittel, wohl einer dieser Muggelärzte, ihn untersuchte. Sie dachte "Welche Richtung?" und fühlte, daß es westnordwestlich von ihr war. "Welche Entfernung?" Fragte sie wortlos. "Achzigtausend Schritte", war die ebenfalls wortlose Antwort. Es hatte geklappt. Der Trank der Auffindung hatte gewirkt wie er sollte, und daß er im Kreis der Unangreifbarkeit endgültig wirksam gemacht worden war, hatte sie vor der Magie der Abgrundstochter ... Doch da fühlte sie, wie eine gigantische Welle aus undurchdringlicher Schwärze von vorne auf sie zubrauste und sie mit mörderischer Wucht zurückschleuderte, fortspülte, unhaltbar und gnadenlos. Sie schrie laut auf, meinte in eisigen Fluten zu ertrinken. Dann übermannte sie eine tiefe Bewußtlosigkeit.

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Itoluhila war wütend. Wer hatte es gewagt, ihre Verbindung zu Enrique Montes zu erschüttern? Ja, irgendwer hatte einen Zauber verwendet, der ihm oder ihr zeigte, wo dieser Kurzlebige gerade war und sich dabei sogar sogut wie unangreifbar gemacht. Einfache Gedankenbefehle konnten den Eindringling nicht zurückdrängen. So mußte die Tochter des schwarzen Wassers eine Woge aus dunkler magie in sich aufkommen und dann an jenem unsichtbaren Faden entlang zu Enrique vorstoßen lassen, von dem und dessen in ihm eingelagerter Magie sie explosionsartig zu jenem dreisten Zauberkünstler überschwappte und ihn wirksam aus der magischen Balance warf. Itoluhila hatte noch nicht einmal mitbekommen können, wer sie da auszukundschaften versucht hatte. Dann war dieses Weib, maria Montes, tatsächlich in das Zimmer gekommen. Doch kaum hatte sie sich über ihren Mann gebeugt, war etwas mit der Wucht einer explodierenden Sonne freigesetzt worden. Itoluhila fühlte, wie ihre magische Verbindung zerschmettert wurde, wie sie selbst fast die Besinnung verlor und sich keuchend und mit Schmerzen am ganzen Leib auf ihrer Strohmatte wiederfand. Das war zu viel. Sie mußte selbst dorthin, um zu sehen, was da vorgefallen war. Sie verschwand geräuschlos aus ihrer Ruhehöhle und tauchte für Menschenaugen unsichtbar im Voyer des Krankenhauses auf, wo Enrique Montes untersucht werden sollte. Sie rannte die Treppen zum Krankenzimmer hinauf. Aus der Ferne hörte sie schon die Worte des tödlichen Fluches. Da stach es wie mit hundert Nadeln in ihren Körper, kurz aber unerträglich. Sie unterdrückte den Aufschrei. Ja, Enrique war tot. Jeder Lebensfunken, der mit ihrer Magie vermengt worden war, war endgültig erloschen. Wer immer das war, sollte es büßen. Sie wollte schon in Gedankenschnelle den Standort wechseln, als sie wieder die verbotenen Worte hörte. Diesmal empfand sie jedoch nichts, als sie das Sirren hörte. Sie rannte los, wollte die letzten zehn Meter zu Fuß überwinden. Da krachte es mehrmals. Sie lief zum Zimmer, öffnete es aus zwei Metern Entfernung - und fand nur noch vier männliche Leichen, die keine äußerlichen Verletzungen aufwiesen. Sie war zu spät gekommen. Doch sie konnte sich denken, wer hier einfach vier Menschen totgeflucht hatte. Denn daß diese Frau, die mit einem ihr ebenbürtigen Zauber versehen war nicht mehr in diesem Zimmer war, verriet ihr, daß wohl dieser Don Alfonso Espinado ein Interesse an ihr hatte. Wieder völlig lautlos verschwand Itoluhila. Sie kehrte in ihre Höhle zurück, um dort von der gesammelten Lebensenergie so viel in sich aufzunehmen, daß sie eine harte Zauberschlacht lange genug aushalten konnte. Doch das dauerte seine Zeit. Jedes von ihr zu vertilgende Leben forderte eine halbe Stunde. Um die zehn Leben zu sammeln, die sie auf einmal aufnehmen konnte, benötigte sie also fünf volle Stunden.

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Vergilio Fuentes Celestes apparierte in seiner Abteilung für Geheimhaltung der Magie, wo er seinem Vorgesetzten mitteilte, was passiert war. Doch Señor Durante, ein altgedienter, beleibter und ergrauter Zauberer, wollte ihm die Geschichte nicht so recht abkaufen.

"Wir haben damals diese Kreatur geschwächt und zurück in ihr Versteck getrieben. Wir wußten zwar, daß sie nicht in den tiefen Schlaf gefallen ist, wie wir's gerne gehabt hätten, aber sie hat Spanien verlassen müssen", sagte Fausto Durante sichtlich angenervt. Doch sein Mitarbeiter konnte ihm anhand der Spuren und der Umstände erläutern, daß sie es offenbar doch mit jener Tochter des schwarzen Wassers zu tun hatten.

"Dann ist sie also wieder in unserem Zuständigkeitsbereich. Das wird den Leuten von der Abteilung zur Eindämmung der dunklen Kräfte schlaflose Nächte bereiten", grummelte Durante. "Wo ist diese Muggelfrau jetzt, diese Maria Montes?"

"Sie will wohl zu ihrem Mann, und meine Schwester befürchtet, sie könnte da in eine Falle laufen."

"Da haben Sie aber wirklich gut aufgepaßt", knurrte Durante. "Jetzt müssen wir eine Muggelfrau suchen, die eines der brisantesten Geheimnisse unserer Welt kennt. Warum haben Sie sie nicht gedächtnismodifiziert?"

"Habe ich versucht. Aber ein Gegenzauber hätte mich fast selbst um den Verstand gebracht. Ich fand weder Zugang noch Angriffspunkte, es war wie eine Gruppe lebender Wesen, die mich zurückdrängten."

"Aha, und warum haben Sie diese Frau nicht ersucht, ihr Artefakt zur Untersuchung auszuhändigen?" Wollte Durante wissen. Fuentes Celestes straffte sich und erwiderte:

"Weil eines unserer Gesetze besagt, daß Magosensoriker wie Squibs und Vollwertzauberer zu behandeln sind. Daß sie eine Magosensorikerin ist hat sie in den Staaten erfahren, oder welcher Muggel kann Dementoren so exakt beschreiben?"

"Dementoren in amerika? Davon wüßten wir aber was", sagte Durante. Dann legte sich seine hohe Stirn in Falten. "Allerdings erzählen uns Pole und Swift auch nicht alles was bei ihnen passiert. Nordamerikanischer Stolz. Also gut, ich will Ihnen mal glauben, daß diese Frau eine Magosensorikerin ist. Trotzdem sollten wir wissen, wo sie ist."

"Sie wird wohl bei der Polizei sein. Ich kann unsere Leute da drauf ansetzen."

"Das werde ich tun. Ich werde das Suchkommando losschicken und im Bedarfsfall die Zuführung der Muggelfrau in dieses Büro verlangen. Machen Sie sich mal drauf gefaßt, daß Ihre Extratouren Konsequenzen haben werden, auch wenn Sie einen erhabenen Stammbaum haben!"

"Señor, ich handelte im besten Wissen und Gewissen für unsere Abteilung und das Zaubereiministerium. Mir wäre nämlich nicht bekannt, daß die Strafverfolgungsabteilung schon ergründet hat, was mit Enrique Montes passiert ist." Darauf erhob sich Fausto Durante und brüllte ihn wutrot an:

"Impertinenz ist das allerletzte, das Sie sich jetzt erlauben dürfen, Fuentes! Die Strafverfolgungsabteilung hätte die Angelegenheit in den nächsten Tagen noch aufgeklärt. Immerhin waren ja Fußspuren am Tatort!"

"Sie unterstellen mir Impertinenz?" Entrüstete sich Vergilio. "Ich habe nur und ganz zurecht angemerkt, daß die Strafverfolgungsabteilung noch keine einzige heiße Spur hat und es in solchen Fällen auf Leben und Tod ankommen kann. Aber natürlich steht es Ihnen frei, mein Verhalten bei der nächsten Personalkonferenz zu rügen. Bis dahin bitte ich um die Erlaubnis, den Fall weiterverfolgen zu dürfen."

"Sie bitten um Erlaubnis", lachte Durante. "Weil Ihre Schwester die Schauergeschichte von der Rückkehr dieser Abgrundstochter erzählt hat? Wir haben im Moment genug um die Ohren. Wie Sie wissen zieht der Vampirclan Hirudazos gerade durch das Land, und wir müssen aufpassen, daß es keine Zusammenstöße mit den Muggeln gibt."

"Das ist mir bekannt. Ich weiß auch, wo Hirudazo hinwill. Vielleicht schlagen wir damit zwei Fliegen mit einer Klappe, wenn der uns zu Espinados Versteck führt, damit wir es endlich ausheben können."

"Ja, und genau da kommt mir Ihre Geschichte ungelegen", sagte Durante sehr verärgert. "Sie haben heute frei, Fuentes. Bleiben Sie bei Ihrer Schwester und pfuschen Sie uns nicht dazwischen. Wenn wir es wirklich schaffen, den Vampirclan zu Espinados Versteck zu verfolgen könnten wir beide endlich zu den Akten legen. Minister Pataleón will jeden Schwarzmagier festsetzen, der sich mit diesem Engländer, Sie wissen schon wem, zusammentun könnte. Er korrespondiert dauernd mit deren neuem Minister Scrimgeour, den, Minister Grandchapeau in Frankreich und Minister Güldenberg in Deutschland. Vielleicht tut uns dieser Blutsauger den Gefallen und räumt Espinado vom Platz."

"Aber Señor Durante, das dürfen Sie nicht einmal denken", warf Vergilio ein. Durante sah ihn warnend an, worauf Vergilio es vorzog, sich respektvoll zu verabschieden und durch die Abteilungen zurück zum Voyer zu gehen, wo er disapparierte, jedoch nicht in sein kleines Haus in der Nähe von Marbella, sondern in die Nähe der Zentralüberwachung der granadinischen Guardia Civil. Dort suchte er einen guten Freund aus Schulzeiten auf und interviewte ihn zu den Ereignissen der letzten Nacht und des Tages. Als er dann etwa eine Stunde später die Alarmmeldung bekam, vier Tote in einem Krankenhauszimmer und erfuhr, daß viermal der tödliche Fluch angewendet worden war, ahnte er, daß dieser Tag noch nicht vorbei war. Da er offiziell frei hatte blieb er in der Nähe der Kameraden aus der Strafverfolgungsbehörde, die mit Durante nicht sonderlich gut klarkamen, weil der keinen Respekt für seine Untergebenen hatte. So erfuhr er, daß Maria Montes spurlos verschwunden war. Er ahnte, daß sie von denen verschleppt worden waren, die die Männer im Krankenhauszimmer getötet hatten. Einer der Toten wurde als Enrique Montes identifiziert. Das traf Vergilio sehr heftig. Er hatte gehofft, der Touristin aus den Staaten, die von Rottatze so herzlich umschnurrt worden war, ihren heilen Urlaub zurückzugeben und sie mit ihrem Mann sicher abreisen sehen zu dürfen. Wo immer Maria jetzt war, falls sie überlebte, würde sie einen schweren Verlust zu verkraften haben. Und vielleicht war er sogar Schuld daran, weil er seine Abteilung nicht frühzeitig über die Angelegenheit informiert hatte. Doch er durfte sich nicht die Schuld am Tod des Mannes geben. Es stand fest, daß er nicht von dieser Abgrundstochter ermordet worden war. Also hatte sich noch wer anderes für den Fall interessiert, jemand, der keine friedlichen Absichten gehabt hatte. Woher hatte dieser Jemand die entsprechenden Informationen bekommen? Die einzige Antwort auf diese Frage lautete: Verrat aus den Reihen der Ministeriumszauberer.

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Die Sonne ging als großer, praller orangeroter Feuerball hinter den Gipfeln unter. Karg war das Land im Umkreis von mehreren Kilometern. Nichts wuchs hier. In der Ferne rauschte Wasser, das kraftvoll um eine alte Burg herumfloss, als Bollwerk gegen ungebetene Gäste, die das Blut von Menschen und Tieren tranken.

Sie hatte es nicht leicht gehabt diese Burg zu finden. Doch die Angaben eines von ihr unterworfenen Zauberers, der ihr die Unterlagen über eine von kargem Land umgebene Festung beschafft hatte, hatten sie schließlich hierher geführt. Sie fühlte wie ihr Element, das Wasser, ständig um diese Festung herumströmte. Offenbar fürchtete sich dieser Espinado vor diesen bleichgesichtigen Blutegeln. Lächerlich! Die sollten ihr bloß nicht in die Quere kommen!

Die Sonne versank vollends und tauchte das Land in blutroten Schein. Es schien, als würde der Himmel in einer Flut von Rotwein ertränkt. Itoluhila glitt sachte am Boden entlang, immer um die Burg herum, das Raubtier, das seine Beute umkreist, um sie in einem unachtsamen Moment anzuspringen. Noch war sie nur Nebel. Aber wenn es richtig dunkel war, würde sie über den Graben hinweggleiten und sich an der Mauer hochbewegen, dort selbst verfestigen und dann in die alte Burg eindringen, den Feind finden und bestrafen. Sie lauschte auf jedes Geräusch, daß aus der alten Festungsanlage herüberwehte. Doch sie hörte nichts beunruhigendes.

Nun war es dunkel, und sie glitt hinüber über den Graben, die Mauer hinauf und auf den Wehrgang. Dort stand ein Mann mit braunem Haarschopf Wache. Er schien sichtlich angespannt zu sein. Sie landete keine zehn Meter hinter ihm und nahm ihre menschliche Erscheinungsform an. Sofort stach ihr der Gestank von Werwolf in die Nase. Hatte dieser Halunke also wirklich eine Bande von Mondheulern um sich versammelt. Ja, und es waren wohl recht viele hier. Sowas gehörte ausgerottet. Werwölfe waren unrein wie die bleichgesichtigen Blutsauger, die sich einmal angemaßt hatten, sich gegen Lahilliota aufzulehnen und seitdem die Erbfeinde der neun Töchter waren, hoffnungslos unterlegen zwar aber weil sie sich wie die Ratten vermehrten nicht so einfach loszuwerden. Sie schnüffelte, ob der Mann vor ihr auch ... Ja, er stank nach Mondheuler. Sie ging auf ihn zu. Sich mit soeinem zu paaren wäre so widerlich wie die Paarung eines Menschen mit einem Wildschwein, fand sie. Deshalb ließ sie sowas erst gar nicht am Leben.

"Hallooo!" Säuselte sie in ihrer verführerischsten Tonlage. Der Wächter fuhr herum, sah sie und setzte schon an, Alarm zu geben, da streckte die ungebetene Besucherin ihren rechten Zeigefinger aus. Schlagartig gefror alles Wasser im Leib des Werwolfs zu Eis, sodaß er von einer Sekunde zur Anderen zu einer weißgrauen Eissskulptur wurde, auf der sich weiterer Reif bildete und sie zu einer immer menschenunähnlicheren Form veränderte. Wer immer der Wächter gewesen war, er hatte keine Chance gehabt, dem Fluch des dunklen Eises zu entrinnen.

Ein weiterer Wächter trat von der anderen Seite heran. Noch ein Werwolf. Doch die Abgrundstochter wollte ihre gesammelte Lebensenergie nicht in ständigen Eisflüchen vergeuden. So lief sie zu ihm hin, sprang ihn an und warf ihn über die Brüstung in den Graben hinunter. Im Wasser, das so stark wie ein reißender Strom war, konnte der Werwolf sich nicht mehr lange halten. Sie kletterte hinunter auf den Hof und lauschte, ob jemand ihr Eindringen bemerkt hatte.

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"Dieses Weib, ich komme nicht an sie ran!" Fluchte Espinado. Seine Leute hatten ihm vor zwei Stunden diese Frau gebracht, die angeblich ein mächtiges Artefakt bei sich hatte. Er hatte versucht, sich ihr zu nähern, doch war keinen Meter vor ihr auf eine wild kribbelnde, unnachgiebige Barriere geprallt, die sie wie einen nichtstofflichen Panzer umschloss. Nicht nur das, jedesmal, wenn er versuchte, sie anzufassen, verschwamm ihr Bild vor seinen Augen, und es tat ihm heftig in der Hand weh, wenn er sie zu packen versuchte.

"Dieses Weib hat was mächtiges an sich", knurrte er.

"Sollen wir sie töten?" Fragte einer der Zauberer.

"Nein, bringt sie in ein Verlies. Ich verhöre sie, wenn sie wieder aufwacht", hatte Espinado befohlen. Tja, und als sie erwacht war hatte er versucht, sich ihr wieder zu nähern. Doch sie hatte ihn angesehen und gerufen, er solle sich zum Teufel scheren. Als habe sie damit etwas aufgerufen, war sie von goldenem Licht umflossen worden, das dem Werwolf Alfonso Espinado in den Augen gebrannt hatte. Er kam nicht an sie heran, weil sie dieses vermaledeite Kreuz trug, das selbst seine normalmenschlichen Leute nicht wegnehmen konnten. Er mußte sie töten.

"Ich gebe dir die Chance, lebend aus dieser Burg hinauszukommen, wenn du dieses Schmuckstück weglegst, das du trägst", sagte Espinado zum letzten Mal.

"Vergessen Sie's! Denken Sie ich bekäme nicht mit, daß die heilige Aura Sie zurücktreibt? Wenn ich das Kreuz des Heilands ablege, werden Sie mich töten, so oder so. Ich vertraue auf den Schutz der Heiligen und des Herren und verlasse mich nicht auf Ihre versprechungen, Señor Espinado."

"Hochmut kommt vor dem Fall", lachte Espinado. Dann hob er den Zauberstab.

"Ich glaube, den Fluch überlebst du auch mit deinem religiösen Machwerk am Hals nicht", zischte er. Da summte etwas wild und laut durch die Burg.

"Was, die sind schon da? Mist. Nun denn, bleib schön hier, Maruja und träume von deinem Gatten. Du wirst ihn bald wiedersehen."

"Was ist mit Enrique?" Fragte Maria Montes irritiert.

"Das verrate ich dir, wenn ich die kleine Angelegenheit erledigt habe, die da gerade ansteht", lachte Espinado und schlug die schwere Verliestür zu. Maria war alleine.

Sie konnte sich nicht so recht erinnern, wie sie hier hereingekommen war. Das letzte, was ihr noch einfiel, war die Sache mit Enrique. Er war wohl von einem mächtigen Fluch durchdrungen gewesen und war in eine Art Koma gefallen. Dann waren diese Zauberer aufgetaucht und hatten sie niedergeschlagen. Ja, und jetzt war sie hier in einem Burgverlies mit den Füßen an die Wand geschmiedet. Keine guten Aussichten! Was sie jedoch gemerkt hatte, als sie wieder erwacht war: Ihr silbernes Kruzifix hing immer noch um ihren Hals, und die bösen Zauberer hatten es ihr nicht wegnehmen können. Offenbar wehrte es sich dagegen. Dann hatte sie noch bemerkt, daß einige Zauberer sich ihr auf Berührungsweite nähern konnten, ja sie problemlos anfassen konnten, aber andere Zauberer wie dieser Espinado nicht. Mochte es sein, daß dieser Magier so düster war, daß seine Bosheit besonders hart gegen die unsichtbare Schutzaura prallte? Davon hatte Jane Porter ihr nie was erzählt.

Sie war mit den Füßen angeschmiedet. Die Hände waren frei. Warum hatte man sie nicht ganz angekettet? Die Antwort darauf war, daß nur sie das Kreuz vom Hals nehmen konnte. Also wollte man sie solange hungern lassen, bis sie es hergab. Doch sie wußte, an diesem Kreuz hing ihr Leben.

Sie lauschte auf die Geräusche aus der Burg. Das hektische Summen, das sie sehr heftig an eine Alarmanlage erinnerte, verklang. Stattdessen hörte sie hektische Rufe und Befehle. Die Burg wurde angegriffen.

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"Warum ist der Alarmzauber losgegangen?" Fragte Espinado sehr erbost. Seine Leute wußten es nicht. Offenbar hatte sich jemand der Burg genähert. "Was sagen die Wachen?" Fragte er noch.

"Ich frage mal nach", erbot sich Selvano Cortoreja. Etwas hibbelig eilte er hinaus in den Hof. Er fühlte, das bald der Vollmond aufgehen würde. Da er den Lykonemesis-Trank getrunken hatte, würde er sich zwar verwandeln, war dann aber immer noch Herr seiner Sinne.

Als er auf den Burghof hinaustrat, spürte er die Gefahr. Er blickte sich um und erkannte eine Gestalt in dunklem Kleid und langem Haar. Er wußte nicht wieso, aber sie strahlte etwas aus, daß ihn warnte, ihr nicht zu nahe zu kommen. War dies eine Vampirin, eine Gespielin des Erbfeindes Hirudazo? Nein, sowas konnte nicht über den Graben kommen. Er eilte zurück ins Hauptgebäude und suchte seinen großen Freund Alfonso, der sichtlich nervös war.

"Ich habe eine Fremde auf dem Hof gesehen, die mir sehr gefährlich aussieht, Alfonso", meldete Selvano.

"Wie sieht sie aus?" Fragte Alfonso Espinado sehr erschrocken.

"Dunkles Haar und so'n fließendes Kleid in Dunkel. Irgendwie riecht die nach Tod."

"Verdammt, sie ist hier!" Rief Alfonso. "Sie hat mich aufgespürt. In Ordnung, Selvano. Ich werde die Burg verteidigen. Zieht euch in die sicheren Räume zurück! Gegen die kommt keiner von euch an."

"Ist es dieses Itoluhila-Weib, daß Greybacks Freund gerne haben will?" Fragte Selvano.

"Ja, ist sie", knurrte Espinado. Selvano nickte. Jetzt verstand er, warum sein Freund diese Frau fürchtete.

"Alfonso Espinado! Wo du auch bist, zeige dich mir gefälligst!" Rief eine Frau aus dem Hof.

"Verzieht euch in die unteren Kerker. Da habe ich Schutzbanne errichtet, die meine erklärten Feinde abhalten. Ich schicke das, was du als Aas bezeichnet hast los", sagte Espinado.

"Klar, Bruder", erwiderte Selvano und lief davon. Espinado lief durch mehrere Geheimgänge und winkte dabei mit dem Zauberstab. Die Ritterrüstungen, die bis dahin starr und leblos herumgestanden hatten, ruckten plötzlich und hoben die schweren Panzerstiefel an. Eisenhandschuhe glitten zu Schwertscheiden, zu Holzstielen von Morgensternen, zu Stachelkeulen und Streitäxten. Dann stapften sie klirrend aus ihren Nischen und marschierten mechanisch durch die Gänge. Die Armee der Wiedergänger war im Einsatz.

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Kaum war die Sonne weg erwachten hundert starr in einer Höhle liegende Gestalten. Sie waren sofort hellwach. Ihr Anführer, ein breitschultriger Hühne im schwarzen Samtumhang mit blutroten Ziersteinen an den Ärmelsäumen und dichtem, schwarzem Haar flüsterte:

"Brüder des Blutes, heute holen wir uns diese Werwölfe Espinados. meine tagaktiven Freunde haben mir gesagt, wir sind ganz in der Nähe dieser Burg."

"Fürst Hirudazo, ist es wahr, daß Espinado einen Graben mit fließendem Wasser um seine Burg gezogen hat?" Wolte ein untersetzter Bursche im flusigen Wollumhang wissen.

"Das sähe ihm ähnlich", lachte der mit Fürst Hirudazo angesprochene. "Doch laßt mich nur machen! Wir kommen über den Graben. Ich werde mir den Fang des Jahrtausends nicht mehr entgehen lassen."

Eine Ratte huschte auf Hirudazo, den Vampirfürsten zu und quiekte etwas. Hirudazo sah die Ratte an und dann seine hundert Getreuen, die alle die lange Anreise mitgemacht hatten, sich unterwegs um ihn geschart hatten, damit sie den selbsternannten Führer der Werwölfe und den angeblich größten Zauberer der iberischen Halbinsel gefangennehmen konnten. Viele der bleichgesichtigen Gestalten lächzten nach dem Blut der Werwölfe. Hirudazo wollte Espinado für sich alleine haben, seit dem er wußte, daß er sich zu einem Werwolf hatte machen lassen. Er wäre aber auch nicht abgeneigt, wenn er die als sehr schön beschriebene Lunera vor die dolchartigen Fangzähne bekommen könnte. Doch was piepte ihm die Ratte da zu? Böse Eisfrau in der Burg? Das konnte nicht stimmen.

"Los, Brüder des Blutes. Zeigen wir diesen Fellträgern, wer die wahren Herrscher der Nacht sind!" Rief Hirudazo. Wie unheimliche Schatten mit großen, weißen Flecken huschten die Vampire aus den Höhlen hinaus, in die kein einziger Sonnenstrahl fiel. Hirudazo fühlte den Zorn in sich hochsteigen, den unbändigen Haß auf diesen Espinado, der seine beiden leiblichen Brüder an den Füßen aufgehängt hatte, bis sie im ersten Sonnenlicht qualvoll zu Asche verbrannt waren. Diese Gemeinheit wollte er ihm heimzahlen.

Draußen vor den Höhlen streiften die Vampire ihre Umhänge ab und banden sie fest vor ihre Bäuche. Dann erstarrten sie. Sie tauchten ein in die transformative Trance. Zusehens wuchsen ihnen große, lederartige Flügel. In den völlig weißen Gesichtern spross hellgraues Haar. Dann war die Wandlung auch schon vollendet. Wie gigantische Fledermäuse flogen sie auf, stiegen höher und höher, kreisten dabei über einem Punkt, bis sie die Flughöhe erreicht hatten, die sie wollten und flatterten als Schreckensschwarm auf die Burg zu, wo ihr Feind und Hoffnungsträger wohnte. Denn würden sie sein Blut trinken können und dessen Eigenschaften mit ihren verschmelzen, konnten sie bald auch am Tag im Freien herumlaufen und mußten sich nicht mehr vor der Sonne oder auch nur dem kleinsten Feuerchen verstecken.

"Ich fühle schon den Graben", piepste einer von Hirudazos engsten Freunden. Der Vampirfürst piepste zurück, daß er es auch schon fühlen konnte. Doch er dachte auch an das, was die Ratte ihm eben zugequiekt hatte. Wer war die böse Eisfrau, und wie stand sie zu Espinado?

Daa vorne rauscht es. Runter und landen!" Befahl der Vampirfürst in der piepsigen Sprache, die sie in der Fledermausform verwenden konnten. Seine Vampirbrüder breiteten die Flügel aus, bewegten sie jedoch nicht weiter. Sie segelten sanft zu Boden. Sie fühlten jedoch schon, wie die Nähe eines ständig fließenden Gewässers ihnen die Kraft raubte. Keiner wagte es, sich dem unheilvollen Rauschen weiter zu nähern. In einem großen Pulk landeten die Vampire. Dann erstarrten sie wieder und verwandelten sich in ihre menschenähnliche Form zurück.

"O Fürst, wie sollen wir über diesen Graben kommen?" Fragte ein kleinwüchsiger Vampir.

"Mit einem alten Zauberpulver, dessen Rezeptur ich zum Glück noch gefunden habe. Es ist von einem römischen Zauberer namens Hibernius Septemtrionalus. Unser felltragender Freund wird gleich sein mitternachtsblaues Wunder erleben."

Er holte vier poröse Säckchen aus seinem Umhang und gab dreien seiner Mitbrüder je eines. Er lächelte dämonisch, und seine Vampirzähne funkelten im Licht des gerade aufsteigenden Mondes.

"Das Pulver in den Säckchen reicht aus, um einen See von der Größe zweier dieser Berge zufrieren zu lassen. Damit werden wir diese Wasserfließerei abstellen. Espinado bildet sich ein, ein großer Zauberer zu sein. Zeigen wir ihm, daß wir ihm überlegen sind!"

"Aber dazu müssen wir doch an den Graben heran", klagte einer der hundert. Hirudazo nickte.

"Deshalb habe ich ja die ausdauerndsten mit meinem Geschenk bedacht", lachte er und ging todesmutig voran. Er fühlte, wie das fließende Wasser ihm gnadenlos die Glieder schwer und schwerer werden ließ. Dann stand er vor dem Graben und öffnete seinen kleinen Pulversack. Er wartete, bis seine drei Begleiter sich auf jeder der drei verbliebenen Seiten verteilt hatten, dann rief er: "Und rein damit!"

Grobkörniges, schmutzigblaues Pulver rieselte aus den kleinen Säcken die Böschung hinunter in den Graben hinein. Wo die Körnchen auf Wasser trafen, bildeten sich sofort kleine Eisstücke. Hirudazo wußte, daß das Pulver erst komplett im Graben versinken mußte, damit der Fluß aufhörte. Er sah zu, wie der Inhalt seines Säckchens im Graben landete, wie sich immer größere Eisstücke bildeten und zusammenstießen. Erst von unten aufsteigend, dann auch von den Seiten herantreibend. Aus Stückchen wurden Schollen, aus denen ganze Flächen, die knirschend aneinander entlangrieben, sich auftürmten und verkanteten. Von allen Seiten trieb das wachsende Eis zusammen, und die Kraft des fließenden Wassers ließ nach. Hirudazo fühlte es wie eine Erfrischende Blutmahlzeit, wie der Kraftsog des Wassers nachließ und schließlich versiegte. Die Eisbrocken hatten den Graben nun rettungslos verstopft und würden gut und gerne eine Stunde lang vorhalten. Bis dahin würden Hirudazos Vampire die Burg gestürmt und erobert haben.

"Werwolfblut!" Rief Hirudazo. Seine Begleiter nahmen den Ruf auf und rannten über die zerklüftete aber granitharte Eisfläche hinweg. Der Sturm auf Espinados Burg hatte begonnen.

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Die Strafverfolgungsmannschaft war in höchster Alarmbereitschaft. Viermal war in einem Krankenhaus in Granada der tödliche Fluch aufgerufen worden. Die schnelle Eingreiftruppe hatte erst zwei Minuten nach den tödlichen Flüchen alle Zeugen aufspüren und gedächtnismodifizieren können. Es war ein gutes Stück Arbeit, die vier Toten so herzurichten, daß jeder Polizeiarzt eine nichtmagische Todesursache annehmen würde. Als dann noch herauskam, daß der Angriff wohl den Montes gegolten hatte, hatte sich der Chef der Strafverfolgungsabteilung selbst eingeschaltet.

"Wir müssen davon ausgehen, daß Espinados Leute den Mann getötet und dessen Ehefrau verschleppt haben. Verwischen Sie ja alle Spuren, die zeigen, daß sie dort in diesem Krankenhaus waren!" Erging der eindeutige Befehl an die schnelle Eingreiftruppe. So wurde der blaue VW Passat vor dem Krankenhaus eingeschrumpft und bis auf weiteres in den Räumlichkeiten des Ministeriums versteckt, bis geklärt war, was weiter geschehen sollte.

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Anthelia hatte ihre Mitschwester Carmela Campo beauftragt, im Zaubereiministerium Spaniens die weiteren Ereignisse zu überwachen. Sollte sich in der Sache Espinado und den Vampirfürsten Hirudazo etwas neues ergeben, sollte Carmela zu Louisette Richelieu nach Monte Carlo reisen. Anthelia wußte, daß sie spätestens um vier Uhr mitteleuropäischer Zeit ihre acht Stunden Schlaf nehmen mußte, wollte sie die Kraft von Dairons Gürtel nicht verlieren. Doch noch war Zeit, ihren Kundschafter in der Muggelwelt zu dirigieren, um zu sehen, ob er vielleicht über die Grenze nach Millemerveilles vordringen konnte. Sicher würde er, weil er eben ein Unfähiger war, von der dort herrschenden Magie zurückgedrängt. Doch genau das, wielange es dauerte, bis ein Unfähiger fliehen mußte, wollte sie ausprobieren.

In der Nähe von Marseille versteckte sich Anthelia in einem Waldstück, in dem sie völlig ungestört sein mochte. Da räumliche Entfernungen in der Magie die Wirkung eines Fernzaubers beeinflußten, wollte sie so nahe es ging an Cecil dranbleiben.

Dieser hatte mit seinen Eltern ein sündhaft teures Abendessen in sieben Gängen genossen und war satt und träge wie seine Eltern in ihr Hotel zurückgekehrt. Dort wollte Cecil gerade in seinem eigenen Zimmer, das gleich neben dem seiner Eltern lag, unter den beruhigenden Klängen von madonnas Balladen einschlafen, als er eine ihm viel zu vertraute telepathische Stimme in seinem Kopf vernahm.

"Cecil, du weißt, ich möchte haben, daß du ffür mich einen bestimmten Ort aufsuchst. Verlasse dein Zimmer und die Herberge so leise es geht! Draußen vor der Pforte wirst du dich nach links wenden und die Straße entlanggehen, bis ich dir sage, wie du weitergehen sollst!"

Cecil wußte, daß jeder Widerstand gegen Anthelia sinnlos war. Entweder machte sie irgendwelche Hexereien mit ihm oder er landete in einer Irrenanstalt, wenn er es seinen neuen Eltern und der restlichen Welt zu erzählen wagte. So wartete er noch zehn Minuten, bis er von nebenan keine Geräusche mehr hören konnte und schlüpfte in alter Indianermanier aus dem Zimmer. Draußen drückte er den Knopf für die Türverriegelung. Die Schlüsselkarte, sowie hundert Franc in kleinen Scheinen steckten sicher in einer Innentasche seines Hemdes. Er paßte eine günstige Gelegenheit ab, wo der Portier gerade telefonierte und verließ das Hotel unbemerkt. Draußen ging er erst ganz gelassen auf der Straße entlang, bis er um die nächste Ecke bog und in einen lockeren Trab verfiel. Anthelia dirigierte ihn zu einer Straßenecke, wo ein silberner Toyota wartete. Eine Frau mit dunklen Haaren blickte durch das rechte Seitenfenster hinaus und sah den Jungen, der gerade angetrabt kam an.

"Steig zu ihr in den Wagen!" Erhielt Cecil einen weiteren telepathischen Befehl. Er erfuhr auch, daß die Frau in dem Wagen eine Mitschwester Anthelias war, der er sich mit den Worten "Die Höchste Schwester grüßt dich, Isadore" vorstellte. Die Frau im Wagen, also auch eine Hexe, deutete auf die rechte Hintertür, und Cecil schlüpfte in den Wagen.

Zwei Frauen saßen darin, beide von der Haarfarbe her Französinnen. Er sagte kein weiteres Wort mehr, als der Wagen losfuhr und aus der Stadt herausfuhr. Auch die beiden Hexen verloren kein lautes Wort. Es konnte sein, daß sie wie er telepathisch mit Anthelia verbunden waren. Jedenfalls wagte er es nicht, irgendwas zu sagen. Er kannte es aus den Western. Wer zu viel wußte konnte sich rasch eine Ladung Blei einfangen. Schon schlimm genug, was er jetzt schon alles wußte.

"So, junger Mann, hier dürfen wir Sie absetzen", sagte die Fahrerin nach einer für Cecil endlos erschienenen Zeit. Doch tatsächlich war es erst elf Uhr abends. Er verließ den silbernen Toyota, der einige Meter zurücksetzte und dann ruhig stehenblieb. Offenbar sollten die beiden Hexen warten, bis er wieder zurückkam. Er lief los, in eine Richtung, die Anthelia ihm in sein Bewußtsein flüsterte, immer weiter durch einen Wald aus Pinien und anderen schlanken Bäumen. Es war sehr still hier. Still und friedlich. Anthelia trieb ihn an, noch weiter zu laufen. Dann überkam ihn ein heftiger greller Lichtblitz und ein Dröhnen, als sei in seinem Kopf eine Bombe explodiert. Er schrie auf und fiel zu Boden. Als er wieder zu sich kam, waren fünf Minuten vergangen. Er rappelte sich auf und wollte zurücklaufen. Doch Anthelia trieb ihn, noch einmal nach vorne zu laufen. Wieder krachte die grelle Explosion in seinem Kopf und warf ihn zurück. Als er erneut aufwachte, waren wieder fünf Minuten verstrichen. Nun war es Viertel vor zwölf.

"Was machst du mit mir, Anthelia?!" Rief Cecil laut. Anthelias telepathische Antwort schoss durch sein Gehirn:

"Vermaledeit. Du kannst nicht hindurch. Kehre um und lasse dich von meinen Schwestern zu deiner Herberge zurückbringen!"

Cecil wollte nichts lieber tun. Er machte auf dem Absatz kehrt und lief in die Richtung, aus der er gekommen war. Im Licht des Mondes konnte er den schmalen Trampelpfad gerade so erkennen, über den er laufen mußte. Dann ging plötzlich das Licht aus. Mond und Sterne waren einfach weg. Es war dunkel und eiskalt. Cecil stand wie vor eine Wand geprallt da, fühlte die Eiseskälte in sich einströmen und hörte etwa ein Dutzend Meter von sich entfernt rasselndes Atmen von schnell vorbeihuschenden Gestalten, die er jedoch nicht sehen konnte. Ja, auch das rasselnde Atmen erschien ihm wie verzerrt zu klingen. Dann tauchte genau vor ihm etwas gigantisches, aber total unscharfes auf. Gleichzeitig fühlte er, wie er auf dem Rücken eines Pferdes im wilden Galopp dahinjagte. Vor sich sah er roten Schimmer wie von einem weit entfernt brennenden Feuer. ...

"Expecto Patronum!" Hörte er zwei Frauenstimmen aus unmittelbarer Nähe. Dann sah er silberne Wolken, die um ihn herumwirbelten. Dann war es wieder mondhell, und die südfranzösische Sommernachtluft umwehte ihn warm und wohlig. Neben ihm stand die Hexe, die er als Isadore angesprochen hatte. Sie steckte gerade ihren Zauberstab fort. Ihre Bundesschwester stand zehn Meter weiter fort, ebenfalls einen Zauberstab fortpackend.

"Bist du in Ordnung, Junge? Die höchste Schwester hat uns mitgeteilt, daß du von diesen Ungeheuern aufgestöbert wurdest. Wahrscheinlich sind die jetzt da, wo du hinsolltest."

"Das waren keine von euch?" Fragte Cecil wütend vor Angst. "Ich dachte, eure nette Oberhexe hätte die hinter mir hergeschickt."

"Wage es nicht, die höchste Schwester zu beleidigen!" Knurrte Isadore. "Sie hat diese Wesen nicht hinter dir hergeschickt. Offenbar hat jemand anderes sie hierherbefohlen. Komm! Wir fahren dich zurück zu deinem Hotel."

Cecil folgte den Hexen zurück zum Toyota, stieg ein und dachte daran, was ihm da passiert war. Dann kam Anthelias Gedankenstimme:

"Er hat es gewagt, seine faulig stinkenden Gehilfen in das Dorf meiner Vorfahren zu schicken. Ich habe nicht damit gerechnet, daß er sich schon soweit vorwagt. Aber sei's drum, Cecil. Du hast mir die Kunde verschafft, die ich haben wollte. Meine Schwestern bringen dich nun wieder in die Nähe deiner Herberge und lassen dich dort in Ruhe. Ich danke dir für deine Hilfe."

"Wer ist er?" Schoss Cecil einen wütenden Gedanken in Richtung Antehlia.

"Du hältst mich für böse und schlimm. Der, den ich meine, ist noch grausamer. Er lebt in England und hält sich für den größten Zauberer aller Zeiten, weil er die dunkelsten Zauberstücke verwendet, die jeh ersonnen wurden. Er ist meine persönliche Angelegenheit."

"Ach, dein schlimmster Feind, Anthelia. Wäre vielleicht interessant ..."

"Denke nicht einen einzigen Moment daran, ihn zu suchen, Cecil. Du weißt, ich weiß was du weißt, denkst und tust. Selbst wenn du ihn finden solltest, würde er dir nicht zuhören. Er würde dich sofort töten, falls ich ihm dann nicht zuvorkomme", kam Anthelias Gedankenbotschaft unmißverständlich deutlich zurück. Cecil verstand. Die Hexe hatte einen Erzfeind. Zwar galt in Amerika die Politik, daß der Feind des Feindes ein guter Freund sei, doch hatten gerade die Ereignisse der letzten Jahre deutlich gezeigt, wie falsch diese Ansicht war, von den afghanischen Rebellen bis zu dem irakischen Diktator, gegen den Clintons Vorgänger Krieg geführt hatte. So verwarf er den Gedanken schnell wieder, jenen unheimlich bösen Zauberer zu suchen. Er würde tatsächlich vom Regen in die Traufe geraten, den Teufel mit dem Beelzebub austreiben. Das wollte er sich dann doch nicht antun.

Einige Meter vor dem Eingang zum Hotel nahm die Hexe Namens Isadore ein Handy aus dem Handschuhfach und wählte eine Nummer. Als sie sprach, erkannte Cecil, daß sie wohl mit dem Hotelportier telefonierte. So hatten sie es also gemacht, ihm den Weg aus dem Hotel freizuhalten. So konnte er auch jetzt wieder unbemerkt ins Hotel zurückschlüpfen, weil der Nachtportier sehr emsig nach Unterlagen suchte, während er mit jemandem telefonierte. Er erreichte den Aufzug und stieg ein.

Fast prallte er auf einen Mann, den er zuletzt in Paris getroffen hatte. Es war Monsieur Bouvier, der Sensationsfotograf.

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Maria hörte den Lärm von oben, die Rüstungen klappern und einen Schlachtruf, den sie als "Werwolfsblut" zu verstehen meinte. Ihr silbernes Kreuz vibrierte wie ein Hochspannungstransformator, nur daß es keine Wärme abgab, sondern kalt war. Dennoch fühlte sie sich nicht unwohl. Die schützende Kraft, die heilige Aura ihres Kleinods, umfloss sie, hielt die bösen Mächte von ihr fern. Das wußte sie.

Weiter oben in der Burg fielen die ersten Vampire ein. Doch sie trafen sofort auf Gegenwehr. Mit schwertern in den Eisenhandschuhen stapften ihnen mittelalterliche Vollrüstungen entgegen, und die eisernen Verteidiger hieben sofort zu, als einer der Vampire vorsprang, um die nächste Rüstung umzuwerfen. Ein Schwertstreich trennte ihm den Kopf vom Rumpf, eine der fünf unmagischen Arten, einen Vampir zu töten.

"Verdammt, dieser Blechheini hat unseren Bruder geköpft!" Brüllte ein anderer Vampir. "Auf ihn!" Hirudazo, der gerade mit zehn Getreuen in einen anderen Gang einfiel, zog seinen Zauberstab, als ihm fünf gepanzerte Gegner in den Weg staksten.

"Ferrattractus Amplifico!" Rief er und deutete auf eine der Rüstungen. Laut klirrend prallten die beiden Nachbarrüstungen dagegen und blieben haften. Weitere Rüstungen taumelten genau in die zusammenhängenden Rüstungen und klirrten dagegen. Auch sie kamen nicht mehr los. So bildete sich in nur fünf Sekunden ein unbewegliches Knäuel zusammenhängender Rüstungen mit Inhalt. Alle Waffen aus Eisen klirrten unablösbar an die Rüstungen, ebenso die Stiefel und Handschuhe.

"Habt ihr euch so gedacht", lachte Hirudazo. Dann fiel ihm auf, daß die magnetisch zusammengehefteten Rüstungen den Gang blockierten. Also hieß es, den Gang zurück, den sie gekommen waren.

Einer der Vampire hatte einer ihn mit einer Stachelkeule angreifenden Rüstung den Helm fortgerissen. darunter lugte ein bleicher, an vielen Stellen schon aufgerissener Schädel hervor, der mit tief in den Höhlen liegenden glanzlosen Augen umherstarrte. Ein unangenehmer Verwesungsgeruch breitete sich aus.

"Der schickt uns wandelnde Leichen!" Rief einer der Vampire, als zwei Gestalten in Rüstungen mit ihren Schwertern zuschlugen.

Alfonso Espinado war in sein Geheimlabor geflüchtet und hatte die schweren Türen geschlossen und mit Flüchen gegen Angreifer von außen gesichert. Er hockte sich in den silbernen Kreis der geistigen Unangreifbarkeit und holte eine Kristallinse aus seinem Umhang, die er sich wie ein Monokel vor das rechte Auge hielt. Dann dachte er an das Eingangstor und sah es durch den Kristall so, als würde er dahinterstehen. In ihm brodelte die Wut. Es waren Hirudazos Leute, die in hellen Scharen in seine Burg einrückten. Wie hatte dieser Blutschlürfer das geschafft?

"Graben", dachte er und sah nun den Burggraben vor sich. Die Zugbrücke war zwar oben, aber im Graben selbst lag nur zerklüftetes Eis, wie in einer klirrend kalten Winternacht. Weitere Vampire liefen über die zackigen und glasartigen Eismassen und turnten wie Eichhörnchen an der Mauer hoch.

"Feuer von der Mauer!" Rief Espinado einer Wand zugewandt. Er hätte diesen Befehl schon früher geben sollen.

Aus gut getarnten Öffnungen im oberen Mauerabschnitt schoben sich Metallrohre heraus, aus denen sich eine Flüssigkeit auf die Angreifer ergoss, die im freien Fall zu brennen anfing. Dieser Angriff forderte beträchtliche Opfer unter den Vampiren. Doch Alfonso wußte nicht, wie viele bereits in der Burg waren. So mußte er jeden Gang absuchen und sah seine toten Leibgardisten, die in ihren Rüstungen einherschritten. Er sah das Knäuel magnetisch zusammengehefteter Kämpfer und knurrte verächtlich. Er wollte gerade seinen Leuten befehlen, einen Entmagnetisierzauber zu wirken, als er die Frau im langen Kleid sah, die durch die Burg schlenderte. Durch den Beobachtungskristall meinte er eine tiefblaue Aura um das überragend schöne Geschöpf erstrahlen zu sehen. Da wußte er, er hatte die Feindin gefunden, die er zu unterwerfen versucht hatte. Sie hatte ihn wirklich aufgespürt. Er hatte sich also doch irgendwie verraten.

"Mich kriegst du nicht", dachte er. Dann fühlte er eine Kraft, die ihm seit fünf Jahren so vertraut und doch immer wieder unangenehm war. Der Vollmond war aufgegangen

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Maria Montes wußte, sie saß in der Falle. Dennoch war sie hier wohl gerade am sichersten Ort des Verstecks von diesem Espinado. Der Lärm der sich bekämpfenden Lager drang zu ihr hinunter wie aus dem fernen Mittelalter. Wer immer da kämpfte, es waren nicht ihre Freunde.

"seht nach, wer in diesem Verlies ist!" Rief jemand direkt vor der schweren Eisentür. Marias Herz übersprang einen Schlag. Sie hatte den Unbekannten nicht kommen gehört.

"Die tür ist verschlossen und bestimmt verzaubert", knurrte jemand anderes. Dann schnarrte er noch: "Da drinnen gibt es frisches Blut."

"Werwolf?" Fragte eine dritte Stimme.

"Nein, Mensch!" Zischte die zweite Stimme, und Maria hörte eine unverholene Begierde heraus.

"Vampire", dachte sie und holte ihr silbernes Kreuz unter der Bluse hervor. Würde es sie tatsächlich auch vor diesen Ausgeburten der Hölle schützen?

"Mach Platz, du Nichtskönner!" Zischte der dritte Mann oder Vampir vor der Tür. Dann krachte es laut, und die Tür beulte sich ein.

"Alohomora!" Rief jemand anderes. Es knisterte kurz.

"Da kommen wir ohne Schlüssel nicht rein", fauchte der zweite Vampir. Der Erste, der wohl der Anführer war, kommandierte sie ab, den Brüdern auf den Gängen zu helfen.

Maria atmete auf. Sie war vorerst wieder in Sicherheit.

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"Ich bringe diesen Hirudazo um!" Knurrte Selvano Cortoreja, als er den Lärm in der Burg hörte. Seine Gefährtin Lunera Molinera Tinerfeña sah ihn bange an. Schaum stand vor dem noch menschlichen Mund des Gefährten, dessen Augen wild funkelten. Dann berührte sie beide die Kraft des aufgegangenen Mondes und löste die Verwandlung aus. Beide hatten den Trank geschluckt. So verloren sie nicht den Verstand, als sie unter heftigen Schmerzen ihre Menschliche Erscheinungsform verloren und zu scharfzähnigen, struppigen Wolfswesen wurden. Selvano war zu einer nachtschwarzen Bestie mit kurzer Schnauze und kurzen, spitzen Ohren geworden. Wie er neben der mondfarbenen Lunera stand wirkten sie beide wie Tag- und Nacht, Licht und Schatten. Selvano richtete sich auf, schlug mit den krallenbewehrten Vorderpfoten die schwere Türklinke hinunter. Nein, der konnte doch nicht ernsthaft da raus wollen, wo die Vampire gerade gegen die toten Gardisten kämpften, dachte Lunera. Da sie in diesem Zustand nur Knurr- und Bellaute von sich geben konnte, konnte sie ihrem Gefährten nicht zurufen, er solle bloß im sicheren Versteck bleiben. Sie sah, wie er aus der Kammer hinaussprang und in den gemauerten Gang davonstürzte. Lunera dachte schon daran, die schwere Tür wieder zuzuwerfen. Doch dazu mußte sie wieder eine Frau werden. Jetzt, wo der Vollmond am Himmel stand, war es ungleichh schwerer, sich aus der Wolfsgestalt zurückzuverwandeln. Der Fluch in ihrem Blut kämpfte dann gegen den Trank an. So verzichtete sie darauf, die Tür zu schließen. Sie stürmte Selvano nach, der mit wütendem Geheul durch die Burg jagte.

Als sie um eine Ecke bog, die er ebenfalls passiert hatte, sah sie die Frau im langen Kleid, die gerade eine der lebenden Leichen in der Rüstung vor sich hatte.

"Malefizbagage, mir mit verwesten Kadavern zu kommen", knurrte die Fremde, als sie aus ihrer rechten Hand eine schwarze Nebelwolke entlassen hatte, die die Rüstung umschloss. Lunera fühlte eine Eiseskälte von dieser magischen Wolke ausgehen und sah, wie sich ein immer dickerer Eispanzer um die Rüstung legte. Dann klirrte es für Luneras Wolfsohren schmerzhaft laut, und die Rüstung fiel scheppernd zu boden.

"Was willst du hier, reudige Hündin?" Herrschte die Fremde sie an. Viepend wich Lunera zurück. Die Unbekannte sah sie lächelnd an. Lunera meinte, im Blick der wasserblauen Augen wie in zwei Bergseen zu versinken.

"Dein struppiger Leitwolf ist gerade hier vorbeigerannt. Wird wahrscheinlich in diese widerlichen Blutegl reinrennen, die frecherweise hier reingewuselt kommen. Wo ist Espinado? Du brauchst es nur zu denken, Mondheulerin."

Lunera wußte, sie war so gut wie tot. Das war die Tochter des schwarzen Wassers, die Kreatur, die Alfonso für diesen Voldemort unterwerfen sollte.

"Wage es nicht, mich auch in Gedanken Kreatur zu nennen, stinkende Bestie! Wo ist der Kerl?!" Herrschte sie die unheimliche Fremde an. Da trat von hinten lautlos ein Mann im schwarzen Fellumhang auf sie zu. Seine blutunterlaufenen Augen flackerten entsetzt, und wäre sein Gesicht nicht schon kreidebleich gewesen, hätte es diese Farbe wohl in diesem Augenblick angenommen. Er schrak zurück und wollte fortrennen.

"Was denn, Blutegel? Wolltest dich wie üblich von hinten anschleichen, wie?" Lachte die Fremde und deutete mit ihrem Zeigefinger auf den Vampir. Der erstarrte laut schreiend, dann völlig lautlos zu Eis und fiel um, wobei er wie Porzellan auf dem Boden zersplitterte. Lunera nutzte die Gelegenheit und hechtete an der Unheimlichen vorbei, warf sich in den Gang hinein, wo noch die Spur ihres Gefährten zu wittern war. Dabei rannte sie zwei toten Burgwachen fast in die Schwerter. Sie schaffte es gerade so, unter den niedersausenden Klingen hindurchzutauchen und galoppierte die Steintreppen zu den Kerkern hinunter. Dabei durchstieß sie magische Barrieren, Schranken des Mondes, wie Alfonso sie nannte. Sie hielten alle zurück, die nicht den herrlichen Drang des Vollmondes in ihren Adern trugen. Immer noch herrin ihrer Sinne setzte sie in weiten Sprüngen zu einer verschlossenen Tür hinüber, vor der gerade ein einfacher Zauberer stand und mit seinem Stab hantierte.

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"Ach nein, der junge Monsieur Wellington ist ohne die Erlaubnis seines achso korrekten Herrn Vaters unterwegs gewesen?" Fragte Bouvier mit schleimiger Betonung. Cecil stand vor ihm und sagte kein Wort.

"Ich habe dich beobachtet, Cecil. Das wird bestimmt eine heiße Story. Immerhin warst du über eine Stunde weg."

"Wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist machen Sie da keine Story draus, Monsieur Bouvier", sagte Cecil. Doch der Sensationsfotograf lachte darüber nur. Er nahm den Jungen nicht ernst, obwohl er mit einer sehr bedrohlichen Betonung gesprochen hatte.

"Weißt du, ich würde gerne ein Interview von dir haben, wie es dir nach deinem Reitunfall so ergangen ist und wie deine Eltern ..." Krachend traf Cecils unbeabsichtigt geschlagener rechter Haken Bouvier am Kinn. Mit verdrehten Augen und bleichem Gesicht sackte der Paparazzo zu Boden. Cecil sah ihn an. Er hatte ihn nicht niederschlagen wollen. Dann hörte er wieder Anthelias Gedankenstimme:

"Wenn du auf eurem Flur bist, schicke diese Fahrkabine so hoch es geht und kehre in dein Zimmer zurück!"

"Habt ihr den nicht richtig verhext?" Fragte Cecil und bereute diese Frechheit sofort. Ein stechender Schmerz durchbohrte seinen Kopf und ließ ihn aufschreien. Dann war es vorbei.

"Deine jugendlichen Torheiten fallen mir langsam lästig, Cecil. Bedenke, daß du nur noch lebst, weil ich das für richtig halte. Zwinge mich nicht, Meine Ansichten zu ändern!"

Cecil nickte. Als er auf seiner Etage angekommen war, drückte er rasch den Knopf für das oberste Stockwerk und verließ den Lift. Was mit Bouvier passieren würde, hatte ihn nicht zu kümmern. Er konnte sich nur denken, daß er diesem Mann das letzte Mal begegnet war. Er hörte die Fahrstuhltüren hinter sich zugleiten und schlich zu seinem Zimmer, wo er schnell die Schlüsselkarte hervorholte und die Tür öffnete. Er schlüpfte hinein und schloß die Tür wieder. Hoffentlich hatten seine von Anthelia zugeteilten Eltern nichts mitbekommen.

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Die schwere Eisentür glühte auf. Maria Montes sah, wie sie sich verzog und dann wie Papier zerriss und in ihr enges Verlies hineinfiel. Dann trat einer von Espinados Zauberern ein.

"Ich will dieses verdammte Kreuz haben, du Miststück. Diese Brut von Hirudazo ist reingekommen, und wer immer dir dieses Schmuckstück gemacht hat hat bestimmt gute Vampirbannzauber reingemacht. Los, hergeben!"

"Vergiss es, Satansjünger!" Fauchte Maria todesverachtend. Ob er sie mit oder ohne das Kreuz tötete war ihr gleich.

"Los, gib schon her! Imperio!"

Maria fühlte, wie eine Woge grenzenloser Glückseligkeit in ihren Kopf einströmte, als der Zauberer den Stab auf sie richtete. Dann ertönte eine befehlende Stimme in ihrem Bewußtsein, das Kreuz abzunehmen und dem Zauberer zu übergeben. Sie griff an das silberne Kreuz:

"Nein!" Brüllte ein Chor lauter Stimmen in ihrem Kopf und schien ihn ihr von den Schultern reißen zu wollen. Glleichzeitig durchzuckte sie ein kochendheißer Schauer, und sie sank nach vorne über.

"Verdammt, das kann doch wohl nicht sein", knurrte der Zauberer, als das Kreuz unvermittelt sonnenhell aufleuchtete und einen breiten Strahl aus Licht gegen ihn ausstieß. Der Lichtstoß warf ihn vor die Tür zurück und hinterließ einen brennenden Schmerz auf Bauch und Brustkorb.

"Dieses Drecksding wehrt sich dagegen", dachte er, als er die silbrigweiße Schnauze eines Wolfes an seinem Linken Arm sah. Wie mit glühenden Dolchen bohrten sich die zwei Zahnreihen durch seinen Umhang tief in sein Fleisch und zerrten daran. Sofort breitete sich das brennende Gefühl über seinen Arm aus. Er wußte es, er war nun verflucht.

"Du Mistvieh hast mich gebissen!" Brüllte er die mondfarbene Wölfin an, die jetzt erst von ihm abließ. Er winkte mit seinem Zauberstab in ihre Richtung und rief:

"Avada Kedavra!"

Der grüne Todesblitz brauste einen halben Meter an Lunera vorbei, die sich raubtierschnell in Deckung geworfen hatte. Krachend barst ein großes Stück Mauerwerk, und knirschend und knackend bröckelte die Wand, bekam immer größere Risse. Da wo das Mauerstück weggesprengt worden war brachen weitere kleinere Brocken ab und regneten zu Boden. Lunera nutzte die Verdutztheit des Zauberers und hechtete über ihn hinweg. Das brennende Pochen in der Bisswunde wurde immer unerträglicher. Der Zauberer wußte, das seine Zeit lief. Nein, er wollte kein Werwolf werden. Sein legaler Beruf im Zaubereiministerium war ihm zu wichtig als sich zum Ziel für die Werwolfbeseitigungsbrigade und Vampire dieses Hirudazos zu machen. Doch es gab jetzt kein zurück mehr. Doch, es gab noch einen einzigen, endgültigen Ausweg. Er richtete den Zauberstab auf sich selbst und rief entschlossen die verbotenen Worte, nach denen ein grüner Blitz aus dem Stab genau in sein Herz hineinfuhr. Klappernd fiel der Stab auf den Boden, als die leblosen Finger ihn nicht mehr halten konnten.

Die Mauer bröckelte weiter, wo Gestein fehlte, rutschte neues nach, bis ein Loch, etwa einen meter hoch klaffte. Lunera, die die Zauberworte aus der Ferne gehört hatte, kehrte um und sah den von ihr gebissenen Zauberer tot am Boden liegen. Sie lugte durch das Loch in der Mauer und horchte. Wo war Selvano?

Maria kam langsam wieder zu sich. Was war passiert? Egal! Sie war immer noch mit den Füßen an die Wand geschmiedet. Sie sah den Hinterleib einer fast weißen Wölfin. Dann drehte sich das Tier ihr zu und schnüffelte. Ihr silbernes Kreuz leuchtete bläulich auf. Das Geschöpf schrak davor zurück. Also war es wohl eine Werwölfin, fiel es Maria ein. Doch warum lief sie nicht einfach davon. Dann hörte sie stampfende Schritte und das Klirren von Metallplatten. als eine im Licht der Fackeln matt schimmernde Ritterrüstung auftauchte, sprang die Wölfin auf und hetzte davon. Der Eiserne ging um einen reglosen Körper am Boden herum und betrat mit metallischem Gepolter das Verlies. Maria sah das messerscharfe Schwert im rechten Eisenhandschuh. Maria schloss schon mit ihrem Leben ab, als die Gestalt in der Rüstung sich umdrehte und wieder aus dem Verlies hinausstampfte.

"Was sollte das denn jetzt?" Fragte sich Maria Montes. Dann hörte sie zwei Männer heranstürmen.

"Ey, mach Platz!" Riefen sie. Dann waren sie im Verlies, Angst in den Augen.

"mach sie los bevor dieser Hirudazo uns kriegt oder dieses Höllenflittchen. Wir nehmen die mit, wenn die Mauer entgültig zusammengebrochen ist", zischte einer der beiden und sprang vorwärts.

"Ihr könnt es mir nicht wegnehmen", sagte Maria. "Einer eurer Kumpane hat es schon versucht."

"Mädel, dein Mistkreuz wollen wir nicht haben. Espinado ist durchgeknallt. Der hat in der ganzen Burg Wiedergänger rumlaufen. Dann sind da diese Blutsauger Hirudazos und ..."

"Red nicht rum, mach sie los!" Rief sein Kumpan und zog seinen Zauberstab aus dem Umhang. Er berührte vorsichtig die Eisenringe an der Wand und rief: "Ferrugo amplifico!" Ein Orangeroter Lichtstrahl aus dem Stab traf den Ring und verfärbte ihn immer dunkler. Doch das schien den Zauberer körperlich sehr anzustrengen. Er mußte sich heftig zusammennehmen, den Zauberstab nicht aus der Hand fallen zu lassen. Sein Kumpan vollführte den gleichen Zauber am zweiten Ring. Es dauerte zehn Sekunden, da brachen die Ringe völlig durchgerostet auseinander.

"So, Mädelchen, jetzt kommst du mit!" Sagte der Wortführer der beiden, ein grobschlächtiger Kerl mit dunkelbrauner Scheitelfrisur. maria nickte und folgte den beiden aus dem Verlies hinaus. Doch draußen war Schluß mit Folgsamkeit. Sie wollte sich nicht von diesen Hexenmeistern befehlen lassen, wohin sie zu gehen hatte. Ansatzlos teilte sie nach links und rechts einen Handkantenschlag aus, der präzise ein Ziel fand. Dem Braunhaarigen brach sie das Nasenbein, den zweiten Zauberer traf sie an der Stirn. Beide gingen davon KO. Dann rannte Maria los, genau auf die immer noch im Gang stehende Rüstung zu. Was hatte dieser Zauberer gesagt; Espinado habe Wiedergänger in der Burg verteilt? Sie hatte das Wort mal gehört. Es war ein anderes Wort für rastlose Tote, lebende Leichen, Zombies! Da drehte sich die Gestalt in der Rüstung zu ihr um und hob das Schwert. Maria hielt das Kreuz in beiden Händen und rief:

"Aus der Liebe geboren!
Der Liebe und dem Heil verschworen!
Wenn aus Liebe gegeben,
erhältst du Schutz und Leben!"

Mit einem überirdischen Sirren schoss ein blauer Lichtstrahl aus Marias magischem Schmuckstück und traf den gepanzerten Burgwächter am Brustharnisch. ER zitterte, wankte und kippte zur Seite um. Seine Waffe entfiel ihm, sein Helm schepperte wie ein alter Topfdeckel auf den Boden. Maria sah angewidert den halbverwesten Schädel mit den tief in den Höhlen liegenden Augen und fühlte die aufkommende Übelkeit. Dann gewann ihre Selbstbeherrschung wieder die Oberhand. Wenn sie diesen Untoten da vernichtet hatte, war es gut. Wenn nicht, mußte sie schleunigst weiter.

Sie lief erst den Gang entlang, bis sie vor einer grauen Steintreppe ankam. Sie hörte den Kampflärm von oben und beschloss, dem erst eimal auszuweichen. Vielleicht gab es einen Aufgang in eine etwas ruhigere Ecke der Burg. War es überhaupt eine Burg? Das mußte sie diesen Zauberern einstweilen glauben. Sie bog in einen schmaleren Gang ein. Da hörte sie ein Geräusch hinter sich und warf sich zu boden. Wuchtig zischte die mit tödlichen Nägeln gespickte Eisenkugel eines Morgensterns über sie weg und krachte funkensprühend gegen die Wand. Sie griff nach ihrem Silberkreuz, wollte was immer sie da angriff zurücktreiben. Doch irgendwie wurde es ihr so schwer, daß sie es wieder sinken ließ. Nein! Das durfte nicht passieren!

"Gehst du da weg, Wurmfutter!" Rief eine Frauenstimme von der Treppe her. Maria hörte es hinter ihr klirren. Sie hörte metallisch stampfende Schritte, die sich von ihr fortbewegten. Sie wagte es, sich umzudrehen. Da sah sie eine überragend schöne Frau im langen, dunklen Kleid, deren Haut im Licht der Fackeln goldbraun flackerte und deren schwarzes Haar ihr bis über die Schultern herabfiel. Blaue Augen strahlten Entschlossenheit und Macht aus. Ja, diese Frau umfloss eine spürbare Aura der Macht. Der Wächter mit dem Morgenstern trat auf sie zu und hob mechanisch die mörderische Schlagwaffe.

"Na, du wirst mir doch nicht mit diesem plumpen Ding wehtun wollen", lachte die Fremde und tauchte unter dem wuchtigen Schlag weg. Die Kette des Morgensterns schlang sich um den Brustkorb des Wächters, der von der überirdischen Schönheit einen heftigen Stoß gegen den Bauch bekam und laut scheppernd zu Boden stürzte. Dann Hörte Maria das Trippeln vieler Krallen auf dem Boden und sah vier struppige Wölfe mit kurzen Schnauzen, die die Fremde anspringen wollten. Diese fluchte wild und hieb wütend auf die Angreifer ein. maria erstarrte in Angst und Bewunderung, wie stark dieses Frauenzimmer war. Die Wölfe schafften es nicht, sie zu beißen oder mit ihren Pfoten zu kratzen. Einen bekam sie an der Kehle zu fassen und benutzte ihn als Schlagwaffe gegen die anderen, die jaulend gegen die Wände flogen und winselnd und hächelnd am Boden lagen. Dann schleuderte sie den gefangenen Wolf mit Wucht gegen eine Wand, hielt ihre Hände zu einem Trichter zusammen und stand für eine Sekunde ruhig da. Dann flog eine pechschwarze Wolke heraus, breitete sich zu einer den ganzen Gang ausfüllenden Nebelbank aus und traf die Wölfe, die innerhalb von Sekunden erstarrten und zu glitzernden Eisklumpen wurden. Da stach Maria etwas in die Brust, schoss ihr durch den Rücken in den Kopf und rüttelte darin. Die Fremde wandte sich wieder um und sah Maria und den am Boden liegenden Wächter an, der gerade Anstalten machte, sich wieder zu erheben.

wütend riss die schöne Unheimliche dem Wächter den Helm vom Kopf und hieb ihm damit auf den Schädel, der brach. Maria schloss die Augen. Sie wollte es nicht sehen, wie heftig der geschlagene Wächter zugerichtet worden war. Sie wandte sich um und stand auf. Erst stand sie auf wackeligen Beinen, dann rannte sie los, um ihr leben.

"Halt, wirst du wohl hierbleiben!" Rief ihr die Fremde nach. Doch Maria rannte, bis sie fast gegen eine Wand geprallt wäre. Hektisch sah sie sich um. Da war eine Tür links. Sie war nur aus Holz. Sie rannte darauf zu und stieß einen Kampfschrei aus, um den sicheren Schmerz besser verdauen zu können. Mit der Kraft der Verzweiflung krachte sie durch die Tür und stand in einem Raum, von dem aus drei Gänge abzweigten. Sie fühlte das silberne Kreuz kalt und wieder warm werdend über ihrer Bluse pochen und sah es schwach golden und blau pulsieren. Offenbar sog es neue Kraft aus einer magischen Quelle oder gar aus Marias Körper und Seele, um sie weiter zu beschützen. Welchen Gang sollte sie nehmen? Da hörte sie ein langgezogenes Heulen aus der Burg über ihr.

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Selvano jagte weiter. Fast setzte sein Verstand aus. Dann sah er die Vampire, die sich gerade mit den lebenden Toten schlugen. Diese hatten Armbrüste genommen und verschossen Eichenholzpflöcke auf die Angreifer. Die getroffenen brachen zusammen und blieben reglos liegen. Andere Wiedergänger droschen mit brennenden Pechfackeln auf die blutdurstigen Kreaturen ein. Diese schrien und krümmten sich zusammen. Feuer war aus dem Holz entweichende Sonnenkraft, wußte Selvano. So wirkte es ähnlich der Sonne selbst, wenn auch nur ein zehntel so stark. Doch je mehr und je heller es war, desto vernichtender die Wirkung.

"Ihr lasst euch von stinkenden Kadavern umbringen!" Brüllte ein Vampir und sprang in die große Festhalle hinein, die vom heftigen Kampf schlimm verwüstet war. Er trug einen schwarzen Seidenumhang mit blutroten Ziersteinen und hielt einen Zauberstab in der rechten Hand. Mit einer weit ausladenden Geste rief er: "Mortuum Mmortuos!"

Selvano sah mit einer Mischung aus Staunen und Furcht, wie da, wo Hirudazo den Stab entlanggeschwungen hatte, ein giftgrünes Leuchten in der Luft Flimmerte, das die zehn gepanzerten Burgwächter umfloss, sich daran verstärkte und dann mit einem lauten Knall verlosch. Krachend fielen alle Rüstungen auseinander, und leblose Körper, teilweise schon verwest, schlugen auf den Boden auf. Einige Fackeln entfielen den nun wieder kraftlosen Händen und entzündeten den Parkettboden. Dem Vampirfürsten mußte wohl jetzt aufgegangen sein, daß sein großer Zauber zwar alle belebten Leichen wieder unbelebt gemacht hatte, aber dafür einen seiner größten natürlichen Feinde stark werden ließ, das Feuer.

"Fürst, Ihr habt den Saal angezündet!" Schrie einer der Vampire unter Schmerzen. Licht und Hitze setzten den Vampiren bereits heftig zu. Hirudazo fletschte die dolchartigen Zähne und floh mit wehendem Umhang aus dem Festsaal. Seine Getreuen jagten ihm nach. Auch Selvano rannte ihm nach. Er wollte diesen Blutschlürfer zerfleischen. Er sprang voran, folgte seinen Feinden hinunter bis vor die Mondschranken, die nur von Werwölfen passiert werden konnten. Dort prallten die Vampire zurück. Selvano knurrte wütend. Dann flogen brennende Eichenholzbolzen durch den Gang und fanden ihre Ziele. Hirudazo zerfloss zu einer weißen Nebelwolke, durch die die Geschosse hindurchzischten. Doch für seine unmittelbaren Begleiter war es aus. Selvano sah hinter sich und erkannte prunkvoll gekleidete Männer mit Armbrüsten und Bögen, die gerade wieder Pfeile und Bolzen in kleine schalen mit brennendem Lampenöl tunkten. Wo kamen die denn jetzt her?

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Espinado konnte sich wegen der Verwandlung eine Zeit lang nicht um die Angelegenheiten in seiner Burg kümmern. Erst als es ihm gelang, sich gegen den Fluch durchzusetzen und sich in seine menschliche Form zurückzuverwandeln, immer auf der Hut vor einem Rückfall, konnte er die in der Burg verteilten Spür- und Meldezauber benutzen, die er mit der Kristallinse verbunden hatte. Er sah, wie der Festsaal zu brennen begonnen hatte. Hirudazo war wirklich irre. Aber was erwartete man auch von einem Blutschlürfer? Wo war die Abgrundstochter? Irgendwie verschwamm ein Gang, den er sonst so klar überwachen konnte. Eine fremde Magie überlagerte den Zauber. War das Hirudazo? Er mußte weitere Hilfstruppen mobilisieren. Er verließ den schützenden Bannkreis und holte sich von einem Steintisch zwei kleine Bilder, die er vor Jahrzehnten angefertigt hatte. Er hatte mit eigenem Blut und dem Blut von zwanzig jungen Männern zwanzig gemalte Krieger mit Schusswaffen gemalt und die Bilder so bezaubert, das sie zu greifbaren, räumlichen Abbildern dieser Krieger wurden, wenn er die kleinen Schlüsselbilder mit den entsprechenden Zaubern aktivierte. Die Vorgehensweise kostete ihn jedoch die Balance zwischen der Kraft des Mondes und des Lykonemesis-Trankes. Er wurde wieder zum Wolf, als die zwanzig gemalten Krieger zu räumlichen Abbildern wurden und mit übermenschlicher Kraft gegen alles losschlugen, das eine bleiche Haut hatte. Dann hörte er das Getrappel von Wolfspfoten. Wieso hatte dieser Selvano den sicheren Raum verlassen? Wo war Lunera? Das konnte er im Moment nicht sagen, weil die Lykantrhopie nun stärker wirkte als vorhin. Das war eine lästige Nebenwirkung, wenn jemand sich mit Hilfe seines Trankes zeitweilig davon löste.

"Aha, da ist der Bursche also!" Schrillte das Triumphgeschrei eines siegesgewissen Feindes. Durch einen Lüftungsschacht war weißer nebel gesunken und hatte sich knapp über dem Boden zu Hirudazo, den Fürsten der iberischen Vampire verfestigt.

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Maria hörte das Triumphgeschrei eines Mannes und ein langgezogenes Heulen. Vielleicht war das dort, wo Espinado war. Sie rannte in die Richtung, aus der das Geheul kam und erklomm eine Treppe, die in einen langen Gang führte. Als sie in der Mitte des Ganges war, prallte sie gegen eine unsichtbare Wand. Hier ging es offenbar nicht weiter. Doch sie mußte weiter, denn hinter ihr konnte die Unheimliche sein, die mit einer schwarzen Nebelwolke Lebewesen zu Eis gefrieren konnte, wohl diese Tochter des Abgrundes. Sie steppte einige Schritte zurück und rannte dann los. Silbernes Licht explodierte vor ihr, als sie gegen das Hindernis prallte, fast stürzte und dann wie durch einen Vorhang aus Wasser hindurchstolperte. Dann lief sie weiter auf eine Tür zu, vor der ein schwarzer, struppiger Wolf wild herumtigerte. Als die Bestie die Frau hinter sich hörte, fuhr sie herum, knurrte und sprang los. Dabei prallte sie gegen einen urplötzlich vor ihr entstandenen Schild aus goldenem Licht. Ihr Kreuz warf das verfluchte Geschöpf zurück. Jaulend landete der Werwolf vor der Tür, während von drinnen gehässiges Gelächter herausklang. Der Wolf sprang gegen die Tür, immer und immer wieder. Dann schien er sich anders zu besinnen und stürzte sich an Maria vorbei in den Gang zurück. Von da hörte sie keine drei Sekunden später ein angst- und schmerzerfülltes Jaulen. Danach trat stille ein. Was war passiert?

Ihr silbernes Kreuz vibrierte auf einmal wieder sehr heftig und schloss sie in eine golden-blaue Lichtaura ein. Sie nahm es und steckte es sich schnell unter die Bluse. Doch der Strahlenkranz blieb hell und dicht um sie herum, während direkt vor ihr diese unheimliche Schönheit aus der Hölle selbst stand.

"Du stehst mir im Weg, Maria", sprach diese auf die FBI-Agentin ein. "Es ist interessant, wie eine einfache Kurzlebige wie du zu einem derartig mächtigen Artefakt kommen konnte. Aber das kläre ich später, wenn ich mich um diesen Frechling Espinado gekümmert habe. Tritt zur Seite! Oder ich muß dich hier und jetzt töten", schnaubte sie noch.

Unter ihrer Bluse zitterte das Kreuz, schickte Wellen aus Kälte und Wärme durch ihren Körper. Dann stach es ihr mit großen Schmerzen in die Brust. Der Schmerz explodierte über ihren Rücken, das Genick hinauf in ihren Kopf hinein, wo sie meinte, ihr Gehirn geriete zwischen die Rührstäbe eines Mixers. Schreiend stand sie da, während um sie herum Farben und Geräusche wie auf einem Karusell bei 1000 Umdrehungen wirbelten, bis plötzlich, mit einer Wucht, die ihr die Trommelfelle von innen nach außen zu drücken schien, ein Getöse wie von einer tonnenschweren Glocke in ihrem Kopf ihren Schädel erschütterte. Dann war es ihr, als ergösse sich ein eiskalter Wasserfall in ihren Kopf, der alle Gedanken fortspülte, durcheinanderstrudelte und dann, so plötzlich wie er gekommen war, abebbte. Dabei hörte sie wie in weiter Ferne immer wieder das Wort "Obleviate". Doch Das Wort wurde zum Echo, das unwiederbringlich verhallte. Als es vorbei war, sah sie die Höllenfrau, die wutverzerrt zwei Schritte vor ihr stand. Dann erinnerte sie sich an ihren letzten großen Einsatz, das Purpurhaus, Richard Andrews, das Medaillon, was Moses darüber gesagt hatte, die Hexen, die es kriegen wollten, die rote Schuppenkreatur, die sie und ihren Kollegen Moses mit mörderischen Krallen zerfleischte, das dunkle Feuer, das eine ähnliche Lichtaura um sie selbst nicht durchschlagen konnte, die in magischen Bann gesungenen Polizisten und das brennende Haus, die Explosion und wie Maria von Jane Porter und diesem baumlangen Minister Pole befragt wurde. Ja, sie wußte wieder, was sie wirklich erlebt hatte. Die unmittelbare Nähe einer Verwanten dieser Höllenkreatur von damals hatte den Zauber gebrochen, der diese Erinnerungen über Monate unauffindbar verschlossen gehalten und mit falschen Eindrücken überlagert hatte.

"Lass mich vorbei, Maria! Du kannst dich nicht ewig gegen mich wehren. Denn jetzt weiß ich, daß dieses Ding da aus deiner eigenen Kraft zehrt!"

Maria sprang zur Seite, als die Fremde auf sie zuhechtete. Beide wurden von einer Macht wie ein zwischen sie stoßender Keil auseinandergetrieben. Dann war die überirdisch schöne Frauengestalt an Maria vorbei und an der Tür. Sie sah, wie die Tür von einer Eisschicht überzogen wurde und dann klirrend zerschellte. Durch eine grün-blaue Lichtentladung brach die Fremde in den dahinterliegenden Raum ein und lachte laut. Maria folgte ihr wider jede Vernunft. Sie sah den Mann im schwarzen Umhang und einen Wolf mit braunem Fell.

"Na sieh mal an!" Rief die Tochter des Abgrundes. "Der oberste Blutegel der ganzen Halbinsel ist auch da. Und dieses nette Hündchen ist wohl Alfonso Espinado. Du solltest mich also diesem Lord Voldemort schenken, diesem englischen Machtsüchtigen, der meine Schwester Hallitti schon für sich vereinnahmen wollte. Auch wenn du ein stinkender Mondheuler bist werde ich dich jetzt mitnehmen und mir von dir alles holen, was du mich gekostet hast."

"Was machst du hier, Tochter der Verdammten? Espinado gehört mir. Ich will sein Blut haben", knurrte der Vampir, doch in seinen Augen flackerte Angst. Maria hatte jetzt genug gesehen. Wer immer dieses magische Gemetzel überleben würde, sie mußte hier raus. Sie drehte sich auf dem Absatz um und rannte zurück, nahm die Treppe. Wenn sie raus wollte mußte sie ein Tor suchen. Der Kampfeslärm klang für sie etwas weiter weg. Offenbar hatten die Angreifer sich mit ihren Gegnern in einen entlegenen Teil des Burggemäuers zurückgezogen. Wieder mußte sie durch eine magische Barriere springen. Dann stand sie in einem langen Gang, durch den Rauch waberte. Irgendwo war Feuer ausgebrochen. Wie sie es gelernt hatte ließ sie sich auf Hände und knie fallen und hielt den Kopf so tief wie möglich, während sie durch die immer dichteren Rauchschwaden krabbelte. Dann, sie wußte nicht wie sie es geschafft hatte, erreichte sie den Burghof und hechtete hinaus an die frische Luft. Sie sah das Tor vor sich, lief darauf zu ...

"Hallo, du leckere Schönheit", zischte eine hocherfreut klingende Stimme von rechts.

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"Du willst sein Blut? Das wollen doch alle Blutegel", lachte Itoluhila. Sie roch die Panik, die den sonst so machtbewußten Hirudazo ergriffen hatte. Dieser zog seinen Zauberstab.

"Ich kann dich vielleicht nicht töten, aber verjagen. Avada Kedavra!" Rief Hirudazo. Der grüne Blitz schoss auf Itoluhila zu. Sie wußte, sie hatte durch ihre Eis- und Nebelzauber bereits acht gesammelte Leben verbraucht. Zwei zusätzliche blieben ihr nur noch übrig. Als der Todesblitz sie traf, fühlte sie eines davon verschwinden. Dann stürzte sie vorwärts und griff Hirudazo an, der gerade wieder einen weiteren Todesfluch schleudern wollte. Der Vampir verriss den Stab und fand sich in einem direkten Kampf mit der Tochter des Abgrundes wieder. Minuten kämpfte er gegen sie an. Ein merkwürdiger Gedanke kam ihm. Er versuchte, sie in den Hals zu beißen, um ihr Blut zu trinken. Vielleicht machte das ihn so mächtig wie sie. Doch seine Fangzähne glitten an ihrem Hals ab wie an einer polierten Stahlplatte. Dafür versetzte sie ihm solche Ohrfeigen, daß einer seiner Vampirzähne absplitterte und ihm höllische Schmerzen bereitete.

"Du mich beißen, du Gewürm", schnaubte Itoluhila wütend. Dann zischte ein weiterer grüner Blitz durch den Raum und traf sie. Das war nicht Hirudazo gewesen, sondern Espinado, der es geschafft hatte, die Lykanthropie wieder zu unterdrücken und sich zurückzuverwandeln. Er lachte, weil Itoluhila von dem Vampir ablassen mußte.

"Das war's wohl, Mädelchen! Der nächste schießt dich in den ewigen Schlaf. Wenn ich oder Voldemort dich nicht auf unsere Seite kriegen können ..."

"Voldemort! Du Bastard willst mit diesem Spinner zusammenarbeiten, der sich mit Greyback ... Aber der ist doch selbst nur so'n stinkender Mondheuler", blaffte Hirudazo, der die Chance erkannte, die gefährliche Feindin loszuwerden. Er griff den entfallenen Zauberstab und setzte schon an, Itoluhila zu verfluchen. Da sah sie ihn an und stimmte ein merkwürdiges Lied an, das in ihn eindrang und ihm Höllenqualen bereitete, immer stärker.

"Hirudazo, stirb!" Sang sie unvermittelt, und mit einem gellenden Schrei stürzte der Vampirfürst zu Boden und blieb reglos liegen. Er war tot.

Espinado, der dem Tötungsgesang untätig lauschte, triumphierte. Doch dann wußte er, daß er die Tochter des Abgrundes jetzt endgültig schwächen mußte. Er hob den Zauberstab ... Da zerfloss sie zu Nebel. Sein Todesfluch sirrte durch den Raum und traf einen Glasbehälter mit einem Zaubertrank. Dieser explodierte in einem gleißenden Feuerball, der das geheime Labor ausfüllte und alles was brennbar war in Flammen aufgehen ließ. Hitze und Druckwelle trafen Espinado so schnell, daß er keinen Schmerz mehr verspürte. Er flog bereits rußgeschwärzt gegen die Wand, die heißer als eine Herdplatte glühte. Mit meterlangen Feuerarmen schlug der höllisch heiße Brand hinaus in den Gang, wehte alles im Weg liegende vor sich her oder verzehrte es sofort. Das Feuer saugte frische Luft aus den Kellern der Burg und von oben her, sprang in meterhohen Säulen die Lüftungsschächte hinauf und ließ auf jeder Etage neue Brände entstehen. Da wo bereits Rauch quoll, kam es zu heftigen Durchzündungen, die ganze Korridore wegsprengten. Viele Vampire fanden dabei den Tod, wandelnde Leichen in ihren Rüstungen wurden mit ihren Panzern regelrecht verbacken. Auch die beschworenen Abbilder starker Krieger fielen dem Feuer zum Opfer. Denn in dem Moment, wo das Labor Espinados verglühte, verglühten auch die kleinen Bilder, und wie erlöschende Kerzenflammen verschwanden die Vampirbekämpfer mit einem kurzen Flackern.

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"Verschwinde, Blutsauger!" Rief Maria mit dem Mut der Verzweiflung und zerrte ihr silbernes Kreuz hervor. Der Vampir grinste erst. Doch als er seine totenbleichen Hände nach der FBI-Agentin ausstreckte, fuhr unter leisem Summen ein blutroter Lichtstrahl aus dem magischen Kleinod und traf den Blutsauger. Dieser schrie auf und taumelte zurück.

"Das ist nicht möglich. Das kann doch nicht gehen. Das ist doch nur eine blöde Geschichte der Nichtzauberer", lamentierte der sichtlich gepeinigte Vampir, der von dem immer noch auf ihn gerichteten roten Strahl immer weiter zurückgedrängt wurde.

"Du bist ein Vampir. Vampire fliehen vor dem Kreuz des Herren", sagte Maria mit fester Stimme.

"Wo Sie recht hat, Blutegel", lachte eine andere Frauenstimme. Dann stand sie da, die Tochter des Abgrundes.

"Jetzt habe ich Zeit für dich, Maria!"

Rums! Ein dumpfer Knall ließ den Boden des Burghofes erzittern. Dann hörten sie alle das Geheul eingesaugter Luft und dann das Tosen eines großen Feuers.

"Was war das?" Rief der immer noch vom roten Lichtstrahl zurückgehaltene Vampir.

"Der Her und Meister ist schon tot gewesen und dieser stinkende Mondheuler Espinado hat sich selbst mit seinem widerlichen Todesfluch in die Luft gesprengt", knurrte Itoluhila. maria hörte die Explosionen schlagartig verpuffender Rauchgase.

"Von euch wird keiner mehr hier rauskommen", lachte Itoluhila. "Das Tor ist zu und der Graben ..." Sie blickte kurz und konzentriert auf die Mauer und machte eine magische Geste. Krachend barst das Eis im Graben, das ohnehin schon wieder halb getaut war. Dann erklang ein Geräusch wie lautes Rülpsen, dann ein lautes Tosen wie eine hohe Brandungswelle, und dann plätscherte es um sie herum wie ein munterer Bergbach. "Der Graben ist wieder im Fluß, Blutegel! Wasser oder Feuer, ihr habt die Wahl", sagte die Abgrundstochter sehr bösartig dreinschauend. Dann sah sie Maria an.

"Ich gebe dir eine Chance, dein kurzes Leben so lange zu genießen wie es der von dir so angebetete Zimmermannssohn und sein Vater dir lassen, Maria. Lege dieses Kreuz auf den Boden! Dann werde ich dich in dein Hotelzimmer zurücktragen. Tust du es nicht in den nächsten drei Sekunden, brätst du hier mit dem anderen Geschmeiß oder ersäufst im Graben."

"Niemals!" Rief Maria. Dann hörte sie ein Schwirren in der Luft. Der Vampir, der fühlte, wie die Helligkeit und Hitze des Feuers und die seine Kraft aussaugende Macht des fließenden Wassers ihn langsam zu Grunde richteten, blickte mit einer schwerfälligen Bewegung nach oben, ebenso Itoluhila. Diese verzog ihr Gesicht zu einer wütenden Grimasse.

"Avada Kedavra!" Scholl es von oben her. Itoluhila stand da, wollte wohl gerade zu Nebel zerfließen als ein grüner Lichtblitz sie voll am Kopf traf. Mit einem schmerzerfüllten Aufschrei löste sie sich in Luft auf. Dann landeten zwei Flugbesen. Auf einem saß Vergilio Fuentes Celestes, der seinen Zauberstab noch in der Hand hielt. Auf dem anderen saß Almadora Fuentes Celestes.

"Maria, kommen Sie zu mir!" Rief Almadora winkend. Maria stand einen Moment da, wußte nicht, was sie tun sollte. Dann hob Almadora wieder ab und raste um sie herum, kam von hinten und gabelte sie auf den Besen auf. Mit einem erschreckten Aufschrei wurde Maria nach hinten gezogen, umarmt und saß dann richtig auf dem schmalen Stiel.

"Wir bringen Sie erst einmal zu uns", sagte Almadora nur und beschleunigte den Besen.

Hinter und unter ihnen breitete sich das Feuer in der Burg aus und vernichtete alles, was nicht rechtzeitig entkommen war. Für die Vampire gab es keine Rettung mehr, und die Werwölfe und Zauberer erstickten, wenn sie nicht in der Glut starben.

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Lunera hörte den Todesschrei ihres Gefährten. Panik ergriff sie. Von dieser angetrieben jagte sie durch die Burg, vorbei an den miteinander kämpfenden Vampiren und Wiedergängern. Sie erreichte den Hof und lief an der Mauer entlang. Don Alfonso hatte ihr und Selvano einmal verraten, daß er ein kleines Törchen eingebaut hatte, das nur bei Vollmond von einem Werwolf in Not gefunden und aufgestoßen werden konnte. Selvano war tot, und Espinado würde wohl gegen diesen blutdürstigen Vampir kämpfen, ja auch gegen die unheimliche Frau. So blieb ihr nur die Flucht.

Sie war fast einmal um die Burg herumgelaufen, als sie den kleinen Holzverschlag sah, der gerade hoch genug für einen Wolf war. Sie sprang dagegen, und ohne Widerstand klappte der Verschlag auf. Sie hechtete hindurch und erreichte ein winziges Boot, eher ein Bottich. Doch der Graben vor ihr war ein Ring aus zerklüftetem Eis. Dennoch sprang sie über die Bordwand des kleinen Bootes und kauerte sich darin hin. Da stieg das kleine Gefährt einige Zentimeter nach oben und glitt über das Eis hinweg auf die andere Seite des Grabens, wo es leicht knirschend auf den Boden zurücksank. Lunera hächelte wild. Sie hatte das rettende Ufer erreicht. Schnell sprang sie aus dem Boot und rannte los, hinein in die Vollmondnacht, weg von der dem Untergang geweihten Festung Espinados.

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Anthelia stand vor Monsieur Bouvier und musterte ihn.

"Offenbar hat mein Imperius-Fluch nicht lange vorgehalten", dachte die Führerin der Spinnenschwestern. Sie überlegte, was sie mit diesem Bouvier anstellen sollte. Wenn er nicht mehr auftauchte, würde man ihn suchen. Doch andererseits war er ihr lästig. Wenn er dann auch noch dem Imperius-Fluch widerstehen konnte ... Warum sollte er diese einmalige Gabe nicht an würdige Erben weitergeben? Anthelia lächelte. Sie griff mit ihrer telekinetischen Gabe in die Taschen des Mannes und nahm seine Notizen heraus. Dann durchforschte sie das Gedächtnis des bewußtlosen und erfuhr, daß er in dem Moment aus dem Imperius-Bann freigekommen war, als er in einem Hotel in Monte Carlo auf reichen Protz gemacht und eine halbe Flasche Champagner getrunken hatte. Offenbar war in dem edlen Schaumwein etwas, das eine angeborene Abwehr gegen den Unterwerfungsfluch aufrief. Dieses Phänomen wollte sie eigentlich eingehender erforschen. Doch wie konnte man diesen Mann kontrollieren, wenn er sich von dem unverzeihlichen Fluch freitrinken konnte?

"Ich werde dich einer meiner Schwestern überlassen, die meint, starke Hexentöchter haben zu wollen. Was der Fluch nicht vollbringt, wird der Trunk der leidenschaftlichen Hingabe besorgen", dachte Anthelia lächelnd. Sie nahm den Skandalfotografen bei einer Hand und disapparierte mit ihm. Sie würde schon eine Verwendung für ihn finden, ohne daß die Unfähigen dieser Zeit davon etwas erfuhren.

In der Zaubererzeitung Miroir Magique überschlugen sich die Berichte von einem unerwarteten Überfall der Dementoren, "jenen grausamen und düsteren Gestalten, welche Dunkelheit und Kälte um sich verbreiteten" auf das friedliche und sonst so gut abgeschirmte Zaubererdorf Millemerveilles. Es gab eine ministerielle Stellungnahme, daß man diese Kreaturen nun nicht mehr als notwendiges Übel, sondern als feindselige Eindringlinge behandeln würde, sowie einen von einer Ossa Chermot geschriebenen Aufmacher mit dem Titel "Mehrere Generationen starker Hexen und Zauberer wehren Dementoren in Millemerveilles ab"

"Sieh an, dieser Junge hat doch tatsächlich einen vollgestaltlichen Patronus zu Wege gebracht", lächelte Anthelia, als sie am frühen Nachmittag, nachdem sie in ihrem Gemach in der alten Daggers-Villa die benötigten acht Stunden Schlaf genossen hatte wieder bei Louisette Richelieu saß und die Zeitung las.

"Sie kündigt an, den Jungen noch zu interviewen", sagte Louisette eifrig und verwies auf den letzten Absatz, wo eine Stellungnahme der Beteiligten in der nächsten Ausgabe folgen würde. "Außerdem hat er Madame Latierres ungeborene Kinder gerettet, weil er seine Ausdauer auf sie übertragen hat."

"Die Lehrer der guten Maman Beauxbatons sind immer noch sehr gut und gründlich", lächelte Anthelia wohlwollend. "Dann hat der Emporkömmling nicht bekommen, wonach er seine bleichen Klauen ausgestreckt hat." Das letzte sagte sie mit einem Ausdruck tiefster Verachtung in Gesicht und Stimme. Dann fragte sie, was man von Espinados Burg neues wüßte. Louisette gab der höchsten Schwester des Spinnenordens eine spanischsprachige Zaubererzeitung, welche Carmela am Morgen abgeliefert hatte. Darin las Anthelia, die der Sprache so mächtig war wie vielen anderen auch, daß man die Burg erst brennend gefunden habe, als bereits keine lebenden Wesen mehr dort waren. Es habe zwei Brandherde gegeben, von denen der größte in einem alchemistischen Labor gelegen hatte, in dem man die in die Wand eingebrannten Überreste eines Zauberers gefunden hatte, von dem jetzt sehr sicher angenommen werden könne, daß es sich dabei um Alfonso Espinado handelte. Auch seien hunderte landesweit bekannter Vampire bei diesem Feuer umgekommen, sowie eine Muggelfrau aus Amerika, die aus mysteriösen Gründen von diesem Magier verschleppt worden sei.

"Oh, da ist Maria Montes also wirklich in Espinados Burg gestorben. Damit hat mir dieser Bastard noch vor seinem Tod eine große Gelegenheit vereitelt, an einen mächtigen Schutzzauber gegen dunkle Kreaturen zu gelangen."

"Hättest du diesen Zauber denn anwenden können?" Fragte Louisette voreilig. Anthelia funkelte sie an, mußte dann aber nachdenklich einräumen, daß sie das eben jetzt nicht mehr prüfen könne.

"Bleibst du jetzt noch hier, bis dieser Wellington in sein Land zurückkehrt?" Fragte Louisette.

"Nein, ich bleibe nicht hier. Ich werde in den nordamerikanischen Staaten verweilen, um die Wege des Jungen Julius Andrews zu überwachen. Vielleicht ergibt sich eine Gelegenheit, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, Hallittis Versteck auszuheben und den Jungen näher kennenzulernen", sagte Anthelia.

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Maria Montes erfuhr nach der Flucht aus Espinados Burg, daß Almadora nicht nur Enriques Haare sondern auch ihre Haare in der Bürste gefunden hatte und sie so mit Hilfe eines Iuvantamicus-Zaubers das Kreuz als Ortungshilfe benutzen konnte, obwohl Espinado seine Burg unortbar gehalten hatte. Dann mußte sie erfahren, daß Enrique von den Helfern Espinados ermordet worden war. Als sie dann erzählte, was sie nun wieder wußte, sagte Almadora:

"Diese Gaunerbande. Anstatt die Liga zur Abwehr dunkler Künste umgehend zu informieren, daß Hallitti wach und in den Staaten unterwegs ist, vertuscht dieser lange Pole das auch noch und riskiert damit nicht nur das Leben dieser Prostituierten sondern auch das von unbescholtenen Muggeln und Zaubererweltbürgern!" Ihr Südspanisches Temperament ließ sie jedes Wort mit wilden Handbewegungen untermalen. Dann sagte sie zu Maria:

"Ich fürchte, Sie werden von zu vielen Seiten gesucht, Maria. Itoluhila wird jetzt einige Tage schlafen müssen, um sich von den Entkräftungen zu erholen. Danach wird sie Sie wieder suchen, um herauszubekommen, was das Geheimnis Ihres Kreuzes ist. Außerdem wird Minister Pole und sein sauberer Erfüllungsgehilfe Marchand und ja auch meine werte Bekannte Jane Porter nicht gerade erbaut davon sein, daß ihre Gedächtniszauberei durch die direkte Konfrontation mit Hallittis Schwester und durch Ihr Kreuz unwirksam wurde. Ich möchte Ihnen daher vorschlagen, daß sie sich offiziell für tot erklären lassen. Das kriegen wir schon hin. Allerdings dürfen Sie dann einstweilen nicht in der Welt herumlaufen."

"Und, was soll ich Ihrer Meinung nach tun?" Fragte Maria.

"Ich kann Sie in einen tiefen Zauberschlaf versenken, der Monate, wenn's sein muß Jahre andauern kann, ohne daß Sie dadurch geschädigt werden. Ich bin mir sicher, daß wir Sie und ihr altes Artefakt wieder brauchen werden. Denn wenn es nur in ihrem Besitz wirkt, kann es nicht weitergegeben werden", sagte Almadora.

"Und was ist, wenn ich nicht Jahre lang auf Eis liegen möchte?" Fragte Maria mißtrauisch.

"Nun, dann werden Sie sehr bald von zwei rachsüchtigen Abgrundstöchtern, machtsüchtigen Schwarzmagiern und hinterhältigen Hexen gejagt und sicherlich getötet werden. Sie haben nur eine Chance, wenn alle vergessen, daß es sie gibt und was Ihr geheimnis ist. Also?"

"Es bleibt mir wohl keine andere Wahl", sagte Maria Montes, die jetzt merkte, wieviel sie schon verloren hatte, dadurch, daß Enrique ihretwegen umgebracht wurde. Sie dachte an Alejandra und ihre vier Neffen und Nichten in New York, die Verwandten in Los Alamitos und Onkel Manolo, zu dessen Fünfzigsten sie nicht gehen konnte. Andererseits wollte sie jetzt, wo sie wußte, daß ihr mit dem Kreuz nicht nur ein Schutz, sondern auch große Verantwortung gegeben worden war, nicht einfach herumlaufen und ständig in Angst leben. Sicher, das brachte ihr Beruf zwar auch immer wieder mit sich, doch da ging es um normale Gangster.

"Ja, ich vertraue Ihnen, da mein Kreuz Sie nicht als böse anzeigt", sagte Maria, nachdem sie ihr mächtiges Kleinod vor Almadora hatte auspendeln lassen und nichts gespürt oder gesehen hatte.

So gab sie der Hexe das Kreuz, welches sie in eine silberne, mit Zauberzeichen verzierte Schatulle legte und mit ihr zusammen in eine geheime Kammer stieg, die noch nicht einmal Vergilio kannte. Dort standen vier große Himmelbetten in allen vier Grundfarben. Maria wählte das grüne. Grün war die Hoffnung. Sie zog ihre angerußten Sachen aus, ließ es sich gefallen, daß Almadora sie mit Wasser- und Säuberungszaubern gründlich reinigte und schlüpfte in ein Nachthemd, daß Almadora aus dem Nichts holte. Dann legte sie sich ruhig hin und dachte nur noch, daß sie vielleicht erst in zehn Jahren wieder aufwachen würde. Was würde sich in der Welt dann verändert haben? Sie hörte noch Almadoras magischen Singsang, bevor sie eine wohlige, tiefe Schläfrigkeit aufnahm und sachte mit sich nahm.

Als Almadora die nur für sie und sehr gute weibliche Bekannte von ihr betretbare Kammer verlassen hatte, saß Vergilio im Wohnzimmer. Er wußte, daß seine Schwester ihre Geheimnisse hatte und er sie besser nicht kannte. So fragte er nur:

"Glaubst du das richtige getan zu haben, Dori?"

"Ja, Vergilio. Du weißt es vielleicht nicht, aber wir stehen vor einem Abgrund, wo jeder sichere Halt überlebenswichtig ist. Du klärst das mit den Muggeln?"

"Habe ich schon angeleiert, Dori. Ich hatte ja befürchtet, daß sowas passieren würde", sagte Vergilio sehr ergriffen.

"Ich fürchte, Poles typisch amerikanische Selbstherrlichkeit wird uns bald den nächsten Schlag versetzen", sagte Almadora mit der Betonung, eine schwere Aufgabe vor sich zu haben. "Du weißt, daß der bedauernswerte Richard Andrews mit uns entfernt verwandt ist?" Fragte sie ihren Bruder.

"Ja, weiß ich", antwortete Vergilio mit einem Nicken.

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Am Abend des 29. Juli wurde der von den Eheleuten Montes gemietete Passat zerschmettert und restlos ausgebrannt am Fuße eines steilen Abhangs aufgefunden. Enrique Montes konnte gerade so mit Mühe und Not identifiziert werden. Von seiner Frau Maria fehlte zwar jede Spur, doch war es sehr wahrscheinlich, daß sie unter den Trümmern des Wagens bis zur Unauffindbarkeit verbrannt war.

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Voldemort erfuhr sehr rasch davon, daß Espinado in einem Kampf gegen den Vampirfürsten Hirudazo gestorben war. Keiner, so hörte er, habe die Schlacht in der alten Burg überlebt. Für den dunklen Lord war damit ein aussichtsreicher Gefolgsmann, aber auch ein ständig zu überwachender Konkurrent ausgeschaltet. Greyback, der den bösen Zauberer am dreißigsten Juli in einem Wald bei York traf, grummelte etwas von einem Trank, den Espinado gekannt hatte.

"Och, hast du gedacht, durch den noch leichter an Opfer heranzukommen?" Fragte Voldemort gehässig grinsend.

"Es wäre für uns eine geniale Waffe gewesen, Herr", knurrte der Werwolf. Voldemort lachte schallend los. als er sich wieder etwas beruhigt hatte meinte er zu Greyback:

"Du bist auch so ein guter Freund, Greyback."

"Aber dieses Weib, diese weiße Wölfin, Herr. Die war schon einen Kampf wert", schwelgte Greyback in einer unerfüllbaren Wunschvorstellung.

"Vielleicht lebt sie ja noch", stichelte Voldemort. "Vielleicht wartet sie ja jetzt auf dich."

"Nein. Sie ist bei diesem Bauernburschen gewesen, der Espinado zu einem von uns gemacht hat, Herr. Außerdem kann ich ihre Sprache nicht", schnaubte der Werwolf.

"Schade, daß Hirudazo sich mit Espinado angelegt hat. Ich hätte besser gleich selbst hingehen und die beiden zur Raison bringen sollen", fauchte Voldemort. Seine roten Augen funkelten Wütend. "Wahrscheinlich muß ich dort hin, wenn ich diese Itoluhila unterwerfen will."

"Wenn die so gefährlich ist, Herr, dann müßt ihr sehr stark sein", murrte Greyback. Voldemort kicherte belustigt. Dann überkam ihn wieder eine stille Wut, daß seine Dementoren aus Millemerveilles vertrieben worden waren. Es hatte im Tagespropheten gestanden, daß sie zurückgetrieben worden waren. Bis jetzt war keiner von ihnen bei ihm aufgetaucht. Wahrscheinlich wurden sie jetzt gezielt gejagt.

"Diese Bastarde mit ihrem Patronus-Zauber haben sie verjagen können, auch noch so'n Pimpf aus England", knurrte er. Dann dachte er an einen Brief, den der junge Barty Crouch von Hogwarts aus verschickt hatte, kurz vor Voldemorts endgültiger Wiederverkörperung. Er hatte darin erwähnt, daß er einen muggelstämmigen Schüler habe, der offenbar über große Zauberkräfte verfügte, diese jedoch sehr stark unterdrückte. Das mußte er sein, dieser Julius Andrews. Wie konnte ein solches Schlammblut so stark sein, daß es eine große Anzahl Dementoren zurücktreiben konnte? Voldemort wußte es nicht. Dieser Junge war ihm auch gleich, solange der nur noch in Frankreich herumlief. Er hatte wichtigeres vor, das bald schon die Welt erschüttern würde. Alcara war nicht der einzige, den er als neuen Getreuen anwerben wollte. Bald schon würde er losziehen, um sich mit einem anderen hochgradig interessanten Zauberer zu unterhalten. Doch erst einmal wollte er die größeren Feinde in England beseitigen, darunter auch diese Lady Ursina von der Nachtfraktion. Vielleicht wußte die ja sogar, wem er in diesem demütigenden Duell in den Sümpfen Floridas gegenübergestanden hatte.

ENDE

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