DIE STUNDE DES SPIEGELKNECHTES (2 VON 2)

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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P R O L O G

Größtenteils unbemerkt von der magielosen Welt, die immer noch unter den Folgen der Terroranschläge von 2001 leidet, ist die magische Welt unsicherer als zuvor. Vampire, Werwölfe, Dementoren, vier wiedererwachte Töchter des Abgrundes und nicht zuletzt der nach großer Macht strebende Dunkelmagier namens Lord Vengor bedrohen Frieden, Freiheit und Unversehrtheit der Menschen mit und ohne Magie. Zu dem allem führt eine skrupellose Organisation namens Vita Magica Aktionen durch, die eine schnellere Vermehrung magischer Menschen erzwingen sollen. Sie entführt Hexen und Zauberer, die bisher unverheiratet und/oder kinderlos sind, veranstaltet wilde Partys, bei denen die Lust auf Fortpflanzung auf einen vielfachen Wert gesteigert wird und verjüngt ihnen entgegentretende Hexen und Zauberer mit einem blitzartig aus einer goldenen Waffe überschlagenen Infanticorpore-Fluch zu hilflosen Säuglingen, die Vita Magica dann in den eigenen Reihen neu großziehen will. Hinzu kommt noch, dass der französische Zaubereiminister Grandchapeau wegen der Rache der veelastämmigen Euphrosyne Blériot, die später Lundi heißt, zu einer Verzweiflungstat getrieben wird, die seinen Geist unter beibehaltung sämtlicher Erinnerungen in den Körper seines ungeborenen und durch Euphrosynes Vergeltung zu langsamer Ausreifung gezwungenen Sohnes hineintreibt, so dass er die nächsten Jahre und Jahrzehnte als Ungeborener im Leib seiner Frau ausharren muss. Um seine Nachfolge gibt es eine sehr schmutzige Schlammschlacht, bei der sich die Kandidaten gegenseitig aus dem Weg drängen und nicht vor in Verruf bringenden Veröffentlichungen zurückschrecken. Am Ende gewinnt die Hexe Ornelle Ventvit dieses schmutzige Rennen, weil ihr das Vertrauen der mächtigsten Zaubererfamilien Frankreichs gewährt wird.

In dieser am Rande des Chaos entlangtreibenden Lage bereitet sich der Dunkelmagier Vengor, der durch einen aus den Trümmern des zerstörten Welthandelszentrums von New York geborgenen Unlichtkristall ein vielfaches stärker dunkle Zauber anwenden kann, auf das Ziel seiner Anstrengungen vor. Um sein Ziel zu erreichen sucht er seine zwei Verbündeten auf, um diese dazu zu bringen, die Aufmerksamkeit aller Zaubereiministerien von ihm abzulenken.

Pickman erweckt über die Welt verteilte Gemälde zu bösartigem Eigenleben. Die gemalten Wesen locken arglose Menschen in ihre Welthinüber, versklaven oder töten sie, um sich auch in der natürlichen Welt auszubreiten. Ebenso sendet der aus langem Schlaf erwachte, nur aus einem riesigen Gehirn unter einer unzerstörbaren Kristallkuppel bestehende Schattenlenker Kanoras seine unheimlichen Diener aus, um ihm weitere versklavte Seelen zu verschaffen. Diese grauenvollen Ereignisse treiben sämtliche Vengors Vorhaben ablehnenden Hexen, Zauberer und auch die Vampire der sogenannten schlafenden Göttin dazu, gegen das entfesselte Chaos zu kämpfen. Natürlich erkennen sie, dass es sich um ein gewaltiges Ablenkungsmanöver handelt. Doch die Gefahren müssen beseitigt werden.

Anthelias japanische Schwester Kanisaga vernichtet eines von Pickmans Bildern, Anthelia selbst verbrennt mit Yanxothars Klinge ein anderes Bild. Ministeriumszauberer setzen Incantivacuum-Kristalle ein, um den bösen Zauber restlos zu tilgen. Doch dabei werden alle in die schwarzmagischen Kunstwerke einverleibten Menschen tot in die Wirklichkeit zurückgeworfen. Nur die Macht der Kinder Ashtarias kann den Spuk für die Betroffenen ohne bleibenden Schaden beenden. Doch beim Versuch, das Bild einer gemalten Halbvampirin zu vernichten, gerät die als Tochter Ashtarias erkannte Maria Valdez in eine tödliche Falle. Gleichzeitig jagen Anthelia und Theia Hironimus Pickman, der seinen Standort durch weltweit ausgestreute Trägerartefakte verschleiert hat, die seine Lebensschwingungen imitieren. Sie schaffen es unabhängig voneinander, Pickmans Versteck zu finden. Doch sie sind nicht die einzigen, die ihn jagen. Indes steht Vengor unmittelbar vor der Erfüllung seines grausamen Planes, er will durch die vor der Nimmertagshöhle Iaxathans errichtete Mauer aus weißer Magie brechen, um Iaxathans Geist in dessen Aufbewahrungsgegenstand direkt gegenüberzutreten.

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28. November 2002

Night Swallow wusste nicht, wie erotisch das sein konnte, geistig mit der großen Mutter der Nacht zu verschmelzen. Die erst wenige Monate alte Tochter der Nacht, die früher Sally Fields geheißen hatte, empfand die vollendete Verbundenheit mit Gooriaimiria genauso, als würde sie auch körperlich eins mit einer führungsstarken und willigen Geliebten. Nun war sie eine Botin der Göttin, ihr in dieser Welt bestehender Avatar. Die enorme Kraft, die bei der geistigen Verschmelzung durch Night Swallows Leib geflutet war, hatte die noch junge Vampirin keuchen und stöhnen lassen, ihren seit der Verwandlung nur noch lauwarmen Körper auf fiebergleiche Temperaturen aufgeheizt. Weil sie in ihrer neuen Daseinsform nicht mehr schwitzen konnte musste sie hächeln wie eine angestrengte Hündin, um die überschüssige Wärme wieder loszuwerden. Doch dieses intensive Gefühl der Vereinigung war es wert. Jetzt dachte und handelte sie mit der Macht der Göttin. Das fühlten auch ihre drei Bewacher, die ihr im Rahmen des FBI-Zeugenschutzprogrammes zugeteilt waren. Denn diese hatte Night Swallow in drei Nächten zu Wesen ihrer Art gemacht und ihnen die so praktische Sonnenschutzhaut gegeben, die sie auch bei Tag unter Menschen leben lassen konnte. Die drei Bewacher fühlten die geistige Kraft ihrer wahren Herrin durch die von ihr zu bewachende strömen.

"Ich muss nach New York. Ihr hütet das Haus und meldet wie üblich, dass es mir gut geht und alles in Ordnung ist!" befahl die Botin der Göttin ihren Aufpassern. Dann umschloss ihren Körper eine pechschwarze Dunstspirale. Diese schrumpfte zu einem winzigen, frei im Raum schwebenden Punkt aus tiefster Schwärze, der nach einer weiteren Sekunde mit leisem Piff verschwand. die drei Bewacher, eine Frau und zwei Männer, bezogen ihre Posten. Durch die Umwandlung hatten sie schärfere Sinne und konnten mit bloßen Augen so gut sehen wie mit Hochleistungsnachtsichtgeräten.

In einer Kabine einer öffentlichen Damentoilette in der Nähe des Times-Platzes entstand eine sich lautlos auswachsende schwarze Spirale, aus der Night Swallow im dunkelgrünen Hosenanzug heraustrat. Sie fühlte die Nähe von Menschen, roch deren Schweiß und Blut. Doch sie musste ihre Gelüste unterdrücken. Denn es galt, eine Beobachtung zu prüfen, die Moonleaper, ein offiziell in Manhattan lebender Bruder der Nacht, an die Göttin weitergemeldet hatte. Hier in der Riesenstadt an der US-amerikanischen Ostküste sollten neuartige Nachtkinder aufgetaucht sein. Solche, die ihre Eigenausstrahlung so gut verbergen konnten, dass Ihresgleichen sie erst wahrnahmen, wenn sie weniger als drei Meter von ihnen entfernt waren. Night Swallow sollte dem Nachgehen und versuchen, ein solches Nachtkind zu fangen, damit die Göttin es verhören konnte. Dafür hatte sie sich auf die geistige Vereinigung mit der großen Mutter der Nacht eingelassen.

Night Swallow trug auf dem wegen der Solexfolie kahlrasierten Kopf eine tiefschwarze Langhaarperücke aus echtem Frauenhaar und hatte sich an allen sichtbaren Stellen ihrer Haut milchkaffeebraun geschminkt, um eine Latina darzustellen. Da sie nicht wusste, ob sie vielleicht hinter einem Feind herfliegen musste hatte sie auf die Sonnenlicht- und Kugelsichere Solexfolie verzichten müssen. Die Göttin hatte ihr jedoch versichert, dass sie die Sonnenstrahlen nicht fürchten musste, weil die Macht der großen Mutter der Nacht sie mit einer unsichtbaren Schutzaura umhüllte, die zerstörerische Kräfte von ihrem Körper abhielt, einschließlich den Kraftsog fließenden Wassers. Außerdem konnte sie nun, wo sie ein lebender Teil der Göttin selbst war, durch Handauflegen Zauberkräfte freisetzen oder sich sogar in weißen Bodennebel verwandeln. Die Verschmelzung mit dem mächtigen Geist der schlafenden Göttin hatte ihr sogar die Gabe verliehen, starke Gefühle anderer Lebewesen und die Gegenwart körperloser Wesen zu erkennen.

Night Swallow trat in die Nacht hinaus. Erst mussten ihre Augen sich an das für sie zu helle Lichterspiel der Megastadt gewöhnen. Doch nach nur wenigen Sekunden hatte sie sich darauf eingestellt. Ebenso ging es mit dem wilden Ansturm von Geräuschen und Gerüchen aus allen Richtungen. Dann hatte sie sich vollständig an diese Umgebung gewöhnt und durchstreifte die auch zu dieser fortgeschrittenen Stunde belebten Straßenschluchten.

Auf dem Times-Platz bezog sie ihren ersten Beobachtungsposten. Über ihr dröhnte ein Hubschrauber am Nachthimmel. Mehrere gelbe Taxis umrundeten den weltberühmten Platz wie auf Beute ausgehende Wölfe.

Eine halbe Stunde blieb sie an diesem Ort, wobei sie sich in den Schatten der Häuser verbarg oder die ihr doch zu nahe kommenden mit ihrem Unterwerfungsblick dazu trieb, sich wieder von ihr zu entfernen. Unzählige Menschen passierten sie oder strebten in die Gebäude rund um den Times-Platz. Ein Nachtkind war jedoch nicht dabei. Das wäre wohl für alle noch nicht bekehrten wohl auch sehr aberwitzig gewesen, dachte die Verbundenheit aus Night Swallow und Gooriaimiria. Einmal mehr ließ sie ihre geistigen Taster wie eine unsichtbare Radarantenne kreisen, um die Umgebung nach einer typischen Ausstrahlung anderer Nachtkinder abzusuchen. Dass sie selbst nicht gefunden werden konnte verdankte sie der durch die Macht der Göttin auf sie übertragenen Aura der Unortbarkeit.

Anderthalb Stunden hatte die Botin der Göttin auf ihrem Posten verbracht, als sie unvermittelt die Ausstrahlung eines Artgenossens spürte. Wieso hatte sie den nicht schon Minuten vorher wahrgenommen? Sie blickte in die von ihr festgestellte Richtung und sah ein gelbes Taxi, auf das gerade drei Menschen zugingen, ein junges Paar und ein gerade sieben Jahre altes Mädchen. Sie erkannte das Mädchen als Quelle der Ausstrahlung. Doch das gelang nur, weil sie es direkt ansah. Sie schlüpfte aus ihrem Versteck und huschte wieselflink und jeden Schatten nutzend auf das Taxi zu, in das gerade die junge Frau einstieg. Der Fahrer sagte wohl was, das Night Swallow durch den Großstadtlärm nicht verstehen konnte. Sie fing nur einen Funken Misstrauen auf, der schlagartig zu völliger Uninteressiertheit verebbte. Dann sah sie, wie der Fahrer wie unter Drogen hinter sein Lenkrad schlüpfte, während die zwei Erwachsenen und das kleine Mädchen auf der Rückbank Platz nahmen.

Als der Wagen anfuhr durchflutete Night Swallow ein Kältehauch und dann das Gefühl, zu zerfließen. In nur einer Sekunde hatte sie sich in weißen Nebel verwandelt. Mit dem in ihr wirkenden Willen der Göttin konnte sie gegen die Windrichtung über dem Boden schweben. Im Moment schien niemand den weißen Dunstschleier zu beachten. Doch auch in dieser Form konnte sie alles hören, sehen und riechen.

In der Nebelform nahm sie die Verfolgung des Taxis auf, das sich in das Verkehrsgewühl einfädelte und auf eine der nordwärts führenden Avenues einbog. Doch die Verfolgerin blieb nicht unbemerkt. Night Swallow erfasste eine Woge von Bedrängnis und Feindseligkeit und wusste, dass dies von dem kleinen Mädchen kam. Denn die Erwachsenen im Taxi waren in einer völlig hingebungsvollen, geborgenen Stimmung. Als das Taxi dann auf einen Befehl des nur sieben Menschenjahre alt aussehenden Nachtkindes schneller fuhr musste sich Night Swallow schon sehr anstrengen, mitzuhalten. Als Fledermaus könnte sie dem Wagen sicher besser folgen, dachte sie. Doch für eine Verwandlung bräuchte sie mindestens drei Sekunden, auch mit der in ihr wirkenden Macht der schlafenden Göttin. Also musste sie die Verfolgung aufrechterhalten und versuchen, den Wagen einzuholen.

Als das Taxi unerwartet ohne zu blinken in die nächste Straße rechts einbog verwünschte Night Swallow den Umstand, dass sie nur Gefühle erfassen konnte. Denn sonst wäre sie früh genug auf dieses Manöver gefasst gewesen. So versuchte sie, das Abbiegemanöver nachzuvollziehen. Doch die hohe Geschwindigkeit und die Nebelform erschwerten es. Denn als sie versuchte, die Richtung zu wechseln fühlte sie, wie es sie beinahe zerriss. Sie musste darum kämpfen, in einer einzigen Form zu bleiben. Dadurch verpasste sie die Möglichkeit, dem Taxi auf der Spur zu bleiben. Sie jagte an der Querstraße vorbei und beinahe noch bis zur nächsten, bis sie ohne weitere Gefahr für ihren Zusammenhalt weit genug abgebremst hatte und ihrerseits die Richtung ändern konnte. Ihre eigene Erfahrung und die der Göttin brachten sie darauf, ganz anzuhalten und sich zu verwandeln.

Der weiße Bodennebel waberte. Dann flimmerte er in einem kurzen Spiel aus blutroten Lichtfunken, um sich dann zu einer menschengroßen Fledermaus zu verfestigen. Mit einem für Menschenohren unhörbaren Kampfschrei stieg das überlebensgroße Fledertier in die Luft und nahm mit schnell flatternden Flügeln Kurs auf die Straße, wo das gelbe Taxi hineingefahren war.

Night Swallow wandte alle Geisteskraft auf, das Gespür für andere Nachtkinder zu verstärken. Doch zwischen gleich sieben gelben Taxis jenes zu erfassen, in dem das Nachtkind mit seinen möglichen Opfern saß, gelang ihr aus zwanzig Metern Flughöhe nicht. Sie musste wieder tiefer sinken. Doch das bedeutete, dass andere Menschen sie sehen würden. Die würden die Polizei rufen, möglicherweise auch das FBI. Night Swallow wusste, dass es einmal einen Agenten der Zauberstabschwinger gegeben hatte, der für das FBI arbeitete. Vielleicht hatten die vom Zaubereiministerium mittlerweile wieder wen dort untergebracht. Aber was half es. Sie musste wissen, wo das ungewöhnliche Nachtkind hinfahren wollte.

Sie sank tiefer und musste sogar aufpassen, nicht auf der Fahrbahn aufzuschlagen. Die Kraft der Göttin verlieh ihr ein vielfaches der üblichen Körperkraft. So jagte sie wie ein tieffliegendes Kampfflugzeug zwischen den Autos und Motorrädern dahin. Tatsächlich bemerkten viele Fahrer den ungewöhnlichen Flugkörper. Doch die interessierten Night Swallow gerade nicht. Sie flog weiter, prüfte das ihr nächste Taxi und fand die gesuchte Präsenz nicht. Beim zweiten Taxi war auch kein Nachtkind. Gerade wollte sie sich das dritte zu sehende Taxi vornehmen, als sie das unverkennbare Flappen von Hubschrauberrotoren hörte. Sie dachte an einen Polizeihelikopter und malte sich aus, gleich weitergemeldet zu werden. Doch statt dessen flogen ihr auf einmal gleißendhelle Leuchtgeschosse um die Ohren und verwirrten sie. Eines der Geschosse erwischte sie voll am Brustkorb und brannte auf ihrer Haut. Sie fühlte Schmerzen. Doch da explodierte aus ihr heraus eine Welle aus Kälte und Dunkelheit. Die ihr zugedachten Leuchtgeschosse verlöschten in der sich meterweit um sie ausdehnenden schwarzen Sphäre. Die Schmerzen waren wie weggeblasen. Sie fühlte, wie ihre Haut sich wieder heilte. Dafür stieg in ihr der Hunger nach Menschenblut.

Offenbar wollten die unbekannten Angreifer es nicht einsehen, dass sie Night Swallow mit glühendheißen Leuchtgeschossen nicht beikommen konnten und feuerten weiter. Das zwang die Botin der Göttin, die sie schützende Sphäre aufrechtzuhalten. Das aber kostete sie die Kraft, um die hohe Fluggeschwindigkeit beizubehalten. So musste sie zusehen, wie drei der noch nicht geprüften Taxis in drei verschiedene Straßen abbogen. Immer noch prasselte das Feuer aus Leuchtgeschossen auf sie ein. Die kleinen Feuerbälle verpufften zischend in der nachtschwarzen Schutzsphäre um Night Swallow. Schließlich blieb der gerade in Fledermausform dahinfliegenden nichts anderes, als zu landen.

Noch im Schutz der magischen Sphäre nahm Night Swallow wieder menschliche Gestalt an, um sogleich in einem Schattenstrudel zu verschwinden. Vier verbliebene Leuchtgeschosse schlugen auf den Bürgersteig auf und brannten kleine qualmende Krater hinein.

Zehn Sekunden später tauchte Night Swallow nur zweihundert Meter weiter fort vor einem anderen gelben Taxi auf. Der Fahrer erschrak sichtlich über diesen Vorgang. Doch als die Botin ihm tief in die Augen sah verflog jede Angst und jeder Argwohn. "Weißt du, wo dein Kollege hingefahren ist, der das junge Paar und das kleine Mädchen auf dem Rücksitz hat?" fragte sie ihn und sah ihn dabei noch durchdringender an. Doch der Fahrer wusste nichts. Doch Night Swallow gab noch nicht auf. Sie befahl dem Fahrer, sie in die Nähe seiner Zentrale zu fahren. Sie hoffte auf die Errungenschaften moderner Technik, auch und vor allem, was die Überwachung von öffentlichen Fahrzeugen anging.

In der Zentrale jener Taxifirma, für die der Wagen mit dem kleinen Mädchen fuhr konnte sie mit ihrer Verwandlungsgabe und dem Unterwerfungsblick drei Überwachungstechniker dazu bringen, die Daten aller zum fraglichen Zeitpunkt am Times-Platz fahrenden Wagen abzufragen. Der betreffende Wagen hatte sich dadurch verraten, dass der Fahrer die öffentliche GPS-Überwachung ausgeschaltet hatte und als Fahrziel Newerk angegeben hatte. Allerdings war in den Taxis noch ein von den Fahrern nicht ausschaltbares GPS-Überwachungssystem verbaut, um bei Überfällen und Diebstählen einschreiten zu können. Auf diese Weise bekam Night Swallow heraus, dass der Wagen nicht nach Newerk, sondern nach Brooklyn fuhr. Als sie feststellte, wo genau er hielt verschwand sie und ließ die drei Überwachungstechniker mit einer Gedächtnisblockade zurück.

Tatsächlich fand sie das gelbe Taxi vor einem Lagerhaus stehen. Das Lagerhaus war leer. Sie roch jedoch die Abgase von Kerosin und konnte auf dem flachen Dach die typischen Staubkreise sehen, die ein landender oder startender Hubschrauber erzeugt. Dieses kleine Biest hatte sie, die Botin der Göttin, doch tatsächlich ausgetrickst. Das war ihm aber nur gelungen, weil jemand aus der Luft heraus eingegriffen hatte. Also hatte diese Bande Leute zur Verfügung, die Hubschrauber fliegen konnten und an eine Menge Leuchtmunition kamen. Mit dieser Erkenntnis kehrte die Botin in das sichere Haus vom FBI zurück. Vielleicht konnte sie herausbekommen, wohin der Hubschrauber geflogen war, der das Lagerhaus besucht hatte.

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Kanoras fühlte die Nähe der Feinde. Die von ihm ausgesandte Armee der Schattendiener hatte wahrhaftig die Aufmerksamkeit der istzeitigen Träger der Kraft geweckt. Aber die wussten offenbar schon vorher, wo der Eingang zu seinem unterirdischen Reich zu finden gewesen war. Den Kurzen Weg konnten sie zwar nicht gehen. Aber sie konnten sich auf ihren aus von der Kraft durchtränkten Wolle gewobenen Fluggegenständen um den Eingang herum aufstellen und die herauskommenden Schatten angreifen.

Kanoras schrie mit zweien seiner Diener auf, als er deren vorübergehende Entkörperung verspürte. Diese Kraftträger benutzten wahrhaftig jene ohne die Kraft erzeugten Lichtbündelstrahlen, die seine erst vor kurzem unterworfenen Diener Laser nannten. Außerdem riefen sie Kräfte der Sonne hervor, die zu gleißenden Speeren oder strahlenden Kugeln wurden und mehrere seiner Diener restlos und unrückholbar zerstörten. Dagegen musste er was tun. Sonst war der ganze Feldzug gegen die fleischlichen Feinde verloren.

Kanoras dachte daran, dass er nicht nur den Eingang der Opfer zum Ausrücken seiner Schattenarmee hatte. Doch um die zwei anderen Ausgänge zu nutzen mussten seine Diener erst einmal die mehrere Tausendschritt entfernten Zugänge wieder freibekommen, ohne dass die Feinde es bemerkten. Ja, und ihm kam die Idee, wie er den Lichtangriffen seiner Feinde entgegenwirken musste. Doch dafür brauchte er ebenfalls Zeit. So benutzte er die in den Wänden eingelagerte Kraft, um den Höhleneingang zu verschließen, als die letzten zum Rückzug befohlenen Diener in Sicherheit waren. Innerhalb von zwanzig Atemzügen schloss sich der Zugang aus der Eingangshöhle, wo er sonst früher seine Opfer entgegengenommen hatte. Da kamen die Feinde auch mit ihren magischen Kräften nicht so einfach durch. Außerdem nutzte er noch etwas, dass er lange schon nicht mehr angewandt hatte. Er ließ fünfzig ihm verbliebene Diener hinter dem versperrten Eingang zusammenkommen und befahl ihnen: "Ihr vielen seid eins! Seid Bollwerk und Wehr gegen unserer Feinde Heer! Ihr vielen seid eins!" Danach nannte er noch die Namen der einzelnen mit dem Zusatz: "Gehorche und vereine dich!" Auf diese Weise lösten sich die fünfzig zum Eingang befohlenen Diener in schwarze, unförmige Nebelwolken auf, die ineinanderflossen, sich verbanden und zu einem völlig lichtschluckenden Pfropfen aus Kälte, Dunkelheit und grenzenloser Angst wurden. Selbst wenn die Träger der Kraft alle stofflichen Hindernisse beseitigten würden sie in dieser abgrundtiefen Dunkelheit vergehen. Ihre Seelen würden aus den blitzartig alle Wärme verlierenden Körpern entweichen und von der Barriere verschlungen, ohne sich je wieder daraus lösen zu können. Und je mehr machtvolle Seelen die Barriere schluckte, desto stärker und größer wurde sie. Kanoras freute sich schon darauf, die ersten Feinde auf diese Weise zu vertilgen. Doch nur in seiner Höhle zu warten war gegen seine Art. Das war nur der erste von mehreren Schritten, die ihm den Endsieg über seine Feinde bringen sollten, im Namen von Iaxathan, dem höchsten Diener der alles endenden Dunkelheit.

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Weit unten brandeten die Wogen des Atlantiks gegen die schroffen Felsen. Die Hänge des Vulkans Cumbre Vieja erschienen im Licht der ersten Morgenröte so, als glühten sie noch von einem letzten Ausbruch. Die zwei Männer und zwei Frauen in hellen Umhängen blickten sich um. Hier oben auf dem Gipfel des Vulkans sollte das Treffen stattfinden, von dem sie vier nicht wussten, ob es wirklich eine so gute Idee war. Immerhin hatten sie und nur sie mit ihren Mitstreitern ergründet, um wen es sich bei Lord Vengor wahrhaftig handelte. Nur ihre schnellen und ebenso heimlichen Aktionen hatten verhindert, dass dieser seinen Mordplan ausführen und viele entfernt miteinander verwandte Hexen und Zauberer töten konnte. Selbst die offiziellen Ministeriumsvertreter wussten davon nichts, auch nicht, dass die geheime Vereinigung, der die vier vorstanden, den deutschen Zaubereiminister und seinen Neffen in Gewahrsam genommen hatte, um Vengors Mordversuche zu vereiteln. Warum also das Treffen mit einer anderen, sehr fragwürdigen Gruppierung? Das war lang und breit diskutiert worden. Am Ende hatte sich die Meinung Lady Tamaras durchgesetzt, dass Vengor und die auf seine Veranlassung hin zum unheilvollen Leben erwachten Bilder Pickmans nicht von gegeneinander arbeitenden Geheimgruppen bekämpft werden durften. Wollten sie die Vernichtung ihrer Welt verhindern mussten selbst widerstreitende Gruppen zusammenstehen, die den Erhalt der Menschheit wollten.

Um nicht von denen erkannt zu werden, mit denen sie sich hier treffen sollten trugen die vier neben ihren bei vollem Tageslicht sonnengelben Kapuzenumhängen auch schimmernde Masken, die wie aus Gold bestehende runde Mondgesichter wirkten. Sicher würden die über mehrere Umwege kontaktierten Gesprächspartner ebenfalls in Vermummung erscheinen. Ja, und da apparierten auch schon vier weitere Menschen, ebenfalls zwei Männer und zwei Frauen. Die Männer trugen hellblaue einteilige Anzüge, die wie Strampelanzüge für Riesenbabys wirkten. Die Frauen trugen ähnliche Kleidung, nur in Rosarot und ohne Verbergen ihrer weiblichen Formen. Auf den Hälsen saßen runde, rosige Köpfe ohne Behaarung. Große, blaue Augen und niedlich wirkende Stupsnasen zierten die pausbäckigen Gesichter. Doch das waren ebenfalls Masken, wussten die in sonnengelben Umhängen. Eine der Frauen in Rosarot trat vor und deutete auf die vier in Sonnengelb. "Sieh da, nicht nur Hexen", sagte sie mit einer Stimme, die eher einem zweijährigen Mädchen gehören mochte. Darauf antwortete einer der zwei Männer in Gelb:

"Das haben wir euch Fruchtbarkeitsantreibern doch verraten, dass wir keine Hexenschwesternschaft sind." Seine Stimme klang wie die eines langjährigen Operntenores. Darauf antwortete die Frau mit dem Kopf eines Riesenbabys:

"Gut, lassen wir die Nettigkeiten. Ihr wollt was von uns, und wir haben erkannt, dass ihr was bieten könnt, was wir brauchen. Vor allem habt ihr oder eure Sprecher behauptet, den wahren Namen dieses Geisteskranken zu kennen, der sich selbst Lord Vengor nennt und nicht davor zurückgescheut hat, aus vielfachem Tod gewonnene Materialien zur eigenen Machtverstärkung zu benutzen. Wer soll es also sein?"

"Zunächst möchte ich euch sagen, dass wir nach wie vor nicht eurer Meinung sind, dass erzwungene Nachkommenschaft die Rettung der Zaubererwelt darstellt. Dann möchten wir euch mitteilen, dass dieses Material durch Lebensäußerungen von ganz jungen, unschuldigen Menschen geschwächt werden kann und ihr wohl gerade mehr junge Menschen bei euch beherbergt als wir. Wir und Ihr habt ein fundamentales Interesse daran, euch keinem Zaubereiministerium zu offenbaren. Deshalb haben wir uns schweren Herzens entschlossen, mit euch zu sprechen", sagte eine der beiden Frauen in Gelb. Ihre Stimme klang wie die einer langjährigen Altsängerin, jedoch auch irgendwie unnatürlich, zu schön um echt zu sein.

"Ich erkenne, dass ihr euch ebenso wie wir um Verheimlichung eurer Identität bemüht", sagte die Sprecherin der wie Riesenbabys verkleideten. "Wenn wir schon da keine Gewissheit erhalten, wer ihr seid und welche Gruppe ihr repräsentiert, so nehmt es uns bitte nicht übel, wenn wir jede Äußerung von euch erst einnmal mit großer Vorsicht genießen. Es könnte ja immerhin ein Versuch sein, uns zu destabilisieren. Also, welche nachprüfbaren Beweise habt ihr, dass eure Angaben stimmen und wer soll dann bitte Vengor sein? Ach ja, und wieso sollten die in unserer Obhut lebenden Säuglinge und Kleinkinder helfen, ihn aufzuhalten?"

In den nächsten Minuten legten die vier in Gelb alle erhaltenen Kenntnisse vor, vor allem was die Erbgutuntersuchungen anging und warum ausgerechnet eine bestimmte, weit verzweigte Blutlinie Ziel von Vengors Mordserie war. Als dann auch erwähnt wurde, dass die drei Kinder von Albrecht Ziegelbrand offenbar gegen täuschend echte und mit ausreichenden Scheinerinnerungen der Originale versehene Simulakren ausgetauscht worden waren stand fest, dass auch die Gruppierung, der die als Riesenbabys verkleideten angehörten, ihre Schlüsse gezogen und ihre eigenen heimlichen Unternehmungen durchgeführt hatten. Dem stimmten die vier Babykopfträger zu. Dann lieferte die eine der beiden Frauen in Gelb, die wohl als Sprecherin der kleinen Abordnung galt, die für die vier anderen so interessante Angabe. Sie verriet den anderen den wahren Namen Vengors und führte zum Beweis eine Bild- und Tonaufzeichnung von Vengors letztem Gespräch mit Heinrich Güldenberg vor. Natürlich trauten die vier anderen dieser Aufzeichnung nicht wirklich über den Weg. Doch dann präsentierte die Sprecherin der vier in Gelb eine Phiole aus Bergkristall. "Da sind drei Haare von ihm drin. Ihr könnt prüfen, zu welchem Zauberer sie gehören. Stimmen unsere Angaben, und könnt ihr mit sicherheit ausschließen, dass es ein Simulakrum ist, dann habt ihr den Beweis für die Richtigkeit unserer Behauptung."

"Und was sollen wir dann tun, wenn wir das geprüft haben?" fragte die Sprecherin der Babykopfträger.

"Mit uns zusammen den genauen Aufenthaltsort von ihm finden und dann, wenn dieser bekannt ist, unter Anwendung aller Schutzmaßnahmen mindestens zehn oder zwanzig Säuglinge in seine Nähe bringen, um durch deren Lautäußerungen die Kraft des dunklen Kristalls zu schwächen, den er benutzt. Immerhin können so auch die immer mal wieder aufgetauchten Vampirungeheuer vernichtet werden, von denen wir nicht wissen, ob sie ihm auch dienen oder nicht."

"So, das wisst ihr sonnigen Geheimniskrämer noch nicht?" fragte einer der Männer in Hellblau. Auch seine Stimme klang wie die eines zweijährigen Kindes. "Diese Vampirbrut dient einzig und allein dieser wohl mit dem im Meer versunkenen Mitternachtsdiamanten verbundenen Entität, die sich als schlafende Göttin der Nachtkinder bezeichnet. Und diese Entität bekämpft den Irregeleiteten, der sich Lord Vengor nennt und falls ihr die Wahrheit sagt, seit dem Verschwinden von Güldenberg und Wallenkron noch mehr Freiraum hat, da er unter seinem wahren Namen nicht mehr in Erscheinung treten musste."

"Nun, da der Mitternachtsdiamant wohl von einem sehr mächtigen Dunkelmagier im alten Reich erschaffen wurde mussten wir zumindest annehmen, dass dieses Artefakt immer noch den Interessen dieses Dunkelmagiers dient. Nocturnia deutete ja darauf hin, dass die damit verbundenen Vampire fremdgesteuert waren wie unter dem Imperius-Fluch", sagte die Sprecherin der vier in Sonnengelb.

"Wie dem auch sei, die bei uns lebenden Kinder genießen unseren Schutz und unsere Fürsorge. Sie als Waffe einzusetzen würde ihren Schutz gefährden und unsere Fürsorge in Frage stellen", sagte die Sprecherin der vier als Babys verkleideten. "Andererseits besteht die leider nicht abzustreitende Gefahr, dass dieser Irrwitzige, sollte er mit seinem Vorhaben durchkommen und jene Quelle finden, aus der er noch mehr Macht schöpfen will, die ganze Welt in Chaos und Tod stürzen kann und dass die bei uns aufwachsenden oder noch zu gebärenden Kinder keine lebenswerte Welt mehr antreffen werden, sollten wir nicht alle Mittel einsetzen, diesen Wahnsinnigen aufzuhalten. Also wie stellt ihr euch das genau vor?"

In den nächsten Minuten sprachen sie über das gemeinsame Vorgehen, das eigentlich aus der Taktik bestand, getrennt zu handeln und gemeinsam das Ziel zu erreichen. Nach allen Abwägungen der möglichen Erfolgs- und Misserfolgsaussichten stimmten die vier Verkleideten zu und sagten zu, die Angaben zu überprüfen. Demnach sollten die hinter den vier Anwesenden in Sonnengelb stehenden Hexen und Zauberer mit Hilfe der von ihnen rechtzeitig in Obhut genommenen Blutsverwandten einen Suchzauber wirken, der ähnlich war wie der Blutrufzauber, mit dem das US-Zaubereiministerium den Standort eines wichtigen Stützpunktes von Vita Magica ermittelt hatte. Stand fest, wo der gefährliche Feind sich aufhielt sollten die Stufen zwei und drei des gemeinsamen Planes durchgeführt werden. Davon hing es ab, ob Stufe Vier, die Ergreifung Vengors, gelingen mochte oder es dafür nicht schon zu spät war. Sollte es bereits zu spät sein galt es, alle den beiden Gruppen verbundenen Hexen und Zauberern eine Fluchtmöglichkeit an gegen dunkle Zauber aller Art gesicherte Zufluchtsorte zu verschaffen. Da die als Riesenbabys verkleideten in der Hinsicht schon sehr gute Erfahrungen im Verschwindenlassen von Menschen besaßen malten diese sich wohl aus, dass sie wesentlich mehr Anhänger als die anderen in Sicherheit bringen mochten. Aber auch die Träger der goldenen Mondgesichtmasken wussten, wie sie andere Menschen mal eben von einem Ort an einen anderen versetzen konnten. Waren die Geretteten erst einmal an den Zufluchtsorten musste entschieden werden, ob sie erst einmal für längere Zeit in Zaubertiefschlaf versenkt wurden, um die mit Sicherheit über die Welt hinwegrollenden Wellen der Verheerung zu überstehen und dann wie Phönixe aus ihrer eigenen Asche neu zu erwachen und einen erfolgreichen Gegenstoß zu führen oder ob es nicht angeraten war, Vengors Machtstreben gleich nach seinem hoffentlich nicht stattfindenden Sieg zu bekämpfen. Als das alles besprochen war verschwanden die vier als Riesenbabys verkleideten wieder. Einer der zwei Männer in Sonnengelb zog einen rötlichen Kristall aus seinem Umhang und tippte ihn mit seinem Zauberstab an. "Und jetzt nach Hause!" rief er, als er den Kristall auf den Boden fallen ließ. Auf diesen Ausruf hin erglühten blaue Portschlüsselspiralen um die Körper der vier. Keine Sekunde später waren auch sie verschwunden. Drei Sekunden danach strahlte ein silberweißer Blitz auf. Doch es knallte nicht und es entstand auch kein Schaden, außer dass der rötliche Kristall verschwand. Er hatte jedoch eine sehr wichtige Funktion erfüllt, die letzten Stunden, die an diesem Ort verstrichen waren, unrückschaubar zu machen. Zwar hatten wohl alle hier zusammengetroffenen Unortbarkeitszauber benutzt, aber man konnte ja nie wissen.

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29. November 2002

Der 29. November war gerade erst zwei Stunden alt, als Night Swallow wieder unterwegs war. Diesmal galt ihr Einsatz jener Stelle, die den Luftraum über New York überwachte. So schnell gab die Botin der Göttin nicht auf. Und ihre Hartnäckigkeit wurde damit belohnt, dass sie einen als Nachrichtenhubschrauber ausgewiesenen Helikopter ausfindig machte, der unvermittelt vom Radar verschwunden war, als habe jemand ihn mit einer Tarnvorrichtung eingehüllt. Auch das Kennungssignal war verstummt. Deshalb war bereits die Bundesluftfahrtsverwaltung FAA und die nationale Transportsicherheitsbehörde NTSB alarmiert worden, weil mit einem Absturz des Helikopters gerechnet wurde. Zumindest bekam Night Swallow, die durch die Kraft der Göttin in eine Aura des Vergessens eingehüllt wurde, heraus, wem die Maschine ursprünglich gehörte. Der nächste Sprung durch den Schattenwirbel führte die Botin zu einem Hochhaus im nördlichen Manhattan, wo sie bis zum zwanzigsten Stock hinauffuhr, um den Eigentümer des Drehflüglers auf- oder besser heimzusuchen. Sie rechnete mit einer magischen Barriere, einem Alarmzauber oder möglichen Nachtkindern als Wachtruppe. Doch die einzigen, die in der Wohnung hinter der sorgfältig verschlossenen Türe waren, waren fünf Männer und zwei Frauen. Night Swallow fühlte und hörte, dass die zwei Frauen gerade die Gelüste von zwei der Männer befriedigten und dachte irgendwie daran, dass die Göttin auch mal so an ihre Nahrung gelangt war. Die anderen Männer schinen das Treiben nicht sonderlich zu mögen. Sie strahlten Ungeduld und unterdrücktes Verlangen aus.

Night Swallow berührte das Türschloss mit ihrer rechten Hand. Es vibrierte, erwärmte sich und klickte. Kein Alarm klang auf, als sie behutsam die durch reines Handauflegen entriegelte Tür nach innen drückte. Schnell schlüpfte sie in den etwa zehn Meter langen Flur und drückte die Tür wieder zu. Sie hörte die zwei Frauen und erkannte, dass sie ihren zahlungskräftigen Liebhabern eine Schau boten. Dann widmete sie ihre Aufmerksamkeit einer Tür, die wohl zu einem Wohn- oder Gästezimmer führte. Dahinter saßen die drei anderen Männer. Wenn einer von denen Hamilton Buckston war würde der ihr gleich sagen, für wen er den Hubschrauber bereitgestellt hatte.

"Mann, wir hätten uns fünf Schlampen kommen lassen sollen", knurrte einer der Männer. "Dann hätten wir alle was für die Nacht gekriegt."

"Man Jack, kapier es, dass mindestens zwei von uns bereit sein müssen, falls echt wer checkt, wem der Heli gehört hat, der die kleine abgesichert hat", brummte ein zweiter Mann. "Am Ende hat diese Riesenfledermaus noch Geschwister, und die suchen uns."

"Neh, ist klar, Boss. Draculas Luftwaffe oder was?"

"Nachdem, wie die Mutter drauf ist, die mir und damit euch Dauerständern den Auftrag gegeben hat, ihre Leute abzusichern ist das echt kein Witz für mich, Jackie. Du hättest die Schnalle erleben sollen, war schon echt gruselig. Und der reiche Schnösel, den die sich wohl zuerst gesichert hat, sagt, dass jeder, der es sich mit ihr verscherzt, von der ganz ausgesaugt wird, dass nur noch Haut und Knochen übrigbleiben. Und du Pete halt bloß die Fenster im Blick, damit wir nicht von draußen angepeilt und angegriffen werden!" blaffte der, der Boss genannt worden war.

"Und wenn die Feinde deiner Supermutti vor der Tür zur Wohnung stehen und auf die Weise reinkommen wollen?" tönte der dritte Mann, offenbar Pete.

"Das Schloss knackt keiner in weniger als fünf Minuten. Und wer's versucht kriegt einen Schupser von den New Yorker E-Werken, der ihn ins Jenseits befördert."

Night Swallow lächelte und entblößte ihre messerscharfen Fangzähne. Dann drehte sie blitzschnell den Türknauf und stieß die Tür auf. Sofort danach sprang sie in das dahinterliegende quadratische Zimmer, das mit einem blutroten Teppich ausgelegt war und neben einem rechteckigen Tisch noch zwei Schränke enthielt. Doch die Einrichtung interessierte sie gerade nicht. Wichtig waren die drei Männer, die schreckensstarr in ihren weißen Ledersesseln hockten und sie wie ein Gespenst ansahen. Im Grunde war sie ja auch sowas, musste sie innerlich erheitert erkennen. Der am Fenster sitzende kam zuerst wieder zur Besinnung und zog eine schwere Armeepistole frei. Der zweite verfing sich mit seinem Blick in den Augen der ungebetenen Besucherin. Diese nutzte die Gelegenheit und stieß sofort mit aller Geisteskraft zu. Damit versetzte sie dem zweiten eine bis auf weiteres vorhaltende Lähmung und sah den Mann mit der Waffe an. "Lass die Pistole fallen!" säuselte sie, während sie ihm tief in die Augen sah. Der Mann am Fenster versuchte krampfhaft, den rechten Zeigefinger am Abzug zu krümmen. Doch es gelang ihm nicht mehr, zu feuern. Erst zitterte seine Hand, dann entfiel ihm die Waffe.

"Verdammte Nutte!" stieß der noch verbleibende Mann aus und feuerte aus der Hüfte heraus eine kleine Pistole ab. Es krachte nicht.

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Abdul Rahman, der Anführer einer Truppe gegen böses Zauberwerk, blickte zusammen mit seinen drei Kampfgefährten von einem fliegenden Teppich herab auf die sich blitzartig in die Höhle zurückziehenden Schattenwesen. Seine am Boden kämpfenden Leute schickten ihnen Sonnenspeere und Sonnenfeuerkugeln nach und wollten in die Höhlen vordringen, als sich der Eingang unvermittelt verkleinerte und unter leisem Rumpeln verschloss, bis nur eine einzige, nahtlose Felswand vor den Zauberern aufragte.

"Er hat den Eingang verschlossen, weil wir seinen Sklaven überlegen sind", freute sich Abduls Mitstreiter Sadek.

"Wusste nicht, dass er das kann", knurrte Abdul. Dann rief er seinen Leuten auf dem Boden zu, mit Aufweichungszaubern und Sprengzaubern den Eingang wieder aufzubekommen. Doch die aufgewandten Zauber wirkten nicht. Die Sprengzauber zerstoben in laut krachenden blauen, grünen und violetten Blitzen an der Wand. Die Aufweichungszauber erschufen nur farbige Lichtvorhänge, die vor der Wand waberten und dann zu auseinanderfliegenden Funkenwolken wurden.

"Gut, so Allah es will müssen wir uns einen eigenen Eingang schaffen. Grabt die Felsen unter dem früheren Eingang auf und schafft uns einen Stollen in den Berg hinein!" rief Abdul.

"O Führer Abdul, ich fürchte, der Dämon will uns narren und irgendwo anders seine niederen Sklaven hinausschicken", bangte Sadek.

"Du meinst, er hat diesen uns allen nun bekannten Zugang verschlossen, um sich neue Wege zu suchen?" wollte Abdul wissen.

"Nun, es ist ihm wohl nun all zu bewusst, dass der Eingang zu seinem Reich all seinen Feinden bekannt ist. Vielleicht hat er schon einen zweiten oder dritten Ausgang zur Verfügung. Vielleicht muss er dazu jedoch erst weitere Kräfte der Erde freimachen", vermutete Sadek. Abdul nickte. Das mochte hinkommen. Ebenso konnte es sein, dass der Dämon, der laut alten Schriften Kaharanas oder Kanoras genannt wurde, wieder in einen tiefen Schlaf verfiel, wie er ihn wohl in den letzten Jahrhunderten geschlafen hatte. So ähnlich hatten sich ja auch die Töchter der Lilithu ihrer Vernichtung entzogen, ohne wirklich entmachtet zu werden.

"Die Morgenröte, Führer Abdul!" rief einer der auf dem Boden stehenden Zauberer. Abdul nickte. Im Osten glühte bereits das Licht eines neuen Morgens. Sie wussten alle, dass sie bei Sonnenlicht keinen weiteren Angriff der Schattendiener zu fürchten hatten. Doch was dann? Hinter dieser Wand lag der Eingang in das Reich des Schattenlenkers. Sie mussten zu ihm vordringen. So sollte es eben an diesem Tag geschehen.

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Night Swallow sprang so schnell und kräftig zur Seite, dass die ihr geltende Kugel zehn Zentimeter an ihrem Unterleib vorbeisirrte und mit hässlichem Krach in die Wandtäfelung einschlug. Im nächsten Augenblick fixierte Night Swallow den dritten Mann mit ihrem Unterwerfungsblick und befahl auch ihm, die Waffe fallen zu lassen. Der Mann gehorchte. Night Swallow lauschte, ob die beiden noch in der Wohnung verborgenen Männer durch die Geräusche alarmiert worden waren. Doch die zwei mussten vor lauter Liebesdollheit keine Ohren mehr haben. Kunststück, wo ihre zwei Gespielinnen so laut wie Hafensirenen schrien und die Betten unter der wilden Toberei quietschten. Gut, die zwei Böcke und ihre Unterhalterinnen würde sie sich gleich auch noch vornehmen. Vielleicht sollte sie sich eine von denen für eigene pikante Stunden sichern, bevor sie sie fragte, ob sie ihre Tochter oder Schwester werden wollte. Doch erst mal gab's wichtigeres.

"Bist du Hamilton Buckston?" fragte sie den Mann, der eben noch auf sie geschossen hatte. Er brummte: "Ja, der bin ich."

"Wem hast du deinen Hubschrauber ausgeborgt?" fragte Night Swallow im sanften, eher einlullenden Tonfall.

"Für die Mutter aller Blutsauger. Die hat den Spinner Will Bradfield rumgekriegt und den zu mir geschickt, damit ich ihm mit meinen Leuten helfe, der neue Kinder zu beschaffen", raunte Buckston. Night Swallow merkte, dass Pete wieder aus ihrem Bann erwachte. Deshalb versetzte sie auch ihn mit ihrem Unterwerfungsblick in eine anhaltende Starre. Dann sah sie wieder Buckston an und ließ sich seine Begegnung mit der so genannten Mutter aller Blutsauger erzählen. Als er diese Auftraggeberin beschrieb umspielte ein wollüstiges Lächeln seine Mundwinkel. "Die hat mir gesagt, wenn ich brav tue, was sie von mir will darf ich auch bei ihr ran. Aber ich soll aufpassen, weil es Leute gibt, die echt hexen und zaubern können und jeden sofort umbringen, der mir komisch vorkommt. Deshalb haben meine Leute diese Riesenfledermaus beballert, die hinter einem von den Kindern her war."

"Das weiß ich. Diese Fledermaus hat es mir brühwarm erzählt", erwiderte Night Swallow. Dann wollte sie wissen, wo genau die Auftraggeberin zu finden war. Da sagte Buckston:

"Kann ich nicht sagen. Bradfield hat mich und Pete von seinen eigenen Leibwächtern abholen und in einem Kastenwagen hinbringen lassen. Fünf Millionen Dollar sollten wir kriegen, wenn wir den Auftrag ausführen. Ich weiß nicht, wo dieses Superweib steckt." Night Swallow durchdrang mit ihrem Blick die sichtbare Barriere von Buckstons Schädel und erfasste mit Hilfe der Kraft der Göttin die in seiner Erinnerung enthaltenen Bilder und Worte. So erfuhr sie, dass er die Wahrheit sprach. Er wusste nicht, wo die als sehr üppig gestaltete Frauenperson in der rubinroten Lederschürze zu finden war. Aber sie hatte nun einen Namen, Will Bradfield. Den würde sie finden und aushorchen. Dann würde sie die Konkurrentin der schlafenden Göttin schon finden. Vielleicht konnte diese zur Verbündeten oder gar Untergebenen werden. Wenn nicht, musste sie eben vernichtet werden.

Sie versetzte Buckston und seine beiden Leibwächter in einen hypnotischen Tiefschlaf. Dann suchte sie die zwei noch verbliebenen Gehilfen Buckstons auf. Die zwei Frauen, die ihrem Wunschbild sehr gut entsprachen, zwang sie mit ihrem Blick, auch ihr zu Willen zu sein. Doch sie musste dabei feststellen, dass die zwei zum einen keine Erfahrung mit Kundinnen hatten und zum zweiten nicht an das heranreichten, was die geistige Verschmelzung mit der großen Mutter der Nacht ihr beschert hatte. Allerdings waren sie sehr beliebt bei reicheren Leuten und somit wie sie selbst geniale Spioninnen im Namen der Göttin, wenn sie erst einmal zu Töchtern der Nacht geworden waren. Doch bevor sie die beiden fragen konnte fühlte sie, wie die ersten Sonnenstrahlen durch die nicht ganz geschlossenen Vorhänge tasteten. Night Swallow verschwand unvermittelt in jenem schwarzen Schattenstrudel. Zurück blieben sieben Menschen, die entweder tief schliefen oder gerade aus einem merkwürdigen Zustand erwachten und nicht wussten, ob sie alles nur geträumt hatten. Die Botin der Göttin wusste auch nicht, dass Buckstons Leute in nicht einmal zwei Stunden gesucht würden, weil jemand den Hubschrauber erkannt hatte.

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Kanoras' Blutriese und der Schatten des größten Feuerlöwens aller Zeiten gruben sich durch den Berg. Draußen schien bereits die verhasste Sonne. Doch für den Schattenträumer war dies zunächst unwichtig. Seine Schattendiener brachten winzige Kristallbruchstücke aus den angrenzenden Höhlen und Stollen herbei und fügten sie in der Glut der blauen Feuer zu flachen Platten zusammen. Da er die Kraft der Flammen mit seinem Willen lenken konnte war es ihm möglich, die Flammen selbst wie Strahlenbündel Felsen aus den Wänden schneiden zu lassen. Auf diesen wurden die Kristallplatten aufgelegt und dann in den blauen Flammen zusammengebacken. Am Ende hatte er zwanzig große Schilde, die von den menschenförmigen Schattendienern geführt werden konnten. Diese Schilde waren vollkommene Spiegel, die jeden Funken Licht auf den Absender zurückwerfen konnten. Durch die Macht der blauen Flammen, die dem Kernfeuer der Weltkugel entsprangen, prellten sie alles Licht und alle Hitze zurück. Damit würden die Schattenkrieger gegen die verhassten Laserstrahlen bestehen können und auch die Lichtspeere der Magier abwehren können. Nur die tiergestaltigen Diener mussten sich vor den Lichtwaffen und -Zaubern hüten. Doch Kanoras würde seine Feinde so schnell überrennen, dass sie unterlagen, ehe sie auf die neue Lage antworten konnten.

Die verfluchte Mittagsstunde war gerade angebrochen, als der Blutriese meldete, dass der zweite Eingang so gut wie frei war. Er musste nur noch die dünne Felswand einreißen. Dass sollte er aber erst am Abend tun. Der Schatten des Feuerlöwens hatte mit seinen dunklen Flammen die erzhaltigen Bereiche der noch nicht durchstoßenen Felsen aufgelöst und das Gestein so zerbrechlich gemacht, dass er sich schneller als der Blutriese voranarbeiten konnte. Gegen halben Nachmittag hatte er knapp zwanzig Tausendschritte vom früheren Eingang entfernt einen Zugang geschaffen, den er nur durchstoßen musste, um den Schattendienern einen weiteren Ausgang zu verschaffen.

Kanoras wollte schon frohlocken, als er mitbekam, wie der von ihm versiegelte Zugang von einem ihm fremden Zauber getroffen wurde, der die das Gestein eingeprägte Kraft einschläferte. Er erfasste, dass es drei Zauberer aus einem anderen Land waren, von denen einer einen mächtigen magischen Gegenstand bei sich trug. Er erkannte diese Macht. Das war ein Erbe der auf ewig zu verfluchenden Ashtaria. Also hatten diese Kurzlebigen doch jemanden gefunden, der gegen seine Zauberkraft ankämpfen konnte. Doch mit der geballten Macht, die er in die Barriere hineingelegt hatte, würde auch das verfluchte Erbe Ashtarias nicht so leicht fertig werden können.

Jetzt hatte dieser Wicht den Felsen entkräftet. Seine Mitstreiter hatten ihn mit ihren Sprengzaubern zerstört. Doch nun standen sie der dunklen Barriere gegenüber.

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"Du warst mir bisher eine sehr hilfreiche Gefährtin", hörte Night Swallow die Stimme ihrer Herrin im Kopf. "Doch ich erfuhr von meinen Kindern im Morgenland, dass ich einen gefährlichen Feind bekämpfen kann. Dazu benötige ich meine Hohepriesterin, weil sie eigene Zauberkraft hat und auch mit den Kräften der Sonne und des Feuers zaubern kann. So beende ich bis weiteres meine Vereinigung mit dir. Erhol dich gut von deiner Arbeit."

"Nein, große Mutter der Nacht. Bitte lass mich nicht so schwach wie früher zurück!" flehte die Botin der Göttin. Doch da fühlte sie schon, wie die sie belebende und bestärkende Kraft aus ihrem Körper wich. Die Göttin gab sie frei und machte sie doch erst recht zur Gefangenen. Sie fühlte die ihr entweichende Kraft wie kalte, aus dem Körper rinnende Wasserströme. Kälte war eigentlich kein Thema mehr für sie. Dennoch bibberte sie, als ihr Körper der übernatürlichen Kraft beraubt wurde. Eine schlagartige Müdigkeit gepaart mit einem Gefühl der Verlassenheit und Hilflosigkeit überkam Night Swallow. Sie konnte nichts anderes tun, als sich auf ihr Bett legen und es hinnehmen, dass sie von der totalen Erschöpfung und dem Gefühl der Hilflosigkeit überwältigt wurde. Durch die Verwandlung in eine Tochter der Nacht konnte sie nicht mehr weinen. So schluchzte sie ohne Tränen, als sie sich so hilflos fand, wie ein gleich nach der Geburt ausgesetztes Baby. Was hatte sie falsch gemacht? Sie wollte doch diesen Will Bradfield finden, ihn fragen, wo diese angebliche Mutter aller Blutsauger steckte. Doch im Moment hätte jeder einfache Mensch ihrem zweiten Leben ein ende machen können. Außerdem wusste niemand, wo Bradfield gerade war. Eine Suchanfrage des FBIs wegen eines möglichen Attentates in New York hatte ergeben, dass er nicht an seinem Wohnsitz war. Da Bradfield zwanzig bebaute Grundstücke im Metropolbereich von New York besaß konnte er an jedem dieser Orte sein. Wohl auch deshalb hatte die Göttin ihre Botin aus ihrer Obhut entlassen, weil sie allein nicht weiter gegen diesen Diener einer unbekannten Rivalin vorgehen konnte, ohne Aufsehen zu erregen.

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Jophiel Bensalom fühlte das unverkennbare Zittern seines silbernen Talismans. Er zog den fünfzackigen Stern frei und richtete ihn auf den freigelegten Zugang, hinter dem er gerade nur tiefe Schwärze erkannte. Der Heilsstern Ashtarias erzitterte nun ganz heftig, schien sich aus den Händen seines Trägers herausschütteln zu wollen. Außerdem kühlte er schlagartig ab, gefror beinahe zu Eis. Da wusste der Bruder des blauen Morgensterns und einer der überlebenden Nachfahren Ashtarias, dass hinter dem freigeräumten Zugang eine ganz finstere Zauberkraft lauern musste. Womöglich war sein Heilsstern nicht stark genug, sie zu bannen. Doch er durfte nicht davor zurückschrecken, es zu versuchen. Er trat einen Schritt vor. Da fühlte er, wie auch seine Hände immer kälter wurden. Gleichzeitig vernahm er in seinem Kopf die Stimme eines Mannes, seines verstorbenen Vaters: "Mein Junge, werf dein Leben nicht vor Zeiten fort! Auch die Anrufung der mächtigen Segensformel kann den Odem des absolut bösen nicht restlos vertreiben. Denn er wurde aus über fünfzig Seelen erbrütet."

"Aber wir müssen da rein", dachte Bensalom. Da hörte er Ashtarias Stimme, wie er sie in jenen Minuten kennengelernt hatte, als sie ihn und alle ihre Nachfahren und den von ihr selbst noch einmal geborenen in ihrem überirdischen Schoß aufbewahrte:

"Gegen mehr als fünfzig dunkle Seelen auf einen kleinen Ort beschränkt vermag auch meine Segensformel nichts auszurichten. Rate allen, die mit dir sind, den Eingang wieder zu verschließen und halte liber Umschau nach einem neuen, freien Eingang!"

"Nein, ich will das Böse vernichten. Ich habe mit meinem Vater den dunklen Kristall der tausendfachen Grausamkeiten zerstört. Ich werde nicht weichen", widersetzte sich Bensalom. Er tat zwei weitere Schritte. Da fühlte er, wie ihm der Heilsstern aus den Händen geschüttelt wurde. Außerdem umfloss seinen Körper eine golden-blaue Aura, die jedoch von dunkelblauen Schlieren durchsetzt wurde. Er fühlte den Hauch des Bösen, einen eiskalten, Angst und Verzweiflung verströmenden Todeshauch. Doch er wollte es wagen. Er trat noch einen Schritt vor und stand unvermittelt in völliger Finsternis. Schlagartig meinte er, wütende Schreie nach Menschenfleisch gierender Ungeheuer zu hören. Die ihn umfließende Aura flackerte wild. Da rief er die Formel, die allen Erben Ashtarias vertraut war.

Für einen winzigen Augenblick erstrahlte um ihn weißgoldenes Licht. Dann meinte er, von einer mörderischen Kraft davongeschleudert zu werden. Er sah nur weißgoldenes Flackern um sich herum. Dann prallte er auf festen Boden. Das Licht erlosch um ihn. Jetzt erkannte er, dass er in dem Haus angekommen war, in dem er das Licht der Welt erblickt hatte. Der Heilsstern hatte ihn einmal mehr aus der unüberwindlichen Gefahrenlage gerettet, aber die Gefahr selbst nicht austreiben können. Da wurde ihm klar, dass es selbst für einen Sohn Ashtarias schier unüberwindliche Grenzen gab. Das betrübte ihn. Gleichzeitig fühlte er sich irgendwie schuldig. Denn durch seine Tat war der geballte Hauch des Bösen freigelegt worden. Wer in die Höhle ging würde ihm gnadenlos erliegen. Hatte er durch seine Selbstüberschätzung womöglich hundert Menschenleben auf dem Gewissen?

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Kanoras freute sich schon, weil er dachte, dass die Barriere Ashtarias widerwärtiges Schmuckstück entkräften und zerstören mochte. Da hatte dieser Wicht die alle Kraft freisetzende Anrufung ausgerufen. Kanoras hatte die entfesselte Kraft des Lichtes körperlich gefühlt. Doch gleichzeitig hatte er mitbekommen, dass der Anrufer genau von dieser an der Barriere abprallenden Kraft davongerissen und aus dem Verbund von Raum und Zeit hinausgeworfen wurde. Die dunkle Barriere erbebte noch einige Augenblicke. Dann kam sie wieder zur Ruhe. Kanoras fragte sich, ob der Narr, der meinte, gegen mehr als fünfzig zersetzte und in eine einzige Kraft verwobene Seelen auflehnen zu können, ganz aus der Welt geschleudert worden war und nun auf Ewig mit seinen Vorfahren vereint war, oder ob seine Anrufung ihn nur an einen für ihn sicheren Ort befördert hatte, von wo aus er bald wieder gegen ihn vordringen mochte.

In nicht einmal einem Vierteltag ist die Sonne wieder fort. Dann schlägt meine Stunde", frohlockte Kanoras. Er wusste nicht, dass die vor seinem Höhlenreich versammelten Zauberer unerwartete wie unerwünschte Hilfe bekamen. Das merkte er erst, als die Sonne untergegangen war.

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Nyctodora alias Eleni Papadakis schrie ihre Wollust hinaus, als die mächtige Kraft der großen Mutter der Nacht sie durchflutete. Um ihren Körper tanzten silberne Flammenzungen, die jedoch weder Hitze noch Kälte verströmten. Dann war die Verschmelzung vollzogen. Doch Eleni fühlte, wie es in ihr rumorte, wie etwas versuchte, sich durch ihre Eingeweide nach draußen zu graben. Ihr Kopf pochte. Etwas stimmte da nicht.

"Zur Sommermittagssonne! Dein Leib wehrt sich gegen meine Kraft", hörte sie die Stimme der Göttin in ihrem ganzen Körper dröhnen. War es vorher noch die größte Lust gewesen, sich der Göttin hinzugeben, empfand sie sich gerade so, als stecke die Göttin als lebendes Wesen in ihr und wolle sich aus ihr heraussprengen. Dann fühlte sie, wie die sie peinigende Kraft wieder aus ihr abfloss. Sie meinte, aus allen Körperöffnungen eiskaltes Wasser ablassen zu müssen. Dann fühlte sie sich wieder wie vorher. "Ich muss wohl erkennen, dass deine besondere Natur mir eine Grenze setzt, die ich heute nicht erkunden oder gar überschreiten kann", hörte sie Gooriaimirias wütende Gedankenstimme. "Ich kann dich befördern, mit dir in Verbindung stehen und dir auch einen kleinen Teil meiner Kraft geben. Aber die völlige Vereinigung mit dir ist mir nicht möglich."

"Vielleicht liegt das an diesem Hexenzauber, den Anthelia mir aufgeladen hat, damals im Kloster, Herrin."

"Zur Mitsommermittagssonne noch mal, das könnte eine Erklärung sein. Da du dem Feuer verbunden bist und dieses Dreckstück dich mit einem dem Feuer verbundenen Zauber gefesselt hat könnte ein Rest davon noch in dir stecken, weil du auch der Sonne verbunden bist, die wider meine frühere Natur war. Nun gut, so bleibt mir nur, dich ohne meine ganze Kraft nach Marokko zu bringen, auf dass du mit den fünf Kristallkriegern unseren größten Todfeind stellst und niederwirfst."

"Die Sonnenkinder?" fragte Eleni, die sich immer noch nicht damit zurechtfand, dass ihr Körper für die geistige Verschmelzung mit der Göttin ungeeignet sein sollte.

"Nein, den Schattenträumer, Kanoras, einen von Iaxathans treuesten und zugleich mächtigsten Lakeien, eine nur noch aus einem großen Gehirn bestehende Daseinsform, wo damals ein Geschwisterpaar die völlige körperliche und geistige Verschmelzung herbeigeführt hatte. Er will wohl diesem Vengor helfen, den Iaxathan als Spiegelknecht unterwerfen will. Vielleicht gehört die in den Staaten aufgetauchte Blutmutter oder Blutamme auch zu diesem Plan dazu. Aber Kanoras zu vernichten ist zunächst die Hauptsache."

"Dann werde ich dir helfen", sagte Eleni Papadakis.

Im nächsten Augenblick umschlang sie die Schattenspirale, jener schwarze Strudel, durch den Gooriaimiria ihre Helfer von einem Ort entfernen und an einem anderen Ort auftauchen lassen konnte. Immerhin gelang das noch, dachte wohl nicht nur Nyctodora alias Eleni.

Als die Hohepriesterin der schlafenden Göttin wieder festen Boden unter den Füßen hatte war es noch hell. Die Sonne war jedoch schon im Begriff, unterzugehen. Das Geschöpf, das zugleich Vampirin und zaubermächtige Hexe war, blickte sich um. Über ihr vernahm sie erboste Aufschreie. Sie erkannte, dass es ein arabischer Dialekt war und dass jemand es gerade darauf anlegte, sie entweder einzufangen oder umzubringen. Das wollte sie auf keinen Fall zulassen.

Sie sah über sich drei fliegende Teppiche, von denen aus je fünf Männer mit Zauberstäben auf sie zielten. Nyctodora blickte noch einmal in die Sonne, scheinbar um ihr Licht ein letztes Mal zu genießen. Doch in Wirklichkeit nahm sie die Kraft des ewigen Feuerballs am Himmel in sich auf und rief: "Bollidius Maximus!" Aus ihrem nach oben schnellenden Zauberstab fauchte ein mehrere Meter großer, grün-blauer Feuerball heraus, jagte in die Höhe und traf den ersten der Flugteppiche. Mit dumpfem Knall zerbarst die Flammenkugel zu einer alles verzehrenden goldenen Flammenwolke. Wer sich in ihrem Inneren aufhielt hatte keine Chance mehr. Und Eleni zögerte nicht, die nächste Flammensphäre auf die Reise zu schicken. Der Rausch der Macht pulsierte durch ihren Geist, schien zu einem belebenden Stoff in ihrer Blutbahn zu werden. Dann sah sie, wie auch der zweite Flugteppich in den Flammen verging. Der dritte Flugteppich jagte derweil in den Himmel hinauf. Die ihm nachgesandte Feuerkugel holte ihn nicht mehr ein und zerplatzte weit unter ihm zu einer kurz auflodernden Flammenwolke. "Wer mich anrührt stirbt!" rief die Hohepriesterin der schlafenden Göttin. Noch einmal würde sie sich nicht von Zauberstabschwingern überwältigen lassen. Dann sah sie um sich herum weitere Schattenstrudel, aus denen insgesamt fünf grauhäutige Männer in dunkelgrauer, hautenger Kleidung heraustraten. Sie bauten sich sofort sternförmig um Nyctodora auf. Ihre Körper umfloss ein schwärzlicher Dunst. Außerdem hielten sie Maschinenpistolen in ihren Händen. Da apparierten die ersten Zauberer vor ihnen. Eleni rief sofort: "Wenn ihr eure Seelen unbedingt heute schon loswerden wollt greift uns an. Wir sind aber nicht wegen euch hier, sondern wegen Kanoras."

"Du bist die oberste Dienerin dieser Vampirgöttin. Wieso stirbst du nicht im Sonnenlicht?" schnarrte ein kleinwüchsiger Zauberer mit grauem Vollbart.

"Weil ich was ganz besonderes bin, Graubart. So, und jetzt mach uns Platz, damit wir diesen Schattenspieler begrüßen können, bevor es dunkel ist und er wohl aus seinem Versteck kommt."

"Avada Kedavra!" rief der graubärtige Zauberer, Abdul Rahman. Da sprang einer der grauhäutigen zwischen ihn und Eleni. Der grüne Blitz traf den Kristallstaubvampir. Doch statt diesen zu töten wurde die vernichtende Zauberkraft von einer schlagartig entstandenen schwarzen Aura geschluckt. Mehr noch. Abdul erzitterte. Dann zerfloss sein Körper zu schwarzen Schlieren, die wie von einem Turbostaubsauger angezogen wurden und ebenfalls in der schwarzen Aura des Kristallstaubvampirs vergingen. Der Hühne lachte und zielte mit seiner MP auf drei weitere Zauberer, die auf ihn zurannten. Laut ratternd spie die Waffe eine Garbe Stahlmantelgeschosse aus, die jedoch von unsichtbaren Panzern um die Angreifer abgelenkt wurden.

"Verflixt, die haben Kugelsichere Zauber um sich aufgebaut", knurrte Eleni. Dann deutete sie auf den freigelegten Höhleneingang. Sie fühlte förmlich den Hauch der Vernichtung daraus atmen. Doch genau der war für ihre fünf Leibwächter die reinste Aufputschdroge. Allerdings war sie dann relativ schutzlos.

"Ich will keinen mehr von euch umbringen!" rief Eleni. "Ich will nur im Namen meiner Göttin diesen Schattenlenker Kanoras bekämpfen. Denn er ist auch ihr Feind."

"Wir wollen dich hier nicht haben, Dienerin einer vom Scheitan gezeugten Dämonin. Verschwinde von hier! Weitere Feuerzauber werden wir diesmal zurückschlagen."

"Ich verschwinde erst, wenn meine Göttin dies will, nicht vorher!" rief die Hohepriesterin Gooriaimirias. "Aber ihr wollt es nicht anders!" Mit diesen Worten hob sie den Zauberstab. Sie wollte das Dämonsfeuer freisetzen, den schlimmsten dunklen Feuerzauber nach den dunklen Flammen selbst. Da flog ihr von oben ein Stück Leinenstoff auf den Kopf. Ehe sie diese Frechheit richtig registrierte wurde sie in einen bunten Farbenwirbel davongerissen.

Als sie erkannte, dass ihr jemand einen Transportzauber verpasst hatte war es für eine Gegenwehr schon zu spät. Sie dachte an ihre Göttin. Doch die konnte ihr hier in einem Wirbel zwischen Raum und Zeit wohl nicht beistehen. Unvermittelt schlug sie auf etwas nachgiebiges, flüssiges und tauchte mehr als einen Meter unter. Dann schaffte sie es, wieder an die Oberfläche zu kommen. Als sie sich umsah stieß sie erst einmal eine Verwünschung aus.

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Die Kristallstaubvampire reagierten sofort auf das Verschwinden ihrer Anführerin. Sie preschten los, um die Frechlinge niederzuwerfen. Die Taktik gelang insofern, dass die auf dem Boden herumlaufenden Zauberer im Nichts verschwanden und die auf den fliegenden Teppichen versuchten, sie mit Feuerzaubern und magischen Geschossen zu treffen. Doch all das wirkte nicht so wie gewohnt. Die fünf ungerufenen Helfer gegen Kanoras verwandelten sich in Riesenfledermäuse und flogen nach oben. Sie waren im Blutrausch. Ein weiterer Zauberer versuchte den Todesfluch, weil er das vorhin wohl nicht mitbekommen hatte. Auch er zahlte diesen Angriff mit seinem Leben. Dann erreichten die Vampire einen von noch zwei fliegenden Teppichen und fielen wie übergroße Heuschrecken über die darauf stehenden Zauberer her, die kein anderes Mittel mehr sahen, als ebenfalls in leerer Luft zu verschwinden. Das brachte die Teppiche dazu, nach unten durchzusacken.

"Wir sind viele!" brüllte einer der Kristallvampire in seiner Muttersprache. Doch weil das nicht arabisch oder ein Dialekt der Wüstenvölker Marokkos war verstand ihn niemand. Die verschwundenen Zauberer hatten sich vor dem Höhlenzugang eingefunden und setzten sofort mit einem großen Sonnenzauber an, um die gefährlichen Widersacher zu vertreiben oder zu vernichten. Doch die fünf Kristallstaubvampire dachten nicht daran, die auf sie wartenden Zauberer anzugreifen. Sie jagten wie auf einen unhörbaren Befehl auf den freigelegten Eingang zu und in diesen Hinein.

"Allah sei uns allen gnädig, wenn diese Brut sich von der bösen Kraft ernähren kann, die dort drinnen wirkt", seufzte Mulai, der nach dem verstorbenen Abdul ranghöchste Einsatztruppler.

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Eleni schwamm in Mitten eines Meeres. Um sie herum erhoben sich meterhohe Wellen und überspülten sie. Sie fühlte in ihrem Körper eine zunehmende Wärme und kämpfte gegen die Kraft des Wassers an. Sie sah nach obenund konnte die Sonne im Zenit sehen. Ihre wärmenden Strahlen taten ihr gut, anders als anderen Kindern der Nacht. Ebenso wirkte die Kraft der fließenden Wassermassen nicht kraftzehrend auf sie ein. Allerdings wusste Eleni, dass sie unweigerlich ertrinken mochte, wenn sie es nicht schaffte, ihre Göttin um Hilfe zu rufen. Dieser verflixte Zauber hatte sie mittenin ein von der Mittagssonne beschinenes Meer geschleudert. Das sollte der Kerl ihr büßen. Dem würde sie sämtliches Blut aus den Adern saugen. Oder sollte sie ihn bei lebendigem Leib verbrennen? Ja, das war sicher grausam genug für so einen Wicht.

"Ich kann dich durch die Wassermassen gerade so erspüren, meine Hohepriesterin. Ich versuche, dich zu ergreifen", hörte sie die sichtlich verschwommen klingende Stimme ihrer Herrin. Da umschwirrten Eleni schwarze Schlieren. Doch sie lösten sich sofort wieder auf, wo sie auf anrollende Wellen trafen. "Nein! Ich bin die Verschmelzung aus tausend Seelen. Ich bin stärker als dieses verfluchte Wasser", hörte Eleni Gooriaimirias Gedankenstimme. Doch wie stark die Göttin auch immer versuchte, Eleni mit ihrer Schattenspirale zu umschließen. Die Spiralarme zerfielen wie Schaumflecken unter den Wellen. Da kam Eleni eine Idee. Sie hielt ihren Zauberstab noch in der Hand. Während sie mit ihren kräftigen Beinen rudernd den nötigen Auftrieb erzeugte, vollführte sie einen Apportationszauber. Mit lautem Knall brach ein schlanker Flugbesen aus dem Nichts heraus. Eleni packte mit der freien Hand zu und zog sich daran hinauf. Als sie den Besen zwischen ihre Beine schob sank sie erst einen Meter mit ihm durch. Dann steckte sie den Zauberstab fort und ergriff mit beiden Händen den Stiel. "Escappericulum!" dachte sie. Da schoss der Besen mit ihr zusammen aus dem Wasser wie eine abgefeuerte Rakete. Er jagte erst einige Dutzend Meter nach oben und wurde dann von seiner Reiterin in waagerechte Fluglage gebracht. Sie raste damit einen Kilometer weit vorwärts, bevor der Besen wieder langsamer wurde. Als sie ihn zum schweben brachte umschlangen sie die nun undurchbrechbaren Spiralarme des Schattenstrudels. Besen und Reiterin jagten durch jenen finsteren Tunnel vorbei an der blutroten Riesengestalt, die in Wirklichkeit die schlafende Göttin war zurück in die stoffliche Welt. Sie fand sich in ihrem Unterschlupf in Afghanistan wieder, wo sie seit fünf Tagen untergetaucht war, um dreißig neue Kristallstaubvampire zu erschaffen, die letzten, die die Göttin erzeugen wollte. Denn sie zu vernichten war doch leichter als sie erst gedacht hatte.

"Immerhin konnte ich dich wieder zurückbringen, Nyctodora. Aber lass dir das eine Warnung sein, deine magischen Gegner niemals aus den Augen zu lassen. Wärest du nicht durch das Blut einer Feuerhexe gestärkt worden hätten dich das Wasser und die Sonne vernichtet."

"Was für ein Zauber war das?" wollte Eleni Papadakis wissen. "Ein Portschlüssel. Ein ganz widerwärtiger Versetzungszauber, der selbst starke Nachtkinder ergreifen und an einen für sie höchst unangenehmen Ort verschleppen kann", hörte Eleni Gooriaimirias Gedankenstimme fauchen. Sie verspürte den abgrundtiefen Hass, der in diesen Worten mitschwang. War es ihr eigener Hass oder der ihrer Herrin?

"Herrin, was soll ich nun für dich tun?" wollte Eleni wissen.

"Die weiteren Kristallstaubkrieger erschaffen und darauf einschwören, für mich gegen Iaxathan und seinen Knecht zu kämpfen. Gegen Kanoras reichen die fünf, die ich schon hingeschickt habe", antwortete die schlafende Göttin.

"So soll es sein, meine Göttin", erwiderte Eleni Papadakis demütig.

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Gooriaimiria besaß keinen lebenden Körper mehr. Dennoch empfand sie die dunkle Barriere, auf die ihre fünf Krieger zuliefen, wie eine Mischung aus belebender Nahrung und sengender Glut. Da sie aus mehr als einem Bewusstsein bestand konnte sie alle fünf gleichzeitig wie von ihr beseelte Körper steuern, jedoch ohne sie gänzlich mit sich zu vereinigen. So sah sie durch fünf Augenpaare, wie die aus einer flimmernden Dunkelheit bestehende Barriere dünne Fäden auswarf wie die Nesselfäden hunderter von Quallen. Wo diese lichtschluckenden Auswüchse die Auren ihrer Krieger trafen durchzuckte die Kristallstaubvampire erst ein heftiger Schmerz. Doch Sofort kehrte sich das Schmerzempfinden in Erleichterung, ja steigende Glückseligkeit um. Die völlig finsteren und haardünnen Fangfäden erzitterten wild. Dann zerrissen sie und schnarrten wie zurückspringende Gummibänder in die Körper der fünf Krieger hinein. "Voran und hindurch!" dröhnte Gooriaimirias Gedankenstimme in den fünf Kristallstaubvampiren. Diese brüllten kampfbereit auf und stürzten sich auf den lichtlosen Wall.

Es war wie der Aufprall auf eine massive Steinwand. Für die Bewohnerin des Mitternachtsdiamanten klang es so wie der wuchtige Anschlag einer hundert Tonnen schweren Glocke. Doch der mächtige Schlag verklang nicht ganz. Er ebbte nur zu einem tiefen, in allen Körperteilen nachschwingendem Akkord gerade noch oberhalb der unteren Hörschwelle ab. Die Krieger stemmten sich gegen die wild vibrierende Wand und schafften es, in sie einzudringen. Aus der Empfindung von massivem Gestein wurde das Gefühl, in warmes Wachs einzutauchen. Aus dem Wachsartigen Widerstand wurde etwas wie Honig, der immer flüssiger wurde. Um die fünf Kristallstaubvampire tobten jetzt auch blaue Schlieren und Funken. Gooriaimiria vermeinte die Schmerzensschreie hinter dicken Wänden gefangener Seelen zu hören. Ihre Krieger tranken die ihnen entgegenwirkende Kraft, die von ihren Kristallstaubauren in sie belebende Kräfte verwandelt wurde. Die Barriere erzitterte und bekam blaue und violette Risse, die wie in alle Richtungen zuckende Blitze wirkten. Wilder und gieriger sogen die fünf Krieger den aus verstofflichter Dunkelkraft bestehenden Widerstand auf. Dabei drängten sie immer schneller voran, um hindurchzugelangen. Gooriaimiria fühlte jedoch, dass die fünf Krieger am liebsten anhalten und die gesamte bereitgestellte Kraft einverleiben wollten. Deshalb peitschten ihre geistigen Befehle sie voran. Denn sie wollte Kanoras selbst haben.

Auf einmal waren das tiefe Gebrumm, die gedämpften Schreie und die von Lichtentladungen durchzuckte Finsternis weg. Der verbliebene Widerstand, aber auch die belebende Kraft versiegten schlagartig. Davon völlig überrascht flogen die fünf Krieger von der eigenen Kraft nach vorne und landeten auf ihren Gesichtern. Doch das machte ihnen nichts aus. Keine halbe Sekunde später waren sie bereits wieder auf den Beinen.

"Fühlt den Ursprung! Folgt der Spur zu unserem Feind!" befahl die selbsternannte Göttin der Nachtkinder. Sie hatte sofort verstanden, was der plötzlich verschwundene Widerstand bedeutete. Kanoras hatte die Barriere aufgelöst, weil sie ihm nicht mehr nützte. Sie glaubte nicht, dass er sich schon ergab. Deshalb musste sie ihre Krieger eilig zu ihm hinschicken, damit er keine wirksamere Abwehr gegen sie aufbieten konnte.

Die Fünf Krieger horchten in die nun leicht von ihnen zu durchblickende Dunkelheit. Doch alle Wände waren mit dunkler Zauberkraft erfüllt, die wie ein leiser, beängstigender Akkord in den für Zauberkräfte empfindlichen Bewusstseinen der Krieger klang. Doch nach nur zehn Sekunden, in denen die Göttin ihre Krieger in Fünfeckformation hatte treten lassen, konnte sie eine deutlich stärkere Schwingung aus südwestlicher Richtung vernehmen, die in einem flachen Winkel von unten her aufstieg. Sofort rückten die fünf Kristallstaubvampire vor und folgten dieser vernommenen Strömung.

Plötzlich schnellte der Kopf einer Riesenschlange aus dem Boden. Sie bestand jedoch nicht aus Fleisch und Blut, sondern war nur eine Schattenform mit blau leuchtenden Augen. Der Kopf der Schlange stieß vor und versuchte den ersten der fünf am Bein zu packen. Doch als das Maul das rechte Bein umschloss prallte es mit der Wucht einer abgefeuerten Kanonenkugel zurück. Die gesamte aus dem Boden herausschnellende Schlange wurde meterweit zurückgeworfen. Sie versank im Boden wie in einem ruhigen Gewässer.

Nun sprangen schattenförmige Raubkatzen aus den Wänden, Leoparden, Löwen und Geparden, brüllten mit geisterhaft verschwimmenden Stimmen und versuchten die Eindringlinge mit Krallen und Zähnen zu treffen. Doch jeder Angreifer wurde unter lautem schrillen Aufschrei von der ausgesuchten Beute zurückgeschleudert und in die Wand zurückgedrängt. Die schattenhaften Geister von wilden Tieren schafften es nicht, ihre Feinde zu treffen. Auch wenn es mehrere Dutzend waren, die da auf die fünf Krieger losgingen, so boten sie diesen doch ebensowenig Widerstand wie die kalte Luft, die im Gang vorherrschte. Allerdings hatte ihr massierter Angriff einen gewissen Erfolg, wie die Göttin mit Verärgerung erkennen musste. Sie zogen die Aufmerksamkeit der fünf zu sehr auf sich, so dass sie nicht sofort mitbekamen, was um sie herum geschah.

Gooriaimiria konnte das unheilvolle Grummeln und Knirschen erst recht einordnen, als die letzten schattenförmigen Raubkatzen in die Wände zurückgeschleudert worden waren. Die Decke über den fünf Kriegern senkte sich. Kanoras versuchte es jetzt mit einem ähnlichen Zauber, mit dem diese französischen Rotblütler damals Gooriaimirias ersten Körper, Lady Nyx, dauerhaft außer Gefecht setzen wollten. Nur hatte sie damals schon den Mitternachtsdiamanten in ihrem Körper getragen und war dieser Falle entkommen. Ihr war klar, dass ihre Krieger nicht zu lange warten durften. Sollte sie sie zurückrufen? Nein! Sie trieb sie noch schneller nach vorne, immer der Spur nach. Außerdem bemerkte sie, dass die magische Strömung stärker wurde. Kanoras musste seine ganze Zauberkraft einsetzen, um die Feinde zu bekämpfen. Das verriet überdeutlich, wo er war. Jetzt war er dran, dachte Gooriaimiria.

Trotzdem ihre Sturmtruppe viermal schneller als die schnellsten Sprintläufer der Menschheit voraneilten drohte ihnen wortwörtlich die Decke auf die Köpfe zu fallen. Für Menschenohren zu leise knirschend senkte sich die massive Steindecke tiefer und tiefer, jede Sekunde um einen halben Zentimeter. Und jetzt begann sich auch der Boden zu heben. Einzelne Hubbel wölbten sich vor den fünf Kristallstaubkriegern und bremsten ihren Lauf. Dann brachen vor ihnen sogar tiefe, breite Spalten im Boden auf. Steinbrocken flogen ihnen aus den Wänden entgegen und trafen sie wie Geschosse an Köpfen und Körpern.

"Und wenn ihr aus dem Schoß der finstersten Urmutter stammt, hier herrsche nur ich!" brüllte sie hörbar und in ihren Gedanken hallend eine geschlechtlich nicht zuzuordnende Stimme an. Dann passierte, was Gooriaimiria schon befürchtet hatte, als die ersten Bodenunebenheiten entstanden waren. Einer ihrer Krieger stolperte und schlug hin. Die anderen liefen weiter. Denn sie kannten keine Kameradschaft. Der nun von der Truppe getrennte Kämpfer wollte wie vorhin blitzartig wieder auf die Beine. Da brach unter ihm der Boden auf und ließ ihn mehr als einen Meter in die Tiefe sacken. Sogleich drängte das Gestein um den Kristallstaubvampir nach, um ihn zu zermalmen. Doch die durch dunkle Zauberkraft bewegte Materie schaffte es nur, den Kristallstaubvampir bewegungslos einzuschließen. Was ihn hätte zerstören sollen wurde von seiner Kristallstaubnatur regelrecht geschluckt. So hielten sich die zwei einander bekämpfenden Kräfte die Waage.

Gooriaimiria wollte nicht abwarten, wessen Kraft zuerst ermüden würde. Sie trieb ihre vier noch bewegungsfähigen Helfer weiter nach vorne. Doch Boden und Decke wuchsen nun stetig aufeinander zu. Das schnelle Laufen wurde schwieriger. Die vier Krieger liefen bereits nach vorn gebeugt. Doch zwischen ihren Rücken und der Decke waren nur noch wenige Zentimeter Luft.

Auf einmal erzitterte die Erde wie bei einem heftigen Beben, und mit lautem Poltern schlugen tonnenschwere Felsbrocken vor den verbliebenen Kriegern auf und türmten sich zu einer unübersteigbaren Barriere. Gleichzeitig krachte es auch hinter ihnen. Einer der vier sah sich um und erkannte, dass auch hinter ihnen eine unüberwindliche Felsbarriere entstand. Ein blaues Licht flimmerte in den aufgetürrmten Brocken und bewirkte, dass diese unter leisem Knirschen zusammenwuchsen und zu einer vom Boden zur Decke und die ganze Raum Breite reichenden Wand wurden. Dasselbe geschah mit den hinter den vieren niedergestürzten Felsbrocken. Offenbar hatte Kanoras für diesen Zauber das zusammenwachsen von Boden und Decke aufgeben müssen. Denn die vier standen nun tief gebückt in einem breiten aber für Menschen schon zu niedrigen Gang. "Habe ich euch!" frohlockte die geschlechtslose Stimme aus den Tiefen des Berges. Das trieb Gooriaimiria an, durch den Mund des vordersten Kriegers zu antworten:

"Damit hast du aber auch deinen Dienern jeden Weg nach draußen verbaut, Schattenspieler!"

"So, findest du, überzüchteter Blutegel? Dann gib acht!" antwortete die Stimme des Feindes, die nicht von der massiven Wand gedämpft wurde.

Laut knackend und knarrend tat sich über dem vorderen Krieger ein gangbreiter und mannsdicker Spalt in der Decke auf. Ein leises Knarren und Schaben klang in der Richtung, in die die vier noch verbliebenen weitergehen wollten. Dann fühlten sie etwas von dunkler Kraft belebtes heranjagen, nicht direkt aus den Wänden, sondern von oben.

Ein nachtschwarzer Dunst drang aus dem aufgebrochenen Spalt und fiel wie ein Schwall ausgekipptes Wasser zu Boden. Dort ballte sich die fremde Erscheinung zusammen, bis sie unter einem kurzen Zittern zu einer riesenhaften Schattengestalt wurde, dem Schatten eines mindestens sechs Meter großen Menschenartigen. Das so entstandene Wesen blickte die vier im Gang wartenden Kristallstaubkrieger aus blutroten Augen lauernd an. Gooriaimiria erinnerte sich sofort an die Berichte über Kanoras' mächtigste Diener. Sie erkannte diesen Schatten als den Blutriesen, einen zum Schattenwesen gewordenen Riesen, der selbst auch ein Sohn der Nacht geworden war, bevor Kanoras ihn seiner Dienerschaft eingegliedert hatte.

"Mit den kleinen Kätzchen seid ihr ja ganz leicht fertig geworden", dröhnte die Stimme des Riesens, wie mit leicht umgekehrtem Widerhall klingend. Dann schlug er mit seiner rechten Hand zu. Doch die Hand prallte zurück.

"Dann eben so!!" brüllte der Schattenriese und warf sich auf den vordersten Krieger. Zwar drückte dessen Abwehraura ihn ein wenig zurück. Doch er wurde von der Decke aufgehalten. Gleichzeitig umschlang der Riese seine Beute mit seinen gewaltigen Armen und schaffte es, den Kristallstaubkrieger einzuklemmen. Zerdrücken konnte er ihn so nicht. Aber er konnte ihn festhalten. Die drei anderen versuchten, den neuen Feind anzuspringen. Dabei machten sie die unangenehme Erfahrung, dass sie im Vergleich zur Kraft des Riesens leichter als dieser waren und flogen von ihrer eigenen Abwehrkraft zurückgeprällt gegen die hintere Barriere. Diese erzitterte, und die Krieger blieben einen Moment daran haften wie an einem Fliegenfänger.

"Sei mein!" dröhnte die Stimme des Riesens. Dann schnappte sein Maul nach dem umschlungenen Feind. Dolchartige Fangzähne stießen auf Widerstand. Blaue und rote Blitze zuckten auf. Doch der Riese hielt dagegen. Dann, für den Kristallstaubkrieger völlig unvorstellbar, durchdrangen die mächtigen Fangzähne den Widerstand und bohrten sich blitzschnell durch Haut und Fleisch des Kristallstaubkriegers. Nun umtossten weitere blaue Blitze die beiden, versuchten, den Schattenriesen zurückzudrängen und zerstoben doch zu wild wirbelnden Funken, während der Schattenriese gierig zu saugen begann, um dem Anderen das Leben und die Seele zu entreißen. Gooriaimiria fühlte, wie ihr die Macht über den Erbeuteten Krieger zu entgleiten drohte. Sie überlegte schnell, ob sie ihn noch mit der Schattenspirale zurückholen konnte. Doch dann fiel ihr etwas besseres ein, etwas, was ihrem Feind die Nacht verderben sollte.

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Die vor dem wieder freigelegten Eingang ausharrenden Zauberer registrierten den Zusammenbruch der schwarzmagischen Barriere. Schlagartig hörte der eiskalte Luftstrom aus dem Höhlenzugang auf. Der Boden erbebte. Die mitgeführten Messgeräte für dunkle Zauberkräfte, die die ganze Zeit wild schnarrend am Anschlag gezittert hatten, zeigten nur noch eine geringe Restkraft dunkler Magie an. Dann nahm die Stärke der im Berg freigesetzten Zauberkraft wieder zu.

"Sollen wir denen nach?" wollte Maruf, einer der noch lebenden Zauberer wissen.

"Ja, und bloß alle mit Schilden des Ra bezaubern!" befahl Mulai, der nach Abduls zu frühem Tod ranghöchste Einsatztruppler. So beschworen sie alle die Kraft aus der noch nicht untergegangenen Sonne in goldene Schutzamulette hinein. Außerdem zauberten einige zusammen frei schwebende Lichtkugeln.

"Alle Schild- und Abwehrzauber gesprochen? Dann mir nach. Ran an den Feind!" kommandierte Mulai und befahl seinem Flugteppich, auf wenige Zentimeter Höhe aufzusteigen.

Da apparierten drei Frauen vor dem Höhlenzugang. Eine von ihnen rief mit irakischem Akzent: "Ihr Narren, das ist sicher eine Falle! Sucht lieber nach weiteren Ausgängen und verriegelt diese mit Sonnenlichtwällen und den Zaubern gegen bösartige Geisterwesen!"

Mulai sah sich um und sah die drei in hellgrüne Gewänder gehüllte und hellgrüne Kopftücher und Schleier tragenden Frauen. Jede von ihnen trug frei sichtbar eine silberne Kette mit einem grün glimmenden Halbmondsymbol aus reinem Smaragd. Er wusste, was das bedeutete und fühlte unbändigen Zorn aufsteigen.

"Ach nein, die Mondhuren trauen sich auf ein Schlachtfeld und wollen uns sagen, was zu tun ist", bellte er. "Kriecht wieder in das Dreckloch zurück, aus dem ihr und eure Gesinnungsschwestern gekrochen seid!"

"Der Schattenlenker ist unser aller Feind. Seine Brut darf nicht ungehindert über das Land kommen", sagte die Frau, die gerade zur Vorsicht gemahnt hatte. Doch Mulai entgegnete: "Die wollen uns aufhalten, Männer. Die Dienerinnen des von Allah verfluchten wollen uns hindern, seinen Stellvertreter auf Erden zu bekämpfen. Vorwärts, in die Höle!"

Die Zauberer folgten seinem Befehl, obwohl die drei Hexen noch einmal versuchten, sie zurückzurufen. Doch die Kampfzauberer hörten nicht. Sie flogen auf ihren Teppichen so niedrig über den Bodn wie es ging. Hinter ihnen liefen die zu Fuß kämpfenden Zauberer mit den frei schwebenden Lichtkugeln, die im gleichen Farbton wie die sinkende Sonne leuchteten.

"Sie werden trotz der starken Wehrzauber in ihr Verderben rennen, diese Narren", knurrte die älteste der drei grüngewandeten Hexen. "Und wir alleine sind nicht stark genug, um die anderen Eingänge zu finden und zu verschließen, bevor die Sonne ganz versunken ist."

"Wenn die da drinnen alle sterben hat dieser Dämon freie Bahn", warnte die jüngste der drei ihre Anführerin.

"Ich habe unsere Schwester vorgewarnt, die zwei Brüder des blauen Morgensterns geboren hat. Sollen diese sich hier einfinden. Ich verstehe eh nicht, warum sie bis jetzt nicht hier aufgetaucht sind, wo sie sich doch für die Wächter der Menschheit und Erzfeinde dunkler Zauberwesen halten."

"Was bleibt uns dann noch?" wollte die dritte der grüngewandeten Hexen wissen. Da hörten sie aus der Höhle dumpfes Pochen und Krachen. Jedoch klangen keine Schreie oder andere von Menschen oder Tieren erzeugten Laute.

"Sie sind auf stofflichen Widerstand gestoßen. Offenbar hat der Schattenlenker alle von hier aus erreichbaren Zugänge versperrt", sagte die älteste der drei. Dann deutete sie nach oben. Da erschienen gerade fünf frei fliegende Teppiche. Auf jedem saßen oder standen Männer in hellblauen Gewändern mit dreieckigen Hüten auf den Köpfen. "Verhüllt euch und zieht euch auf zweihundert Schritte zurück, Schwestern!" hörten die beiden anderen die Stimme ihrer Anführerin in ihren Gedanken. Sie gehorchten unverzüglich.

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Die todesmutig in die Höhle vorgedrungenen Zauberer trafen erst einmal auf keinen Widerstand. Sie drangen mehr als hundert Meter tief in die Höhlen vor, wobei sie im Wege liegende Felsen zersprengten. Dann wurde der Gang zum Fliegen zu niedrig. Außerdem klafften Bodenspalten und wölbten sich bald einen Meter hohe Bodenwellen, die ein schnelles vorankommen erschwerten. An den Wänden huschten neben den Schatten der Zauberer auch solche von wilden Tieren. Sie wirkten Angriffslustig. Doch die gleißendhellen Lichtkugeln und die in den Höhlen erkennbaren Auren aus rotgoldenem Licht hielten sie offenbar ab, zu gefährlichen Gegnern zu werden.

Die insgesamt fünfzig Zauberer erkannten, dass sie alle zugleich nicht weiter vorankamen. So teilte sich die Gruppe auf. Ein Großteil sollte den Rückzug sichern und als mögliche Verstärkung dienen. Nur fünf Zauberer unter der Führung von Mulai drangen im Licht einer frei schwebenden Sonnenlichtkugel weiter vor. Der Zauber "Auge des Ra", beleuchtete ihren Weg, und der Schildzauber, der von den alten Ägyptern "Gewand des Ra" genannt worden war und sich auch nach der Verbreitung des Islams in der morgenländischen Zaubererwelt erhalten hatte, schützte vor allen die Sonne fürchtenden Wesen wie Vampiren oder eben Schattendämonen.

Die Sonnenmagie half ihnen jedoch nicht weiter, als Mulai und sein Stoßtrupp vor einer den ganzen Gang ausfüllenden Felswand standen. Sprengzauber prallten davon ab, Aufweichungs- oder Durchdringungszauber flossen wie Wassertropfen daran ab. "Der Schattenfürst gebietet über mächtige Erdelementarzauber", knurrte Mulai. "Yussuf, deine Erdelementarkenntnisse sind gefragt", gab er an einen seiner Begleiter weiter. Dieser trat vor und untersuchte die Wand. "O Allah! Die Wand ist fünf Meter dick und fugenlos. In ihr steckt der Zauber der unnachgiebigen Härte. Offenbar speist dieser sich aus dunkler Zauberkraft, weshalb reine Aufweichungszauber und Sprengflüche ihn nicht brechen können. Wir müssen diesen Silbersternträger wieder herrufen."

"Wenn du mir sagst, wo dieser abgeblieben ist, sofort", schnarrte Mulai. Zumindest ging er davon aus, dass jener Zauberer überlebt hatte.

"Können wir uns einen eigenen Weg durch die Wände brechen?" fragte Mulai.

"Ich versuche noch was", sagte Yussuf und trieb alle zurück. "Falls das misslingt sofort den schnellen Rückzug", sagte er noch. Mulai bestätigte das. Dann baute Yussuf zwischen sich und der Wand eine weitere Wand auf, die jedoch aus reiner Schwärze zu bestehen schien. Er schob sie mit leisem Gemurmel gegen die Felswand. Da erzitterte diese. Das Zittern wurde zu einem Beben, dass sich durch Wände und Boden ausbreitete. Die Männer kämpften um ihr Gleichgewicht, als Staub und kleine Gesteinsbrocken aus der Decke rieselten. Doch das schlimmste war nicht der Aufruhr im Boden, sondern der unhörbar tiefe Ton, der in dem Gang wie in einer gewaltigen Flöte verstärkt wurde. Gegen diese natürliche Nebenwirkung des Zaubers schützten weder das Auge noch das Gewand des Ra. Die fünf Zauberer fühlten sich immer unwohler, spürten aufkommende Beklommenheit und ein zunehmendes Dröhnen in ihren Köpfen, das sie daran hinderte, sich zu konzentrieren. Sie verloren den Halt und fielen auf den heftig schwankenden Boden. Dann brachen die ersten größeren Stücke aus der von den frei schwebenden Kugeln beleuchteten Decke und prasselten auf die fünf am Boden liegenden nieder. Die sich immer stärker aufschaukelnden Kräfte brachen noch größere Stücke aus der Decke. Einer der Trümmerbrocken durchschlug eine der frei schwebenden Lichtkugeln und saugte ihr dadurch die ganze Kraft auf einmal ab. Wie ein glühender Meteorit schlug der Trümmerbrocken in den Boden ein. Eine der zwei Sonnenlichtkugeln war erloschen. Die zweite folgte zehn Sekunden später. Doch da hatten die ersten Trümmerbrocken schon Köpfe und Körper der handlungsunfähigen getroffen und ihnen das Bewusstsein geraubt. Mit ihrer Besinnung schwanden auch die noch glühenden Schildzauber. Tiefe Dunkelheit schlug über ihnen zusammen, und mit der Dunkelheit kamen die in den Wänden lauernden Schattendiener Kanoras'. Wütend, weil sie von den Sonnenzaubern so lange und gründlich zurückgehalten worden waren, folgten die zu Schattenwesen gewordenen Raubtiere nur noch ihren früheren Trieben. Das einzige Glück der fünf Zauberer war, dass sie es nicht mehr spürten, wie sie von eiskalten Mäulern und Krallen zerfetzt wurden. Doch mit Yussufs Tod brach auch sein Zauber zusammen. Das Beben und der mörderische tiefe Ton verklangen unverzüglich. Doch der Schaden war unumkehrbar.

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Die Brüder des blauen Morgensterns wollten ein kleines Kommando in die Höhle schicken, als ein mittelstarkes Beben sie davon abhielt. Dann stürmten noch mehrere Dutzend Zauberer auf fliegenden Teppichen heraus, die hoffnungslos überladen waren, aber es doch irgendwie schafften, die Fliehenden zumindest ins Freie zu bringen. "Schnell, den Zugang mit Sonnenlichtwänden versperren und dabei die Sonnenkraft nutzen!" befahl der Führer der dazugekommenen Zauberer in hellblauen Gewändern. Als geschehen war, was er befohlen hatte, schwärmten sie aus, weitere Ausgänge zu suchen. Die Zauberer, die sich in wilder Panik ins Freie gerettet hatten erkannten, dass der Stoßtrupp es nicht geschafft hatte. Doch noch mal in die verfluchte Höhle vorzudringen wagte keiner von ihnen, zumal der Eingang nun auch für natürliche Lebewesen undurchdringbar versperrt war. Die gleißende Mauer aus Sonnenmagie wirkte dick wie eine Burgmauer. Sie konnte sogar niedere Luft-, Erd-, und Wasserdschinnen abweisen. Feuerdschinnen konnten sie erst nach mehrmaligem Gegenstoß schwächen. Womöglich konnten auch die wegen unerfüllter Bußleistungen von Allah in der Welt zurückgelassenen Seelen nicht dort eindringen.

"Los, hinter denen her, zusehen, was die machen!" rief einer der Überlebenden und wollte seinen Teppich antreiben, aufzusteigen. Doch das Flugartefakt sank ganz zu Boden. Es war überladen.

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Kanoras freute sich. Sein Blutriese war stärker als die Kristallstaubkrieger. Er konnte seinem Gefangenen die Lebens- und Zauberkraft entreißen. Er fühlte es sogar, dass der Blutriese dabei auch etwas von einer anderen, schlummernden Kraft in sich aufsog. Dies regte den Blutriesen wohlig an. Kanoras ließ ihn gewähren, auch den zweiten, den dritten und den vierten gefangenen Kristallstaubvampir auf diese Weise zu vernichten. Sobald er deren Lebenskraft in sich aufgesaugt hatte trockneten deren Körper und schrumpften zu kleinen, zwölfseitigen Kristallen zusammen. Dann nahm sich der Blutriese auch den fünften Krieger vor. Ihn schaffte er nun mit der dreifachen Geschwindigkeit wie den allerersten.

"Lass die Kristalle liegen. Sie sind für dich und alle anderen unberührbar!" befahl Kanoras seinem Diener. Dieser wurde wieder zu schwarzem Nebel und zog sich durch die Deckenspalte zurück. Da durchlief den Berg ein Beben. Kanoras erfasste, dass es durch zwei sich bekämpfende Zauber erzeugt wurde und frohlockte, weil der Narr, der den Angriffszauber gewirkt hatte selbst von dessen Auswirkungen betroffen wurde. Als deren Schutzzauber brachen hatten die schattenhaften Raubkatzen leichtes Spiel mit ihnen. Doch die Seelen der fünf bekamen sie so nicht, weil diese durch die Besinnungslosigkeit ihrer Körper den Todesmoment nicht mitbekamen und somit ohne schmerzvollen Übergang in die Nachlebenform wechselten.

Der Blutriese kehrte in Kanoras' Höhle zurück und freute sich über seine Beute. Kanoras erspürte die von den Kristallstaubvampiren abgesaugte Kraft und erkannte, dass sie von einem weiblichen Wesen stammen musste. Da erkannte er, dass die fünf von der Kraft einer mächtigen Zauberkundigen durchdrungen waren, die sicher noch irgendwo hockte, um ihre Gehilfen aus der Ferne zu lenken. Deshalb sagte er: "Das hast du sicher nicht erwartet, widerliches Weibsstück, dass deine Krieger meinem mächtigsten Krieger doch nicht gewachsen sind, wie?" Er fühlte, dass seine Botschaft an einer fernen Stelle ankam. Doch er erhielt keine direkte Antwort. Statt dessen fühlte er, wie eine ihm fremde Kraft in jenem Teil der Höhle frei wurde, wo die fünf Blutsauger gewesen waren. Kanoras streckte seine geistigen Fühler aus und erkannte, dass fünf neue Kristallstaubträger in der Höhle erschinen waren. Das gefiel ihm nicht. Denn er war es gewöhnt, dass niemand auf magische Weise aus dem Nichts heraus in sein Reich eindringen konnte. Die Barrieren waren unüberwindlich.

"Hol sie dir, Blutriese!" schickte er einen Gedankenbefehl an seinen treuen Diener aus. Dieser zerfloss wieder zu schwarzem Dunst und jagte wie ein Dampfstrahl durch den Zugang hinaus und durch die geschaffenen Kanäle in die Höhle hinüber. Doch als der Blutriese auf halbem Weg war verschwanden die fünf Neuankömmlinge. Kanoras argwöhnte, dass ihre Anführerin wohl nur prüfen wollte, ob sie ihre Truppen auf diese Weise in den Berg schaffen konnte. Er befahl den Blutriesen sofort zurück. Da geschah es auch schon.

Aus sich in den großen Raum hineindrängenden Wirbeln dunkler Zauberkraft traten fünf durch Unlichtkristallstaub verstärkte Feinde mitten zwischen die fünf blauen Feuer. Der Blutriese war noch nicht zurück. Kanoras fühlte die Kraft vollständiger Unlichtkristalle. Jeder der fünf hatte einen solchen dunklen Zwölfflächler in der Hand. Er sah mit seinen aus der vereinten Gehirnmasse ausgefahrenen Stielaugen, wie die fünf die Kristalle zielgenau in die blauen Flammen warfen. Diese erstarrten einen Moment. Kanoras fühlte die plötzliche Kraftzunahme. Dann dehnten sich alle fünf blauen Feuer schneller als ein Blinzeln in alle Richtungen aus, wurden zu einem den ganzen Raum ausfüllenden Flammenmeer. Kanoras fühlte die heftige Schwingung in seiner schützenden Hülle, die gegen alle Formen von Gewalt, Zauberkräften und auch körperlosen Wesen schützte. So hielt sie auch die blaue Feuersbrunst von ihm ab. Doch die fünf Kristallstaubwesen schrien laut auf, als die Flammen sie verzehrten. Das blaue Feuer, eine finstere Verkehrung des ewigen Kernfeuers im glühenden Bauch von Mutter Erde, nährte sich wie die Flammen der Dunkelheit von allen das Licht verdrängenden Zauberkräften. Zugleich war Kanoras mit den fünf Feuerquellen verbunden und konnte durch diese darin verbrennende Wesen ihrer Seele berauben und die so erbeuteten inneren Wesenheiten in seine Diener verwandeln. Genau das tat er jetzt auch. Er dachte die Worte, die seine Opfer zu seinen Dienern machten und fühlte, wie diese ihm unterworfen wurden.

Er fühlte einen gewissen Schmerz und eine starke Verärgerung in den Seelen der gerade unterworfenen. Das waren nicht die Seelen der Getöteten, sondern deren Anführerin, deren Kraft trotz der Umwandlung noch in den neuen Schattenwesen steckte.

"Das wirst du schon bald bereuen, Schattenspieler!" hörte er aus den Seelen der Umgewandelten eine sehr zornige Frauenstimme klingen.

"Du wirst es bereuen, Gooriaimiria", tönte Kanoras. Je mehr ich von deinen Dienern vertilge, desto mehr gehörst du selbst mir", fügte er noch hinzu. Denn nun wusste er, wie sich seine Feindin nannte. Er wusste auch, dass sie ähnlich wie er keinen Körper aus Fleisch und Blut mehr besaß. Und sie konnte ihre in ihre Diener eingewirkten Kräfte nicht zurückziehen. Ja, je mehr er von denen einfangen konnte, desto mehr hatte er von ihr, freute sich der Schattenträumer.

Die feuersbrunst ebbte wieder ab und zerfiel in die fünf seit Jahrtausenden brennenden blauen Feuerquellen, die darauf warteten, weitere Körper zu verzehren.

Als der Blutriese wieder zurückkehrte befahl Kanoras ihm, hier in der Höhle zu bleiben, falls weitere kristallstaubträger hier ankommen sollten. Denn noch einmal würde die Gegnerin sicher nicht versuchen, die fünf Feuerstellen mit Unlichtkristallen auszulöschen. "Wir erwarten deine Diener, Gooriaimiria", sprach Kanoras zu seinen neuen Gefolgsleuten. "Meine neuen Diener sind schon ganz gierig, weitere Brüder zu erschaffen." Diesmal bekam er sogar eine Antwort:

"Du wirst diese Nacht nicht überleben, Schattenspieler. Denn jetzt weiß ich, wo dein Reich ist und werde dich vernichten."

"Ich werde dein Reich zuerst finden und deine früheren Diener aussenden, dich zu vernichten", erwiderte Kanoras. Danach folgte keine Antwort mehr. So befahl er seine anderen Schattendiener zu den neuen Ausgängen. Sie sollten hinaus ins Freie, wenn das letzte Dämmerlicht verloschen war und neue Opfer herbeischaffen, bevor die Feinde mit den Kraftausrichtern die neuen Zugänge fanden.

Als seine weiteren Diener losgezogen waren, um sich an den neuen Ausgängen zu postieren, erlebte er jedoch eine herbe Enttäuschung. Der Kampf mit den Kristallstaubvampiren hatte ihn von seinen Feinden vor dem Berg abgelenkt. Diese waren nicht untätig geblieben und hatten alle vier neuen Ausgänge gefunden und mit mehrfach gestaffelten Sonnenlichtmauern versperrt. Die Schattendiener kamen nicht einmal auf zwanzig ihrer Längen an die Ausgänge heran, ohne zu zerfließen zu drohen. Kanoras brüllte wütend auf, als er das erfuhr. Seine Feinde hatten es wahrhaftig geschafft, ihn für diese Nacht an einem neuen Angriff zu hindern. Er musste neue Ausgänge schaffen. Doch das würde die halbe Nacht dauern. Also musste er im Süden seines Berghöhlenreiches den Durchbruch ins Freie schaffen. Das sollten die ihm aber bitter büßen. Andererseits war er auch wütend auf sich selbst, dass er nicht schon vor Zeiten mehrere Ausgänge hatte schaffen lassen, um immer einen Durchgang ins Freie zu haben. Aber wie waren die Feinde darauf gekommen, die harmlos schmalen Felsspalten und -löcher als seine neuen Ausgänge zu erkennen? Die Antwort war, dass sie wohl die dunklen Kräfte erfasst hatten, die zum Öffnen dieser Ausgänge benutzt worden waren. Diese Erkenntnis half Kanoras jedoch nicht weiter. Er war vorerst handlungsunfähig und diesmal sogar bei vollem Bewusstsein.

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Gooriaimiria brüllte ihre Wut hinaus in die Unendlichkeit. Kanoras hatte zehn ihrer Krieger erledigt. Er hatte sogar fünf davon zu seinen Dienern gemacht. Als sie fand, dass sie ihm ihre Verärgerung verdeutlicht hatte, schirmte sie sich wieder weit genug ab, dass Kanoras nur ihre restliche Kraft in seinen neuen Dienern wahrnehmen konnte. Auf den Gedanken, die Verbindung zu den Seelen ihrer früheren Diener zu lösen kam sie nicht. Nein, sie wollte Kanoras unter Beobachtung halten und vor allem, das genaue Ziel erfasst halten, wenn sie ihren nächsten Angriff gegen ihn führte.

Als sie es wagte, durch die Augen einer lebenden, nicht mit Kristallstaub imprägnierten Dienerin zu sehen fühlte sie durch diese und ihre anderen Diener in New York und Umgebung, wie eine Welle aus heller Zauberkraft für einen winzigen Moment über die Riesenstadt flutete und von mehreren Stellen zurückgeworfen wurde. Dann war es auch schon wieder vorbei. Die schlafende Göttin überlegte, wer da so eine starke, sich wie das vermaledeite Feuer der Sonnenkinder verbreitende Kraft aufbieten konnte und erkannte, dass es nur die verhasste Trägerin des silbernen Kreuzes sein konnte, die es schaffte, ihre Kristallstaubvampire zu entmachten und deren Seelen aus ihrer Gewalt zu befreien. Ja, die musste das gewesen sein. Dann ging ihr auf, dass die Feindin ihr wohl ungewollt einen großen Gefallen erwisen hatte und die Rivalin und ihre Brut erledigt haben musste. Falls das stimmte hatte sie es nur noch mit Kanoras und dem sich Iaxathan anbiedernden Idioten zu tun, der sich Lord Vengor nannte. So beschloss sie, erst das für sie größere Ärgernis Kanoras zu erledigen, sobald ihre Vorbereitungen abgeschlossen waren.

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30. November 2002

Maria Valdez erwachte mit dumpfem Pochen im Kopf. Ihre Augenlider wirkten tonnenschwer. Dann merkte sie, dass ihr etwas im Mund steckte, etwas wie das Mundstück einer Sauerstoffflasche. Außerdem fühlte sie irgendwie, dass sie gerade unbekleidet war. Offenbar hatte jemand sie komplett ausgezogen und ihr dabei alles weggenommen. Alles? Sie versuchte, ihre Arme und Beine zu bewegen. Dabei merkte sie, dass sie mit irgendwas an einer festen Unterlage gefesselt war. Das trieb ihr das Adrenalin ins Blut und machte sie schlagartig hellwach. Sie riss ihre Augen auf und sah sich um.

Sie lag wohl auf einer glatten Unterlage, hart wie Stein oder Holz, nur durch etwas dünnes gepolstert. Sofort dachte sie an einen Tisch. Als sie den Raum betrachtete, in dem sie lag fielen ihr gleich drei Sachen auf: Der Raum war klein. Er besaß kein einziges Fenster, sondern nur eine verschlossene Holztür. Ein blutrotes Licht glomm aus mehreren winzigen Leuchten an der Decke und verlieh dem Raum eine gespenstische wie anregende Atmosphäre.

Maria fühlte, dass was immer sie im Mund hatte mit zwei straff um ihren Kopf gebundenen Bändern verbunden war, so dass sie es nicht abschütteln konnte. Sie konnte ihren Kopf gerade so bewegen, dass sie an sich hinuntersehen konnte. Das bestätigte ihren ersten Eindruck. Sie war völlig nackt. Alles, was sie am Körper getragen hatte war weg. Besonders erschreckte sie, dass jemand ihr silbernes Kreuz fortgenommen hatte, ihren Talisman, mit dem sie gegen böse Zauber und Zauberwesen kämpfen konnte. Ebenso fehlte ihr nun auch das Drachenhautmieder, dass mit einer Schutzbezauberung gegen körperliche Angriffe versehen war und ihre Strumpfhose, die ein Portschlüssel war, mit dem sie im Gefahrenfall hatte verschwinden wollen. Man hatte sie nicht nur entblößt, sondern völlig wehrlos gemacht.

Das in ihrem Mund steckende Mundstück war mit einem ziehharmonikaartig geformten Gummischlauch verbunden. Dieser führte in eine metallische Vorrichtung, die aus zwei waagerechten Zylindern zu bestehen schien. Von jedem Ende eines Zylinders führte ein dünnerer Schlauch zu je einem trichterförmigen Saugnapf. Maria Valdez versuchte, zu rufen. Doch die in ihrem Mund steckende Vorrichtung war ein vortrefflicher Knebel.

All das erweckte starke Gefühle von Wut, aber vor allem Hilflosigkeit und Angst in ihr. Sie war in eine Falle getappt und lag nun wortwörtlich auf einem Präsentiertisch. Die aufkommende Angst drohte zur Panik zu werden. Nur Marias jahrelang geschulte Selbstbeherrschung verhinderte das. Sie musste klar denken, durfte sich nicht als hilfloses Opfer zeigen. Sie dachte daran, dass sie eigentlich nur von magisch beeinflussten neuartigen Vampiren ausgegangen war. Doch das war offenbar ein fataler Trugschluss gewesen. Spätestens die Tatsache, dass ihr von wo auch immer Kugeln um die Ohren gepfiffen waren und sie nur ihrer Drachenhautausrüstung verdankt hatte, nicht erschossen worden zu sein, war doch ein überdeutliches Zeichen gewesen, dass sie es nicht nur mit Zauberwesen zu tun hatte. Dann war sie von einem geruchlosen Betäubungsgas erwischt worden. Sie fragte sich, ob sie nicht auch gegen sowas einen Schutzzauber hätte haben können. Doch jetzt war es für diese Überlegung zu spät. Blieben nur zwei Erkenntnisse: Die neuartigen Vampire, die von einer geheimnisvollen "Sie" gesprochen hatten, arbeiteten mit gewöhnlichen Gangstern zusammen, die ganz frei von magischem Einfluss handelten. Nur deshalb war es denen wohl möglich gewesen, ihr das silberne Kreuz, Ashtarias Erbstück, wegzunehmen. Man hatte sie nicht getötet, obwohl es im Sinne dieser Kriminellen und ihrer Auftraggeber die sinnvollste Lösung bot. War das wirklich die sinnvollste Lösung? Dann erkannte sie mit neuem Schrecken, welchem Zweck der in ihren Mund gesteckte Gummischlauch und die mit diesem verbundene Vorrichtung diente. Nein, sie wollten sie nicht töten. Sie wollten ihr was einflößen, um sie zu einer neuen Dienerin dieser Brut zu machen. Aber warum kam dann nicht einfach einer der Vampire und biss ihr in den Hals, wie es in den einschlägigen Geschichten immer der Weg zur Vampirwerdung war? Dann erinnerte sie sich an die Erwähnungen ihrer zaubererweltlichen Wegführerin, dass Vampire nicht einfach dadurch entstanden, dass Menschen von anderen Vampiren gebissen und um ihr Blut gebracht wurden. Wenn Vampire Nachkommen haben wollten mussten Menschen auch das Blut des sie beißenden Vampirs trinken, um sich zu verwandeln. Ja, und das stand nun wohl ihr bevor, dachte Maria Valdez. Es wäre also eine Verschwendung gewesen, sie zu töten. Diese Erkenntnis drohte ihre mühevoll nidergehaltene Angst zur Panik ausufern zu lassen. Maria wusste, dass sie von hier ohne fremde Hilfe nicht wegkam. Sie war diesen Monstern und ihren normalsterblichen Handlangern ausgeliefert. Wie lange würden die Bestien damit warten, bis sie ihr das antaten, was sie sich ausmalte? Wenn sie sadistisch genug veranlagt waren konnte das Tage dauern, Tage, in denen sie ihr immer wieder vorhalten würden, wie hilflos sie war. Noch peinigender war, dass sie in diesem Raum nichts hatte, woran sie die Tageszeit ablesen konnte. Denn auch ihre Armbanduhr hatten sie ihr weggenommen. Ebenso wusste sie nicht, ob seit der Betäubung erst Minuten oder bereits mehr als ein Tag verstrichen waren.

"Die Hoffnung stirbt zum Schluss", dachte sie immer wieder, um nicht in panische Angst zu verfallen. Solange sie noch einen freien Willen hatte bestand zumindest die Hoffnung, die erste sich bietende Gelegenheit zu nutzen, vielleicht doch noch freizukommen.

Ihre krampfhaft aufrechterhaltenen Gedanken an eine irgendwie mögliche Rettung wurden von dumpfen Schrittgeräuschen durchbrochen. Sie lauschte. Hier in diesem Raum, wo außer ihr nichts war, klangen selbst die leisesten Geräusche wie Lärm. Sie erkannte die Schritte als die von gewichtigen Männern. Dann hörte sie durch eine dicke Wand gedämpfte Stimmen. Es war schwer, einzelne Wörter zu verstehen. Doch es gelang, zumindest zu erkennen, dass es Männer aus New York waren, dem Akzent nach Hispanoamerikaner. Dann hörte sie noch eine Stimme, die eines älteren Mannes, der anders als die anderen eine gehobene Ausdrucksweise pflegte. Der Mann sagte: "Sie muss wach und bei vollem Bewusstsein sein, die Herren. Ich hoffe, Ihr Narkosegas hält nicht zu lange vor."

"Nöh, Mister B., das Zeug klingt nach 'ner halben Stunde wieder ab, wenn's nicht dauernd in 'nen Raum geblasen wird. Die Lady dürfte gerade wieder aufwachen. Könnte sich glatt bepissen, wenn die merkt, was wir mit der gemacht haben."

"Dann sollten wir sie nun herüberrufen, bevor dieses Malheur wahrhaftig eintritt", grummelte der Mann, der wohl eine bessere Schulbildung erhalten hatte als die anderen.

"Wie Sie meinen, Jefe", sagte einer der Hispanos.

"Vor allem zerstört ihr die von ihr getragenen Sachen. Ich gebe ihr nun bescheid. Sie beide gehen rüber und helfen ihr!""

"Wem, der Lady auf dem Tisch oder der mit den Megamöpsen?" fragte einer der anderen gehässig.

"Für das Geld, dass Sie von mir erhalten sollten sie ein wenig mehr Anstand zeigen, solange Sie mit mir zu tun haben", tadelte der Mensch mit der gehobenen Bildung. Dann ging die Holztür auf, und drei Männer traten ein.

Maria konnte den Schamreflex nicht unterdrücken, weil die drei sie so sahen, wie ihr Herrgott sie erschaffen hatte. Sie fühlte die Hitze des Errötens auf ihren Wangen. "O, sie ist echt schon wach, Mister B.", feixte einer der beidenund deutete auf Maria Valdez.

"Dann keine Zeit vertun, Gentlemen!" befahl der Mann, der einen weinroten Smoking und eine schwarze Seidenfliege trug. Maria erkannte ihn sofort. Es war William Bradfield, ein New Yorker Privatier, der durch erfolgreiche Börsenspekulationen mehrere hundert Millionen Dollar angesammelt hatte. Die zwei anderen Männer kannte sie nicht. Es waren aber eindeutig Latinos.

"Schön, dass Sie wieder bei uns sind. Dann kann sie endlich das große Willkommen zelebrieren", sagte Bradfield. Die zwei angeheuerten Gangster grinsten schadenfroh. "Sicher würden Sie mich jetzt gerne sehr viele Sachen fragen oder mir die wüstesten Beschimpfungen an den Kopf werfen. Aber glauben Sie mir, das wäre nur pure Energie- und Zeitvergeudung. Sie werden es verstehen, wenn auch sie von ihrer Nährenden Milch gekostet haben werden", sagte Bradfield und lächelte. Da konnte Maria die spitzen Eckzähne sehen, die jedoch noch nicht so lang waren wie bei den Vampiren, denen sie bisher begegnet war.

"Gib bitte den Weg frei!" klang nun eine tiefe, befehlsgewohnte Frauenstimme aus dem dunklen Gang hinter der Tür. Will Bradfield trat gehorsam zur Seite.

Maria konnte nicht anders, als wie gebannt auf die Erscheinung zu starren, die nun durch die Tür kam. Es handelte sich um eine hochgewachsene Frau, deren Füße in blutroten Filzpantoffeln steckten, deren Beine nackt und kahlrasiert waren und das rote Licht der kleinen Leuchten vollständig widerspiegelten, als seien sie kalkweiß. Statt eines Rockes trug die andere einen Lendenschurz. Um ihren Brust- und Bauchbereich hing eine rubinrote Lederschürze. Das Gesicht der Unbekannten schimmerte in einem blassrosa Farbton. Es war schmal und von einer schlanken Nase und zwei kreisrunden dunkelbraunen Augen bestimmt. Ihr Haar war schulterlang und tiefschwarz. Als die andere sah, wie Maria sie ansah lächelte sie und entblößte zwei messerscharfe Fangzähne im Oberkiefer. Maria wollte die Augen schließen, um nicht von einem hypnotischen Blick gebannt zu werden. Da lupfte die andere ihre Lederschürze. Darunter trug sie nichts, so dass ihre überbordende Oberweite zu erkennen war. In diesem Moment wurde Maria klar, was genau ihr bevorstand.

"Du möchtest mich nicht ansehen?" fragte die andere mit einer unheilvoll sanften Stimme. "Das ist auch nicht nötig. Meine Gabe erhältst du sowieso, ob du mich dabei ansiehst oder nicht. Ihr zwei Kleinhirne, macht die Sauger fest, aber wehe, ihr macht einen Handgriff zu viel!" befahl sie und deutete auf die zwei Gangster. Maria erkannte, dass wegzusehen nichts mehr bringen würde. Am Ende konnte sie noch hoffen, dass dieses übermäßig ausgestattete Frauenzimmer sie doch noch mit einem Unterwerfungsblick bannte. Nein, sie wollte ihren freien Willen behalten. So sah sie statt der Vampirin die zwei Gangster, die gerade die zwei glockenförmigen Saugnäpfe nahmen und sie behutsam anschlossen. Maria fühlte Hilflosigkeit, Wut und Ekel, wenn sie sich vorstellte, dass sie gleich einem pervertierten Stillvorgang unterzogen werden sollte, um die sicher mit dem Vampirkeim verseuchte Milch oder was auch immer dieses Weib da bereithielt eingeflößt zu bekommen. Sie dachte ein letztes Gebet an ihre Namensgeberin im christlichen Glauben und bat um Vergebung aller Sünden, die sie bisher begangen hatte und hoffte auf die Gnade der himmlischen Mutter, ihr das Schicksal, zum Milchkind einer Höllenkreatur zu werden, zu ersparen. Dann hatten die zwei Latinos die zwei Saugnäpfe an den Brustwarzen der Vampirin angebracht und traten zurück. "Setz die Vorrichtung in Gang, mein erster Zögling!" befahl die Unheimliche Will Bradfield. Dieser nickte und trat an den Tisch.

"Ihr zwei macht, was mein Zögling euch gesagt hat. Vor allem dieses widerwärtige Ding, mit dem sie meinen vierten Zögling gepeinigt hat, muss weg. Bringt es so weit wie möglich weg von hier und zerstört es!" schnaubte die Unheimliche. Maria fühlte, wie sie gleich in totaler Panik und Angewidertheit ertrinken würde. Sie versuchte noch, sich aus den Fesseln zu lösen. Doch die saßen zu fest und zu sicher. Da setzte bereits das ihr Ende als Menschenfrau verheißende Saugen und Surren der Pumpvorrichtung an. Sie fühlte die Luft aus dem Schlauch in ihren Mund eindringen und ihre Wangen aufblähen. Sie konnte nicht anders als die Luft durch die Nase wieder auszustoßen. Dann fühlte sie die ersten Tropfen jenes für sie verheerenden Sekretes warm und etwas prickelnd auf der Zunge.

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Sie stand in einem kreisrunden Raum, der gut und gerne hundert Meter durchmessen mochte. Eine Steindecke wölbte sich über sie. In der Mitte hing eine kopfgroße Lichtkugel, die gerade weißgelbes Licht ähnlich der am Himmel stehenden Sonne aussandte. Was sie unmittelbar nach dem Verlassen der orangeroten Feuerkugel fühlte waren im Raum verteilte Erdzauber, die wie versteckte Raubtiere auf Beute lauerten. In der Mitte des Raumes standen ein hufeisenförmiger Tisch und ein hochlehniger gepolsterter Stuhl, fast schon ein Königsthron zu nennen. Auf dem Stuhl saß der, den sie suchte, Hironimus Pickman, der Meister der schwarzmagischen Malkunst. Er trug einen vielfarbigen Umhang und um den Hals eine glitzernde Kette mit kleinen bunten Steinen daran, die aus sich selbst leuchteten und mit ähnlichen Steinen auf dem hufeisenförmigen Tisch in einem wechselnden Lichterspiel glühten. Zwischen ihm und Anthelia lagen noch dreißig Schritte.

"Verdammt, wie bist du hier reingekommen!" fauchte Pickman und grabschte nach einem silberfarbenen Stein auf dem Tisch. "Egal, verreck, du Miststück!"

"Hironimus Pickman, dein wirken endet hier und jetzt", sagte Anthelia/Naaneavargia. Jetzt schien Pickman sie zu erkennen. Ein kurzes Zucken verzog sein wütendes Gesicht. Dann berührte er mit dem silbernen Stein seinen Zauberstab. "Treue Diener, tötet die Unerwünschte!"

"Congelanto Omnimagines!" erscholl eine entschlossene Frauenstimme jenseits der massiven Tür. Das brachte den Hufeisentisch zum erzittern. Grüne Funken flogen aus der Tischplatte heraus und vergingen leise knisternd in der Luft. Pickman kümmerte das offenbar nicht. Anthelia erkannte auch sofort warum. Denn aus den wänden neben den scheinbaren Fenstern, die alle eine andere Aussicht boten, schälten sich fünf gigantische, im Licht der magischen Sonnenkugel silbern spiegelnde Gestalten mit vier Armen heraus. Sie sahen Gedrungen aus und stampften auf säulenartigen Beinen heran. Die vierfingrigen Hände an den Enden der langen, mit drei Gelenken versehenen Arme glühten auf.

"Ah, du hast dir die legendären Spiegelgolems von Reza Amahdei, dem persischen Golemmeister nachgebaut", stellte Anthelia fest. Sie wusste, dass diese Ungetüme die mit Abstand tödlichsten Kunstgeschöpfe waren und vor allem nicht mit den üblichen Golemvernichtungsbannen zu treffen waren, weil ihre Außenhaut alles Licht und von Licht getragene Zauber auf den Ursprung zurückspiegelte. Deshalb konnte ihnen auch kein offenes Feuer beikommen. War das Schwert also auch wirkungslos? Anthelia wollte es nicht darauf ankommen lassen. Sie hob ihren Zauberstab, den sie noch in der linken Hand hielt und dachte schnell die fünf Worte des freien Fluges. Sie stieß sich vom Boden ab und stieg senkrecht nach oben. Die mit laut klirrenden Schritten auf sie zustampfenden Spiegelgolems rissen ihre Arme nach oben. Zwischen den Händen flogen blaue Funken und wurden zu einem dichten Lichtbogen. Die wollten wahrhaftig ihre mörderischen Blitze auf sie schleudern, dachte Anthelia. Pickman indes griff nach einem linsenförmigen Körper und blickte hindurch. Dann stieß er eine wilde Verwünschung aus. "Wie kann sie das. Dafür wird sie sterben!"

Anthelia beschwor in Gedanken die Schutzkraft der Flammenklinge. Dann besann sie sich auf ihre übersinnliche Gabe, Gedanken aus mehr als hundert Metern Entfernung zu hören, sofern sie nicht durch Okklumentik verhüllt wurden. Ja, da erfuhr sie, dass vor der Tür Theia Hemlock aufgetaucht war und gerade die Armee der aus ihren Bildern gequollenen Ungeheuer mit einem mächtigen Zauber hatte erstarren lassen, den Anthelia noch nicht kannte. Auch Pickman hatte das wohl erkannt. Doch jetzt trat Theia gerade auf eine Bodenstelle, die unvermittelt zu Treibsand wurde. Innerhalb einer Sekunde war sie mit dem rechten Bein bis zum Knie versunken. Anthelia wusste nun, welche Fallen hier in diesem und wohl auch im Nebenraum lauerten. Doch im Moment ging es gegen die silbernen Golems.

Als laut krachend die ersten blauen Blitze zu ihr überschlugen ruckte das Schwert in ihrer Hand. Seine lodernde Flammenklinge verfärbte sich dunkelrot. Die ihr geltenden Blitze wurden wie von einem Magneten von der Klinge angezogen, noch ehe sie Anthelias Körper treffen konnten. Prasselnd flogen blaue Funken aus der flammenden Schwertspitze heraus. Weitere krachende Entladungsblitze zuckten aus den Händen der Golems, die sich gerade unter der frei in der Luft schwebenden Hexenlady zusammenrotteten. All zu lange konnte sie so nicht ausharren. Außerdem erfasste sie einen Gedanken Pickmans, der es offenbar nicht für nötig hielt, zu okklumentieren. Er wollte warten, bis die Golems sich genau unter der Feindin zusammengestellt hatten, um sie dann mit vereinter Kraft aus der Luft herunterzuschießen und dann, wenn sie aufschlug, in Stücke zu zerreißen. Er wollte die Golems dann zu der anderen Feindin schicken, die durch den plötzlichen Erdaufweichungszauber bei Berührung mit lebender Materie ankämpfen musste. . Er rief triumphierend: "Siehst du die Frau im Moore winken, wink zurück und lass sie sinken!"

"Dir fehlt der rechte Umgang mit Damen, Hironimus Pickman!" rief Anthelia, die sich über die unter ihr zusammenkommenden Golems hinwegbewegte und auf Pickman zutrieb. Dieser erkannte jetzt wohl, dass sie nicht einfach einen Schwebezauber benutzte, sondern wahrhaftig frei und ohne Flügel flog. Sowas hatte er bisher nur bei zwei Zauberern erlebt: Dem dunklen Lord und Severus Snape. Er legte schnell die magische Linse ab und riss den Zauberstab hoch. Anthelia wusste, dass er nun den Todesfluch wirken würde. "Avada Kedavra!" rief er. Anthelia hielt beim zweiten Wort die alle Blitze ansaugende Klinge in die direkte Zauberstabausrichtung. Der grellgrüne Blitz aus Pickmans Zauberstab sirrte auf sie zu und traf auf die Klinge, die grün aufflammte und scheinbar noch einige Zentimeter wuchs, bevor sie für einen Moment erlosch. In dem Moment traf Anthelia einer der Blitze und versetzte ihr einen elektrischen Schlag. Jedes andere Lebewesen wäre davon sicher gelähmt oder getötet worden. Doch die Tränen der Ewigkeit vereitelten das. So blieb nur ein kurzer, heftiger Schmerz und Hitzestoß und dass Anthelias Haarschopf knisternd zu Berge stand. Dann loderte die Flammenklinge wieder auf und fing die nächsten Blitze auf.

Anthelia schwirrte nun förmlich über Pickman hinweg und landete unmittelbar so, dass die Golems erst einmal um den Tisch herumlaufen mussten, wollten sie nicht ihren eigenen Meister treffen.

"Es ist vorbei, Hironimus Pickman!" rief Anthelia. Da fühlte sie, wie unter ihr der Boden nachgab. Sie knurrte nur verächtlich. Sie ließ den Zauberstab nach unten schwingen und stieß die Worte der freiheit der Erde aus. Mit lautem Rumpeln erzitterte der Boden. Grüne und rote Lichtfontänen schossen an verschiedenen Stellen aus dem Boden heraus und verpufften sogleich wieder.

"Was?!" brüllte Pickman. Noch einmal bebte die Erde, jedoch etwas schwächer. Dann passierte was, womit Pickman nicht gerechnet hatte und Anthelia ein überlegenes Lächeln abrang.

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Kanoras' Diener gruben und brachen sich weit im Süden neue Wege ins Freie. Kanoras erkannte mit gewisser Verstimmung, dass sie so weit von ihm weg waren, dass die in der Nähe seiner Heimstatt wirkenden Kräfte in den Wänden fehlte. So waren sie genauso auf freigeräumte Gänge angewiesen wie lebende Wesen. Er erfasste, dass es also mit einer halben Nacht nicht getan sein würde. Diese verfluchten Fleischlinge hatten ihn wahrhaftig in seiner eigenen Höhle gefangengesetzt.

Die Sonne war versunken, die Dämmerung glomm noch im Westen, als Kanoras an seinen neuen Dienern fühlte, wie etwas zu ihm vordrang. Er wusste sofort, was das war. Die sich selbst große Mutter der Nacht nennende Feindin griff wieder an.

Zwanzig wild wirbelnde Strudel aus Kanoras' Dienern artverwandter Zauberkraft brachen aus dem Nichts heraus in die große Höhle ein, die Kanoras' Heimstadt war. Zwanzig Männer, die zum gutteil von der geistig-magischen Essenz ihrer Anführerin durchdrungen waren, standen nun mitten im Raum. Nein, es waren keine gewöhnlichen Menschen, sondern die Nachkommen der von Iaxathan erschaffenen Kinder der Nacht.

Einer der Neuankömmlinge drückte einen unbezauberten Gegenstand gegen die durchsichtige Schutzkuppel und zog etwas davon ab. Sofort ging das Ding in hellen, heißen Flammen auf, die Kanoras die direkte Sicht auf das Geschehen verwehrten. Doch seine Diener sahen die Angreifer. Der Blutriese fiel über den größten von ihnen her und saugte ihm blitzschnell alles Blut, das Leben und die Seele aus. Kanoras vermeinte, Schmerzenslaute einer Frau zu vernehmen. Die anderen neuen Diener folgten dem Beispiel ihres übergroßen Artgenossens und stürzten sich auf fünf weitere Eindringlinge. Die anderen versuchten, mit lodernden Fackeln an langen Stangen auf die Schattendiener einzuschlagen. Das führte auch dazu, dass diese gelähmt und zu einem winzigen Teil angeschmolzen wurden. Doch Kanoras' Diener antworteten schnell auf diese Angriffe, indem sie schneller als ihre Gegner auswichen. Dann kamen weitere Schatten aus den Gängen und fielen über die Feinde her. Kanoras' Befehl war eindeutig: "In die Flammen mit den Feinden!"

Die Eindringlinge verbrannten schlagartig in den blauen Flammen. Kanoras verband ihre freigesetzten Seelen mit sich und gewann dadurch noch mehr von Gooriaimirias eigener Grundkraft. Jetzt konnte er fühlen, wo ungefähr sie war. Er meinte, ein immer festeres Band zwischen sie und sich zu knüpfen. Als noch einmal zwanzig abtrünnige Nachtkinder in seiner Höhle erschienen und vom Blutriesen, den neuen Schattenvampiren oder den blauen Flammen erledigt worden waren empfand Kanoras die endgültige Gewissheit, seine Feindin gleich ein für alle mal zu besiegen. "Ich gewähre dir die Gnade, dich freiwillig in meine Gewalt zu begeben und dich mit mir zu vereinen, auf dass wir beide zum Beherrscher aller Nachtkinder werden", schickte Kanoras eine Gedankenbotschaft aus.

"Schön, genau das wollte ich gerade dir anbieten. Scheint mir, dass doch schon mehr von meinen Gedanken zu dir durchdringen als gedacht", bekam er nun die direkte Antwort Gooriaimirias.

"Das glaubst aber auch nur du. Je mehr deiner Diener zu meinen Dienern wurden, desto mehr von dir habe ich schon einverleibt. Den Rest nehme ich mir auch, wenn du dich nicht freiwillig unterwirfst", tönte Kanoras. Da hörte er aus der Ferne eine wütende Gedankenstimme, die Stimme Iaxathans:

"Kanoras, du Narr. Sie will dich überrumpeln. Setz sofort alles von ihr frei, was du dir schon einverleibt hast!"

"Herr und Meister, warum? Ich habe genug von ihr, um ihren Geist an mich zu reißen. Das werde ich jetzt tun", widersprach Kanoras dem Befehl seines einzigen wahren Herren und Meisters.

"Da kann ich doch nur laut wiehernd lachen wie das große Pferd von Laertis' listenreichem Sohn", klang Gooriaimirias Gedankenstimme zur Antwort. Kanoras fragte sich, wer das sein sollte, Laertis' listenreicher Sohn. Doch sicher wollte sie ihn nur hinhalten. Deshalb wartete er, bis weitere zwanzig Diener Gooriaimirias erschinen waren, die noch schneller überwältigt wurden. Wieso wollte die es nicht wahrhaben, dass sie ihn so nicht besiegen konnte?

"Weil ich dich schon besiegt habe, Schattenspieler", bekam er auf seinen nicht nach außen gesandten Gedanken eine Antwort. Er stutzte. Wieso konnte sie seine Gedanken ... Ja, sie wusste über seine Diener, was er dachte. Jetzt ging ihm auf, was sie vorhatte. Mit jeder weiteren Verbindung zwischen ihm und ihr erfuhr sie mehr über ihn. Er wollte das ausnutzen, um auch mehr über sie zu erfahren und jagte seine Geistesströme der immer stärkeren Verbindung entlang durch Raum und Zeit. Als er ein großes, blutrot leuchtendes Frauengesicht mit zwei spitzen langen Fangzähnen sah wollte er durch dieses Gesicht hindurch an die Erinnerungen und Gefühle der Feindin langen. Da fühlte er den plötzlichen Ruck an seinem eigenen inneren Selbst. Er sah noch, wie seine neuen Schattendiener unvermittelt in einem gewaltigen Strudel verschwanden, der auch ihn selbst in sich einzusaugen schien. Doch in Wirklichkeit war es die direkte Verbindung mit der Feindin, die ihn auf sie zuriss. Er schrie aus Wut und angstvoller Erkenntnis auf. Dann fühlte er sich plötzlich leicht und schwerelos. Er war aus seinem mächtigen Körper herausgerissen worden.

Kanoras versuchte, sich aus dem Sog zu lösen, der ihn in einen tiefschwarzen Schacht zog. Er kämpfte dagegen an, wollte Iaxathans letzten Befehl noch ausführen, die von ihm vertilgte Kraft Gooriaimirias freizusetzen. Doch dafür war es schon zu spät. Er fühlte, wie die an seinem Geist zerrende Kraft ihn in zwei Hälften zerriss. Er fühlte, wie sein vereintes Ich sich in die zwei einzelnen Wesenheiten von Karundaria (Lichtjägerin) und Iaimotan (Nachtanbeter) auflöste, jenem Geschwisterpaar, das zehn Jahre vor Iaxathans Sturz den verbotenen Versuch unternommen hatte, Körper und Geist zu einem vereinten, mächtigen Wesen zu verschmelzen. Die beiden zauberkräftigen Geschwister, die zu Iaxathans größten Verehrern gezählt hatten, erkannten, dass ihr Versuch erfolgreich verlaufen war. Doch sie erkannten auch, dass sie ihre Körperlichkeit dafür aufgegeben hatten und schlimmer noch, von einer gnadenlosen Kraft angezogen wurden. Als Karundaria und Iaimotan begriffen, dass sie gerade unausweichlich auf dem Weg in ihre eigene Vernichtung waren schrien sie aus reiner unbändiger Angst auf wie aus Angstträumen aufgeschreckte Säuglinge. Karundaria erkannte als erste die riesenhafte, blutrot leuchtende Gestalt einer Frau. Dann sah auch ihr neben ihr dahinwirbelnder Bruder diese Erscheinung. Sie sahen auch, wie die Unheimliche ihren weit offenen Mund mit den langen Fangzähnen auf sie richtete. Da fanden sich beide auch schon von blutrotem Licht umschlossen in einer kugelförmigen, sich wellenförmig verformenden Höhle wieder. Sie konnten einen kleinen, schattenhaften Körper sehen, den eines Mannes, der wie in einem unsichtbaren Netz gefangenhing und um sich zu schlagen versuchte. "Ihr abgrundtief flohhirnigen Versager. Die hat euch beide wieder in Einzelwesen zerrissen", quäkte das gefangene Wesen. Dann hörten die nach Jahrtausenden wieder in Einzelseelen getrennten Geschwister um sich herum die frohlockende Stimme ihrer siegreichen Feindin:

"Ja, ihr zwei. Jetzt habe ich euch leckeren Happen verschlungen und verdaue euch gleich noch, damit ich alles weiß, was ihr und Kanoras, euer gemeinsames Geisteskind, gewusst hat. Ihr wart einfach zu machtbesoffen, als ihr beide in Kanoras vereint wart." Dann fühlten die zwei neuen Gefangenen der Gooriaimiria, wie sie auf die roten Wände zugezogen wurden. Sie konnten sich nicht dagegen wehren. Mit einem letzten Angstschrei wurden sie gegen die kugelförmige Wand gedrückt und innerhalb weniger Sekunden davon eingesaugt. Dabei konnte jeder der beiden noch einmal sein oder ihr ganzes Leben vor und während der Zeit von Kanoras vorüberjagen sehen. Dann lösten sich die Erschaffer von Kanoras im aus vielen Hundert Seelen bestehenden Gefüge der schlafenden Göttin auf. Sie wurden zu einem weiteren Teil dieser Daseinsform.

Als Gooriaimiria auf einen Schlag alle Macht von Kanoras an sich gerissen hatte fühlte sie, wie auch dessen Schattenkreaturen auf sie zuflogen und in sie hineingerieten. Gleichzeitig erfasste sie, wo die Nimmertagshöhle lag, Iaxathans Versteck. Ja, Iaimotan hatte es von Iaxathan erfahren, weil er ihn zu seinem möglichen Statthalter machen wollte. Sie hörte den wütenden Aufschrei des Dieners der alles endenden Dunkelheit: "Du widerliches Weibsstück! Verflucht sei der Lebenskelch deiner Mutter, der dich ans ebenso verfluchte Licht der Welt gebracht hat! Aber das wirst du mir büßen. Mein Knecht steht bereits vor meiner Heimstatt, bereit, sich mir bedingungslos zu unterwerfen. Deine Tage und Nächte sind gezählt, Mutter aller Dirnen!"

"Das du dich da mal nicht vertust, Flaschengeist. Denn ich kenne jetzt deinen Wohnsitz und werde dir noch in dieser Nacht meine Aufwartung machen. Dein neuer Knecht wird seine Dummheit nicht lange überleben", erwiderte sie. Dann musste sie erst innehalten, weil die vielen über die Verbindung mit den in ihr aufgegangenen Seelen von Kanoras' Erzeugern in sie eindringenden Schatten ihr Gefüge aufwühlten, weil sie nicht so reibungslos darin aufgingen wie wahre Nachtkinder, deren körperliches Ende gekommen war. Sie musste die in sie hineingeschnellten Seelen von niederen Tieren sofort wieder freisetzen, um nicht zu einer rein tierhaft handelnden Daseinsform zu werden. Erst als sie das geschafft hatte und der Feuerlöwe mit einem lauten Knall zweihundert Meter vom Mitternachtsdiamanten entfernt zu dunklem Feuer zerbarst, das das umgebende Wasser schlagartig zu eis gefror, konnte sie sich wieder auf ihre weiteren Vorhaben besinnen. Eigentlich hatte sie vorgehabt, die Schattendiener weiterbestehen zu lassen. Doch die waren alle mit ihrem Herren in ihr vergangen. Also blieben ihr nur die rein körperlichen Helfer, darunter die dreißig letzten Kristallvampire. Zwanzig davon wollte sie sofort zu Iaxathans Versteck schicken, um diesen Vollidioten Vengor noch daran zu hindern, dessen willige Marionette zu werden.

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Die vor der Höhle Kanoras' ausharrenden Zauberer der marokkanischen, ägyptischen und algerischen Kampftruppen, sowie die Brüder des blauen Morgensternes, gingen davon aus, dass Kanoras' Diener trotz der Sperrzauber versuchen würden, auszubrechen. Doch statt dessen erzitterte der Berg unter einer gewaltigen Erschütterung. Die Männer sahen blauen Feuerschein auflodern, der wie das gefürchtete Schmelzfeuer alles zerrinnen ließ, worauf er traf. Doch als die blauen Flammen auf die Sonnenlichtmauer trafen bogen sie sich zurück und wirbelten eine Weile im Eingangsbereich. Dann fielen die Flammen mit lautem Fauchen in sich zusammen. Die Sonnenlichtmauer bog sich nach innen und erzitterte. Dann stürzte der Höhleneingang donnernd und dröhnend in sich zusammen. Ein weiteres Beben erschütterte den Berg. Es dauerte eine volle Minute an. Dann erst verebbte es.

"Bei Allah und dem mächtigen Sulaiman! Die dunkle Kraft ist völlig verschwunden!" rief einer der Zauberer, der jene Messvorrichtung bei sich trug, mit der dunkle Zauberkräfte aufgefunden und bestimmt werden konnten. Sofort wurde er von den anderen umringt. Sie lasen die Anzeigen ab und mussten ihm zustimmen. Im Umkreis von fünfhundert Metern gab es keine Quelle dunkler Zauberkraft mehr.

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Die verwirrenden Widerklänge waren zu zwei klar unterscheidbaren Klängen geworden. Die zehnte Tochter fühlte, dass die Lebenskraftausstrahlung ihres Schöpfers unvermittelt an Stärke zunahm und dann mit einem Schlag verging, bis auf eine schwächere Quelle. Ja, jetzt hatte sie nur eine klare Quelle seiner Lebensausstrahlung. Sie stimmte sich darauf ein, weil sie von dieser seiner Lebenskraft mitgestaltet worden war. Sie fühlte aber auch, wie tastende Geistesfühler sie überstrichen. Ihre natürlich entstandenen Schwestern erfassten sie. Jetzt ging es um ihr Dasein, ihr Fortbestehen. Sie bündelte die in ihr gesammelten Lebenskräfte von fünfzig Männern, die sie in Form von kleinen Pflanzensamen in ihren Schoß hineinpraktiziert hatte. Falls sie mit ihren Schwestern kämpfen musste, dann würde sie diese Kraft freisetzen müssen. Doch wenn es ihr gelang, ihren Schöpfer selbst in sich aufzunehmen, sein Leben mit ihrem zu verschmelzen, dann konnte ihr niemand mehr etwas anhaben. Sie bündelte ihre geistigen Kräfte auf den Ursprungsort der einen Quelle. Sie überhörte das leise verächtliche Flüstern in ihren Gedanken. "Falsche Schwester ergib dich und vergehe!" Sie wünschte sich, am selben Ort wie ihr Schöpfer zu sein. Dann verschwand sie einfach.

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Lahilliota hatte auf diesen Moment gewartet, dass sich die falsche Tochter wieder regen würde. Ihre richtigen Töchter hatten es auch mitbekommen und richteten sich darauf aus, an den Ort zu wechseln, wo sie war, um das ihnen zugefügte Unrecht aus der Welt zu schaffen. Doch als Itoluhila und Tarlahilia sicher waren, wo die unechte Schwester war, verschwand diese unvermittelt in einer starken Welle aus Magie.

"Sie hat sich über eine große Entfernung versetzt, große Mutter", gedankensprach Tarlahilia, die Tochter der schwarzen Mittagssonne mit gewisser Wut.

"Dann findet sie wieder und vernichtet sie!" gedankenrief Lahilliota ebenfalls wütend zurück. Doch sie fühlte selbst, dass die unechte Tochter durch ihren machtvollen Ortswechselzauber für mindestens zehn Atemzüge ihren neuen Standort verbarg. Und wenn sie ihren Geist wieder verschloss konnten die anderen sie lange suchen.

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Die durchsichtige Kuppel über Kanoras' aus einem einzigen Riesengehirn bestehenden Körper erzitterte, glomm erst blutrot und dann blau auf. Dann zersprang sie in Millionen Einzelteile. Gleichzeitig breiteten sich die blauen Flammen aus den Feuerstellen wieder aus, wurden weißglühend, heller als die Sonne. Nur an den Ausläufern der sich schneller als der Wind in alle Richtungen ausdehnenden Flammen loderten sie weiterhin blau. Der Boden schmolz und verdampfte. Das weiße Feuer brach nach unten und durch die Decke. Die gefangenen Menschen, die Kanoras' Gehirnkörper seine Lebenskraft hatten geben müssen, zerfielen in weniger als einer Millionstelsekunde zu Asche und Dampf. Die weißen Flammen und der unvermittelt entstandende Druck sprengten und zerschmolzen alles im Umkreis von fünfhundert Metern, darunter auch die Leichname von Mulai und seinen vier Gefährten. Höhlen brachen zusammen. Gesteinsmassen, zu gelbglühender Lava zerschmolzen, drängten in die entstehenden Öffnungen. Der gesamte Berg war in Aufruhr. Etwas mehr als die Zeit, die Menschen eine Minute nannten, hielt dieser zerstörerische Aufruhr der Elemente an. Dann fiel die weißglühende Feuerkugel schlagartig in sich zusammen. Die blauen Flammen erloschen. Luft drängte in die so plötzlich entstandene Leere hinein, die die neuen Höhlen und Kavernen ausfüllte. Erst als alle nicht vollständig verschlossenen Räume mit kalter Wüstenluft gefüllt waren, kam der Berg endlich zur Ruhe. Die Böse Kraft, die über mehrere Jahrtausende hinweg darin genistet hatte, war erloschen. Von nun an würde wieder die Ruhe und die Geduld der unbezauberten Erde regieren.

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Als wenn jemand Heroin in warmer Milch aufgelöst hatte, so dachte Maria, als sie das verhängnisvolle Zeug auf der Zunge schmeckte, das der ihr in drei Metern Entfernung gegenübersitzenden Vampirin abgesaugt wurde. Maria wollte das Zeug nicht schlucken. Doch der Drang dazu wurde ununterdrückbar. Gerade wollte sie schlucken, als ein heftiger heißer Wärmestoß aus ihrer Magengegend durch ihren Körper jagte und das ihr eingeflößte Sekret auf einen Schlag verdampfen ließ. Maria fühlte, wie es schmerzhaft durch ihre Nasenlöcher aus ihrem Körper verdampfte. Sie sah noch die blutroten Dunstwolken. Gleichzeitig hörte sie einen lauten Aufschrei von der ihr gegenübersitzenden Blutamme her. Wieder tröpfelte aus dem Mundstück etwas in Marias Mund. Doch sofort hielt ein neuer Hitzestoß dagegen. Wieder schrie die Unheilvolle auf, als habe ihr jemand einen Stromschlag verpasst oder sie mit einem brennenden Gegenstand gefoltert. Dann geschah etwas, womit Maria nicht gerechnet hatte.

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Albertine Steinbeißer sortierte gerade ihrenBericht zum Vorkommnis mit dem in Deutschland aufgetauchten Sohn Ashtarias, den ihr Vorgesetzter mit S0 klassifiziert hatte. Da sah sie durch die Wand ihres Büros, wie Walter Haselwurz heranstürmte. Der in der Abteilung für experimentelle Zauberei beschäftigte kleine, runde Zauberer schien es sehr eilig zu haben.

Albertine verringerte instinktiv die Durchdringungskraft ihrer magischen Kunstaugen und sah nun ihre Tür. Da klopfte es auch schon. "Kommen Sie rein, Walter!" rief sie.

"Wir können ihn jetzt endlich orten, diesen Vengor. Das war sein Fehler, mit diesem Dunkelkraftkristall herumzulaufen", sagte Haselwurz. "Meine Mädels und Jungs haben nach dem Angriff auf uns endlich einen Dunkelkraftkristallresonanzspuraufzeichner entwickelt. Den hätten wir gerne schon vor einem Jahr gehabt. Aber so viel, wir können damit seine von diesem Kristall veränderte Lebenskraftaura wie eine Glocke zum schwingen bringen und so die Richtung rausfinden, wo der Kerl ist, auch wenn der sonst Unortbarkeitszauber um sich herum hat."

"Und, wohin geht die Reise?" wollte Albertine wissen.

"Endlich ist die Feinabstimmung komplett. Wir mussten für diesen Zauber noch ein niederes Lebewesen töten, um dessen Todessekunde sozusagen als Zündfunke zu kriegen. Achso, die Reise geht nach osten und möglicherweise an die fünftausend bis sechstausend Meter über dem Meeresspiegel, also den Himalaya."

"Ja, wo die Chinesen und Inder das Sagen haben. Wissen die schon, welches Unglück die haben?" wollte Albertine wissen.

"Das handeln unsere Leute von der IMZ gerade aus, ob wir da mal eben hindürfen. Aber wenn die noch lange brauchen ist der Bastard womöglich wieder woanders."

"Kann ein Portschlüssel auf den Standort eingestimmt werden?" wollte Albertine wissen.

"Leider nicht, weil wir die Richtung und die Entfernung nur auf einen Kilometer genau messen können. Das geht bei dieser Art von Ortungshilfe nicht", grummelte Haselwurz.

"Also geht nur in die Nähe fliegen und suchen, bis der genaue Standort klar ist", erwiderte albertine.

"Ja, deshalb will Wetterspitz wohl auch, dass Sie mitkommen, um mit Ihren neuen Augen einen besseren Rundumblick zu nehmen, wo der Kerl ist."

"Gut, ich bin soweit bereit", sagte Albertine. "Wenn die Chinesen oder Inder zustimmen geht's los", sagte sie noch. Sie fühlte das Jagdfieber. Sollte es echt sein, dass sie mithelfen durfte, diesen Verrückten zu stellen, ihn endlich zu erledigen, nachdem er offenbar Minister Güldenberg ermorden und flüchten konnte?

Für eine diplomatische Anfrage über große Entfernung ungewöhnlich schnell kam nur zehn Minuten nach Haselwurzes Besuch die Antwort, dass Vengor von deutschen, britischen und französischen Ministeriumsleuten gejagt werden durfte. Allerdings wollten die Chinesen ebenfalls eine kleine Gruppe von Leuten schicken, wohl auch, um mehr über diesen unheilvollen Dunkelkraftverstärkerkristall zu erfahren.

Albertine betrachtete den eiförmigen Apparat, der aus mehreren Dutzend haardünnen Röhren, mit alchemistischen Zutaten gefüllten Kugeln und Vielflächlern bestand und außen eine mattschwarze Umhüllung besaß. "Was diese Kristallstaubvampire können können wir jetzt in gewisser weise auch, wenn wir die Aufzeichnungen von Lebenskraftauren benutzen können", sagte Haselwurz. Dann machte er dreißig Besen zu Portschlüsseln, die erst einmal in die betreffende Region wechseln sollten. Dort wollten sie sich mit den Leuten aus den anderen Ministerien treffen.

Um vier Uhr Nachmittags mitteleuropäischer Zeit fand die Abreise statt. Albertine hatte bis dahin versucht, Anthelia anzumentiloquieren. Doch diese schien gerade anderweitig beschäftigt zu sein.

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Genau über ihrem Bauch erschien mit leisem Ploppen ein glänzender Gegenstand an einer Kette, der nicht nur das rote Licht spiegelte, sondern auch eine sanft leuchtende Aura besaß. Die Vampirin, die gerade darauf ausgegangen war, Maria ihre vergiftete Milch einzuflößen, schrie noch lauter auf. Dann landete der Gegenstand auf Marias Bauch und jagte noch einen wesentlich heftigeren Hitzestoß durch ihren Körper, dass sie meinte, gleich zu verbrennen. Doch sofort danach durchflutete sie eine unbändige Zuversicht, eine Hoffnung und Geborgenheit. Gleichzeitig strahlte der aus dem Nichts zu ihr gekommene Gegenstand in einem golden-blauen Licht auf, das Marias Körper wie ein Mantel aus abermilliarden Sternen umhüllte. Im selben Moment, wo sie von diesem Licht eingehüllt wurde, peitschten die Gummibänder um Marias Kopf von ihr weg. Das in Marias Mund steckende Schlauchende sprang förmlich heraus und wirbelte davon. Gleichzeitig erstrahlte die unheilvolle Blutamme in einem hellroten Licht. Sie schrie auf und wurde durchscheinend. Dann flog sie wie von einem unsichtbaren Katapult geschleudert in Richtung der Wand und verschwand darin. Will Bradfield schrie und stöhnte vor unerträglichen Schmerzen. Er konnte sich nicht auf den Beinen halten und fiel zu Boden. Wie von starken Krämpfen geschüttelt wälzte er sich am Boden.

Die zwei Gangster traten in den Raum ein und sahen sich um. "Ah, bringt mich hier raus. Dieses verdammte Kreuz ist stärker als sie und ich dachten", schrie Bradfield.

"Eh, wo ist die Mexi-Lady hin?" fragte einer der Gangster.

"Die ist weg. Dieses verfluchte Kreuz hat sie verschwinden lassen", schrie Bradfield. Maria begriff. Wenn sie still dalag war sie für böse Augen unsichtbar. Sie sah, wie die zwei Handlanger ihren gepeinigten Auftraggeber aufhoben und aus dem Raum trugen. Sie überlegte, ob es günstig war, hier zu warten. Da vernahm sie einen sehr eindringlichen Gedanken: "Ihr nach, schnell!"

Maria Valdez sprang auf, wobei sie ihr unverhofft zu ihr zurückgekehrtes Silberkreuz nahm und es sich umhängte. Dann lief sie so nackt sie war auf die Wand zu, hinter der die Widersacherin verschwunden war. Die Wand erglühte im selben Goldton wie die Aura, die sie immer noch umhüllte. Maria sprang vor und durchdrang die Wand wie goldenen Nebel. Sie fand sich in einem dunklen Gang wieder, der nur vom hellen Zauberlicht ihres wiedererlangten Talismans erhellt wurde. Sie folgte dem Gang zu einem anderen Raum. Davor standen zwei kleine Kinder, die angewidert auf Marias magisches Schmuckstück starrten. Sie hielt den beiden das Kreuz entgegen. Blutrote Blitze schossen heraus und warfen die zwei laut schreienden Kinder zur Seite. Maria stürmte auf die verschlossene Tür zu. Diese sprang auf, als sie nur noch einen halben Meter entfernt war.

Jetzt stand sie in einem quadratischen Raum, gut und gerne vier mal vier Meter groß. An der ihr gegenüberliegenden Wand sah sie ein beeindruckend großes Gemälde in einem schwarzen Rahmen. Doch war es wirklich nur ein Bild? Sie sah wie durch ein Fenster die verhängnisvolle Vampirin, die ihre Opfer wohl durch ihre vergiftete Milch zu Artgenossen machte, von zwanzig anderen Männern und Frauen umringt. Maria hörte die Wutschreie der Vampirfrau. Doch ihr Kampfeswille war nun erwacht, und die grenzenlose Zuversicht, dass ihr jetzt nichts mehr passieren würde, trieb sie voran.

Als sie auf das Bild zurannte hörte sie die andere noch laut nach weiteren Hilfskräften rufen. Maria sprang vor, als sie hörte, dass mehrere Männer durch den Gang eilten. Wollte sie nicht doch noch erschossen werden, so musste sie handeln. Sie stieß sich ab und flog auf das Bild zu. Eingehüllt in die golden-blaue Aura ihres Silberkreuzes durchdrang sie die Barriere zwischen der wirklichen und der gemalten Welt. Lautes Geschrei und sichin die entfernteste Ecke zurückziehende Vampire empfingen sie auf der anderen Seite.

"Du Mutterkuh unter den Vampiren. Deine schlimme Zeit ist vorbei. Sage mir, wo dein Schöpfer ist!" rief Maria Valdez. Doch sie bekam keine Antwort. Alle hier starrten sehr ängstlich auf sie. Dann erkannte sie, dass die sie umfließende Aura ihres Talismans flackerte. Sie war in einen von dunkler Magie gefluteten Bereich eingedrungen. Diese böse Zauberkraft schwächte ihr Kreuz. Wollte sie nicht doch noch das Opfer dieser Brut da werden musste sie jetzt alle Kräfte freimachen, die ihr Erbstück barg.

"Aus Liebe warst geboren,
der Liebe und dem Heil erkoren.
Wenn du aus liebe wirst gegeben
erhalte machtvoll Schutz und Leben!"

Grelles, weißgoldenes Licht umstrahlte Maria Valdez. Sie fühlte, wie ihr Talisman wild pulsierte. Sie hörte das laute Geschrei der mit ihr in dieser verbotenen Welt steckenden Wesen. Dann bekam sie einen heftigen Stoß gegen Brust und Bauch, flog zurück und fiel auf den Rücken. Doch das weißgoldene Licht strahlte eine halbe Minute lang weiter. Dann verlosch es übergangslos. Maria sah sich um.

Sie befand sich wieder in dem quadratischen Raum. Doch das Gemälde war weg. Statt seiner lag nur noch von bunten Kleksen durchsetzte Asche auf dem Boden. Ja, und um Maria herum lagen reglose Körper von Menschen, die wie in seligem Tiefschlaf atmeten. Es waren zwanzig bis dreißig Männer, Frauen und Kinder.

Maria Valdez blieb ebenfalls am Bodenliegen, als die Tür aufging und zwei Männer mit schussbereiten MPs hereinkamen. Sie fühlte die Kraft ihres Talismans wieder. Dann lauschte sie: "Was ging denn hier ab, José?" fauchte einer der Männer. "Wo kommen die alle her?"

"Weiß ich sowas, Pedro? Jedenfalls ist das Bild mit der Vampirmutti weg. Dir ist klar, was das heißt?"

"Scheiß viel Ärger, José", knurrte der erste wieder. "Sehen wir zu, dass wir wegkommen."

Maria hörte noch, wie die Gangster sich aus dem Raum zurückzogen. Sie wartete noch einige Sekunden. Dann vernahm sie wieder eine Gedankenstimme: "Hol dir deine Sachen wieder!"

Sie fragte sich nicht einen Moment, wer oder was ihr diesen Gedanken eingab. Sie sprang auf und lief durch die noch offene Tür zurück, folgte einem Gang, bog in einen anderen ab, ohne einen Moment zu überlegen, wieso das der richtige sein sollte. So gelangte sie in eine Abstellkammer, wo in einem Koffer ihre ganzen Sachen waren. Sofort zog sie sich an. Sie dachte erst, den Portschlüsselzauber zu benutzen. Doch dann fiel ihr ein, was Almadora erwähnt hatte. Wenn sie den Ursprungsort gefunden hatte, sollte sie die kleine Kristallkugel zerbrechen, die sie in der Handtasche verstaut hatte. Das tat sie dann auch. Ein rötlicher Blitz flammte auf und ließ ihren Talisman kurz erzittern. Dann löste sie den Portschlüsselzauber in ihrer Strumphose aus.

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Einer der Steine auf dem hufeisenförmigen Tisch sprang, von einem weißgoldenen Blitz angetrieben, in die Höhe und flog einige Zentimeter zur Seite weg. Pickman stierte auf den nun glühenden, wie eine weibliche Brust geformten Stein, der nun über den Tisch kullerte und dann mit scharfem Knall implodierte. Ein Wutschnauben entfuhr dem Maler schwarzmagischer Gemälde. Doch sogleich erkannte er, dass es noch schlimmer kommen würde.

Die Tür zu Pickmans Raum färbte sich unvermittelt blutrot. Tropfen bildeten sich auf ihr und glitten wie Sirup herunter. Dabei begann die Tür sich zu verformen. Sie bekam erst Risse und dann Löcher. Diese verschlossen sich jedoch durch nachdrängende Tropfen wieder. Die Tür sackte in sich zusammen und gab den Weg frei. Sie wurde zu einer unförmigen roten Masse, die leicht pulsierend auf dem Boden auseinanderfloss. Einer der Golems eilte laut klirrend auf den freigelegten Zugang hin, trat dabei in die sich zersetzende Masse und erzitterte. Funken stoben aus ihm heraus, als sein rechtes Bein wegknickte und dabei jeden Spiegelglanz verlor und ebenso blutigrot verfärbt wurde. Pickman sprang von seinem thronartigen Stuhl hoch und wirbelte mit ausgestrecktem Zauberstab herum. Er zielte auf den so unverhofft einfach freigelegten Zugang. Doch seine Golems hatten offenbar dieselbe Idee. Sie bauten sich so auf, dass sie eine bewegliche Mauer zwischen ihm und der geöffneten Tür bildeten. Da löste sich jener Golem schlagartig in bunte Funken und farbigen Nebel auf, der mit der sich zersetzenden Tür in Berührung gekommen war. Das verwunderte Anthelia einen Moment. So reagierte sie nicht sofort, als Pickman versuchte, zwischen seinen Golems hindurchzuzielen.

Eine weitere Hexe betrat den Raum und trat bedenkenlos in die sich immer weiter ausbreitende rote Masse, in die sich die verschlossene Tür verwandelt hatte. Ihr passierte jedoch nichts. Anthelia erkannte sie sofort und auch, dass es nur eine nichtstoffliche Abbildung von Theia Hemlock war.

"Avada Kedavra!" brüllte Pickman, als er sich sicher wähnte, die neue Feindin zu treffen. Doch gerade in dem Moment, wo sein Fluch den Zauberstab verließ rückten gleich drei Golems vor und keilten die hereintretende Erscheinung ein. Einen der Golems traf der grüne Todesblitz am Rücken und wurde laut schwirrend schräg an Pickman vorbei gegen eines der scheinbaren Außenfenster gespiegelt. Mit dumpfem Knall zerbarst das Fenster in einer weißen Flammenwolke und hinterließ einen qualmenden Krater in einer ansonsten dicken Steinwand. "Die Bahn frei für mich!" brüllte Pickman seine Diener an. Zwei von diesen hatten aber schon in die rote, sirupartige Substanz getreten und verformten sich funkensprühend, bis auch sie in farbigen Funken und Dunstwolken zerplatzten. Da klang erneut jene Anthelia bis dahin unbekannte Zauberformel aus mehreren Frauenmündern zugleich: "Congelanto Omnimagines!" Schlagartig erstarrten sämtliche Silbergolems in der Bewegung und wirkten nun wie überlebensgroße, vierarmige Zinnsoldaten. Ebenso froren sämtliche Außenansichten in einem weißen Nebel ein, so dass die vorhin echt wirkenden Fenster nur noch weiß leuchtende Flächen waren.

Das was aus der Tür geworden war zerrann indes weiter und versickerte im Boden. Pickman stieß eine wüste Beschimpfung gegen die hereinkommende Feindin aus und versuchte noch einmal den Todesfluch. Diesmal traf dieser das gewünschte Ziel und sirrte durch dieses hindurch. Mit einem lauten Donnerschlag sprengte der ungebremst weiterfliegende Todeszauber einen weiteren Krater in die Wand. Dann trat noch eine Nachbildung Theias ein, und noch eine. Pickman erkannte nun auch, was Anthelia schon längst erkannt hatte. Theia musste leise den Plurimagines-Zauber gewirkt haben, der eine von der eigenen Zauberkraft abhängige Zahl scheinbar selbstständig handelnder Ebenbilder hervorbrachte. Doch dieser Zauber kostete Ausdauer, wusste wohl auch Theia Hemlock.

Unvermittelt quoll aus Pickmans Zauberstab goldener Nebel hervor und dehnte sich explosionsartig im Raum aus. Die an der Decke hängende Lichtkugel schien den magischen Brodem mit Kraft aufzuladen. Sofort wechselten die Flammen an Anthelias Schwert die Farbe und schimmerten ebenso golden. Der ihr zustrebende Dunst zersprühte in goldenen Funken. Nur die nicht auf das Schwert treffenden Ausläufer berührten sie und jagten sengende Hitze durch sie hindurch. Sie wirbelte herum und zerteilte die goldenen Dunstwolken, dass es nur so von goldenen Funken wimmelte. Als sie sich wieder auf ihre Umgebung konzentrieren konnte erfasste sie, dass Theias nichtstoffliche Abbilder mit einem Schlag zerstört worden waren und Theia der Ohnmacht nahe am Boden hockte. Ebenso bekam sie mit, wie Pickman disappariert war. Sie erfasste jedoch, dass er nur zweihundert Meter weiter in einer anderen Höhle war. Mit leisem Plopp verschwanden alle auf dem Hufeisentisch liegenden Steine, denen sie bisher keine weitere Beachtung gewidmet hatte. Sie erfasste nun auch, wie Pickmans Gedanken verstummten. Er hatte eine Barriere zwischen sich und sie errichtet, die jedes Aufspüren durch Geisteszauber blockierte. Doch das würde ihm nichts nützen, dachte Anthelia. Sie fegte noch die letzten Ausläufer des goldenen Nebels weg. Dann löschte sie die Flammen ihres Schwertes. Sie beschwor den schnellen Weg durch die Erde.

Theia indes rang um ihre Besinnung. Da hörte sie die Gedankenstimme ihrer Tochter: "Mom, den Preacipio Dies!" Sie verstand und hielt die Spitze ihres Zauberstabs auf sich selbst gerichtet. Eine Sekunde später wurde sie in rotes Licht gehüllt. Sie zählte im Geiste die Sekunden, während sie neue Kraft in sich einströmen fühlte. Nach zehn Sekunden senkte sie den Zauberstab. Das rote Licht erlosch. Jetzt hatte sie für zwanzig Stunden neue Ausdauer und Kraft in sich angesammelt. Allerdings hatte sie damit auch die Dauer ihres Unversehrtheitszaubers verkürzt. Aber gegen diese vertückten Einsinkzauber, die nur die damit belegten Stellen im Boden betrafen, half der ihr ja auch nichts, erkannte sie mit gewissem Ingrimm. Sie sah sich um. Pickman hatte den Sonnenrauchnebel genutzt, um zu flüchten. Die Hexe mit dem Feuerschwert, eindeutig die neue Gestalt Anthelias, stürzte gerade wie in einen tiefen Schacht in den Boden, ohne dass dieser ein Loch aufwies. Sie wurde förmlich von der Erde verschlungen. Doch das war wohl keine Zauberfalle wie mit diesem tückischen Treibsandzauber, erkannte sie. Dann lotete sie schnell den Raum aus und erfasste, dass dieser wohl nur bestimmte Leute apparieren ließ. Sie holte aus ihrem Umhang den kleinen Kristallwürfel, in dem sie die Lebenskraftschwingungen Pickmans gespeichert hatte und hielt ihn in alle Richtungen. Dann prüfte sie noch, ob weitere Zauberfallen auf sie lauerten. Doch auf dem Boden gab es keine. Sie prüfte die Wände, ob diese mit Erhärtungszaubern belegt waren. Dem war nicht so. Also ging es eben so.

Theia lief los. Der Sonnenrauch hatte auch die silbernen Golems aufgelöst, weil sie eben nicht echt waren. Dann stand sie vor einer Wand. "Terra lapisque permeabilis pro vivo", knurrte sie. Als sie sicher war, dass der Zauber wirkte durchschritt sie die Wand, als sei sie gerade nur dichter Nebel. Dem in der Hand rot glühenden und leise summenden Lebensauraaufspürwürfel folgend eilte sie mit ständig Fluchzerstreuer und Durchlässigkeitszauber verteilend durch feste Wände hindurch. Pickman mochte ein überragender Zaubermaler und Fallensteller sein. Aber auf den Gedanken, alle Wände von Zaubern undurchdringbar zu machen war er nicht gekommen.

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Julius Latierre fühlte, dass irgendwas anstand, von dem er nicht wusste, was es war. Den ganzen Tag hindurch wartete er förmlich auf einen Brief oder eine Botschaft. Als dann durch das Ministerium ging, die Deutschen hätten einen Weg gefunden, Vengors Aufenthaltsort zu bestimmen, war er schon darauf gefasst, zu einer Einsatztruppe eingeteilt zu werden, die ihn bekämpfte. Doch jemand, deren Meinung er sehr hoch schätzte, meldete sich auf gedanklichem Weg bei ihm.

"Julius, ich weiß, ich habe dich das ganze Jahr hindurch darauf hingewiesen, dass Iaxathan einen neuen Knecht sucht und dieser Unglückselige, der sich Lord Vengor nennt, es wohl zu gerne sein möchte. Doch ich bitte dich, dich ihm nicht jetzt schon entgegenzustellen, nicht wo er wohl gerade in der Nähe der Nimmertagshöhle ist. Ohne einen wirksamen Schutz wie die Sterne Ashtarias helfen dir auch die vier von meiner Mutterschwestertochter Ianshira beigebrachten Lieder nicht viel, solange Vengor die direkte Kraft Iaxathans aufnehmen kann. Erst wenn er weit genug von seiner Heimstatt entfernt ist, besteht auch für dich eine Möglichkeit, ihn zu schwächen, ohne ihn zu töten", hörte er die celloartige Stimme von Artemis vom grünen Rain in seinem Kopf. Er wollte ihr widersprechen, ihr mitteilen, dass er ja auch für seine Familie eintreten musste, um Vengor oder wie immer der hieß zu stoppen. Doch Temmie entgegnete:

"Du weißt, was die als Nachtodform in der Welt gebliebene Marie Laveau dir vorhergesagt hat? Die Geister des Lichtes und der Dunkelheit umwerben dich. Es könnte dir widerfahren, dass Vengor mit der geballten Kraft des Unlichtes deinen Geist unterwirft, ja dich dazu zwingt, in die Nimmertagshöhle zu gehen, um auch deinen Geist Iaxathan zu unterwerfen. Sicher kannst du meine Krone des Lichtes und des Schutzes tragen. Denn sie wiegt Iaxathans böse Kraft für eine Zeit auf. Aber wenn Vengor wahrhaftig zu Iaxathans Knecht wird kann er nicht von einem alleine niedergeworfen werden. Halte dich also bereit, ihn zu bekämpfen, sollten seine Feinde, zu denen deine Mitstreiter gehören, ihn nicht daran hindern können, Iaxathans Knecht zu werden!"

"Monsieur Latierre, mir ist klar, dass Sie wohl auch gerne bei der Eingreiftruppe mitmachen möchten", sagte Pygmalion Delacour zu seinem Mitarbeiter. "Doch ich möchte Sie bitten, Ihre Kontakte in die ganze restliche Welt zu nutzen, um alle darauf vorzubereiten, diesen selbsternannten Erben des Unnennbaren zu bekämpfen, wo er auch immer auftauchen wird."

"Natürlich, Monsieur Delacour", sagte Julius gehorsam. Denn ihm fiel noch was ein, was Temmie nicht erwähnt hatte. Ashtarias Geist hatte davon gesprochen, dass Vengor bereits gestolpert sei, als er seine Vorbereitungen traf, also die unseligen Serienmorde beging, die eine bestimmte Blutlinie betrafen, zu der auch der deutsche Zaubereiminister Güldenberg und dessen Neffe Hagen Wallenkron gehörten. Wenn das stimmte, so bestand durchaus die Möglichkeit, dass Vengor nicht in die Nimmertagshöhle eindringen konnte, weil die von einem anderen Erben Ashtarias, wohl Adamas Silverbolt, errichtete Barriere standhalten mochte. Mit dieser Hoffnung schaffte er es, den restlichen Arbeitstag zu überstehen.

Wieder in seinem durch Ashtarias Segen geschütztem Haus erwartete ihn eine Überraschung. Temmie war trotz ihrer fortgeschrittenen Trächtigkeit über den kurzen Weg zu den Latierres gekommen und wollte solange bleiben, bis feststand, ob Iaxathans Plan aufging oder doch noch durchkreuzt wurde.

Ebenso fanden sich Barbara Latierre, die jüngere und Camille Dusoleil mit Chloé bei den Latierres ein. Über Viviane Eauvives Bild erfuhren sie, dass sämtliche dunklen Zauberbilder Pickmans auf einen Schlag zu Asche und Farbkleksen zerfallen waren, von den roten Skeletten, die einen New Yorker Friedhof heimgesucht hatten, über ein Piratenschiff, dessen knöcherne Besatzung ein nobles Stadviertel von Oslo heimgesucht hatten, bishin zu weiteren Schreckgestalten, die bisher nur durch vereinte Zauberkräfte der Ministeriumsbeamten zurückgehalten werden konnten. Leider hatten die verfluchten Bilder ihre Opfer bei ihrer Vernichtung mit in das Vergessen gerissen. Alles in allem hatte Pickmans schwarzmagisches Treiben über vierhundert unschuldige Menschen in den Tod gerissen. Von den meisten von ihnen waren nicht einmal bestattungsfähige Leichname geblieben. Das stimmte Julius einerseits sehr traurig. Andererseits verärgerte es ihn, dass dieser Pickman im Namen Vengors keine Rücksicht auf Menschenleben genommen hatte. Nach ihm wurde weiterhin gesucht.

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Der kleine Juri stieß hörbar auf. Er genoss es, dass seine zweite Mutter ihn so umsorgte, obwohl er ihr bei seiner Geburt sicher sehr weh getan hatte. Dafür hatte er aber auch Monate lang hilflos in ihrem Unterleib zusammengerollt zubringen müssen und durfte nur schreien, wenn er was brauchte. Aber er genoss es, eine zweite Kindheit als ihr Sohn bewusst zu erleben.

"Tamara, die Vorbereitungen sind getroffen", sagte Juris Ziehvater. "Dann will ich hoffen, dass diese Babymacher auch ihren Teil einhalten. Immerhin haben die ja die echten Ziegelbrand-Geschwister vor uns aus Greifennest rausgeholt", sagte Juris zweite Mutter, während sie ihm den Mund abwischte und dann noch prüfte, ob die gerade umgebundene Reisewindel noch einen Tag durchhalten würde.

"Die anderen warten schon auf dich, um das Suchritual durchzuführen. Der Schutz gegen bösartige Abwehrzauber wurde mit Goldblütenhonigphiolen verstärkt", sagte Juris Ziehvater.

"Gut, dann beginnen wir. "Juri, ich pack dich wieder in dein Bettchen. Schlaf noch ein wenig. Wenn du wieder aufwachst haben wir hoffentlich ein gefährliches Problem gelöst", säuselte Tamara Warren ihrem durch einen magischen Versuch entstandenen Sohn ins Ohr. Er mentiloquierte:

"Ja, und wenn dieser Irre Vengor errledigt ist sollten wir Bokanowskis Hinterlassenschaft suchen, bevor die die Welt inns Chaos stürzt."

"Das habe ich dir versprochen, als du nach deiner Einkehr in meinen warmen Bauch zum ersten Mal mit mir mentiloquiert hast", gedankenantwortete Tamara Warren. Dann legte sie ihren Sohn zurück in das kleine Kinderbett und verließ das Mehrzweckzimmer, um den Plan auszuführen, den ihre Geheimgesellschaft seit einem Monat verfolgte.

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Als Maria wieder in Misty Mountain bei ihrer Tochter Marisol und den Fuentes Celestes war berichtete sie über ihre Erlebnisse. Jetzt erst konnte sie sich damit auseinandersetzen, warum ihr Silberkreuz von selbst zu ihr zurückgekehrt war und warum im gleichen Moment ihre Fesseln gesprengt wurden. Auch die zwei Gedankenanweisungen, der Blutamme zu folgen und ihre Sachen zurückzuholen empfand sie als bemerkenswert. Almadora wiegte ihren Kopf. Dann wollte sie noch mal genau wissen, was passiert war.

"Ich denke, du solltest dich noch einmal mit den dir bekannten Kindern Ashtarias unterhalten, ob denen was ähnliches schon mal passiert ist. Es ist schon unheimlich, dass dein Talisman ein solches Eigenleben haben soll. Aurélie Odin hat mir damals nichts davon erzählt. Kann auch sein, dass sie das nicht erzählen durfte."

"Dann hätte ich dir das sicher auch nicht erzählen dürfen", erwiderte Maria Valdez verschämt und auch leicht beklommen. Was, wenn am Ende ihr Silberkreuz nicht mehr half, weil sie seine Geheimnisse ausplauderte?

"Dein Einsatz hat dazu beigetragen, dass alle vom verfluchten Blut dieser gemalten Amme vergifteten Menschen wieder geheilt wurden, also sich in gewöhnliche Menschen zurückverwandelt haben, egal wo sie gerade waren. Allerdings hat es den Amerikanern eine Menge Zeit und Einsatzkraft abgefordert, die Rückverwandelten zu finden, die Zeugen ihrer Rückverwandlung mit Gedächtniszaubern zu belegen und dafür zu sorgen, dass die Sach- und Körperschäden, die die Leute unter dem bösen Einfluss dieser gemalten Nährmutter angerichtet haben, ohne großes Getöse in den Nachrichtenverbreitungsmedien zu beheben. Die Familien, die von ihren Kindern oder Anverwandten in den Bann dieser Blutamme gezogen wurden sind wegen heftiger Erkrankungen in magielosen Krankenhäusern. Sie gehen von einem starken Grippeerreger aus, heißt es", berichtete Almadora und deutete auf diverse Bilder, die neben dem ihrer Stammmutter Viviane Eauvive an den Wänden ihres Arbeitszimmers hingen. Maria Valdez nickte. Sie war froh, dass auch die nicht im direkten Wirkungsbereich ihres Silberkreuzes befindlichen Opfer dieser verfluchten Kreatur befindlichen Menschen von ihrem unheilvollen Dasein befreit worden waren. Almadora erwähnte in diesem Zusammenhang den aus der Abwehr gegen dunkle Zauber geläufigen Begriff vom materiellen Fokus. Das brachte Maria auf die Vermutung, dass es derlei auch in der gutartigen, der sogenannten weißen Magie geben mochte und ihr Silberkreuz von Ashtarias Geist als Anker in der stofflichen Welt genutzt wurde, um ihren Nachkommen zu helfen. Immerhin hatte das Kreuz sie ja auch aus magischem Tiefschlaf geweckt, als feststand, dass sie mit ihrer Tochter Marisol schwanger war. Doch erklärte das wirklich alle ihr zugestoßenen Glücksfälle?

"Wir haben übrigens eine Botschaft aus dem deutschen Zaubereiministerium erhalten. Es ist gelungen, diesen Lord Vengor ausfindig zu machen", sagte Almadora. "Er ist im Himalaya-Gebirge unterwegs und will dort wohl seinen dunklen Plan zum Abschluss bringen. Bist du bereit, uns zu helfen, wenn wir dich brauchen sollten?"

"Nur wenn ich ganz sicher weiß, ob das, was mir in New York passiert ist ein Einzelfall war oder dort noch mehr böses Zauberwerk wirkt."

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Pickman wusste, dass er nur noch die Flucht hatte. Er musste in eines seiner Bilder eindringen, in eines, das außerhalb der Rufweite dieser verdammten Sabberhexe lag, die alle seine Bilder und Bildverpflanzungsflächen mit einem Zauber erstarren lassen und auch die aus Bildern gedrungenen Kämpfer hatte zu Statuen werden lassen. Nur ein Zauberbild mit frei beweglichen Motiven und Hintergrund konnte ihm helfen. Ja, und hier in seinem Raum mit den zwölf Kurtisanen war das Bild, dass er suchte. Wenn er erst mal in die gemalte Welt eingetreten war konnten diese Sabberhexen ihn nicht mehr aufspüren. Immerhin hatte sich gleich nach seinem Auftauchen ein Wall der Geistesruhe aufgebaut, der Mentijectus und andere mentalmagischen Aufspürzauber von ihm fernhielt.

Die zwölf leichtgeschürzten Frauen unterschiedlicher Gestalt, Größe und Altersgruppen vom zwölfjährigen Mädchen bis zur molligen älteren Frau winkten ihm zu. Sicher gingen sie davon aus, er wolle wieder mit einer von ihnen Liebe machen. So hatte er sie gemalt, allzeit willig und bereit. Doch er eilte auf ein kleines Bild mit einem hageren Zauberer im orangeroten Kapuzenumhang zu. Er winkte ihm zu. Der gemalte Zauberer lupfte seine Kapuze und sah ihn aus seinen kleinen dunkelbraunen Augen auffordernd an.

Pickmans linke Hand fuhr in seinen Umhang und riss die handtellergroße Metallscheibe heraus, die kein Aufrufezauber hätte wegholen können. Gleich war er in Sicherheit. Er musste die Scheibe nur mit seinem Abbild auf die Leinwand pressen und den Übergangszauber ausrufen.

"Wenn ich bei dir bin bring mich sofort zum Ausweichort, Naranjero!" zischte Pickman. Der Zauberer in Orange nickte.

"Per Intraculum ..." setzte er an, als das Bild unvermittelt von einer unsichtbaren Kraft zur Seite geschoben, von den zwei Nägeln gelöst und davongewirbelt wurde. Klatschend landete es mit der bemalten Fläche nach unten auf dem Boden. Pickman stieß eine wüste Verwünschung aus und fühlte, wie das Intrakulum erzitterte, weil er es fast aktiviert hatte. Dann erkannte er, was ihm da zugestoßen war und vor allem, von wem.

"Netter Versuch, Pinselschwinger. Aber ich sagte, dein Wirken endet hier und heute", stieß dieses blassgoldene Frauenzimmer aus und starrte ihm mit seinen blaugrünen Augen entschlossen ins Gesicht. Ihr Schwert war im Moment keine Flammenklinge. Sollte er es jetzt noch einmal versuchen?

"Avada Kedavra!" rief er. Sein grüner Todesblitz sirrte unheilvoll auf die Erscheinung im scharlachroten, hautengen Kostüm zu und ging durch diese hindurch. Mit lautem Knall explodierte das hinter der Feindin stehende Wandstück. Trümmer flogen herum. Er hatte wieder ein Trugbild erwischt. Doch als er diese Erkenntnis gewann schwirrte ihm ein handgroßes, noch leicht qualmendes Stück Tropfsteinkalk mit voller Wucht gegen den Kopf und raubte ihm die Besinnung.

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Theia musste auf ihrem Lauf in die Richtung, aus der Pickmans Lebenskraftausstrahlung kam mehrere aus metergroßen Bildern hervorspringende Ungeheuer mit ihrem Bilderwesengefrierzauber lähmen, den sie von Medea von Rainbowlawn erlernt hatte. Das kostete sie Zeit. Als der Lebenskraftanzeigewürfel unvermittelt erlosch dachte sie, dass Pickman es wohl geschafft hatte, ihr und Anthelia zu entwischen. Dann ging der Terror wohl weiter, dachte sie frustriert. Doch dann fiel ihr auf, dass der Würfel noch schwach pulsierte. Also war Pickmans Lebensaura noch nicht verschwunden, sondern nur abgeschwächt. Das passierte, wenn jemand bewusstlos wurde oder in Tiefschlaf verfiel. Das wiederum hieß, dass Anthelia ihn wohl noch erwischt hatte. Sollte sie ihr den Triumph überlassen? Nein, sie musste zumindest versuchen, ihn noch auszuforschen, welche Bilder er verteilt hatte und wie diese zu stoppen waren. Sie lief weiter und durchquerte dabei eine mehrere Meter dicke Mauer, die ihr fast zum Verhängnis geworden wäre, weil ihr Durchdringungszauber schon fast abklang, bevor sie die Wand durchschritten hatte. Gerade soeben schaffte sie es noch, in eine zylinderförmige Kammer von zwanzig Metern Höhe und zehn Metern Durchmesser zu kommen, in deren Mitte ein kreisrundes Bett mit scharlachrotem Bettzeug bereitstand. Anregende Düfte erfüllten diese Kammer. An der Decke hing eine kleinere Ausgabe jener Tageslichtkugel wie in der großen Halle. Auch sah sie, dass in einer Wand ein zwei Meter großes Loch mit schartigem Rand klaffte und mehrere Dutzend Gesteinsbrocken davorlagen. Dann erkannte sie auch die Bilder an der Wand, alles spärlich bekleidete Frauenzimmer, die sie nun bitterböse anglotzten, sie und die andere Frau im Raum, die ein hautenges scharlachrotes Kostüm trug und in der rechten Hand ein Schwert trug, dessen gerade nicht brennende Klinge verschiedenlange Flammenmuster zeigte. Die andere besah sich den am Boden liegenden Mann, auf dessen Stirn gerade eine faustgroße Platzwunde klaffte.

"Ach, auch schon da, Schwester Theia?" wurde sie begrüßt.

"Hast du ihn getötet?" wollte Theia wissen.

"Du solltest langsam wissen, dass ich keine Leute umbringe, wenn es sich vermeiden lässt", sagte Anthelia. "Aber der Kerl war gegen direkte Bezauberungen abgeschirmt, wohl durch das berunte Kostüm von ihm. Der wollte sich mit einem Intrakulum absetzen. Sowas kennst du sicherlich."

"Irgendwann mal davon gehört", grummelte Theia und war sehr sorgsam darauf bedacht, ihren Geist zu verhüllen.

"Er meinte dann, mein ortsverschobenes Erscheinungsbild mit dem Todesfluch anzugreifen und hat ein Stück Mauer herausgesprengt. Das gab mir die Gelegenheit, ihn doch noch bewusstlos zu schlagen. Ich heile ihn und wecke ihn auf, wenn ich ihm diesen Umhang da ausziehen kann."

"Und dann, Spinnenlady?" fragte Theia.

"Können wir ihn gerne aushorchen, was er so alles angestellt hat und vor allem, was er von Vengor weiß."

"Einverstanden", knurrte Theia. Die in den Bildern stehenden Frauen stierten Anthelia an. "Wag dich nicht, ihn anzugrabschen, du scharlachrote Filzlaus!" stieß eine der matronenartigen Frauen fortgeschrittenen Alters aus. "Der ist nur für uns", fügte ein äußerlich dreizehn Jahre altes Mädchen im weißen Unterrock und freiem Oberkörper hinzu.

"Ach, und was ist, wenn ich ihn vor euch eingerahmten Zwergstuten da vernasche?" fragte Antehlia herausfordernd.

"Dann zerfetzen wir dich und fressen auf, was von dir übrig ist", sagte eine weitere sehr umfangreich beschaffene Frauengestalt im gelben Kostüm ohne Ärmel.

"Schwester Theia, dein praktischer Bildeinnfrierzauber sollte ausreichen", sagte Anthelia. "Ansonsten kann ich die Dirnengalerie da mal eben mit meinem Schwert zerlegen."

"Wir sind keine Dirnen, sondern Kurtisanen", stieß die gemalte Frau in Gelb aus.

"Ui, also Edeldirnen, die sich ihre Freier aussuchen und nicht auf Freier warten müssen", meinte Anthelia. Theia nickte nur. Da lösten sich drei der zwölf Liebesdienerinnen Pickmans aus ihren Bildern. "Congelanto Omnimagines!" rief Theia. Unvermittelt erstarrten die gemalten Frauen. Jene, die gerade aus ihren Bildern treten wollten verschmolzen wieder mit der Leinwand. "So, jetzt ist erst mal Ruhe", sagte Theia.

Anthelia machte sich nun an Pickmans Kleidung zu Schaffen. Theia erkannte, dass sie offenbar sehr viel Übung darin hatte, einen Mann innerhalb von einer halben Minute auszuziehen. Ihr entging auch nicht der prüfende Blick, den Anthelia auf die freigelegten Blößen warf. Offenbar war sie jedoch nicht sonderlich davon angetan. Sie bewegte ihren Zauberstab und säuberte erst die Stirnwunde Pickmans. Dann ließ sie diese innerhalb von zwei Sekunden narbenlos verheilen. Sie wollte ihn gerade mit einem Aufweckzauber zur Besinnung bringen, als aus dem Nichts heraus etwas unheimliches im Raum erschien und Anthelia beinahe niederwarf.

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"Ich will meinen Anwalt sprechen. Sie haben kein Recht, mich hier festzuhalten", lamentierte Will Bradfield, der trotz demGefühl, einen tagelangen Marathon gelaufen zu sein und einer heftigen Gedächtnislücke nicht vergaß, welche Rechte er hatte. Doch die drei Männer in seltsamen langen Umhängen gingen nicht darauf ein. Sie fragten ihn schon seit mehreren Minuten, was ihm mit dem Bild mit dieser Vampiramme passiert war. Doch er konnte sich nicht mehr daran erinnern. Er wusste nur noch, dass er von diesem extravaganten Maler namens Fred Morgan drei gruselige Bilder erworben hatte. Mehr wusste er nicht mehr. Als ihm dann zumindest eine Tasse Kaffee angeboten wurde, damit er wieder richtig wach wurde, dachte er nicht an mögliche Drogen. Nachdem er den Kaffee restlos ausgetrunken hatte fingen die seltsamen Männer in den Umhängen wieder an, zu fragen. Er antwortete frei heraus und ohne Argwohn.

Als er wieder alle Fragen beantwortet hatte zogen sich die Männer zurück, offenbar um zu beraten, was sie mit ihm anfangen sollten.

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"Jetzt müssen wir noch mal so eintausend Meter weiter hoch. Am besten trinkt ihr alle den Höhenanpassungstrank", sagte Haselwurz auf Englisch und mit magisch verstärkter Stimme. An die hundert Hexen und Zauberer hatten sich zusammengefunden. Darunter waren auch dreißig asiatischstämmige Zauberer in einer fliegenden Dschunke.

"Moment, ich seh mich mal eben um", erwiderte Albertine auf Englisch und flog an die Spitze vor. Sie merkte, dass ihr Besen in dieser Höhe nicht mehr so gut ansprach wie in ihrer Heimat. Das mussten sie unbedingt beachten, dass ihre Flugbesen für diese Höhe eigentlich nicht ausgelegt waren.

"Im Umkreis von zwei Kilometern sehe ich weder ein markantes Objekt noch einen grüngesichtigen Zauberer", sagte sie nach zwanzig Sekunden auf der Stelle schwebendem Besen. Haselwurz, der zu ihr aufgeschlossen hatte und ebenfalls auf einem leicht zitternden und schwankendem Besen ritt hielt sein Aufspürgerät in alle Richtungen. "Ich kann die Streuung jetzt besser eingrenzen. Der ist noch ein wenig weiter östlich und so um einhundert meter weiter über uns. Am besten fliegen wir den Rest."

"Öhm, irgendwie zehrt diese Höhe an den Besen", sagte ein Mitstreiter des britischen Aurorenkorps, der mit einem magischen Weitblickfernrohr mit Nachtsichtfunktion ausgerüstet war und damit gut mit Albertines magischen Augen mithalten konnte.

"Gut, wir können nicht mit voller Geschwindigkeit fliegen. Langsamflug und bei größerer Ermüdung besser zwischenlanden", befahl Haselwurz, der für diese Expedition das Kommando führen durfte.

So flogen sie dann los. Ihre Besen zitterten leicht und sackten immer wieder durch, um dann schwankend auf die gewünschte Höhe zurückzufinden.

Der Flug dauerte eine Viertelstunde. Da rief Albertine unvermittelt: "Achtung, drei Besenbeißer aus Ost!"

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Weder Anthelia noch Theia hatte mit diesem unheimlichen Eindringling gerechnet. Mitten im Raum stand, mit dem linken nackten Fuß auf das runde Bett tretend, eine zwanzig Meter hohe, völlig nackte, dunkelbraunhäutige Frau mit ebenholzschwarzem Haar und blattgrünen Augen, mit denen die Gigantin auf die beiden normalgroßen hexen herabblickte. Theia fühlte sofort eine sehr starke Ausstrahlung von dieser selbst die größten Riesen überragenden Frauengestalt ausgehen. Ebenso fühlte sie die Körperwärme und roch den Duft von warmer Haut und etwas wie Waldduft.

Anthelia erschrak heftig, als das aus dem Nichts erschienene Ungetüm sie fast unter dem Fuß hatte. Noch mehr erschütterte sie, dass diese Überriesin eine eigene starke Magie ausstrahlte. Für eine einzige Sekunde durchflutete sie die geballte Geistesstärke der Unbekannten. Sie erfuhr so den Grund für das Auftauchen und den Namen der Kreatur. Doch dann verschloss diese ihren Geist so schnell und gründlich, dass Anthelia nichts mehr fühlte als die auf sie wirkende Aura der schwarzen Magie, die wahrhaftig jener Ausstrahlung ähnelte, wie sie sie von Itoluhila und ihrer Schwester Ullituhilia wahrgenommen hatte. Doch das konnte nicht sein, dass es noch eine von denen gab.

"Oh, ihr habt den für mich bereitgelegt. Das ist aber nett", dröhnte die Stimme der im Raum stehenden Riesin. "Mach den wieder wach, Winzling!" befahl sie noch. Anthelia tauschte einen Blick mit Theia. Diese hob ihren Zauberstab und rief noch einmal "Congelanto Omnimagines!" Für einen Moment erstarrte die Fremde. Dann sprühten violette Funken aus ihrem Körper, und sie regte sich wieder. Mit einer blitzartigen Handbewegung in Richtung Theia griff sie zu und hob sie mehr als fünf Meter nach oben. "Von dir will ich nichts, kleine Zauberstabschwingerin. Es sei denn, du möchtest dich mir mit Leib und Seele darbringen. Aber ich bin nicht wegen dir oder der anderen hier, die einen ganz interessanten Lebenshauch verströmt. Ich will ihn, Hironimus Pickman."

"Die ist ein Hybrid zwischen gemalter und natürlicher Welt", dachte Theia. Anthelia sah die Unbekannte an und sagte: "Hast du dich schon mit deinen echten Schwestern getroffen, Grünauge?"

"Noch nicht. Aber wenn ich ihn hier zu mir genommen habe mache ich das ganz gerne", dröhnte die Stimme der anderen. "Du da mach ihn wieder wach, damit er mitbekommt, dass ich ihn mir einverleibe. Oder ich verschlinge deine Mitschwester zuerst."

"Er soll uns verraten, was er alles angestellt hat", sagte Anthelia, während Theia in der rechten Hand der Riesin hing und wohl um ihre Unversehrtheit bangte.

"Das kann ich für euch rausfinden", sagte die unheilvolle Unbekannte mit ihrer dröhnenden Stimme. Da schlug Pickman die Augen auf und erkannte, was baumhoch über ihm war.

"Verdammte Brut. Das kann nicht sein! Du bist vernichtet. Du kannst nicht leben. Ihr wollt mich verulken, ihr zwei Nachtfraktionsschlampen!"

"Ich lebe und will weiterleben, kleiner Bildermaler. Du hast mich erschaffen und wolltest mich wieder vernichten. Aber ich lebe und werde weiterleben", dröhnte die Überriesin. "Aber wo du jetzt wach bist vertue ich keine Zeit mehr." Mit diesen Worten ließ sie Theia einfach fallen. Anthelia fing sie mit ihrer telekinetischen Kraft auf und ließ sie sicher auf den Boden kommen. Die nun freigewordene Hand benutzte die Überriesin, um Pickman zu umfassen und vom runden Bett hochzureißen. Anthelia und Theia mussten die Gedanken der Unheimlichen nicht erfassen, um zu wissen, was sie vorhatte.

"Lass ihn runter und verschwinde wieder!" rief Anthelia und hob das Schwert. Sie ließ die Flammenklinge auflodern. Doch die Unheimliche beachtete das nicht. Sie riss Pickman, der nun wild schrie, vor ihren weit geöffneten Mund. Dann stieß sie ihn mit einem entschlossenen Ruck hinein und schloss den Mund. Pickman schrie nun dumpf klingend weiter. Die Überriesin verzog ihr Gesicht. Dann hüpfte ihr Kehlkopf. Anthelia und Theia hörten die gnadenlos lauten Schluckgeräusche und die immer gedämpfteren Angstschreie Pickmans.

Anthelia trat vor, hob das Schwert und wollte zuschlagen. Da fegte die rechte Hand der Riesin knapp über sie weg und erzeugte einen so heftigen Luftstoß, dass Anthelia die Balance verlor und gerade so noch verhindern konnte, dass die lodernde Klinge sie selbst traf. Dann erfasste sie Pickmans Gedanken und bekam mit, wie er immer tiefer in den Leib seiner eigenen Schöpfung hineingeriet. Sie hatte es geschafft, ihn in einem Stück lebendig zu verschlingen. Er wusste, dass er verloren war. Seine Gedanken waren von Angst und Verzweiflung geprägt. Dann landete er wohl im Magen der Überriesin, die er selbst als zehnte Tochter des Abgrundes gemalt und zu widernatürlichem Leben erweckt hatte. Doch wieso sie die Grenze zwischen Bilderwesen und natürlicher Existenz überschritten hatte wusste Anthelia nicht. Sie hörte nur die stark gedämpften Schreie Pickmans, den ein grauenvoller Tod erwartete. Sie sah Theia an und wusste, dass auch sie wohl an den schrecklichen Moment dachte, als sie beide damals von Valerie Saunders, der Entomanthropenkönigin, lebendig verschluckt worden waren, wobei Anthelia damals durch ihren eigenen fünffach verstärkten Infanticorporefluch als Daianiras ungeborene Tochter in ihrer Gebärmutter eingeschlossen war. Nur der Gürtel der zwei Dutzend Leben hatte sie vor dem Verdautwerden bewahrt. Pickman würde dieses Glück nicht haben.

"Er wird sich freuen, wenn er seinen schwächlichen Körper los ist, mit mir vereint zu bleiben. Sein Leben gibt mir die Kraft, in dieser Welt zu bleiben", lachte die Unheimliche. Dann begann sie zu schrumpfen. Pickmans Angst- und Schmerzensschreie wurden leiser und höher. Er schrumpfte also mit ihr zusammen.

"So, was wollt ihr von ihm wissen, wo ich ihn und sein Wissen nun in mir trage?" fragte die Unheimliche und blickte Anthelia und dann Theia an. Als sie Anthelias loderndes Schwert sah verzog sich ihr Gesicht. Anthelia sah sie kampfbereit an und holte mit ihrer Waffe aus. Ohne noch ein Wort zu rufen führte Anthelia einen mächtigen Streich gegen den Hals der Unheimlichen. Das Flammenschwert prallte mit voller Wucht auf.

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Will Bradfield dachte, was für einen verrückten Traum er gehabt hatte. Er sollte drei lebendig gewordene Bilder gekauft haben und durch eine merkwürdige Blutamme zu einer Art Vampir geworden sein. Offenbar hatte er schon zu viele Grusel- und Erotikbilder gekauft, dass ihm solche Träume kamen. Er überlegte, ob sowas auch Aldo Burton passiert sein mochte, der ja auch gerne irgendwelche Zwischendinger zwischen Sex und Horror anschaffte. Doch von dem hatte er seit Tagen nichts mehr gehört. War dem was passiert? Er wusste nur, dass er heute, am 30. November, noch einiges nachzuarbeiten hatte, was während seiner Grippe liegen geblieben war.

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Hironimus Pickman wusste, dass er verloren hatte. Er war das Opfer seiner eigenen Schöpfung geworden. Alontrixhila hatte die Vernichtung ihres Bildes überlebt und war wohl noch mächtiger geworden, als er sie eigentlich hatte haben wollen. Während er in ihrer heißen, schleimigen Speiseröhre in die Tiefe glitt und von den Muskeln immer weitergeschoben wurde erkannte Pickman, dass er doch besser auf den dunklen Lord hätte hören sollen, nicht mit dem Haar einer echten Abgrundstochter herumzuwerkeln. Er wusste, dass er wohl gleich die größte Todesqual erleiden würde und es damit nicht vorbei sein würde. Das von ihm geschaffene Ungeheuer sog fremde Seelen in sich ein. Also würde sein Ich, wenn der Körper restlos verdaut sein würde, in ihren geist eingesogen und dort für alle Zeiten ihr unterworfen sein. Er würde mitbekommen, was sie tat, sich die Welt holte, womöglich sogar gegen Vengor kämpfte und ihn besiegte. Doch sie würde ihn für sich ausnutzen, ihn leiden lassen, weil er versucht hatte, sie zu vernichten. Er fühlte die ersten Tropfen der zersetzenden Magensäure auf seiner Haut. Wieso hatten diese Hexen ihn ausgezogen?

Er schrie auf und wusste, dass das gerade erst der Anfang seiner Agonie war. Dann fühlte er, wie sich alles um ihn zusammenzog. Doch auch er wurde zusammengestaucht. Was sollte das jetzt?

"Was wollt ihr von ihm wissen, wo ich ihn in mir trage?" hörte er laut um sich herum seine Überwinderin fragen. Als ob das ein an ihn gerichteter Befehl war gingen ihm Bilder von seinen Taten durch den Kopf, seine Bilder, wo er sie wem auf der Welt zugespielt hatte, seine Begegnungen mit Vengor. Dann fühlte er einen starken Aufprall und sah für einen winzigen Moment orangerotes Licht um sich.

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Albertine sah sie. Die anderen sahen sie nicht. Drei aalartige, durch die Luft schwirrende Körper, die zielgenau auf die Formation der Besenflieger zuhielten. In verschiedenen Höhen jagten die gefährlichen, offenbar getarnten Flugkörper heran. Albertine konnte gerade noch eine Warnung ausrufen, als einer der fliegenden Körper bereits die fliegende Dschunke der chinesischen Ministeriumszauberer erreichte und sich darin verbiss. Unverzüglich schlugen helle Flammen aus dem bezauberten Holz des fliegenden Schiffes heraus. Albertine ließ ihre magischen Augen kreisen und konnte gerade noch sehen, wie der zweite Besenbeißer sich Haselwurzes Besen aussuchte. Der dritte zielte auf sie, weil sie weiter vorne flog. Es fehlten nur noch wenige Meter bis zum tödlichen Zusammentreffen.

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Yanxothars Klinge prallte mit voller Wucht an den Hals der wandlungsfähigen Widersacherin. Anthelia war darauf gefasst, dass die brennende Klinge den Kopf vom Rumpf trennte oder die Feindin in Flammen aufgehen ließ. Doch nichts dergleichen geschah. Die Flammenklinge erlosch, und die Wucht des Aufpralls entwand Anthelia die Waffe. Klirrend fiel das nun wie ein besonders verziertes Kurzschwert beschaffene Machtmittel Yanxothars zu Boden. Die Unheimliche, deren Namen Anthelia von ihr und jetzt auch von dem in ihrem Magen begrabenen Pickman erfahren hatte lachte laut. "Wolltest du mir meinen Kopf abschlagen, mit einem Feuerschwert? Ich habe die Kraft von hundert Bäumen in mir, kleine kurzlebige Kröte. Also willst du zu Pickman rein und mir deinen Leib und deine Seele opfern. Dann soll es so sein. Dein Körper ist stark und wird mich noch mehr kräftigen."

Anthelia sprang zurück. Der Verlust des Schwertes hatte sie nur für einen Moment erstarren lassen. Als die Andere wieder zu wachsen begann zielte Anthelia mit dem Zauberstab auf den Boden und stieß Worte der sich öffnenden Erde aus. Alontrixhila geriet mit ihren Füßen in einen plötzlich aufklaffenden Erdspalt und versank bis zur Unterkante Brustkorb darin. Sie wuchs jedoch weiter an. Anthelia wirkte sofort den Erdschließungszauber. Ja, die Macht der Erde war stärker als die Feuerklinge Yanxothars. Sie drückte gegen den Körper der Unheilvollen, die versuchte, dagegen anzuwachsen. Doch es gelang nicht. Sie erzitterte und stieß eine wüste Verwünschung aus. Anthelia indes sang nun immer Lauter das Lied von der sich schließenden und erhärtenden Erde. Aus Alontrixhilas Körper sprühten violette und grüne Funken, während die gerade mal auf drei Meter angewachsene Fremde versuchte, mit ihren Händen den Erdspalt zu erweitern. Doch sie wurde ringsrum eingeschlossen. Dann flimmerte ihre Gestalt. Eine Viertelsekunde später war sie einfach weg. Ein kurzes Fauchen und ein leichter Sog zeigten, dass sie auf magische Weise verschwunden war. Mit einem lauten Krachen schloss sich das Loch im Boden, in das Anthelia die Widersacherin hatte hineingeraten lassen.

"Sie ist weg", stöhnte Anthelia und zitterte vor Anstrengung. Dann fühlte sie aus allen Richtungen das Erwachen dunkler Kräfte. Offenbar wirkte nun, wo Pickman nicht mehr hier war, eine Art Vernichtungszauber. Sie tauchte schnell nach dem Schwert und bekam es am Griff zu fassen. Sogleich loderten die Flammen an der Klinge wieder auf.

"Wir müssen raus hier. Pickmans Versteck zerstört sich gleich selbst!" rief Anthelia Theia zu. Diese begriff. "Apparieren geht hier nicht", sagte sie.

"Müssen wir auch nicht. Komm, halt dich an meinem Arm fest, Schwester Theia!"

"Ich bin nicht deine ... Was soll's!" fauchte Theia und packte Anthelias linken Arm. Die Führerin der Spinnenhexen hob das brennende Schwert und befahl ihm, sie auf dem Weg des Feuers von hier fortzutragen. Keine Sekunde später wurden sie von einer orangeroten Feuersphäre umschlossen und davongerissen.

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Es fehlte nur noch ein Schritt zum Erfolg. Der Dunkelmagier, der sich Lord Vengor nannte, fühlte bereits die Wechselwirkung zwischen sich und der Barriere wie ein Prickeln auf der Haut. Da vernahm er einen lauten Wutschrei in seinem Geist, der auch den hinter ihm sichernden Nachtschatten Corvinus Flint erreichte. Denn unvermittelt tauchte Flint als düstere Erscheinung neben Vengor auf. Der verharrte auf der Stelle, weil er nicht wusste, was er verkehrt gemacht haben sollte. Dann hörte er die aus Wut in der Tonhöhe verrutschte, überlaute Gedankenstimme dessen, zu dem er hingehen wollte:

"Dieses abtrünnige Weibsbild, diese Mutter aller Huren! Sie hat meinen Diener getötet! Sie hat ihn umgebracht, meinen treuesten Diener!!" Die Macht dieses Wutausbruches war so stark, dass Iaxathans Stimme als vielfaches Echo in Vengors Gedanken nachhallte. Er fühlte ein Pochen unter der Schädeldecke und merkte, wie der einem zweiten Herzen gleiche Unlichtkristall heftiger pulsierte. Offenbar hatte der Aufschrei Iaxathans eine unheilvolle Kraft entfesselt, die jeden arglosen Menschen verletzt oder in den Wahnsinn gestürzt hätte. Und als wäre dieser Aufschrei ein Beschwörungsruf gewesen, tauchten vor Vengor vier halbdurchsichtige, wie schwarzer Rauch beschaffene Gestalten auf, deren Gesichter er in einem bläulichen Licht widerscheinen sehen konnte. Er erkannte sie sofort. Das waren diejenigen, die die beiden Verkehrsflugzeuge in die Türme des Welthandelszentrums gelenkt und damit den Keim für Vengors Unlichtkristall gelegt hatten. Ihr freiwilliger Tod hob ihre Erscheinungen im Einfluss dunkler Zauberkraft hervor.

"Es stimmt, Kanoras wurde von einer übermächtigen Kraft aus seinem Körper gerissen und dabei zerrissen. Ich konnte seinen Todesschrei hören", wisperte Flint seinem Herrn aus Fleisch und Blut zu. Und als wenn das noch nicht genug Ungemach war hörten Vengor und sein Schattendiener einen schrillen Anstschrei: "Nein, ich will nicht! Nein, Gnade! Aaaaaaahh!" Vengor fuhr herum und starrte auf das völlig schwarze Bild, dass er einige Schritte weiter zurück an einen Stein gelehnt hatte, das Bild des Schreckensclowns von Hironimus Pickman. Gerade zeigte sich die kalkweiß gefärbte Fratze des Clowns auf dem schwarzen Vordergrund. Kleine rote Funken sprühten aus dem Bild. Dann sah Vengor, wie das Clownsgesicht immer mehr zerlief, als bestünde es nur aus einer sirupartigen Masse. Die schrillen Schreie des gemalten Boten wurden von kurzen Knacklauten unterbrochen und gingen in ein nichts gutes bedeutendes Gurgeln und Röcheln über. Dann zerlief das Gesicht vollständig. Im selben Moment, wo von ihm nichts mehr zu sehen war, fauchte eine blutrote Stichflamme aus dem Bild heraus und stieß zwei Meter in die Höhe. Eine Sekunde blieb die Flammenfontäne stabil. Dann fiel sie mit lautem Wuff in sich zusammen. Von dem Bild war nun nichts als glimmende Asche übrig.

"Irgendwer hat was gemacht, dass Pickmans Bild vernichtet wurde", wisperte Flint. Vengor nickte. Ihm war klar, dass es nicht nur dieses eine Bild war, das da gerade vernichtet worden war. Ihm wurde bewusst, dass er Pickmans Macht hoffnungslos überschätzt hatte. Jemand hatte es geschafft, seine Schreckensbilder mit entsprechenden Gegenzaubern zu belegen, um sie zu zerstören. Vielleicht war auch wer zu Pickman vorgedrungen, um in seinem Versteck alles von ihm geschaffene auf einen Schlag zu zerstören. Betraf das nur seine Bilder? Aber Vengor hatte es nicht geschafft, die auf der Welt verstreuten Träger von Pickmans Lebenskraftausstrahlung vom Original zu unterscheiden. Wer hätte das also sonst schaffen sollen?

"Lass den Schatten wieder zurückweichen und tritt endlich vor mich hin, damit wir unseren Bund begründen, Vengor!" befahl Iaxathan mit unverkennbarer Verärgerung. "Du sollst mein Rächer sein, um den Tod von Kanoras zu vergelten. Komm jetzt zu mir!"

"Ja, Meister Iaxathan, ich komme jetzt zu dir", erwiderte Vengor rein gedanklich. Die vier schemenhaften Gebilde, die bis dahin noch vor ihm geschwebt waren, flankierten Vengor. Dann verschwanden sie. Aber er fühlte, dass sie über den in ihm wirkenden Kristall immer noch mit ihm verbunden waren. Jetzt galt es. Wie immer Kanoras sein Ende gefunden hatte, er musste nun ganz allein zu Iaxathan vordringen. Doch irgendwie empfand er sogar eine gewisse Beruhigung bei dem Gedanken, dass Kanoras nicht mehr da war. Doch das durfte er Iaxathan nicht wissen lassen. Er okklumentierte so gut er konnte.

Vengor schickte Flint dreißig Schritte weit zurück, die Entfernung, die der Nachtschatten innerhalb einer Zehntelsekunde überwinden konnte, wenn es darauf ankam. Außerdem befahl er ihm, auf dreißig Meter aufzusteigen, um die Umgebung zu beobachten. Denn jetzt, wo wohl jemand Pickmans Bilder vernichten konnte, gelang es den Ministeriumszauberern aller Länder vielleicht, sich der Bedrohung zu entledigen und darauf zu kommen, dass das nur ein Ablenkungsmanöver war. Wenn die dann nach ihm suchen sollten wollte er nicht überrascht werden. Er sah noch, wie Flints blaue Augen wie kleine, kalt leuchtende Suchlichter die Nacht durchdrangen.

Der selbsternannte Erbe des dunklen Lords prüfte noch, ob seine Besenbeißer auf Posten waren. Sie flogen in einem Halbmesser von vier Kilometern in einer Kreisbahn, wobei die drei tückischen Artefakte auf unterschiedlichen Flughöhen blieben. Wer auf bezauberten Fluggeräten ankam würde eine böse Überraschung erleben, dachte Vengor.

Er wollte sich gerade wieder der Barriere zuwenden, als er ein merkwürdiges Gefühl hatte. Es war, als würden ferne Stimmen nach ihm rufen. Stimmen, die nur flüsterten. Er verstand nicht, was sie sagten. Doch da war noch dieses Gefühl, als würden von allen Seiten gleichzeitig unsichtbare Finger über ihn streichen. Dabei bewirkten sie ein spürbares Aufwallen seines Blutes. Er meinte, viele kleine Luftblasen in den Adern zu haben. Der in ihm wirkende Unlichtkristall pochte stärker und sandte Wellen aus heißen und kalten Schauern durch seinen Körper. Jemand griff ihn aus der Ferne an. Was für ein Zauber konnte das sein?

"Sie wissen, wer und wo du bist, mein treuer Verbündeter. Komm sofort zu mir, damit wir beide sie zurückschlagen!" hörte er Iaxathans Geistesstimme wie aus weiter Ferne. Denn immer noch okklumentierte er, um Iaxathan nicht seine wahren Gefühle zu verraten.

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"Du Mutter aller Huren, ich werde dich bald aus dem Stein herausquetschen und in alle Richtungen des Raumes verstreuen lassen!" schimpfte Iaxathan, als er die unmittelbare Wut über Kanoras' Ende halbwegs überwunden hatte. "Gleich ist mein Knecht bei mir. Dann beginnt die Jagd auf dich selbst", drohte er.

"Wenn der nicht zu schwach ist, Flaschengeist", hörte Iaxathan die Geistesstimme seiner größten Widersacherin, die er einmal für seine mächtigste Helferin und bedingungslos treue Dienerin gehalten hatte, bis ein verfluchter Träger des Sonnenkindblutes ihren zweiten Körper verbrannt und damit alle Seelen von ihr und ihren Dienern in den mächtigen Mitternachtsstein hineingetrieben hatte, wo sie sich zu einem Gefüge aus tausend Einzelseelen verbunden hatten.

"Glaubst du echt, dass dieser Möchtegernerzmagier mich vernichten kann, selbst wenn du ihn dir ganz unterwirfst und er alles für dich tut? Ich bin viele, und der heilige Stein gibt mir die Kraft, jeden zu töten, den ich nicht daran rühren lassen will. Aber pass besser auf, ob der kleine Kristallzüchter auch wirklich durch die böse Mauer dringen kann, die jemand vor deine Haustür gebaut hat!"

"Er hat Flint gerade auf Wache geschickt. Gleich ist er bei mir", frohlockte Iaxathan. Doch ihm gefiel nicht, dass Vengor seinen Geist gegen ihn zu verschließen trachtete. Zwar konnte er ihn in seiner Nähe fühlen, die an der Oberfläche seines Bewusstseins treibenden Gedanken wie leises Flüstern hören. Doch die tiefergehenden Empfindungen und Erinnerungen verschwanden hinter einem dunklen Nebel. Er wollte ihn gerade maßregeln, sich nicht vor ihm zu verschließen. Da erfasste der in seinem eigenen Artefakt eingekerkerte, wie eine unsichtbare Wolke aus Zauberkraft den erhofften Knecht umwehte. Diese Wolke war aus dem Nichts heraus aufgetaucht, hatte sich förmlich um den Zauberer gebildet, der sich Vengor nannte. Zwar fühlte Iaxathan auch, wie die Abwehrkraft des Unlichtkristalls diese unsichtbare Umschließung zurückdrängte. Doch Iaxathan erkannte, dass nun keine Zeit mehr zu verlieren war. Er befahl Vengor mit der ganzen Kraft seiner Gedankenstimme, zu ihm hinzukommen. Er hörte seinen Ruf als sehr leisen Widerhall in Vengors Geist und erfasste, dass dessen geistige Verhüllung durchlässiger wurde. Jetzt würde Vengor zu ihm kommen, sein treuer und bedingungslos gehorsamer Knecht werden.

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Vengor stemmte sich gegen die ihn überstreichende Kraft, die sein Blut zum brodeln trieb. Was für ein Zauber war das bloß, der ihn da berührte? Egal, er musste jetzt schnell zu Iaxathan. Er wandte sich wieder der Barriere zu. Nur zwei Schritte stand er von ihr fort. Erst mit dem rechten Fuß den vorletzten Schritt tuend fühlte er das Kribbeln der ihn abweisenden Kraft. Doch gleich würde er mit der geballten Kraft der von ihm ausgeführten Tötungen, als einziger Überlebender der Ignipictorius-Blutlinie die Barriere durchbrechen. Er hob den linken Fuß zum letzten fehlenden Schritt an.

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Anthelia und Theia erschienen aus einer orangeroten Feuersphäre heraus auf der Talsohle von Cloudy Canyon. "Da wolltest du doch hin, Schwester Theia", meinte Anthelia.

"Wir hätten dieses Weib nicht so einfach abziehen lassen dürfen", grummelte Theia. Jetzt kann es Pickmans Bilder weiterbenutzen, abgesehen davon, dass wir eine weitere Feindin dazugewonnen haben."

"Ich habe es versucht, sie zu schwächen, Theia. Aber sie konnte sich noch davonmachen, trotz Pickmans Appariersperre. Kann daran liegen, dass sie ihn da gerade verschlungen hat."

"Sind wir jetzt wirklich weiter?" fragte Theia. Anthelia überlegte. Dann fiel ihr was ein. "Wenn Pickmans Versteck sich selbstvernichtet könnten auch alle von ihm benutzten Lenkartefakte zerstört werden. Dann hat dieses Biest nichts mehr von der Aktion außer einer Menge weiterer Feinde."

"Auf jeden Fall sollten wir unsere Vertrauten informieren, dass wir Pickmans Versteck gefunden und eine übermächtige Gegnerin angetroffen haben", sagte Theia.

"Ja, das müssen wir", seufzte Anthelia. Dass sie Alontrixhila nicht mit dem Feuerschwert hattte töten können bedrückte sie mehr als sie eingestehen wollte. Um Pickman machte sie sich keine Gedanken mehr. Er hatte das bekommen, was ihr beinahe passiert wäre. Auch konnte sie sich vorstellen, dass die wahren Abgrundstöchter es nicht so einfach hinnahmen, dass Pickman aus Itoluhilas Haar eine zehnte Tochter mit wesentlich größeren Kräften erschaffen hatte. Vielleicht verging diese aber auch, wenn Pickman von ihr verdaut worden war, weil sie aus seiner Magie heraus erschaffen worden war. Was zutraf würde wohl die Zukunft zeigen.

"Auf jeden Fall waren wir zwei ein schlagkräftiges Einsatztrüppchen", musste Anthelia noch anbringen. "Es ist schade, dass du und ich Konkurrentinnen sind."

"Wollen hoffen, dass wir nicht bald wieder Feindinnen sind", grummelte Theia. Anthelia bestätigte, dass ihr nicht daran gelegen war. Sie verabschiedete sich und verschwand in einer weiteren Feuersphäre. Theia sah auf die nun leere Stelle und sagte dann: "Heimsprung!" Damit löste sie den in ihrer linken Umhangtasche verborgenen Portschlüssel aus, der sie direkt vor ihr kleines Haus trug.

"Und, hat sie versucht, dich für ihre Schwesternschaft zu werben?" fragte Eileithyia Greensporn, als Theia wieder zu Hause war.

"Heute nicht, Oma Thyia. Das war wohl nicht der rechte Anlass", sagte Theia Hemlock.

Anthelia erschien vor der alten Daggers-Villa und ließ die Flammen am Schwert erlöschen. Dann kam ihr die Idee, Yanxothars im Schwert verankerte Seele zu befragen, weshalb die Klinge gegen Alontrixhila nichts ausgerichtet hatte.

"In diesem Körper steckten mehr als fünfzig Leben. Ich habe versucht, sie alle zu beenden. Doch das gelang mir nicht. Außerdem zehrte sie so stark vom mir zu Gebote stehenden Feuer des großen Himmelsvaters, dass ich selbst es nicht aufrechthalten konnte. Sie sog diesen Teil meiner Kraft in sich auf, bevor die mir verfügbare Kraft aus dem glutheißen inneren der großen Mutter stark genug war, sie doch noch zu durchdringen. Du hast eine starke Gegnerin erhalten, Naaneavargia."

"Ja, und wenn Vengor seinen Plan ausführt und sich mit Iaxathan verbindet stehen uns düstere Zeiten bevor", bemerkte Anthelia/Naaneavargia dazu.

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Mater Vicesima hielt einen Zweiwegespiegel in der rechten Hand. Gerade eben hatte der gezittert. Um nicht von ihren heimlichen Verbündeten erkannt zu werden trug sie die für Außeneinsatztruppen vorgeschriebene Maskierung, die ihr den Anschein eines überlebensgroßen Babykopfes verlieh.

Im Spiegelglas erschien ein goldfarbenes Gesicht mit smaragdgrünen Augen. "Ah, du möchtest mir auch nicht verraten, wer du bist. Das erkenne ich an", sagte eine eindeutig weibliche Stimme vom Spiegel her. "Gut, ich mach es kurz. Wenn du jemand aus der Führungsgruppe von Vita Magica bist, so teile den anderen bitte mit, dass wir ihn geortet haben. Die Bezauberung hat ihren Fokus gefunden. Zwar scheint der in diesem Unhold wirkende Kristall dagegenzuhalten. Doch noch haben wir nicht alle geweckt, die wir in den Zauber einbeziehen wollten. Aber ich kann dir zumindest die Standortbezugspunkte geben."

"Himalayagebirge, nicht wahr", erwiderte Vicesima. Ihre Stimme wurde durch die Maske zur Kleinmädchenstimme verfremdet. Das ebenfalls maskenhafte Goldgesicht im Spiegel ruckte kurz vor und zurück.

"Interessant, wie seid ihr darauf gekommen?" wollte die Goldmaskenträgerin wissen.

"Wir haben einige Quellen aufgetan, die im neunzehnten Jahrhundert beim Angriff der Vierschatten dabei waren. Zwar konnten wir leider nicht ergründen, wo dieser verfluchte Gegenstand steht, den der dunkle König aus dem alten Reich zu seinem Überdauerungsgefäß gemacht hat. Aber die gesicherten Aussagen deuteten auf ein Gebirge, dessen Gipfel meilenhoch über alle Wolken reichen. Da kommt dann eben nur das Dach der Welt in Frage."

"Ja, und das ist sehr weitläufig, und die Gipfel ragen eben meilenhoch über alle Wolken hinaus", erwiderte die golden maskierte Frau im Spiegelglas hörbar ungehalten. Mater Vicesima, die darauf hoffte, bald einen neuen Ehrennamen zu erwerben, nickte ihrer weit entfernten Gesprächspartnerin zu. Dann erbat sie höflich die genauen Positionsangaben. Es dauerte nur eine Minute, bis sie alle Längen- und Breitenangaben auf die Winkelhundertstelsekunde genau hatte und am Schluss auch noch die auf zwei Meter genauen Höhenangabe erhielt. Je länger der von den anderen gewirkte Zauber dauerte und je mehr magische Menschen darin einbezogen wurden, desto genauer wurde der Standort ermittelt. Nur die anderen, die sich als Hüter des Gleichgewichtes bezeichnet hatten und ebenso wie Vita Magica auf Verborgenheit und Heimlichkeit bedacht waren, konnten diesen Zauber ausführen, weil diese so viele der geeigneten Menschen in ihrer Obhut hatten. Mater Vicesima notierte alle Angaben und versprach, sofort eine Außentruppe auszurüsten und loszuschicken.

"Vergiss bitte nicht, dass dieser Dunkelkristall jeden Kampfzauber schluckt oder auf den Ausführenden zurückwirft!" riet ihr die Goldmaskierte.

"Wir werden ihn nicht mit Angriffszaubern belegen, sondern ihn mit der größten Gegenkraft gegen diesen vermaledeiten Todeskristall konfrontieren, weil wir dafür die besseren Voraussetzungen haben als eure Gruppe", erwiderte Vicesima. Die andere nickte. Das war ja auch der Grund, warum ihre heimliche Organisation es gewagt hatte, mit Vita Magica Kontakt aufzunehmen. Aber ob das was bei Kristallstaubvampiren ging auch bei einem Menschen ging, der womöglich einen kompakten Todeskristall am oder im Körper trug? Falls der Feind den Kristall in einem dafür gemachten Gegenstand aufbewahrte verfehlte der Einsatz wohl das Ziel. Sie konnten nur hoffen, dass der, der sich Vengor nannte so machtgierig gewesen war, den Kristall direkt am Körper oder im Körper zu tragen.

Als die goldmaskierte Frau aus dem Spiegelglas verschwand und nur noch Mater Vicesimas gerade getragene Babykopfattrappe zu sehen war steckte die derzeit ranghöchste Hexe aus dem Rat des Lebens den Spiegel wieder in den Licht- und Schallundurchlässigen Lederbeutel zurück und legte diesen auf den mit einer weißen Leinendecke gedeckten Beistelltisch zurück.

Da ihre Verkleidung gegen jede Form von Bewegungs- und Aufrufezauber abgesichert war musste sie sich mit eigenen Händen daraus befreien. Erst als sie völlig nackt neben dem rosaroten Strampelanzug, der übergroßen Reisewindel und der Babykopfattrappe mit der Halsmanchette stand konnte sie sich durch den Schnellumkleidezauber in ihre gewohnten Sachen hüllen. Ihr war dabei ein wenig schwindelig. Diese Empfindung besorgte sie jedoch nicht, sondern brachte sie zum lächeln. Sie trug Bluecastles Kind in sich, vielleicht sogar zwei auf einmal. Das würde sie in den nächsten Tagen noch genauer ergründen, falls ihr dieser selbsternannte Erbe Riddles die Gelegenheit dazu ließ. Denn trotz aller Vorkehrungen durfte sie nicht ganz ausschließen, dass der Einsatz zu spät erfolgte und dieser Narr sich bereits dem gefangenen Geist dieses Erzmagiers Iaxathan unterworfen hatte, um durch diesen unbeschreibliche Macht zu erhalten, die durch diesen Todeskristall noch verstärkt wurde.

Es dauerte nur zwei Minuten, da waren dreißig ihrer besten Außeneinsatztruppler bereit, hauptsächlich Zauberer, da viele der in den Stützpunkten versteckten Hexen gerade selber Kinder austrugen. Jeder der Einsatztruppler schulterte zwei gerade wenige Tage und Wochen alte Säuglinge. Diese trugen bezauberte Socken, die beim Erreichen eines festgelegten Ortes die kleinen Füße kitzeln sollten. Dieser eigentlich als gemeiner aber harmloser Fluch von Vindictus Viridian erfundene Zauber sollte die sechzig kleinen Menschenkinder zu Lautäußerungen veranlassen. Hauptsache, der Todeskristall wurde dabei entkräftet.

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Ein greller Blitz zuckte ihm entgegen. Ein mörderischer Schlag, als sei er mit einem Flugbesen gegen eine Granitwand gerast, schlug erst seinen Fuß zurück und warf dann ihn selbst im hohen Bogen zurück. Der Zauberer, der sich Vengor nannte, hörte die lauten Aufschreie in Todesangst befindlicher Menschen, aber auch inbrünstige Anrufungen Allahs, während er von der Wucht des Anpralls durch die Luft gewirbelt wurde. Als er dann mit lautem Krachen gegen eine von Eis überzogene Felswand prallte war dieser Aufschlag nicht so schmerzhaft wie das, was ihn so brutal zurückgestoßen hatte. Der Unlichtkristall in seinem Körper pochte wie wild und jagte heiße und kalte Schauer durch seinen Körper. Er fühlte, wie seine malträtierten Nervenstränge, Muskeln, Knochen und Blutgefäße sich schnell wieder erholten. Vor seinen Augen flimmerte die Luft. Er meinte, die blitzartig auftauchenden und sogleich wieder verschwindenden Gesichter all der Menschen zu sehen, die er selbst im vergangenen Jahr getötet hatte.

Keuchend kam er wieder auf die Beine. Es ziepte noch einmal in seinem linken Bein. Dann verebbten alle Schmerzen und Visionen. Er stand da, sah sich um und fühlte wieder diese unsichtbaren Finger, die über ihn glitten. Dann hörte er einen neuen Wutschrei in seinem Geist:

"Verdammter Versager. Wieso bist du nicht durchgedrungen? Los, sofort noch einmal versuchen! Oder du wirst für dein Versagen bestraft, wie ich es verkündet habe."

"Meister Iaxathan, ich weiß nicht, warum die Barriere mich immer noch abwehrt. Aber ich werde sie durchdringen", erwiderte Vengor. Dann sah er, dass er weit hinter dem wie eine wabernde Wolke mit hellblauen Lichtern darin schwebenden Flint zurückgeworfen worden war, also mehr als dreißig Schritte. Das konnte nicht sein. Iaxathan hatte doch gesagt, dass er nur alle seine Verwandten töten musste, um die Barriere zu durchbrechen. Er hatte doch alle getötet, das wusste er ganz genau. Und wer zum gefräßigen Urdrachen versuchte immer noch, ihn mit einem Zauber zu erreichen?

Vengor wandte sich wieder der Barriere zu. Er sah, dass sie nicht mehr unsichtbar war, sondern flimmerte. Kleine goldene Funken tanzten frei in der Luft herum, auf und ab, von links nach rechts und von rechts nach links flitzend. Vielleicht musste er sie nur mit der nötigen Entschlossenheit durchbrechen. Er konzentrierte sich auf den in ihm wirkenden Unlichtkristall und trieb ihn dazu, ihn in seine schwarze Aura zu hüllen, die gegen alles wirkte, was ihm zusetzen wollte. Doch er wusste, dass reine Heilzauber diesen Schutz durchdrangen und dabei zu Schmerz- und Schadenszaubern gegen ihn verkehrt wurden. Aber er musste es versuchen.

Er lief los, rutschte fast auf den eisigen Stellen auf dem Felsboden aus. Dann erreichte er wieder die Barriere. Er sprang förmlich vor.

Wieder blitzte es grell vor ihm auf. Gleichzeitig war ihm, als berste der Kristall in seinem Brustkorb. Er wurde erneut davongeschleudert wie von einem Katapult. Diesmal prallte er jedoch nicht auf eine Felswand, sondern flog etliche Dutzend Meter weit, bis er auf dem Rücken landete und vom Restschwung noch drei Meter weit zurückrutschte. Wieder umflogen ihn Visionen von Gesichtern von Menschen, die er selbst getötet hatte. Aber es waren nicht die, die er beim ersten Mal gesehen hatte. Wieder vergingen diese blitzartigen Erscheinungen nach nur drei Sekunden im Nichts. Die ihn umfließende schwarze Aura war restlos erloschen. Aber der Unlichtkristall war nicht zerbrochen, wie Vengor zunächst befürchtet hatte. Er pochte noch wie ein schnell schlagendes Herz auf der rechten Seite seines Brustkorbes.

"Du elender, verdammter Versager. Du hast es nicht geschafft, die Macht zu gewinnen, um die Barriere zu durchbrechen. Du hast nicht alle getötet, die mit dir verwandt sind!" brüllte Iaxathans Gedankenstimme. Vengor raffte sich gerade wieder auf, um zu sehen, was mit der Barriere war.

"Ich habe alle getötet, die mit mir verwandt waren, und ich habe sie zu den entsprechenden Zeiten getötet", stieß Vengor aus. Wut und Versagensangst wallten in ihm auf. Hatte er es wirklich nicht geschafft? Würde er auch jetzt nicht durch die Barriere dringen?

"Versuche es nochmals. Schaffst du es wieder nicht, so erstarre zu schwarzem Kristall, als Warnung an alle, die meinen, meine Gunst erwerben zu wollen und nicht würdig waren, zu mir hinzugelangen", gedankenschnaubte Iaxathans Geist.

"Ich komme schon zu dir hin, Meister Iaxathan", knurrte Vengor. Er war jetzt wütend, wütend vor Angst. Denn als Versager wollte er nicht dastehen, ob aus Fleisch und Blut oder als schwarze Kristallstatue.

"Lord Vengor, verhüllt euren Geist, damit die Barriere nicht erkennt, zu wem ihr wollt!" hörte er Flints geisterhafte Stimme aus großer Höhe niederschweben. Ja, das war es. Diese Barriere wehrte ihn ab, weil ihr Erzeuger sie gegen jeden gewirkt hatte, der zu Iaxathan hingehen wollte, um mit ihm zusammenzufinden. So konzentrierte er sich ganz auf die Okklumentik. Damit hatte er auch den dunklen Lord auf Abstand halten können, ähnlich gut wie dessen Lieblingshexe Bellatrix Lestrange und diesen schmierigen, heuchlerischen Kriecher und Verräter Severus Snape, der indirekt zum endgültigen Sturz des dunklen Lords beigetragen hatte.

"Ich werde und will nicht versagen", knurrte Vengor und vertrieb die letzten Gedanken an Wut und Angst aus seinem Kopf. Dann schaffte er es, seinen Geist zu verschließen. Jetzt war er gewappnet. Er konzentrierte sich nicht mehr auf die schwarze Aura des Kristalls. Je weniger dunkle Magie er verbreitete desto leichter mochte er durch die Barriere dringen.

Vor ihm tanzten jetzt noch mehr goldene Funken. An einigen Stellen klafften kurz senkrechte und waagerechte Spalten oder gähnten für einen Augenblick faustgroße Löcher. Die Barriere schien an Stabilität zu verlieren. Dann würde er ihr jetzt zusetzen. Doch als er ihr wieder näherkam, erstarrten die tanzenden Funken und erloschen. Wieder fühlte er ein Prickeln auf der Haut und vom Unlichtkristall dagegenhaltende Schauer im Körper. Hatte er zu lange gezögert, die Barriere zu durchdringen?

Er ging nun gemessenen Schrittes auf die Barriere zu, dabei neben der okklumentischen Verhüllung noch an ein altes Kinderlied aus seiner Heimat denkend. Dann war er wieder an der Stelle, wo sich der weißmagische Wall über die gesamte Talesbreite spannte.

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"Gut, Mater Vicesima. Das Portschloss ist auf die Zielkoordinaten eingestimmt. Allerdings sollten unsere Leute nicht in einem zusammenhängenden Haufen ankommen, sondern besser in einem Kreis von sagen wir mal fünfhundert Meter Durchmesser", sagte Vicesimas ältester Kampfgefährte, der sich vor zehn Jahren ähnlich wie sie freiwillig infanticorporisiert hatte und deshalb gerade rein äußerlich ein schlachsiger Zehnjähriger mit dunkelbraunem Wuschelhaar war.

"Perdy, krieg das bitte so hin, dass alle gleichzeitig ankommen, weil wir sonst auch gleich jeden einzeln hinschicken könnten", sagte Vicesima.

"Wir müssen von folgenden Sachen Ausgehen, Vicesima: In dem Tal ist eine weißmagische Barriere errichtet worden. Diese ganze Mordserie macht nur Sinn, wenn dieser Vollidiot sich gegen einen auf lebenserhaltende Kräfte abwehrenden Zauber einstimmen musste. Außerdem halte ich den ebenfalls in den Genuss einer zweiten Kindheit gekommenen Knurrhahn Adamas Silverbolt für weitsichtig genug, dass er mit seinem silbernen Schmuckstück und seinen alten Zauberkenntnissen den Zugang zu diesem finsteren König vernagelt hat, auch wenn der alte Brummbär die Erinnerungen an den genauen Standort ausgelagert hat, damit keiner mehr dran kommt. Drittens müssen wir davon ausgehen, dass das Versteck unter einer Glocke aus schwarzer Magie liegt, die Apparatoren abwehrt, ebenso unverstärkte Portschlüssel. Deshalb muss das Portschloss noch zehn weitere Minuten lang Kraft sammeln, um den Zielort ansteuerbar zu machen. Und ja, ich kann und werde das einrichten, dass alle unsere Kämpfer mit den kleinen Mitstreitern zur selben Zeit ankommen. Ich wollte nur darauf hinweisen, dass sie dann vielleicht noch einige Schritte laufen müssen. Außerdem wissen wir nicht, wie diese Abwehrmauer auf sie reagiert", sagte der Experte für Portschlüssel und Portschlösser.

"Gut, hat auch was für sich. Unsere Leute nehmen Verfolgerfänger mit. Wenn sie die in einem weiten Umkreis aufstellen überspannen die ein mehrere Quadratkilometer großes Gebiet", sagte Vicesima.

"Öhm, nur für den Fall, dass die Idee nicht funktioniert, meine alte Freundin und Mutter meines ersten Sohnes, was machen wir dann?"

"Auf jeden Fall den schnellen Rückzug antreten, damit die mitgeschickten Kinder nicht gefährdet werden", sagte Vicesima.

"Und wenn wir den Vollidioten echt überrumpeln können, sollen wir den dann hierher zu uns holen oder denen vom chinesischen oder indischen Zaubereiministerium überlassen?"

"Das hängt davon ab, ob wir früh genug hinkommen, um ihn noch anzutreffen oder gar zu besiegen. Aber wenn er nicht wie einer dieser vom Todeskristall imprägnierten Blutsauger stirbt oder sein Gedächtnis verliert will ich den unter die Haube setzen."

"O, dann solltest du den Bringbeutel mitnehmen", sagte der Zauberer, der Perdy genannt wurde.

"Stimmt, der ist besser zum Ergreifen geeignet als zwanzig Paar Hände. Stimm einen davon bitte auf den Zielort ab und vor allem auf das Anfliegen von schwarzmagischen Auren! Auch wenn der Kerl sich unortbar gezaubert hat muss er mit diesem Unheilskristall am oder im Körper eine deutliche Aura verbreiten."

"Yep", erwiderte der wie ein Zehnjähriger aussehende Zauberer schalkhaft grinsend.

"Hmm, könnte es sein, dass auch andere deine geniale Erfindung haben, Perdy?" fragte Vicesima.

"Öhm, ähm, hmm, nun, - Ich fürchte, der Bringbeutel ist kein exklusives Ausrüstungsmittel unserer Gruppe. Einen Monat, bevor ich freiwillig in Windeln und Wiege zurückgekehrt bin und Lotta mich dankenswerter weise mit ihrem kleinen Sören zusammen über die ersten sechs Monate gebracht hat war ich ja in Gelsenkirchen, das liegt im Ruhrgebiet Deutschland. Da hatte ich gerade drei von den neuen Bringbeuteln mit, um sie den Mitstreitern in Deutschland vorzuführen. Offenbar habe ich in diesem Fußballstadion wohl eines dieser Pilsbiere zu viel eingeworfen, oder jemand hat mir da was reingetan. Jedenfalls bin ich erst wieder klar geworden, als die Muggel kamen, die die wild jubelnden Fans aus dem Stadion getrieben haben. Ich weiß nicht mal mehr, ob die in Königsblau das Spiel gewonnen haben. Jedenfalls hatte ich noch alles bei mir, Zauberstab, Portschlüsselgegenstand und den diebstahlsicheren Brustbeutel. Aber den getarnten Tragebeutel mit den drei Bringbeuteln drin hatte ich nicht mehr. Da ich nicht mit Güldenbergs Leuten zu tun haben wollte und die Tasche ohnehin einen Selbstvernichtungszauber hatte, wenn sie mehr als hundert Meter von mir entfernt wurde ging ich davon aus, dass der Dieb oder die Diebe keine Freude daran hatten. Aber so wie du das gefragt hast ... Woher weißt du, dass wer Bringbeutel benutzt?"

"Weil unsere heimlichen Zweckverbündeten, die ebensowenig mit den Ministeriumszauberern und den ihr Unwesen treibenden Hexen- und Zauberervereinigungen zu schaffen haben wollen, haarklein erzählt haben, wie sie diesen Vengor regelrecht eingesackt haben, und das nicht nur einmal, sondern zweimal. Auch die haben den wohl auf seine Aura abgestimmt."

"Nun, öhm, ich kann nicht behaupten, dass ich der einzige bin, der sowas geniales erfinden kann, wo ja nur die längst bekannten Zauber in der richtigen Weise mit den entsprechenden Materialien verwoben werden müssen. Aber falls echt wer hingekriegt hat, meinen Selbstvernichtungszauber abzuwürgen und die Bringbeutel untersuchen und nachvollziehen konnte ... Aber damals hatten die noch keine Such- und Findeanhängsel."

"Ja, aber sie konnten leicht zu Portschlüsseln gemacht werden. Gut, muss ich wohl hinnehmen, dass es Leute gibt, die solche netten Spielsachen haben. Die werwütigen Banditen haben ja auch viel zu schnell herausgefunden, wie sie unsere Todesboten abwehren können, weshalb die wohl wieder aus ihren Löchern gekrabbelt sind."

"Das mit den Todesboten ist bald wieder drin, alte Freundin. Aber dazu später, wenn wir die Aktion heute hinter uns haben. Ich sage nur: Was mein ebenso genialer wie idealistischer Fachkollege in den Staaten machen konnte hat mich draufgebracht, sowas auch auf Werwölfe abzustimmen." Er grinste überlegen. "Außerdem haben wir ja Dank deiner ehemaligen Landsleute diese Lykanthroskope erwischt. Also das mit den bissigen Mondanheulern könnte in nicht mal einem Jahr erledigt sein."

"Wie du meinst, Perdy", sagte Mater Vicesima. Dann ließ sie sich einen zu einem handlichen Paket zusammengefalteten Gegenstand aus blauem Stoff geben, an dem vier goldene Ösen befestigt waren.

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Wieder blitzte es grell um Vengor auf. Wieder warf ihn eine mörderische Kraft zurück. Wäre nicht der Unlichtkristall gewesen, er hätte sich sicher sämtliche Knochen gebrochen oder ohne Heilmagie unheilbare innere Blutungen abbekommen. Wieder sah er um sich herum die aufblitzenden Gesichter von ihm getöteter Hexen und Zauberer, vor allem der kleinen Kinder, deren Schreie ihm in den letzten Sekunden ihres Lebens doch gewisse Schmerzen bereitet hatten. Dann prallte er wieder gegen einen Felsen und fiel auf den Boden, diesmal mit dem Gesicht nach unten.

"Du elender Versager", gedankenkreischte Iaxathan. "Steh auf und nimm deine Strafe hin!"

"Die Barriere ist geschwächt, Meister Iaxathan. Ich kann da durch", knurrte Vengor. Doch er glaubte es selbst nicht so recht. Doch er wollte es wissen. Er sprang auf und rannte wieder auf die Barriere zu. Wieder prallte er in einem grellen Lichtblitz ab, stieg sogar einige Meter nach oben und wäre sicher heftiger auf den Boden geschlagen, wenn ihn Corvinus Flint nicht mit seinen eiskalten Schattenhänden aufgefangen hätte. Beide erzitterten, weil die Macht des Unlichtkristalls den Nachtschatten zurückzudrängen versuchte. Doch immerhin konnte Flint seinen Herrn sicher auf die Füße stellen und flog blitzartig nach oben zurück.

"Erstarre in ewiger Bewegungslosigkeit des Körpers!" hörte Vengor Iaxathans Gedankenstimme. Da überflutete Vengor eine unsichtbare Kraft, die ihn an Armen, Beinen und Kopf umschloss und auch seinen Rumpf wie mit unsichtbaren Seilen einschnürte. Doch unvermittelt brach eine Woge aus schwarzem Dunst aus Vengors Körper heraus und dehnte sich zu einer mehrere Meter durchmessenden Dunstwolke aus. Vengor fühlte, wie die ihn umschließenden Kräfte von ihm abfielen. Dann sah er in der dunstigen Aura, die ihn umhüllte die wabernden Schatten von vier Männern und die eher rauchgleichen Schemen von mehreren anderen Menschen, die ineinanderflossen und wieder zu eigenständigen Gestalten wurden, wenn auch nicht so konturgenau wie Gespenster oder Nachtschatten. "Erstarre in ewiger Bewegungslosigkeit, elender Versager!" hörte Vengor Iaxathans Stimme wie in weiter Ferne und von mehreren merkwürdig verwaschenen und in Tonlage und Klangfarbe verzerrten Echos. Wieder drängte schwarzer Dunst aus Vengors Körper. Noch mehr rauchartige Schemen erschienen. Iaxathans Stimme wurde leiser und undeutlicher. Zwanzig Sekunden lang umtobte Vengor das wabernde Wirrwarr aus geisterhaften Abbildern jener, die mit ihrem Tod den Kristall erschaffen hatten. Vengor verhüllte seinen Geist. Das war jetzt besser als er erhofft hatte. Jetzt war ihm zwar klar, warum er die Barriere nicht im ersten Anlauf durchdrungen hatte. Aber er wusste jetzt, dass er Iaxathans Magie widerstehen konnte. Das gab ihm ein Gefühl von Überlegenheit.

Als unvermittelt alle dunstartigen Gebilde auf ihn zuflogen und in ihn eindrangen durchflutete ihn Wärme und belebende Kraft. Der Unlichtkristall in seinem Körper pulsierte dreimal kräftig. Dann pochte er wieder im gleichen Takt wie sein natürliches Herz.

"Du hast es gewagt, mir zu widerstehen. Was fällt dir ein?!" drang Iaxathans Gedankenstimme zu ihm durch.

"Das liegt nicht an mir, Meister Iaxathan. Aber dadurch, dass du mir die große Gunst erwiesen hast, den von mir gefundenen Kristall mit meinem Fleisch und Blut zu vereinen, und ich ihn durch den Tod meiner Verwandten mit weiterer Kraft und Stofflichkeit genährt habe, ist er zu meinem inneren Beschützer geworden, der jede mich beeinträchtigende Zauberkraft von mir abhält. Er ist ein eigenständiger Teil von mir, der nicht will, dass ich ihm keine Nahrung mehr geben kann, ein Endosymbiont, Meister Iaxathan."

"Ein eingenisteter Lebensnützling?!" gedankenschrillte Iaxathan. "Deshalb kannst du nicht durch die Barriere, weil er die Kraft, die du durch die Tötung deiner Verwandten in deinen eigenen Geist und Körper aufnehmen solltest, geschluckt hat."

"So wird es wohl sein, Meister Iaxathan", erwiderte Vengor, der sehr genau darauf bedacht war, seine wahren Gefühle nicht nach außen dringen zu lassen. "Aber, Meister Iaxathan, ich weiß jetzt wie ich die Barriere zerbrechen und zu dir hingehen kann. Ich werde die mir von Kanoras mitgegebenen Bewahrungskristalle gegen die Barriere schleudern, damit deren innewohnende Macht sich mit der der Barriere erschöpft."

"Ich kann dir auch den Kristall aus dem Körper reißen und dich verenden lassen und darauf warten, dass ein neuer Jetztzeitträger der Kraft meine Gunst erlangen möchte", erwiderte Iaxathan.

"O, Meister Iaxathan, ich fürchte, das wird der mit mir verbundene Kristall nicht erlauben. Er will in mir bleiben, das weiß ich jetzt. So möchte ich versuchen, die Barriere zu durchbrechen."

"Du hast zwanzig von Kanoras' Dienern in erstarrter Form bei dir. Da Kanoras nicht mehr ist können sie mir nicht weiter dienen. So versuche es!"

"Ich danke dir für deine Einwilligung, mein mächtiger Bündnispartner", erwiderte Vengor mit schon sehr theatralischer Betonung. Hoffentlich erkannte der in seinem eigenen Spiegel steckende Geist nicht, welche Absichten Vengor wirklich hatte.

"Du willst Kanoras' Schattendiener opfern?" fragte Corvinus Flint seinen Meister. Dieser bestätigte das. Er nahm den feuer- und wasserfesten Rucksack auf, in dem er die zwanzig stabförmigen Beschwörungsartefakte verstaut hatte. Er fühlte dabei, dass Kanoras' Magie noch in diesen Stäben steckte. Also waren sie nicht wie er selbst ausgelöscht worden. Mit einem simplen Verwandlungszauber machte er aus einem großen Felsbrocken ein kleineres Katapult, wartete eine Minute, bis die letzten Nachschwingungen des Verwandlungszaubers abgeklungen waren, dann belegte er das Katapult mit einem Animierzauber, damit es sich selbst spannen und auf seinen Befehl hin abfeuern konnte. Dann richtete er es so ein, dass mögliche Rückpraller ihn nicht treffen würden und ließ es sich selbst spannen. Dann legte er den ersten Kristallstab in den Wurflöffel. Er ging in Deckung und rief: "Feuer!" Das Katapult löste von selbst aus. Das von ihm geschleuderte Geschoss jagte auf die nun wieder unsichtbare Barriere zu und schlug auf.

Vengor hatte erst einen Rückpraller befürchtet. Doch der abgefeuerte Kristallstab verging mit lautem Knall in einer blauen Feuerkugel. Die Flammenkugel schrumpfte ein und zog sich dabei in die Länge, bis sie einen flackernden, sich wild windenden blauen Lichtfaden bildete, der vom Boden bis hundert Meter aufwärts ragte. Einen Moment lang tauchte aus dem Nichts herauf ein schattenhaftes Wesen auf, ein Mann. Dann wurde der Schatten immer heller und durchscheinender, bis Vengor meinte, einen kurzen Jubelruf zu hören, in dem die geisterhafte Erscheinung einfach verschwand. Der blaue Lichtfaden zuckte derweil heftiger.

Vengor erkannte, dass er keine Sekunde warten durfte. Er lud schnell den nächsten Kristallstab in das Katapult und feuerte diesen genau auf den blauen Lichtfaden ab. Wieder zerbarst der Kristallstab beim Auftreffen in blauem Feuer, das sich erneut zu einem Lichtfaden ausstreckte, mit dem bereits erschaffenen verschmolz und unvermittelt einen klaffenden, an den Rändern rotes und blaues Elmsfeuer versprühenden Spalt schuf. Wieder tauchte ein Schattenhaftes Wesen auf, ein junges Mädchen, das erst bibberte und dann mit einem Freudenschrei auf den geisterhaften Lippen verblasste und im Nichts verschwand.

"So geht's!" triumphierte Vengor und lud den Schattendienerrufkristall Nummer drei in das Katapult. Jetzt zielte er genau auf den von Elmsfeuer umtanzten Spalt und befahl der Wurfmaschine, auszulösen. Diesmal drang der Stab erst in die bereits geschlagene Bresche ein, bevor er mit lautem Knall als blauer Feuerball verpuffte und den Spalt dadurch um eine Handbreit ausdehnte. Wieder tauchte eine Schattenform auf und verging innerhalb weniger Sekunden im Nichts.

Vengor lud gerade den vierten Kristallstab in das Katapult, da überkam ihn wieder jener merkwürdige Eindruck, von unsichtbaren Fingern, nein, Händen, berührt zu werden. Und diesmal meinte er, kleine Fische schwömmen durch seine Adern. Das bereitete ihm gewisse Schmerzen. Der Kristall in seinem Körper hielt zwar sofort dagegen. Doch die Gewissheit, dass wer auch immer den ihn betreffenden Zauber verstärkt hatte, gefiel dem Zauberer nicht, der sich Lord Vengor nannte.

"Wer immer dich sucht kann dich nur finden, weil du noch nicht bei mir warst. Also mach weiter und komm zu mir, mein treuer ... Statthalter", sagte Iaxathan. Doch Vengor hatte die Pause zwischen treuer und Statthalter wohl vernommen und verstanden. Außerdem wusste er sowieso schon, wie Iaxathan das Verhältnis zu ihm knüpfen wollte.

Kristallstab Nummer vier und fünf trafen die Ränder der Bresche, was diese um einen Meter verbreiterte. Wieder tauchten nach dem Verlöschen der Feuerbälle Schatten auf und verblassten sofort danach unter lauten Jubelschreien. Dabei meinte Vengor, dass der ihn betreffende Zauber noch stärker wurde. Der Unlichtkristall in seinem Körper kämpfte zwar dagegen an. Doch nun konnte Vengor die zu ihm vordringenden Stimmen verstehen. Sie flüsterten nicht mehr, sondern riefen. Sie riefen seinen wahrhaftigen Namen! Zeitgleich geschah noch etwas, was den sich so zuversichtlich wähnenden Dunkelmagier erschütterte.

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"Verflixt, wo bin ich hier?" fragte Heinrich Güldenberg, als er sich auf einem breiten Bett wiederfand. Daneben stand eine Frau in einem weißen Umhang, unter dem sie ein sonnengelbes Kostüm trug. Außerdem trug sie eine golden schimmernde Maske, die an ein Sonnengesicht ohne davon ausgehende Strahlen erinnerte. "Herr Güldenberg, Sie befinden sich in einer sicheren Zuflucht, wie mehrere andere Damen und Herren", sagte die Fremde auf Deutsch mit leicht spanischem Akzent. Güldenberg erhob sich und sah die andere an. "Falle ich tot um, wenn ich ihr wahres Gesicht sehen muss?" fragte er.

"Das nicht. Aber da Sie bereits seit dem ersten November für tot gehalten werden wird auch niemand nach Ihnen suchen, wenn wir sie hierbehalten müssen, weil Sie zu neugierig waren. Nur so viel, wir möchten Sie und alle anderen, die Opfer des angeblichen Lord Vengor werden sollten gerne wieder in die Zivilisation zurückschicken. Das geht aber erst, wenn wir wissen, dass von diesem Zauberer keine Gefahr für Sie und die anderen mehr ausgeht." Danach erzählte sie Güldenberg, was dieser wissen durfte, dass er einer der letzten geretteten in einer langen Reihe war und vier Monate lang im Zaubertiefschlaf hatte ausharren müssen und jetzt mithelfen konnte, seinen Erzfeind zu besiegen, einen Feind, von dem er nie für möglich gehalten hatte, dass er seinen Tod gewollt hatte. Dann fiel ihm noch was ein:

"Moment, wenn das Vengors wahre Identität ist, gnädige Frau, dann weiß ich nicht, mit wem ich vor meiner sogenannten Sicherheitsverwahrung zu tun hatte."

"Wahrscheinlich auf dieselbe Weise, wie wir ihm vorgaukeln konnten, dass er Sie und die anderen hat töten können. Wir mussten jedoch die endgültige Gewissheit haben, wer genau Vengor ist. Es hätten genauso Sie oder ein anderer Zauberer sein können."

"Was soll mich dazu bringen, Ihnen zu vertrauen?" fragte Güldenberg.

"Der Umstand, dass Sie noch leben und nicht tot sind. Seit dem ersten November gelten Sie als tot. Noch hat ihr Stellvertreter Wetterspitz Sie nicht offiziell für tot erklärt. Aber sobald er dies tut vermisst Sie niemand mehr. Wenn Sie uns helfen, und wir Erfolg haben sollten, können Sie morgen schon wieder zurückkehren."

"Nachdem ich angeblich vier Monate verschlafen habe? Möchte nicht wissen, was der von mir abgekupferte Doppelgänger in der Zeit nicht alles für Unsinn verzapft hat", grummelte Güldenberg. Doch dann kehrte seine Entschlossenheit zurück. Natürlich hatte er sich nach den Toden in Deutschland und anderswo schon auf einer möglichen Todesliste dieses Vengors gewähnt. Auch sein Neffe Hagen hatte das nicht ausgeschlossen, dass er und die anderen angegriffen werden mochten. Doch auf die Idee, Simulakren von sich und seinen Verwandten zu erzeugen war er nicht gekommen. Denn wenn sowas rauskam grassierte das blanke Misstrauen, weil keiner mehr sicher sein konnte, ob er den echten Zaubereiminister vor sich hatte oder nicht. Bokanowskis Versuch, Zaubereiminister und deren wichtigste Mitarbeiter durch von ihm beherrschte Doppelgänger zu ersetzen war noch zu sehr bekannt. Doch offenbar hatten andere weniger Skrupel.

"Sind Sie eine von diesen Spinnenhexen oder gehören Sie zu diesem Verein, der unbedingt mehr Zaubererkinder in die Welt setzen möchte?"

"Bei ersterem stünden Sie entweder schon längst unter dem Imperius-Fluch oder würden immer noch schlafen und bei zweitem hätten wir sie entweder dazu gebracht, weitere Zaubererweltkinder zu zeugen oder selbst zu einem Neugeborenen zurückverwandelt, um Sie in unserem Sinne aufwachsen zu lassen", erwiderte die Frau mit der Goldmaske. Güldenberg nickte. Dann fragte er noch, welche Garantie er hatte, dass ihm das nach der erbetenen Mithilfe nicht doch noch blühen würde.

"Keine Garantie, nur die Aussicht, dass sie nach dem was wir tun wieder in Ihr Ministerium zurückkehren dürfen."

"Dann los!" trieb Güldenberg die Maskierte an.

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Als wenn schwarze Rauchfahnen aus den noch nicht verfeuerten Kristallstäben drangen schlüpften sie heraus, fünfzehn nachtschwarze Erscheinungen, die sich innerhalb von Sekunden zu konturscharfen Schattenwesen mit blau leuchtenden Augen entwickelten. Sie umzingelten den Zauberer, der sich Lord Vengor nannte. Gleichzeitig hörte er in seinem Kopf den Chor laut rufender Männer und Frauen:

"Hagen Wallenkron,
der Siglinde und des Konrads Sohn.
lass ab von deinem Tun!
Lass ab von deinem Sinnen!
Du kannst ihm noch entrinnen!"

Die Erkenntnis, dass da jemand seinen wahrhaftigen Namen rief, ja dass es mehr als zwanzig Leute waren, von denen er nun auch die Stimmen erkannte, erschütterte ihn so sehr, dass er nicht sofort reagierte, als die aufgetauchten Schattenwesen auf ihn deuteten. Einer der Schatten trat vor und stieß eine wilde Verwünschung in einer Vengor unbekannten Sprache aus. Dann stürzten sie sich wie auf ein unhörbares Kommando auf ihn. Doch der Unlichtkristall prellte sie mit seiner Aura zurück, wobei er wild in Vengors Brust erzitterte. Er sah jedoch noch, wie die Schatten von zwei Frauen gestikulierten. Immer noch klang der Chor aus mehr als zwanzig Stimmen in seinem Kopf:

"Hagen Wallenkron,
der Siglinde und des Konrads Sohn,
lass ab von deinem Tun!
Lass ab von deinem Sinnen!
Du kannst ihm noch entrinnen!"

"Woher wisst ihr das?! schrie der Zauberer, der sich Lord Vengor genannt hatte und nun erkannte, dass jemand sein Geheimnis gelüftet hatte. "Ich bin Lord Vengor, der Erbe des dunklen Lords Voldemort, Statthalter von Iaxathan, dem Kaiser der Dunkelheit! Ich bin Vengor, verdammt noch mal!!" schrie er gegen den ihn bedrängenden Chor an. Dann sah er, wie die zurückgeworfenen Schatten wieder auf ihn zurasten und stemmte sich gegen einen neuen Anprall. Wieder wurden die Schattenwesen zurückgeworfen. "So kriegt ihr mich nicht, und ich mach die Barriere platt!" rief der Mann mit der grünen Schlangenkopfmaske aufbegehrend. Er griff wider in den Rucksack.

"Du hast unsere Brüder und Schwestern ausgelöscht!" rief eine der schattenhaften Frauen mit einer für diese Wesen kalten und irgendwie sphärischen Stimme. "Jetzt, wo wir frei von ihm sind, wollen wir weiterbestehen, ohne dir oder diesem Iaxathan zu dienen. Du gehst da nicht durch."

"Ob ich da durchgehe, Dunstbraut!" rief Vengor und griff nach dem Rucksack. Da jagten die Schatten wieder auf ihn zu. Doch diesmal fiel etwas anderes über sie her, ein riesenhafter Schatten, Corvinus Flint, der seine ganze, durch Einverleibung von Verwandten gewonnene Größe angenommen hatte. Vengor nutzte den sich entspinnenden Kampf der Schatten, um gleich vier weitere Kristallstäbe herauszunehmen. Er sah, wie die Schatten mit Flint in die Höhe stiegen und sich wie hungrige Blutegel an ihm festsetzten. Immerhin war jetzt das Schussfeld wieder frei. Vengor lud den ersten Stab und ließ ihn abfeuern. Die Bresche war inzwischen wieder um einige Zentimeter geschrumpft. Doch der nächste Schuss verbreiterte sie wieder. Der folgende Schuss ließ sie um einen halben Meter aufklaffen. Vengor wollte losrennen, zwischen den blitzenden Rändern hindurch, als der Chor der in ihm klingenden Stimmen noch einmal eine Spur lauter wurde. Wieder rief er diesen beschwörenden Vers. Doch diesmal explodierte aus dem Unlichtkristall mehr Kraft als vorher und verdrängte das Gefühl zugreifender Hände und laut rufender Stimmen. Wieder sah Vengor vier dunstartige, nicht so konturscharf wie die von ihm aufgescheuchten Schattenwesen, um ihn herumgleiten. Dann hörte er einen wie durch mehrere sich verschiebende Rohre dringenden Aufschrei: "Nein, ihr Mistbrut. Nein, lasst ab von mir!"

Er sah nach oben und erkannte, dass Flint gerade von den ihn bekämpfenden Schattenwesen an Kopf, Händen und Füßen gepackt worden war. Drei oder vier von Kanoras' ehemaligen Dienern hockten auf seinem Bauch und schienen etwas aus ihm herauszusaugen oder zu beißen. Flints Erscheinung waberte und bebte. Dann geschah etwas, was Vengor in seinem Leben als dunkler Zauberer wie als für das deutsche Zaubereiministerium arbeitender Zauberkünstler noch nie gesehen hatte und sicher auch niemals wieder sehen würde.

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Albertine hatte nur eine Sekunde Zeit. Ausweichen ging in dieser Höhe über dem Meeresspiegel nicht mehr. Sie zielte mit dem Zauberstab und rief: "Deterrestris!" Der sie aufs Korn nehmende Besenbeißer erglühte blau und stürzte dann unter ihr durch auf den Boden zu. Das war echt gegangen, erkannte die Hexe mit den beiden magischen Augen. Dann zielte sie nach hinten, wo Walter Haselwurz gerade noch einen Meter von einem Besenbeißer entfernt war. "Deterrestris!" rief sie noch. Doch da hatte das unheimliche Ding sich schon in Haselwurzes Besen verbissen. Walter Haselwurz fühlte den Aufprall und sah wohl noch die auflodernden Flammen um sich. Da hörten sie alle den mehrstimmigen Ausruf: "Elementa recalmata!"

Haselwurz meinte schon, gleich lebendig verbrennen zu müssen, als die ihn umschließenden Flammen schlagartig erstarrten und dann in sich zusammenfielen. Auch die Flammen um die Dschunke erloschen. Doch sie hatten bereits ihr Vernichtungswerk zu weit getrieben. Der Besenbeißer glitt von der Dschunke ab und taumelte. Dann sauste er wieder los, auf einen der Zauberer zu, der den allgemeinen Zauber gegen Elementarzauber gerufen hatte.

Albertine sah noch, wie Walter Haselwurzes Besen in die Tiefe stürzte. Haselwurz selbst klammerte sich in Schockstarre fest. Da traf ihn ein unsichtbarer Zugstrahlzauber und riss ihn mitsamt dem Besen wieder hoch. Der Besenbeißer erzitterte, brach die Besenspitze ab und stürzte dann blau leuchtend ab wie ein losgelassener Stein.

Albertine zielte nun auf den dritten Besenbeißer und wiederholzauberte den eigentlich die Schwerkraft umkehrenden Zauber. Auch der dritte Besenbeißer glühte blau auf und stürzte dann unschädlich ab. Albertine verfolgte seinen abrupten Sturzflug, bis sie sah, wie das mörderische Artefakt auf dem schneebedeckten Boden aufschlug und dann wie unter einem mehrere Tonnen schweren Gewicht zermalmt wurde. So ging es also, frohlockte Albertine. Doch dreißig chinesische Zauberer hatten bei diesem Angriff ihr Leben verloren, und Walter Haselwurz sackte selbst in die Tiefe. Doch zwei britische Hexen fingen ihn in einer silbernen Wolke ein, die ihn federgleich zu Boden schweben ließ.

Alle landeten. Für die chinesischen Kollegen kam jede Hilfe zu spät. Ihre halbverkohlten Leichname waren mit den Trümmern der fliegenden Dschunke auf den Boden geprallt. Walters Kleidung war stark angesengt. Seine Haut wies große Brandblasen auf. Da jedoch Brandheilsalbe und Diptam mitgeführt wurden stelllten seine Verletzungen keine Lebensgefahr mehr dar. Allerdings kam bei seiner Untersuchung heraus, dass das Aufspürartefakt unbrauchbar geworden war. Die alchemistischen Bestandteile hatten sich im Gerät verteilt, die haarfeinen Rohre waren zerborsten.

"Vier bleiben hier und behandeln Herrn Haselwurz", sagte Rainhold Wiesenrain, Haselwurzes Stellvertreter bei dieser Expedition. "Fräulein Steinbeißer, Sie übernehmen die Führung! Wir fliegen weiter in die vvorhin ermittelte Richtung. Wir müssen die Aktion fortsetzen. Trauern können wir später, wenn wir die unmittelbare Gefahr behoben haben", sagte er noch. Vier Hexen, die nicht zu einer mit Albertine verbundenen Schwesternschaft gehörten, übernahmen es, den immer noch unter Schock stehenden Walter Haselwurz zu pflegen und vor allem vor der hier herrschenden Eiseskälte zu schützen. Die anderen saßen wieder auf ihren Besen auf und flogen weiter. Albertine wusste, dass ohne ihre magischen Augen keiner diesen Ausflug überlebt hätte. Sie rechnete mit weiteren Besenbeißern.

"Dann hat Wallenkron uns alle belogen. Der hat mehr als die fünf Mörderaale gebaut", knurrte Ernst Grauanger, der von Seiten der deutschen Lichtwachen an dieser Expedition teilnahm.

"Und soll ich Ihnen mal was verraten, Herr Grauanger", setzte Albertine an. "Jetzt steht fest, dass Vengor kein anderer sein kann als Hagen Wallenkron."

"Hagen Wallenkron war doch bei der Konferenz, als Vengor angegriffen hat. Das kann nicht stimmen, Fräulein Steinbeißer.

"Kann doch, wenn dieser Kerl ein Simulakrum von sich hergestellt und uns als sich selbst untergejubelt hat. Dann konnte er sich auch publikumswirksam selbst umbringen, ohne dass jemand ihn verdächtigt hätte."

"Ein Simulakrum? Das wäre allerdings möglich", erwiderte Grauanger. "Bokanowski hat's ja vorgemacht, dass sowas geht."

"All zu wahr", erwiderte Albertine, die nun, wo sie die Führungsrolle übernommen hatte, noch genauer hinsah, was vor ihnen lag. Jetzt konnten sie sich nur noch auf die mitgeführten Incantimeter verlassen, die auf dunkelmagische Ausstrahlung eingestellt waren. Doch auch damit würde es nicht so leicht sein, Vengor zu finden, bevor dieser das angerichtet hatte, was er hier tun wollte.

Sie flogen noch fünf Minuten. Da machte Albertine mehrere fliegende Körper aus, riesenhafte Fledermäuse, die über einem Plateau kreisten wie Aasgeier. Außerdem sah sie eine an einer Stelle bläulich und rot flackernde Wand aus flimmernder Luft. Ja, und sie konnte mindestens zehn frei bewegliche Schatten mit blauen Augen sehen, darunter eine aus schwarzer Substanz bestehende Frau von gigantischen sechs Metern Größe. Zwei der Riesenfledermäuse flogen genau auf einen Höhleneingang in einer Steilwand zu.

Albertine verwünschte den Umstand, dass die Besen in dieser Höhe gerade noch dreißig Stundenkilometer schnell fliegen konnten. Sie noch mehr anzutreiben würde ihnen die restliche Flugausdauer entreißen. Sie waren noch zwei Kilometer vom Plateau entfernt. Also mussten sie bei diesem Schneckentempo noch vier Minuten fliegen.

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Die Erschütterungen zwischen dunkler und heller Magie brandeten wie Wellen im Sturm durch das Raum-Zeit-Gefüge. Sie fühlte es, wo sie herkamen, zumal sie einen Trumpf hatte, den weder Iaxathan noch Vengor bedachten. Denn durch die Einverleibung der zwei Ausgangsseelen von Kanoras hatte sie auch deren Verbindung zu den von diesem erschaffenen Schatten verinnerlicht. Tja, und weil Kanoras so einfältig gewesen war, diesen Corvinus Flint zu seinem Diener zu machen konnte sie diesen nun über die weite Entfernung hinweg erfassen, seinen Standort immer deutlicher ermitteln. Die Erschütterungen bei der Berührung von dunkler und heller Zauberkraft passten vollkommen zu Flints Standort. Jetzt würde sie beweisen, wie überlegen sie Iaxathan war.

Sie wusste, dass zwanzig Kristallstaubvampire noch in der Höhle in Afghanistan waren. Diese befahl sie, sich in vier Fünfergruppen zusammenzustellen, die vier konzentrische Kreise bildeten. In diesen Kreis hinein schickte sie die Macht des Schattenstrudels und erfasste alle zwanzig auf einmal. Sie fühlte wie alle zwanzig auf sie zurasten und konzentrierte sich, keinen von ihnen aus der Bahn geraten zu lassen oder mit ihm zusammenzustoßen. Sie lenkte die gewaltigen Kräfte, die ihre Diener durch den schwarzmagischen Raumtunnel trieben, an ihr vorbei und an den Zielort, dorthin wo Flint war. Gerade als sie ihre Kampftruppe am Zielpunkt aus dem Schattenstrudel freigab fühlte sie, wie mehrere andere Schatten, die sie jedoch noch nicht mit sich vereinigen konnte, Flints Schattenexistenz bedrängten. Dann hörte sie Flints lauten gedanklichen Aufschrei.

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Corvinus Flint, der höhere Nachtschatten, wurde in die Länge und Breite gezogen. Seine Erscheinung verschwamm dabei immer wieder wie vom Wind bewegter rußiger Qualm. Dann, mit einem gewaltigen Ruck, zerrten die an ihm hängenden Schattenwesen so kräftig in alle Richtungen zugleich, dass Flints aus dunkler Magie bestehender Körper unter einem letzten lauten Aufschrei von ihm in mehrere Dutzend Stücke zerrissen wurde. Die Schattenfetzen flogen wie von starken Magneten angezogen in die ebenfalls reine Schattenform besitzenden Widersacher. Corvinus Flint gab es nicht mehr.

Vengor alias Hagen Wallenkron erkannte, dass er nur noch eine Chance hatte, wenn die verflixten Schatten ihn nicht auch noch erledigen sollten. Denn irgendwann würde auch die Kraft des Unlichtkristalls zu Ende sein, wenn er nicht bald wieder ein lebendes Wesen tötete, um ihm Kraft und Substanz zu geben. Er musste durch die Barriere.

Er lud schnell den nächstenKristallstab ins Katapult, als die ehemaligen Diener Kanora's herunterglitten. Er feuerte. Ein lauter Aufschrei eines der Schattenwesen begleitete die Vernichtung des Geschosses und die weitere Verbreiterung der Bresche.

"Eh, du Spacken, lass das nach!" rief eine der Frauen, offenbar vor ihrer Schattenwerdung ein junges Mädchen.

"Ach du großer Drachenmist, eine aus Hamburg", knurrte Vengor. Dann feuerte er den zweiten Kristallstab ab. "Na, ob du gleich auch weg bist, mien Deern?!" rief er nach oben. Doch das von ihm gefeuerte Geschoss war der materielle Fokus eines männlichen Schattendieners, der erst schmerzhaft und dann freudig aufschrie, bevor er verging. Die Bresche mochte jetzt zwei Meter breit sein. Breit genug, um durchzulaufen. Er wollte gerade losspurten, als die elf noch bestehenden Nachtschatten sich genau in seiner Laufbahn versammelten und einen Halbkreis bildeten, der zu einer hufeisenförmigen Formation wurde. Vengor alias Wallenkron ging davon aus, mit der Macht des Kristalls durch diesen Cordon zu brechen und rannte los. Doch als er auf die der Barriere nächsten Schattenwesen stieß wurde er wie von einer Gummiwand zurückgefedert. Er schaffte es nicht, diese Barriere zu durchdringen, weil irgendwie die ihn vorher noch beschützende Kraft auch gegen ihn wirkte. Jetzt zog sich der Halbkreis aus noch elf Schatten um ihn zusammen, wollte ihn einschließen. Ihm schwante, was passierte. Diese Biester hatten erkannt, dass sie im Verbund gegen seine Kristallaura wirken konnten. Sie brauchten ihn nur immer enger zu umzingeln, um ihn zu lähmen oder gar zu zerdrücken, solange sie sich an den Händen hielten. "Durchbrich diesen Ring aus Unbrauchbaren!" hörte er Iaxathan. "Oder unterwirf sie dir, damit sie dich gewähren lassen!"

"Ja, Meister Iaxathan", dachte Vengor und hob den Zauberstab. Er disapparierte. Der Unlichtkristall in seinem Körper wirkte allen Apparierbeschränkungen entgegen, auch den ihn fast umschließenden Schatten.

Da er nicht in unmittelbarer Nähe der Barriere herauskommen durfte fand er sich zweihundert Meter weiter zurück ein. Aus dieser Entfernung konnte er die Bresche als schmalen, funkelnden Riss in leerer Luft erkennen. Er griff in den Rucksack und betastete die noch verbliebenen Herbeirufartefakte von Kanoras. Er konzentrierte sich auf die Namen derer, die damit gerufen werden konnten. Dann fiel ihm was ein. Es waren nur zwei Frauen dabei, Deutsche noch dazu. Die wollte er unterwerfen, und zwar so, dass sie sich nicht gegen ihn wehren konnten. Er zog die zwei auf diese Schatten geprägten Stäbe hervor und führte sie zusammen. "Unifico in obscuritatem! Unifico sub verbum meum! Ego vos regnabo!" Mit diesem dunklen Thaumaturgenzauber konnten getrennte Artefakte zu einem, noch mächtigeren Gegenstand verschmolzen werden. Handelte es sich dabei um Fernbeeinflussungsgegenstände verstärkte sich die Kraft auf die zu beherrschenden Wesen auf das vierfache. Damit hatte er die zwei Frauenzimmer sicher, dachte Wallenkron.

Leise knisternd und prasselnd fügten sich die zwei Kristallstäbe zusammen. Sie verformten sich, wurden runder und wuchsen zu einem birnenförmigen Objekt an. Gleichzeitig hörte er in der Ferne zwei Frauenstimmen laut aufschreien. Ihre Stimmen wurden lauter und verbanden sich zu einer einzigen. Dann hielt er wahrhaftig einen neuen Gegenstand in Händen, einen aus demselben Kristall wie vorher bestehenden Hohlkörper. Am schmaleren Ende war ein winziges Loch, am runden breiteren Ende waren zwei parallel zueinander liegende Erhebungen mit winzigen Löchern in der Mitte wie kleine Vulkankrater. Vengor staunte über dieses Ergebnis. Sowas war ihm in allen Jahren noch nie passiert. Doch als er einen in der Tonhöhe deutlich nach unten verschobenen Schrei einer deutlich lauter gewordenen Stimme hörte erkannte er, dass er nicht zu lange staunen durfte. Ja, da kamen sie angeschwebt, schneller als ein Sprintläufer, knapp über dem Boden schwebend. Es waren nur drei Schatten, zwei kleine und ein großer, von dem Vengor alias Wallenkron nicht sagen konnte, wie groß genau. Warum kamen die anderen Schatten nicht auch?

"Das war dein letzter Fehler, kleiner Hexenmeister. Damit hast du dein eigenes Urteil gefällt! rief die tiefe, gerade so noch weiblich klingende Stimme des größeren Schattens. Vengor sah nun, dass es eine hünenhafte Frau mit klar hervortretender Oberweite und beinahe hüftlangem wie feine schwarze Rauchfäden wehendem Haar war. Große, eisblaue Augen glommen im völlig schwarzen Gesicht. Sie war eindeutig schneller als die zwei anderen.

"Unterwirf dich mir, denn siehe, ich habe dich erschaffen!" rief Wallenkron alias Vengor. Da hörte er wieder jene Stimmen im Kopf, die ihn dazu treiben wollten, von seinem Vorhaben abzulassen. Gleichzeitig hob er jenen knapp einen Meter großen Hohlkörper an und sprach die rein geistig in seinen Zauber eingeflossenen Befehlswörter laut aus: "Sei unterworfen!" Da drehte sich der birnenförmige Hohlkörper mit den drei kleinen Öffnungen so, dass die an der schmaleren Seite befindliche auf Wallenkrons Körper deutete. Er versuchte, das von ihm gemachte Artefakt festzuhalten. Doch als wenn es mit einem besonders gleitfähigen Öl oder Schleim bestrichen worden war flutschte es aus seiner Hand und flog wie geworfen auf die Schattenriesin zu. Vengor alias Wallenkron erstarrte. Damit hatte er jetzt überhaupt nicht gerechnet. Das von ihm erschaffene Ding flog genau auf den Bauchbereich der Schattenriesin zu und drang widerstandslos darin ein. Das Unwesen erzitterte. Dann streckte es sich und blähte sich auf. Würde es jetzt explodieren?

Sein Kristall vibrierte und jagte Ströme in Richtung seines Kopfes. Von oben kam ein Feind. Vengor warf den Kopf in den Nacken und erkannte drei menschengroße Fledermäuse, die auf ihn niederstießen. Wo kamen die denn jetzt her? Egal. Er musste eh vor der Schattenriesin flüchten und am besten noch durch die Barriere, solange die Bresche breit genug war.

Vengor disapparierte in dem Moment, wo die bis auf sechs Metern Größe angewachsene Schattenriesin und die drei an diesem Ort aufgetauchten Kristallstaubvampire zusammenprallten. Die Schattenriesin hieb die drei für sie winzigen Gegenspieler mit einem wuchtigen Hieb zur Seite. Dann erkannte sie, dass ihr eigentliches Ziel entwischt war und wirbelte herum. Der in ihren Unterleib eingedrungene Kristallkörper sog die Kraft aus purer Dunkelheit in sich auf und gab ihr mehr Geschwindigkeit.

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Gooriaimiria, die durch die Augen einer Kristallstaubvampirin die Ereignisse mitverfolgte, staunte nicht wenig, als sie sah, was ihr Widersacher angestellt hatte. Irgendwie war es ihm gelungen, die Seelen zweier weiblicher Nachtschatten zu einer einzigen zu verschmelzen und deren Körper zu einem einzigen zu formen, der durch die Nachtdunkelheit schlagartig an Größe zunahm. Dann hatte der auch noch was angestellt, dass der wie ein anatomisch präzise nachgeformter Uterus beschaffene Kristallkörper auf die an diesen gebundene zuflog und in ihr Halt fand. Dadurch verdoppelte sich die Kraft und Größe dieser Schattenriesin.

"Er will durch die Barriere. Aufhalten!" befahl Gooriaimiria den anderen Kristallstaubvampiren. Doch die waren bereits im Kampf mit den sie als Feinde ausmachenden Schattenwesen. Sie konnte nur hoffen, dass die drei noch nicht in den Kampf verwickelten Nachtschatten ihn abhielten. Doch er prellte diese zur Seite. Dann trafen ihn die Kristallstaubvampire, die in der Nähe der Barriere gelauert hatten.

"Hochreißen, zubeißen, leersaugen!" befahl Gooriaimiria als sie sah, dass ihre Kämpfer die Kristallaura Vengors durchdringen konnten. Doch da entstanden um Vengor auf einmal mehrere weitere Schatten, nicht so konturscharf wie die anderen. Und sie drangen den zwei Kristallstaubvampiren in die Münder wie dicker Qualm. "Nein, ausblasen!" rief Gooriaimiria. Doch da passierte es schon. Gleich zehn wie aus Rauch bestehende Erscheinungen waren in die Leiber der Kristallstaubvampire eingedrungen und dehnten sich unvermittelt aus. Das führte dazu, dass die zwei Diener der schlafenden Göttin innerhalb von nur zwei Sekunden zerplatzten und nichts als Staub von ihnen blieb. Gooriaimiria fing die auf diese Weise freigesetzten Vampirseelen ein und riss sie entschlossen in sich hinein. Also so war Vengor nicht beizukommen. Sie hörte Iaxathans höhnisches Lachen aus weiter Ferne. Er hatte sicher mitbekommen, wie sein zukünftiger Knecht ihre Diener beseitigen konnte. Doch dann fiel ihr auf, dass sie mit den Seelen der getöteten Vampire auch die Fragmente anderer Seelen, die letzten Momente von Menschenleben, in sich aufgenommen hatte, Menschen, die bei den Anschlägen auf das Welthandelszentrum von New York umgekommen waren. Da erkannte sie, dass der Unlichtkristall Vengors nur solange bestehen würde, solange diese Seelenfragmente in ihm gespeichert waren. Musste er sie freisetzen, um ihre Diener zu vernichten, vergingen diese Fragmente mit diesen zusammen. Also befahl sie ihren Dienern, weiter anzugreifen. Doch die waren zu sehr mit den Schattenwesen beschäftigt, die in ihnen Todfeinde sahen. Außerdem witterten fünf von Ihnen näherkommende Menschen und flogen ihren Instinkten folgend los.

Als Gooriaimiria ihre Diener aufrufen wollte, die Schatten in Ruhe zu lassen und Vengor allein anzugreifen war es schon zu spät.

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Vengor fühlte, wie der Kristall in seinem Körper zuckte und dann etwas weniger Raum einnahm. Zwar waren die beiden ihn bestürmenden Vampire vernichtet worden, ohne dass er das so überhaupt befohlen hatte. Doch irgendwie erkannte er, dass er nicht zu häufig mit diesen Kreaturen zusammentreffen durfte. Er wollte gerade auf die Bresche zurennen, als ihm von hinten etwas gegen den Rücken prallte und ihn aus der Spur warf. Er sah sich um und erkannte drei sich an den Händen haltende Schattenwesen, die sich sofort auf ihn warfen. Er wälzte sich herum und schüttelte die drei von sich ab, weil der Kristall noch gegenhielt. Doch dabei glitten die Trageriemen seines Rucksacks von den Schultern über seine Arme hinweg. Er wollte das für ihn so wichtige Gepäckstück festhalten. Doch da flogen die drei zusammenhängenden Schatten schon damit nach oben. Ein weiterer normalgroß gebliebener Nachtschatten jagte lautlos auf ihn zu und traf ihn. Dabei wurde er abgelenkt und rechts vom rechten Rand der Bresche gegen die Barriere geschleudert. Diese blitzte blau auf, und der Schatten verging wie viele andere zuvor als verblassende Gestalt. Das verbreiterte die Bresche um eine Winzigkeit. Vengor sprang wieder auf die Füße und spurtete los. Der Kristall im Körper pumpte zusätzliche Kraft in ihn hinein. Er sprang vor - und war auf der anderen Seite.

"Ja, komm zu mir und vereine deine Macht mit der meinen!" frohlockte Iaxathan.

Vengor alias Hagen Wallenkron hörte wieder diesen Chor aus Stimmen, die er kannte. Konnte es sein, dass die von ihm getöteten sich als Geister in der Welt gehalten hatten?

"Du hast dich übertölpeln lassen. Die du getötet hast waren nicht deine Verwandten, sondern billige Nachbildungen", dachte er unvermittelt. Denn ihm war klar, dass so ein Zauber nur von lebenden Wesen gewirkt werden konnte, Wesen, die blutsverwandt mit ihm waren. Er ärgerte sich. Deshalb hatte die Barriere ihn nicht durchgelassen. Deshalb hatte er viele Minuten wertvoller Zeit vertan und wäre beinahe von wütenden Nachtschatten oder blutdurstigen Kristallstaubvampiren erledigt worden. Aber jetzt war er fast am Ziel.

Vor ihm lag eine massive Felswand. Davor lag ein Haufen loser Felsbrocken herum. "Das ist der Eingang!" hörte er Iaxathans Stimme. Für den mit der Macht eines Unlichtkristalls ausgestatteten war es nun kein Akt mehr, die Felsen mit mächtigen Reducto-Flüchen wegzusprengen und einen gerade zwei Meter hohen Eingang freizulegen.

Hinter sich hörte er laute Knälle vermischt mit schrillen Schmerzens- oder Todesschreien. Diese Kristallstaubblutegel wollten ihm doch nicht hinterherfliegen?

"folge meinen Worten zur Nimmertagshöhle!" hörte er Iaxathans Stimme im Geiste. Er gehorchte. Denn er wollte ja zu ihm. Doch eines musste er sorgsam verbergen, den Grund, warum er zu ihm wollte.

Es war ein Labyrinth, dessen Gänge immer tiefer in einen Berg hineinführten. Es waren ausnahmslos Granitgänge ohne die für Kalksteinhöhlen üblichen Auswüchse an Decke oder Boden. Vengor alias Hagen Wallenkron fühlte dunkle Magie um sich herum, die mit der Aura seines Kristalls wechselwirkte. Er näherte sich dem Zentrum von Iaxathans Macht, der letzten Zuflucht des finsteren Königs des alten Reiches. Nur noch ein steil abwärts führender schmaler Stollen, dann tat sich vor dem durch seine Zaubermaske nachtsichtigen Augen eine kuppelförmige Halle auf.

Wieder hörte er weit hinter sich laute Knälle und ihre Echos. Doch da war noch was, lautes Plärren, Quängeln und auch sowas wie erzwungenes Lachen von Säuglingen. Er fühlte, wie ihn diese Laute durch die Ohren in den Kopf drangen und schmerzten. Sein Körper erhitzte sich. Er ahnte, was das hieß. Irgendwer war gekommen, der mit mindestens einem plärrenden Windelpupser versuchte, ihn oder die Kristallstaubvampire zu schwächen. Dann erkannte er das Podest und schloss sofort die Augen wieder.

Er hatte gerade so noch auf dem Podest einen dunklen, kugelförmigen Gegenstand dreimal so groß wie sein Kopf erkannt, bevor er die Augen geschlossen hatte. Denn er wusste, dass dies der schwarze Spiegel war, das Auge der Finsternis, Iaxathans mächtigstes Artefakt und seine ewige Behausung. Jetzt galt es, dachte Wallenkron.

Schnell wandte er sich ab und erschuf mit seinem Zauberstab eine Wand aus blauem Feuer hinter sich. In dieses zauberte er auch eine Kraft hinein, die jeden Schall restlos schluckte. Dass das mit dem blauen Feuer ging hatte er bisher keinem erzählt. Die Babyschreie drangen jetzt nicht mehr zu ihm durch. Jetzt hatte er die Flammenwand dicht und die gesamte Breite des Zugangs ausfüllend stabilisiert. Er durfte jetzt niemanden in seinen Rücken geraten lassen.

"Iaxathan, ich bin da!" rief er aus. Er war sich bewusst, dass dies die wichtigste Stunde seines Lebens war. Würde er sein Ziel erreichen oder an seinem eigenen Machtwillen scheitern?

"Ich weiß, dass du vor mir stehst. Sieh in das Auge der Finsternis und enthülle dich mir, damit auch du mich erblicken kannst!" hörte er Iaxathans Gedankenbefehl. Doch Vengor alias Wallenkron blickte im Schein des blauen Feuers nach unten. Er durfte nicht in die schwarze Kugel sehen. Dann würde er sein eigenes Spiegelbild sehen. Genau das aber würde seine innersten Gelüste und Ängste bloßlegen und seinen Willen unterwerfen, als wenn zehn Imperius-Flüche auf einmal auf ihn einwirkten. Schützte ihn die Macht des Kristalls davor?

"Ich sage dir, sieh in das Auge der alles endenden Finsternis, Hagen Wallenkron!" befahl Iaxathan, dessen Stimme jetzt wahrhaftig räumlich zu klingen schien. "Du wolltest meine Gunst, du wolltest mein Wissen, so verbinde dich endlich ganz mit mir."

"Du hast mir vorgeschlagen, ein Bündnis mit dir zu schmieden, als gleichrangige Partner", sagte Vengor. "Ich stehe vor dir und habe bewiesen, dass ich zu dir hinfinden kann. Werde ich bei freiem Willen dein Statthalter und Hüter deines Wissens?"

"Du hast versagt, hagen Wallenkron. Du solltest alle deine Blutsverwandten töten. Das hast du nicht geschafft. Du hast dich meiner gerechtfertigten Bestrafung widersetzt. Ich lasse dich nur unter einer Bedingung leben, werde mein treuer Spiegelknecht!" Erwiderte Iaxathan entschlossen.

"Das kannst du vergessen, Iaxathan. Das hast du mit diesem Wicht Guiermo Anastasio angestellt, weil der nicht wollte, dass sein älterer Bruder zum Oberhaupt des roten Drachens von Lamancha wurde. Deshalb hat der sich auf deinen Willen eingelassen und seinen eigenen dafür geopfert. Mit mir wird dies nicht geschehen. Ich kam her, um von deinem Wissen zu profitieren und dir im Gegenzug den einen oder anderen Gefallen zu erweisen. Aber dein treuer Spiegelknecht werde ich nicht", entgegnete Wallenkron ebenso entschlossen wie sein dämonischer Gesprächspartner.

"Du bist in meinem Reich. Wer es betritt wird mein Diener oder stirbt. Also sieh in das Auge der Finsternis und ergib dich deiner Bestimmung, kleiner, auf Macht versessener Jetztzeitmensch!"

"So, und wenn ich das nicht mache?" fragte Wallenkron herausfordernd.

"Dann werde ich dich töten und dann deinen freiwerdenden Geist in mich aufnehmen, auf dass du die Stelle meines früheren Boten einnimmst und mir einen neuen Körper verschaffst, damit ich wieder selbst in dieser Welt wirken kann. Dienen oder sterben, kleiner Hagen Wallenkron, der immer danach getrachtet hat, besser zu sein als seiner Mutter Bruder."

"Dann musst du aber wieder warten, bis jemand so wissbegierig ist, sich auf dich einzulassen. Aber du hast ja alle Zeit der Welt. Du willst mich töten? Wie denn?" trieb es Wallenkron auf die Spitze der Unerträglichkeit.

"Zerspringe, Kristall!" hörte er Iaxathans Stimme in seinem Kopf. Der Unlichtkristall in seinem Körper erzitterte. Unvermittelt begann die Luft um ihn herum zu klingen. Vengor fühlte, wie der Unlichtkristall in seinem Körper immer stärker erzitterte. Doch dann, auf einmal, kam er zu Ruhe. Dann tauchten sie wieder auf, vier schattenhafte Gestalten. Ja, und er konnte auch jetzt genau erkennen, dass sie es waren, jene vier, die zwei vollgetankte Düsenflugzeuge in die Türme des Welthandelszentrums gesteuert hatten. Sie stabilisierten sich um ihn herum. Iaxathan ließ das Singen und Klingen noch lauter werden. Doch der Unlichtkristall in Vengors Körper pulsierte nun weiter im Takt seines natürlichen Herzens.

"Wieso kannst du das? Das kann nicht sein!" brüllte Iaxathans Stimme nun auch mit Ohren hörbar. Die Spiegelkugel erzitterte.

"Dann lösche ich das Feuer aus und setze dich den Schreien sabbernder Wickelkinder aus!" brüllte Iaxathan.

"Ach ja? Damit dein Spiegelchen unter diesen Schreien selbst zerspringt? Immerhin ist ein Teil davon aus Unlichtkristall, denke ich."

"Aus Mitternachtsmetall, du Unwissender. Unlichtkristall und Himmelsbergerz vereint mit dem Metall der kleinen, viel zu hellen Himmelsschwester. Das wird davon nicht zerstört", dröhnte Iaxathans Stimme aus dem Spiegel. Dann blies ein kräftiger Wind durch die Kuppelhalle und rüttelte erst an den blauen Flammen. Doch diese wurden dadurch heller.

"Dieses Feuer bezieht seine Kraft aus der Luft selbst, fast wie natürliches Feuer und ist auch mit Wasser oder dem Brandlöscher nicht zu vertilgen", grinste Wallenkron.

"Ich bekomme was und wen ich will", schnaubte Iaxathans Stimme. Da fühlte Wallenkron, wie eine unsichtbare Hand nach seinem Kinn griff und es nach oben drückte. Der Unlichtkristall in seinem Körper stieß kalte Schauer dagegen aus. Doch diesmal reichte es nicht ganz aus, die fremde Kraft abzuwehren. Vengor dachte konzentriert den Namen "Mohammed Atta" und den Befehl" versperre mir die Sicht und berühre den Spiegel!" Er fühlte, wie etwas seinem Befehl folgte, das winzige Seelenfragment eines freiwillig verstorbenen. Dann ließ der Druck gegen sein Kinn nach. Er dachte drei weitere Namen und den Befehl, sich zusammen vor die Spiegelkugel zu stellen. Er kannte die Namen, weil er die Liste aller Toten vom WHZ-Einsturz kannte. Jetzt wusste er, wie er davon gebrauch machen konnte.

"Was tust du, du elender. Nimm diese Bruchstücke verkümmerter Geister aus meiner Sicht und nimm dein Schicksal hin!"

"Nimm du dein Schicksal hin, Iaxathan, du Möchtegern-Erzdämon, Vorbild vieler Kinderschreckfiguren aus den Eingottreligionen dieser Welt!""

"Du kleiner Fleischling wagst es, mich zu verhöhnen und zu bedrohen?" stirb!"

Unvermittelt erzitterte die Luft. Doch sofort traten weitere schemenhafte Gestalten zwischen Wallenkron und Iaxathans Spiegel, herbeigerufen durch seine Gedanken. Es waren die Seelenfragmente mächtiger Geschäftsleute, die Wallenkron als sehr skrupellos einstufte, nachdem er deren Lebensläufe studiert hatte. Jetzt richtete er seine Augen nach vorne. Doch statt der Spiegelkugel sah er nun nur nebelhaftes Wabern wie aus rußigem Dunst. Nichts widerfuhr ihm nun. Er befahl weitere Seelenfragmente aus dem Kristall Heraus. Iaxathans Stimme schien hinter einer immer dickeren Wand zu verstummen.

"Niemand beleidigt mich, den Diener der alles endenden Finsternis und überlebt das. Ich sauge diesen Unrat auf, dann wirst du entweder mein Knecht oder mein wandernder Geisterbote, dazu verurteilt, von einer Wiege zur nächsten Bare zu leben, bis du einen Körper findest, in dem du meine Befehle ausführen kannst."

Unvermittelt begannen die vor Wallenkron aufgebauten Dunstgestalten zu zerfließen und wie in einen unsichtbaren Strudel hineinzugeraten. Doch das ängstigte Wallenkron nicht. Völlig frei von jedem bedrückenden Gefühl begann er, eine beschwörende Litanei zu sprechen.

"Geist im Spiegel sei der Knecht.
Mir zu dienen ist mein Recht!
Sohn aus Kuritharas Schoß,
leg dein Wissen vor mir bloß!
Das Mohammed Atta mir beschafft,
gerufen aus der Todeskraft.
Iaxathan, der Spiegelknecht,
mir zu dienen ist mein Recht.
Das du, Sohn aus Orunamirians Lenden,
sollst mein Werk für mich vollenden!"

Diese Litanei wiederholte er nun, wobei er jedesmal den Namen eines anderen der drei verbliebenen Terroristen benutzte, der ihm Wissen verschaffen sollte. Iaxathans Spiegelkugel erzitterte nun hörbar, ja klang wie eine kleine, ständig leicht angeschlagene Glocke.

"Woher kennst du ... Nein, das widert mich an. Vergehe, kümmerliches Seelenbruchstück! Aarg!" hielt Iaxathan dagegen. Doch dann sprach Wallenkron noch einen Zauber, der ihm aus einem uralten Buch über Geisterbeschwörung bekannt geworden war. Damit knüpfte er eine ohne Sichtkontakt erzeugte Verbindung zu einem mächtigen Geisterwesen, sofern er dessen Entstehung oder dessen Eltern kannte. Außerdem fügte er dem noch hinzu:

"Muttersmutter Gwendashiaimiria, die dich nährte wie ihr Kind,
wirke fort durch meine Worte,
so dass wir verbunden sind."

"Nein, ich werde ..." protestierte Iaxathan. Doch die nun schon in ihn eingedrungenen Seelenfragmente verteilten sich in seinem Bewusstsein und hielten die Verbindung mit dem Unlichtkristall. Wallenkron wiederholte die gesamte Litanein und dachte dann konzentriert an die Herstellung von Schattenrüstungen. Sofort fühlte er, wie in Form von Bildern, Worten und leichten Bewegungsreizen in seinen Händen das gewünschte Wissen in seinen Kopf drang. Iaxathan versuchte zwar, dagegen anzukämpfen, wurde aber immer von einem nachdrängenden Seelenfragment aufgehalten.

__________

Albertine konnte sehen, wie zwanzig offenkundige Kristallstaubvampire sich mit den eigenständigen Schatten einen Kampf lieferten. Ihr bereitete jedoch mehr Sorge, was hinter der sich langsam wieder schließenden Bresche geschah. Dann war die Bresche völlig geschlossen. Hieß das, Vengor war gefangen. Oder hatte der die Barriere errichtet, um ungestört in die Höhle eindringen zu können? Noch fehlten knapp achthundert Meter bis zum Ziel. Da sah sie flirrende Schemen auftauchen. Ihre magischen Augen konnten auf diese Entfernung nicht durch magische Verhüllungen dringen. Das hatte sie auch schon erkannt, als sie die VM-Agenten vor Louisettes Haus gesichtet hatte. Sie musste auf hundert Meter heran, um durch mögliche Verkleidungen zu sehen. Sie trieb ihren Besen an, schneller zu fliegen. Der ruckelte zwar protestierend, erreichte jedoch noch vierzig Stundenkilometer. Jetzt konnte sie sehen, wie sich die flimmernden Schemen in feste Körper verwandelten, die Körper von Menschen mit übergroßen kahlen, pausbäckigen Babyköpfen. Woher wussten die schon wieder, wo sie Vengor finden konnten? Hatten die etwa doch Spione im deutschen Zaubereiministerium? Doch dann hätten die erst auftauchen können, wo die Expedition selbst am Ort des Geschehens eingetroffen war.

"Vita Magica ist am Plateau. Vorsicht vor deren goldenen Waffen!" warnte Albertine. Das trieb alle anderen an, ebenfalls schneller zu fliegen. Jetzt konnte Albertine auch sehen, dass die ungebetenen Mitspieler keine Besen bei sich hatten. Die mussten per Portschlüssel angekommen sein. Doch dann hätte sie doch die charakteristischen blauen Lichtspiralen sehen müssen.

Sie erkannte auch, dass die Neuankömmlinge echte Säuglinge auf den Rücken trugen, die nun hemmungslos laut schrien oder quängelten. Das wirkte auf die Kristallstaubvampire wie in ihren Körpern berstende Feuerbälle. Sie erzitterten, stürzten ab und zerplatzten noch im freien Fall zu Staubwolken. Jetzt fehlten nur noch zweihundert Meter.

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"Albertine hat vermeldet, dass sie mit einer Truppe aus Kampfzauberern unterwegs ist, weil die Deutschen ein Aufspürgerät für Dunkelkraftkristalle erfunden haben", meldete Anthelias Mitschwester Portia.

"So, haben die sowas? Gut, dann werde ich wohl zusehen, ihn auch zu finden, um zumindest sein Treiben beenden zu können, wo ich Pickman schon nicht gefangennehmen konnte."

"Pickmans Bilder sind alle vernichtet. Die sind einfach so zu farbigem Staub zerfallen, melden alle Mitschwestern aus den anderen Ministerien", erwiderte Portia. Anthelia verzog das Gesicht. Dann fragte sie noch mal genau nach. Offenbar hatte Alontrixhila eine Zerstörungswelle ausgelöst, die sämtliche Bilder unschädlich gemacht hatte. Die Frage war, ob sie das beabsichtigt hatte.

Anthelia wollte sich nicht zu lange mit dieser Frage aufhalten. Sie musste zu Vengor, um ihn daran zu hindern, mit Iaxathan zusammenzufinden. Hierfür nutzte sie zum einen Albertines ungefähre Standortangabe und zum anderen eine von ihr nach ihrer ersten Begegnung mit Vengor erfundene Vorrichtung, die wohl ähnlich wirkte wie das, was Albertines Kollegen ersonnen hatten. Einen auf mehrere Dutzend Tode zugleich ansprechenden Stein. Den konnte sie jedoch erst an einem Ort anwenden, wo im Umkreis von mindestens zehn Kilometern in den letzten zwei Tagen niemand gestorben war und hierfür noch ein Wirbeltier größer als eine Maus getötet werden musste, um den Stein für einen Tag zu aktivieren.

Anthelia schaffte es, zwei Krähen einzufangen und mit ihnen über mehrere Sprünge in das Himalayagebirge zu apparieren. Dort schnitt sie den beiden Vögeln die Bäuche auf und ließ sie auf dem tellergroßen Stein ausbluten. Dabei sang sie das Lied von der großen Mutter Erde, die alles Leben zurücknimmt, wenn seine Zeit gekommen ist. Der Stein saugte das Blut wie ein Schwamm in sich auf. Dann begann er aus sich heraus blutrot zu leuchten. Anthelia besang ihn noch weiter, bis er an einer Stelle hellrot leuchtete. Sie nickte. Es ging also doch, was Naaneavargia damals über die Beziehung von Erde und Tod gelernt hatte. Sie musste jetzt nur noch dem hellroten Glühen des Steines folgen.

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Erst dachten alle, ihre Besen hätten alle Kraft verbraucht. Doch dann erkannten sie, dass sie in etwas geraten waren, dass sie alle festhielt und sie nicht mehr von der Stelle kommen ließ. Albertine blickte sich um und versuchte, die Quelle dieser starken Magie zu sehen. Sie konnte dabei drei Babykopfmaskenträger erkennen, die um aufgepflanzte Metallstangen standen, die an der oberen Spitze dunkelblau flackerten. Die Stangen standen in einem hundert Meter durchmessenden Kreis. Ihre Ausstrahlung reichte jedoch bis zweihundert Meter weit. Für Albertine war das noch zu weit, um durch die Masken der Gegenspieler hindurchzusehen. Sie konnte nur erkennen, wie sie etwas zum Berg hinüberschickten, während alle Vampire restlos zu Staub zerfielen. Die frei beweglichen Schattenwesen waren vor starken Lichtstrahlzaubern und vollgestaltlichen Patroni geflüchtet, auch die Riesenfrau, die vor einem silberweißen Einhorn und einem durch die Luft schwimmenden Hai zurückgewichen war, bis sie ihr Heil in der schnellen Flucht suchte. Dann konnte sie zusehen, wie ein sackartiges Gebilde von weiter oben her über die flimmernde Barriere hinwegsegelte und in der Höhle verschwand.

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Vengor war im Rausch neuer Macht. Er hatte den dämonischen Geist unterworfen, der bis vor einigen Minuten gedacht hatte, ihn zu seinem lebenden Sklaven machen zu können. Doch der hatte nicht damit gerechnet, dass Wallenkron sämtliche Namen der Toten kannte, die den Unlichtkristall erschaffen hatten. Die Liste hatte er in einem gegen jede Form von Fernbeobachtung und Geistesbeeinflussung gewappneten Raum gelesen und zum Divitiae-Mentis-Geheimnis erklärt. Damit war sie das dritte nach der Tatsache, dass er Lord Vengor war und dass er die Namen von Iaxathans Eltern und Großmutter Mütterlicherseits kannte und auch wusste, dass seine Großmutter Gwendashiaimiria Iaxathan selbst gesäugt hatte, damit das erhabene Erbe ihrer Vormütter in ihm stärker wurde. Das wusste er aus einem alten, schwarzen Buch, dass eine gewisse Dysmonia Feuerkruger geschrieben hatte, die sämtliche Geheimnisse alter Hexen und Hexenreiche aufgezeichnet hatte, um eines Tages Sardonias Erbin zu werden. Nur hatte der dunkle Lord das mitbekommen und die Rivalin um den Thron der dunklen Macht von einem Greifen ergreifen und töten lassen. Ihr Buch war Wallenkron nur deshalb in die Hände gefallen, weil er zu diesem Zeitpunkt in der Nähe ihres Hauses war und mitbekam, wie sie starb. Der dunkle Lord hatte nicht mitbekommen, dass ein wichtiges Buch fehlte, als er selbst das Haus in Brand steckte und darüber das dunkle Mal erleuchten ließ.

"Ich werde deine Seele aus dem Leib reißen und einen mir getreuen Geist an ihre Stelle setzen", presste Iaxathan hervor, als ihm immer mehr seines Wissens entrissen wurde. Jetzt ging es darum, wie er die schwarze Festung errichtet hatte. Wallenkron fühlte jedoch, dass die zwischen ihm und dem Spiegel stehenden Schatten schwächer wurden. Falls er nicht doch noch Iaxathans gehorsamer Sklave werden wollte musste er sich beeilen. Er wollte noch wissen, wie die Vierschatten erschaffen wurden. Auf einmal fühlte er, wie seine Kräfte erlahmten. Er sah gerade noch, wie der Zauber ging, mit dem Vierschatten erschaffen werden konnten. Er musste weitere Seelenfragmente aus dem Kristall freisetzen, um nicht selbst zum Diener Iaxathans zu werden. Doch das zehrte an seiner eigenen Körperkraft, fühlte er. Der Kristall, bisher sein treuester Verbündeter, forderte nun seinen Preis ein. Iaxathan merkte das wohl und rang sich ein Lachen ab:

"Na, du kleiner Fleischling. Gehen dir langsam die verkrüppelten Seelenstücke aus? Merkst du, wie meine Kraft dich immer mehr erlahmen lässt? Unterwirf dich mir freiwillig. Dann darfst du das mir entrissene Wissen nutzen."

"Nein, ich werde mich dir nicht unterwerfen", erwiderte Wallenkron. Er fühlte, wie der Unlichtkristall wild erbebte, weil seine Kraft aufs äußerste ausgereizt wurde.

"Hier in der Nimmertagshöhle gilt meine Macht, mein Wort, mein Wille", quetschte Iaxathan die nächsten Worte hervor. "Du magst mich überrumpelt haben, aber nicht überwinden. Diene oder stirb!"

"Im Namen deiner Muttermutter Gwendashiaimiria befehle ich dir, Spiegelknecht, unterwirf dich mir ganz und für immer!" rief Wallenkron.

"Das ist dein Ende, du unwürdiger Wurm", drang Iaxathans Stimme schmerzerfüllt in Wallenkrons Gedanken, während dieser gleichzeitig eine Frau in einem Purpurmantel sah, die auf einem sonnengelben Sitzmöbel thronte, ein gerade erst wenige Tage altes Kind an der linken Brust. Iaxathans Stimme wurde schwächer. Doch auch Wallenkrons Kraft erlahmte.

Auf einmal hörte er ein lautes Plopp. Um ihn herum wurde es dunkel. Das bekam er nur wie aus großer Ferne mit, weil er gerade dabei war, noch ein Geheimnis aus Iaxathans Geist zu saugen, bevor er sich doch zum gehen wenden musste.

Ein leises schwirren über ihm durchbrach seine Konzentration. Nur weil er sofort nach oben sah entging er Iaxathans letztem Versuch, ihn doch noch zu unterwerfen. Da fühlte Wallenkron, wie etwas über ihn fiel und sich blitzschnell um seinen Körper und seine Beine zusammenzog. Er wurde angehoben. Etwas band seine Füße zusammen. Er wusste sofort, was das hieß. "Nicht schon wieder. Difffmmmmm!" Er konnte den Zerreißezauber nicht ausrufen, weil ein Stück des ihn umschließenden Stoffes ihm genau in den Mund geriet und sich darin ballte und ihn knebelte. Er versuchte es, den Zauber ungesagt zu wirken. Der Kristall sollte ihm das ermöglichen. Doch es war wie bei seinem ahnungslosen Onkel Heinrich Güldenberg. Er konnte sich nicht aus dem ihn umhüllenden Sack befreien. Dann hob dieser auch noch mit ihm ab. "Halt. Du bleibst hier!" rief Iaxathans Gedankenstimme, zwar stark geschwächt, aber dennoch nicht verzweifelt, sondern entschlossen. "Das lasse ich nicht zu, dass wer mein Wissen stiehlt und entkommt, ohne sich mir ganz und gar zu unterwerfen."

"Sag das dem Sack, du Sack!" erwiderte Hagen Wallenkron rein gedanklich. Er fühlte, wie das ihn umhüllende Behältnis mit ihm durch die Gänge davonflog. Wie war das eigentlich durch die Feuerwand gekommen? Dann erkannte er, dass jemand an dem Sack was angebracht haben musste. Vier feste Körper, nicht sehr groß aber sehr quirlig, wie Schnatze. "Du gehörst mir, wo immer du hingehst. Dein Geist wird mir gehören, wenn dein Körper stirbt. Denn dann wird der Kristall deine Seele aufnehmen und über die von dir geschlagene Geistesbrücke an mich weiterreichen. Hörst du?! Du bist mein und wirst es bleiben, auch wenn du die Namen der zwei schlimmsten Weibsbilder missbraucht hast, die ich kannte, um gegen meinen Willen zu wirken."

"Ich komme wieder frei und werde mit deinem Wissen meine Welt bauen und nicht zerstören, wie du es dir vorgestellt hast. Ich werde alle die töten, die sich mir entziehen konnten."

"Du Narr. Du wurdest gefangengenommen von einer Horde fortpflanzungswütiger Kleingeister!" lachte Iaxathan.

Als Wallenkron im fliegenden Sack auf den Höhlenausgang zuraste hörte er sie schon wieder, die schreienden und quängelnden, aber auch merkwürdig lachenden Säuglinge. Diesmal drangen ihre Schreie tief in seinen Kopf und hallten in seinem Geist wider. Aber auch sein Körper erbebte. Hitzewellen jagten durch seinen Brustkorb. Er fühlte, wie der Unlichtkristall sich erhitzte. Würde er verglühen? Würde er Hagen Wallenkron am Ende vernichten?

Wallenkron versuchte noch einmal was zu rufen. Doch der Knebel saß zu fest. Das Geschrei und Gequängel der vielen Kinder wurde unerträglich laut. Er spürte es in allen Fasern seines Körpers. Vor seinem geistigen Auge tauchten all die Menschen auf, die am elften September im Welthandelszentrum oder den darin einschlagenden Flugzeugen gestorben waren. Sie riefen laut und schienen sich über irgendwas zu freuen. Gleichzeitig fühlte Wallenkron ein bisher nur in seinen Kindertagen empfundenes Gefühl: Reue, erbarmungslose, tadelnde Reue. Dann, auf einen Schlag, setzte Stille ein.

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1. Dezember 2002

Es war schmerzvoll gewesen, wie sie aus zwei eigenständigen Persönlichkeiten zu einer einzigen, das Wissen von beiden und auch die Launen und Wünsche von beiden vereinenden zusammengefügt worden war. Dieser von diesem verfluchten Kanoras als Freund und Gefolgsmann angeheuerte Hexenmeister hatte das gemacht. Doch er hatte dabei einen Fehler gemacht. Er hatte nicht begriffen, dass eine Verschmelzung zweier Seelen deren Gesamtkraft vervierfachte und auch die Kraft der mit ihnen verbundenen Gegenstände vervielfachte. Sie hatte nach dem Schmerz ihrer Geburt als Vereinigungswesen erkannt, dass die unerfüllten Träume von Birgit Hinrichs, drei eigene Kinder zu bekommen, mit den hemmungslos ausgelebten Gelüsten von Ute Richter verwoben wurden und als körperlicher Ausdruck dieser Verschmelzung ein kristalliner Uterus entstand, der von ihrem Schattenkörper wortwörtlich magisch angezogen wurde. Kaum war das Artefakt in sie eingedrungen und hatte sich dort platziert, wo auch das natürliche Organ zu ruhen pflegte, hatte sie den letzten Kraftschub erfahren und war offenbar zu einer Riesin geworden, die Dunkelheit wie reinen Sauerstoff atmen konnte. Dann waren diese Vampire aufgetaucht, die sie mit ihren Händen wegfegen musste. Als dann noch die unsichtbaren Leute mit den vielen Babys aus dem Nichts kamen hatte sie schon gedacht, gleich heute zur Stammmutter, zur Brutkönigin eines neuen Volkes zu werden. Doch dann hatten diese Hexen und Zauberer mit glutheißen Lichtspeeren und aus verdichtetem silbernem Licht bestehenden Tieren gegen sie gekämpft. Sie hatte nur ihre noch verbliebenen Schattengeschwister zusammenrufen können und war mit ihnen davongerast, von der Macht der Dunkelheit getragen, unaufhaltsam, der noch unter dem östlichen Horizont ruhenden Sonne vorauseilend. Sie wusste, dass sie wohl noch immer gegen Sonnenlicht empfindlich war. Doch sie wollte nicht eingefangen oder vernichtet werden, jetzt, wo zwei starke Persönlichkeiten in ihr zu einer einzigen verschmolzen waren. Aus Birgit Hinrichs und Ute Richter war sie geworden, Birgute Hinrichter. Dieser Narr, der sie erschaffen hatte und diese Banditen, die sie hatten verjagen können, würden bald wieder von ihr hören. Doch sie wusste auch, dass da jemand lauerte, zwei starke Wesen, die wie sie ein Schattendasein führten. Die eine war die Herrin der Vampire, die sie angegriffen hatten. Der andere war jener, zu dem dieser Lord Vengor hingehen sollte und dem Kanoras, dieser gierige Dämon, der ihre beiden Ausgangskörper gefressen und ihre Seelen zu seinen Sklavinnen gemacht hatte, so hündisch treu ergeben war. Kanoras war erledigt. Sie und die anderen waren frei. Nur weil es diese Kristallstäbe und den in ihrem Körper schwebenden künstlichen Uterus gab, existierten sie wohl noch. Sie dachte mit Ute Richters Wissen daran, was Arne Hansen mal an einem Lagerfeuer zum besten gegeben hatte, dass Dämonen und Geister an magische Gegenstände gebunden waren. Das galt also auch in der erweiterten Wirklichkeit, wie sie die neue Welt nannte, in die sie hineingezwungen worden war.

Arne Hansen und die drei anderen, sollte sie die unbehelligt lassen oder sich demnächst holen? Irgendwie drängte es sie, neue Schattenkinder zu bekommen, und sie wusste auch wie. Dann sollte es so sein. Aber erst später, wenn keiner mehr mit ihr rechnen würde.

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Als Anthelia in der Nähe des Ortes war, wo sich Vengor und der in ihm steckende Unlichtkristall aufhalten mussten, erlosch das rote Licht ihres Aufspürgerätes. Sie begriff erst nicht, was das hieß. Sie gedankenrief nach Albertine Steinbeißer und hoffte, sie aus der unbekannten Restentfernung erreichen zu können. Das gelang auch. So erfuhr Anthelia, was sich am Plateau zugetragen hatte. Also waren die von Vita Magica auch hier den Ministeriumszauberern zuvorgekommen. Sie hatten ihn wirklich ergreifen können. Doch hatte Vengor es geschafft, Iaxathan zu treffen?

Zwei Stunden später saß Anthelia wieder in der Daggers-Villa und unterhielt sich mit ihren Mitschwestern aus den USA und Deutschland über die Aktion. Albertine konnte noch nicht dazukommen, weil sie die Expedition noch zurückbegleiten musste.

"Gehen wir davon aus, dass Vita Magica Vengor durch die geballte Lebenskraft neugeborener Kinder genauso schwächen kann wie die Unlichtkristallstaubvampire. Dann können sie ihm all sein Wissen entreißen, bevor sie ihn wohl wiederverjüngen und sein Gedächtnis auslöschen, damit er wieder aufwachsen kann. Womöglich behalten sie ihn bei sich. Aber wenn ich den Ministerien zeigen möchte, dass ich besser als sie bin würde ich den Feind im totalverjüngten Zustand vor eine Tür legen und dabei ein längeres Schreiben zurücklassen, dass es Vengor war und dass ich nun alles weiß, was er wusste oder zumindest, dass ich alle seine Pläne durchschaut und durchkreuzt habe. Wir müssen also weiterhin darauf gefasst sein, mit diesen Leuten von Vita Magica zusammenzutreffen. Nachdem sie es ja geschafft haben, unsere Mitschwester Beth McGuire zu ungewolltem Mutterglück zu verhelfen, stufe ich diese Organisation als uns Hexen missachtende Gruppierung ein. Denn nur wir Hexen dürfen entscheiden, mit welchen Männern wir das Lager teilen und wessen Kinder wir gebären wollen oder nicht. Auch wenn Sie uns von der Plage Vengor befreit haben mögen gilt es, herauszufinden, wer dazugehört und diesen Leuten klarzumachen, dass sie eine Grenze überschritten haben, die Grenze meiner Geduld."

"Und wenn eine von denen schon in unseren Reihen ist, höchste Schwester?" wollte Melonia wissen.

"Dann sollte sie darauf hoffen, dass ich gnädig zu ihr bin, wenn sie sich selbst offenbart", sagte Anthelia. "Finde ich heraus, dass es unter uns eine Spionin dieser hexenfeindlichen Grupppe gibt, so kann sie von Glück reden, wenn ich sie auf altbewährte Weise in den Körper einer Neugeborenen zurückverwandele. Es könnte mir aber auch etwas heftigeres einfallen. Töten muss ich sie nicht." Darauf schwiegen die Anwesenden. Anthelia horchte, ob sich eine ertappt fühlte. Beth dachte daran, dass sie eine solche Spionin in einen Schnuller oder eine Windel verwandeln würde, um diese an dem ihr aufgeladenen Nachwuchs zu verwenden. Die anderen dachten auch daran, dass sie jederzeit ungewollt schwanger werden mochten und Anthelia schon recht hatte, dass Vita Magica magische Menschen wie Zuchthühner und -hähne behandelte. Das durften sie dieser Gruppe, zu der auch Hexen gehörten, nicht dauerhaft durchgehen lassen.

Anthelia erinnerte auch daran, dass die Abgrundstöchter noch da waren, dass trotz der vielen vernichteten Kristallstaubvampire immer noch Gefahr von der schlafenden Göttin der Nachtkinder ausging und dass unklar war, wer die riesenhafte Schattenfrau war, die auf dem Plateau gewesen sein sollte. Dass Kanoras vernichtet worden war nahm sie zwar als gute Nachricht hin, ging jedoch davon aus, dass sein Erbe noch nicht restlos ausgelöscht war. Außerdem hatten nicht Ministeriumszauberer oder die Kinder Ashtarias Kanoras besiegt. Wer immer ihn vernichtet hatte mochte vorher all sein Wissen erbeutet haben, um sein Erbe anzutreten. Wohl wahr: Unkraut verging nicht. Gut, das dachten viele wohl auch von ihr. Damit konnte sie jedoch gut leben.

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Die von Wallenkron in seinen Geist hineingetriebenen Bruchstücke der inneren Selbst beim Vernichtungsangriff auf die Handelstürme in der westlichen Stadt wirbelten wild und schmerzhaft in seinen Gedankenströmen und wühlten diese auf. Wäre noch ein hörfähiges Wesen in der Nimmertagshöhle gewesen, so hätte es das Auge der Finsternis mal leise und mal dröhnend laut brummen hören können. Die aus Mitternachtsmetall gemachte Spiegelkugel erzitterte stark auf ihrem Sockel. Iaxathan, der sich selbst als Diener der alles endenden Finsternis bezeichnete, kämpfte um sein inneres Gleichgewicht.

Während Erinnerungen und Gefühle vorher lebender Menschen wie bunte und laute Blitze seine Gedanken durchrasten rang er darum, seine unbändige Wut, Enttäuschung ja auch unvermittelte Angst zurückzudrängen. Wie konnte dieser kleine, zwar begabte aber eigentlich bedeutungslose Kurzlebige es wagen, sich ihm, Iaxathan, so entschlossen zu verweigern? Was fiel dem ein, die ihm zugewiesene Rolle als Knecht des letzten finsteren Königs abzulehnen, ja ihn, Iaxathan selbst, als wahren Spiegelknecht zu bezeichnen? Woher hatte der Schurke gewusst, dass gezielt in das Auge der Finsternis verpflanzte Geistessplitter ihn davor schützen konnten, dem mächtigen Einfluss zu unterliegen, den das Auge der Finsternis besaß? Ja, und woher hatte dieser Verräter die Namen von Iaxathans Eltern und seiner Großmutter, mit der er nur Unterlegenheit, Demütigungen und Schwäche verknüpfte. Dieses Weib hatte ihn und seine Eltern geknechtet und sie alle durch starke Kräfte der Gefühlslenkung an sich gebunden. Nach ihrem Tod hatte er alles getan, um ihren Namen aus dem Gedächtnis seiner Anhänger und seiner Feinde zu vertilgen. Doch jetzt musste er mit übergroßem Schrecken erkennen, dass das nicht ganz gelungen war. Schlimmer noch: Der Name seiner Muttermutter Gwendashiaimiria in Verbindung mit einem Unterwerfungsspruch gegen entkörperte Seelen übte auf ihn immer noch einen unabwendbaren Zwang aus. Wie konnte es sein, dass dieses Weib auch viele Tausendersonnen nach ihrem verdienten Ende diese Macht über seinen aller Körperlichkeit entledigten Geist besaß.,

Wieder meinte er, er sei ein kleiner Junge in den Straßen einer Stadt in der Wüste. Nein, das waren die Splitter aus dem Leben eines anderen. Musste er damit jetzt die ganze der Welt verbleibende Zeit weiterbestehen? Nein! Er besann sich, bündelte seine Gedanken und schaffte es, sie auf das eine Ziel zu richten, den Verbindungsstrang zu Wallenkron zu halten, daran zu ziehen und ihn wie angedroht an sich zu binden, so dass dessen inneres Selbst nach dem Tod des Körpers unverzüglich zu ihm hingelangen und von ihn eingeschlossen werden konnte, damit er der neue Bote wurde, der ihm nach all den Tausendersonnen einen neuen lebenden Körper beschaffen sollte. Er stieß die vier Namen jener immer wieder aus, die Vengors Unlichtkristall erschaffen hatten und dabei ihr eigenes Leben gegeben hatten. Jetzt hatte er die Verbindung mit Wallenkron. Doch davon gingen unvermittelt starke Gegenkräfte aus. Die Verbindung erzitterte. Dann zerriss sie mit einer schmerzhaften Kraftentladung vollständig. Das durfte nicht sein. Er, Iaxathan, hatte den von Wallenkron mitgebrachten Unlichtkristall doch mit seiner eigenen Kraft durchdrungen und aufgeladen, um ihn an jedem Ort der Welt zu finden und dessen Träger zu überwachen. Wie hatte der sich davon freimachen können, ohne zu sterben und gleich zu ihm hinüberzuwechseln? Dann erkannte er, was geschehen war. Die geballte Kraft jungen, reinen Lebens hatte das bewirkt. Das war dieselbe Kraft, die auch die unerlaubt entstandenen Kinder der Nacht mit Kristallstaub in den Adern vernichten konnte. Wallenkron war an einen Ort getragen worden, wo viele ganz junge Sterblichen versammelt waren. Wieder überkam den in seinem eigenen Machtgegenstand gefangenen Geist die Wut. Damit hatte er doch rechnen müssen, als er durch Wallenkrons Ohren die Schreie neugeborener Menschen gehört hatte. Jetzt hatten die ihn von dem Kristall befreit, aber wohl ohne ihn zu töten. Die Enttäuschung, dass er seine Rache nicht bekommen würde, solange Wallenkron nicht wagte, zu ihm zurückzukehren, verstärkte seine Wut. Beinahe drohte er wieder, sein geistiges Gleichgewicht zu verlieren. Da blitzte ein aufmunternder Gedanke in ihm auf: Die in ihn hineingeratenen Seelensplitter waren nun völlig aus dem Verbund mit dem Unlichtkristall gelöst. Er hielt sie aber noch in seinem Geist. Sie waren nicht schlagartig vergangen. Da kam ihm der Einfall, diese ihm aufgezwungenen Splitter fremder Leben zu ergreifen und sie zu einer eigenen ihm unterworfenen Gestalt zu formen.

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Zehn Kristallstaubvampire gab es noch. Ihre Herrin und Meisterin hatte sie bewusst zurückgehalten, um Vengors Gefolgsleute zu jagen. Als sie erfasste, dass der von Iaxathan erhoffte Knecht ihm die Unterwerfung verweigerte und Wellen von Wut und Enttäuschung durch die Unendlichkeit von Raum und Zeit jagten benutzte sie die zehn verbliebenen, um die Helfer Vengors zu orten. Dazu brauchte sie nur zwei Minuten. Dann verschickte sie ihre zehn Vollstrecker mit dem Schattenstrudel an die Orte, wo zehn Träger des Unlichtkristallstaubes daran gingen, jenes Chaos auszulösen, dass der Machtergreifung Vengors vorausgehen sollte. Sie genoss es, wie die zehn Gefolgsleute des am Ende doch nicht unterworfenen Spiegelknechtes überrumpelt und ihres mit dem Staub geschwängerten Blutes beraubt wurden. Nach nur drei Minuten lebte keiner der zehn Vengorianer mehr. So blieben nur jene, die nicht mit dem Unlichtkristallstaub versehen worden waren. Doch die würde sie auch noch bekommen, falls sie sich nicht in der Nähe von neugeborenen Kindern versteckten oder irgendein Zaubereiministerium herausbekam, wer diesem Schwachkopf gefolgt war.

Weil sie sich voll auf die Durchführung ihres Rundumschlages konzentriert hatte war ihr entgangen, dass die bisher so starken Wellen aus Wut und Enttäuschung verebbt waren. Sie fühlte vielmehr eine angespannte Vorfreude, eine sich langsam wieder verstärkende Entschlossenheit. Als sie versuchte, nachzubohren, was den gerade eben noch so wütenden Geist Iaxathans so umgestimmt hatte verschloss dieser seine Gefühle völlig vor ihren geistigen Aufspürversuchen. Das gefiel ihr nicht, wo sie doch eigentlich allen Grund hatte, sich als Siegerin in dieser so entscheidenden Nacht zu fühlen. Irgendwas stellte dieser Möchtegernerzdämon gerade an. Der hatte noch nicht aufgegeben.

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Iaxathan fühlte sich wieder stark. Die Wut, die Enttäuschung und die überstarke Angst, doch nicht so unangreifbar und unabwehrbar zu sein, verflogen mit jedem kleinen Erfolg, aus den in seinem Geist umherjagenden Splittern vier zusammenhängende Erinnerungs- und Gefühlsverknüpfungen zu bilden. Außerdem besann er sich auf noch etwas, dass er diesem Frechling nicht verraten hatte. Wer es schaffte, aus einem Unlichtkristall die Splitter jener Seelen abzulösen, die zu seiner Entstehung gebraucht worden waren, konnte durch die mächtige Barriere hindurchstoßen, die die Welt der stofflichen, atmenden Wesen von den Seelen ihrer Körper entledigter Wesen trennte. So strengte er sich an, die vier von ihm klar geformten Seelensplitter zu nutzen, um diese wie mächtige Eisenfangsteine auszurichten und sich auf die Grundschwingungen zu besinnen, die entstanden, wenn Menschen geboren wurden und Menschen starben. Er selbst war damit mächtig geworden, diese für Menschensinne nicht erfassbaren Wechselkräfte zu ergründen, ebenso wie es die mächtigsten Lichtfolger vermocht hatten. Dann rief er die Namen der vier Männer, die die von Feuer getriebenen Metallvögel in die Handelstürme hineingelenkt hatten. Er benutzte dabei deren Stimmen. Ja, und er fühlte, wie ein leiser Widerhall erklang, durch die kraftvoll schwingende Barriere zwischen Lebenden und Toten hindurch. Er verstärkte die Kraft seiner Rufe, wobei er sich zuerst auf nur einen zu rufenden festlegte. Immer lauter wurde der Widerhall, und dann fühlte er, wie das in ihm schwingende Bruchstück eine Gleichschwingung erzeugte. Diese wurde immer stärker. Dann hörte er, wie jemand laut und vor Angst schreiend auf ihn zuflog und sich in ihm entfaltete. Er vernahm die von Qual und Verbitterung gebildeten Gedanken eines Mannes, der gedacht hatte, nach seiner Tat in einem Reich ewiger Glückseligkeit zu erwachen und hatte feststellen müssen, dass er nur von ihn anklagenden Seelen umgeben gewesen war. Und jetzt hing dieser von der Welt hinter der unsichtbaren Mauer zurückgezerrte in Iaxathans Geist, von dessen Gedanken zusammengedrückt und bewegungslos gehalten.

So verfuhr der mächtige Geist im Auge der Finsternis mit den drei anderen. Auch diese waren aus einem Zustand ständiger Bedrängung und Vorwürfen in die stoffliche Welt zurückgezerrt worden. Die in der anderen Welt erlittenen Qualen lähmten jeden von ihnen, dass er sich nicht gegen Iaxathans geistige Umklammerung wehren konnte oder wollte. Dabei war der selbst eingekerkerte noch nicht mal mit seinem gnadenlosen Treiben fertig.

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Er kannte das zu gut. Er war mal wieder von einem Portschlüssel erwischt worden. In dem Fall war das wohl der ihn umschließende Sack. Aber normalerweise konnten magisch belebte Gegenstände keine Portschlüssel werden. Aber was war eigentlich noch normal? Immerhin war er für's erste die plärrenden Windelkacker los und auch das Drohen und Fluchen des von ihm regelrecht ausgenommenen Geisterfürsten Iaxathan. Immerhin hatte er den ordentlich hereingelegt. Doch wenn stimmte, was der noch getönt hatte, dann konnte die Verbindung zwischen ihm und dem Unlichtkristall seine Seele nach dem irgendwann eintretenden Tod zu ihm hinbefördern, damit der doch noch der Bote dieses uralten Geistes wurde. Allerdings fragte sich Hagen Wallenkron, ob die, die ihn eingefangen und entführt hatten, das nicht irgendwie verhindern würden, ohne das zu beabsichtigen. Denn das Geplärre vieler Babys ließ nur zwei Möglichkeiten zu: Die Heilerzunft, die wohl ähnlich wie bei den Kristallstaubvampiren auch bei ihm diese Krakehler als unfreiwillige Waffen benutzte oder diese Fanatiker von Vita Magica, die unbedingt viele vviele neue Zaubererweltkinder auf der Welt haben wollten und dabei ähnlich skrupellos vorgingen wie er, Lord Vengor.

In dem Moment, wo die Portschlüsselreise endete, schlug das Geplärre vieler Säuglinge auf ihn ein wie mit zwei zentnerschweren Hämmern. Sein Kopf schien gleich zu platzen. Wieder sah er brennende oder in die Tiefe stürzende Menschen vor sich und fühlte unbändige Reue, weil er diese Menschen mit auf dem Gewissen hatte. Gleichzeitig fühlte er, wie der in ihm steckende Unlichtkristall in einer Woge aus glutheißen Schauern förmlich in ihm zerschmolz. Er glaubte, gleich in Flammen aufgehen zu müssen. Da verlor er sein Bewusstsein.

Als er wieder aufwachte steckte er nicht mehr in diesem Sack. Er steckte in überhaupt nichts mehr. Nicht mal seine grüne Schlangenkopfmaske trug er noch. Er saß völlig nackt auf einem gepolsterten Stuhl. Er war mit silbernen Handschellen an die Armlehnen gefesselt. Er sah an sich herunter. Seine Haut war unverletzt. Dann erkannte er die Lichtquelle, eine weißes Licht aussendende Kristallsphäre an der Decke. Er saß in einem Raum, der ihn sofort an eine Mischung aus Zaubertranklabor und Thaumaturgenwerkstatt denken ließ. In der Ferne hörte er vereinzelte Schreie von Säuglingen. Einen Moment meinte er, gleich wieder Schmerzen haben zu müssen. Doch die Schmerzen blieben aus. Dann horchte er in sich hinein, ob der Unlichtkristall noch pulsierte. Doch davon spürte er nichts.

Eine hervorragend getarnte Tür ging auf, und hereinkam eine Hexe im blauen, leicht glitzernden Umhang. Sofort fraß sich sein Blick an Gesicht, Haaren und vor allen den meergrünen Augen der Hexe fest. Die sah echt aus wie eine um neunzig Jahre jüngere Ausgabe von ...

"Du bist also wieder wach, Hagen Wallenkron. Weißt du eigentlich, dass du der am meisten gesuchte Zauberer der ganzen Welt bist, nachdem dein Handlanger Hironimus Pickman offenbar von einer außerministeriellen Konkurrentin erledigt worden ist?"

"Vita Magica, die Babymacherbande?" spie Wallenkron eine verächtliche Frage aus.

"Das Wort Bande ist eine Beleidigung, und kleine Kinder werden bei uns nicht gemacht, sondern gezeugt oder empfangen und nach hoffnungsvollen Monaten geboren. Aber ansonsten stimmt alles. Du bist in einem der Stützpunkte der erhabenen Gesellschaft zur Mehrung magischen Lebens, was du als höchst unverdiente Ehre ansehen darfst, wo du in deiner Gruselmaskerade als Lord Vengor viele Hexen und Zauberer auf dem Gewissen hast. Aber wenn du dir jetzt einbildest, wir würden dich zur Zeugung vieler neuer Zaubererweltkinder anhalten, um diesen Schaden zu beheben, so irrst du dich. Warum du hier bist? Wir wollen wissen, was dich dazu getrieben hat, dich diesem Weltuntergangsgeist anzubiedern und ob er deine Seele schon sicher hat. Achso, zumindest dieser Todeskristall, der dir über ein Jahr hinweg unverdient viel Macht verliehen hat, konnte erfolgreich beseitigt werden. Die fordernden Rufe unschuldiger Kinder, ihr Lachen und Quängeln, hat dieses Unding in deinem Körper zerstört, ohne dich mit zu zerstören. Was sonst noch an dunkler Magie an und in dir war haben wir mit einem Incantivacuum-Kristall neutralisiert, mit bestem Dank an das US-amerikanische Zaubereiministerium.

"Sabberhexe! Bist du 'ne Nichte von Blanche Faucon? Hat die euch auf mich angesetzt, diese Weltverbesserin?"

"Nein, ich bin keine Nichte von Blanche Faucon. Wieso kommst du darauf?"

"Weil du so aussiehst wie eine jüngere Ausgabe von Claudine Rocher, die von einem Letifolden gefressen wurde."

"Dann muss ich doch glatt mal gezielte Ahnenforschung betreiben", erwiderte die andere. "Gut, in Ahnenforschung hast du mir jedenfalls was voraus, wo du ja gezielt nach bestimmten Hexen und Zauberern gesucht hast. Tja, aber die meisten von denen, die du im Namen dieses Iaxathans umbringen solltest hast du nicht erwischt. Hat er dir das sehr übelgenommen?"

"Er lässt schön grüßen und sagt, dass all die Plärrbälger hier demnächst von ihm und seinen neuen Dienern gefressen werden", erwiderte Wallenkron und lauschte, ob Iaxathans Stimme in ihn eindringen würde. Doch es blieb still. Dann erkannte er, dass Iaxathan alle Macht verloren hatte, die der jemals über ihn gehabt hatte. Der Unlichtkristall war vernichtet? Dann würde seine Seele nicht zu Iaxathan überfließen, wenn er starb. Doch das durfte er dieser Hexe da nicht sagen.

"Kommen wir zum Grund deines Besuches", sagte die Hexe, die echt wie eine jüngere Ausgabe von Claudine Rocher aussah. Wallenkron sah, wie sie an mehreren Hebeln hantierte. Dann hörte er über sich etwas herabsinken. Er wollte schon den Kopf zur Seite reißen, da landete eine leichte, aber metallische Haube auf seinem Kopf und erwärmte sich ein wenig. "Du bist in okklumentik sehr gut, weiß ich von einer deutschen Mitstreiterin, die vor drei Tagen eines der Kinder geboren hat, das dich aus dem Bann dieses Todeskristalls gelöst hat. Ich empfehle dir aber, dich nicht gegen die Haube der Erinnerungen zu wehren. Es würde nur viel schmerzvoller für dich."

"Lieber sterbe ich, als euch alles zu verraten, was ich weiß. Ihr macht ja nur Unsinn damit."

"Sagt einer, der bedenkenlos die halbe Welt entvölkert und die andere Hälfte versklavt hätte, wenn wir nicht rechtzeitig erfahren hätten, wo er sich herumtreibt. Aber wir haben schon zu lange unsere Zeit mit Plaudern totgeschlagen", sagte die Hexe mit den meergrünen Augen. Dann betätigte sie weitere Hebel, und Wallenkron fühlte, wie etwas sich in seinen Kopf vortastete. Er sah den durchsichtigen Schlauch, der über eine Vorrichtung mit einer bauchigen Kristallflasche verbunden war. Er okklumentierte.

Ein Brummen klang in seinem Kopf auf. Doch noch hielt er dagegen. Doch als das Brummen einen bestimmten Grad überstieg brach sein Widerstand weg wie ein maroder Deich bei Sturmflut. Unverzüglich jagten Bilder und Wörter aus seinem bisherigen Leben durch seinen Kopf, vor allem die wenigen Minuten in Iaxathans Nimmertagshöhle. Er versuchte es, das abzuwürgen. Doch schmerzhafte Entladungen unter seiner Schädeldecke gemahnten ihn, dass er gerade völlig hilflos war, hilflos wie ein neugeborenes Kind. Nein, diesen Gedanken wollte er sicher nicht mit ins Vergessen nehmen. Am Ende saugte diese Foltervorrichtung ihm alle Erinnerungen aus dem Kopf und sammelte sie ein. Ja, das war es wohl, was die Flasche an der Vorrichtung sollte. Wallenkron versuchte noch mal, seine Gedanken zu verhüllen. Kam dieses Ding, das er damals als gelungene Erfindung gepriesen hatte, auch an seine mit Divitiae-Mentis-Zauber versiegelten Erinnerungen dran?

Er sah sich Schattenritter erschaffen, fand sich als Baumeister, der in große Steine die Körperteile getöteter Menschen und Drachen einlagerte, um sie durch einen dunklen Zauber zu Bestandteilen einer unbezwingbaren Burg zu machen und erlebte, wie er unter einer verfinsterten Sonne vier Menschen durch ein Ritual zu einem achtbeinigen Geschöpf aus reinem Nyctoplasma umwandelte. Dann erlebte er sich, wie er damals die Schriften in verbotenen Abteilungen von Bibliotheken wie Durmstrang, Hogwarts und Greifennest studiert hatte, nachdem ihm gelungen war, einen Magiegefrierring zu erfinden, der jeden Melde- oder Abwehrzauber unterbrach, solange der Ring weniger als zehn Meter entfernt war. Dabei war er damals darauf gekommen, die Legende vom Spiegelgeist Iaxathan nachzuprüfen, von dem es hieß, er würde seinen Dienern die größte Zaubermacht gewähren. Später als er schon ein bekannter Thaumaturg war, hatte er dann entsprechende Bücher gefunden. Dann war der dunkle Lord erschienen und hatte ihn als einen von zehn deutschen Todessern kultiviert. Denn Hagen Wallenkron wollte Statthalter des dunklen Lords werden, Muggelstämmige auslöschen, wie es die Nationalsozialisten mit jüdischen Mitbürgern gemacht hatten. Doch der dunkle Lord stürzte über den mütterlichen Segen Lily Potters. Seine zweite Machtphase dauerte nur drei weitere Jahre an. Das gab Hagen Wallenkron erst recht die Idee, zum Rächer des dunklen Lords zu werden. Was danach alles folgte verflog innerhalb der nächsten Minute. Dann schien die Zeit wieder rückwärts zu laufen. Seine Jugendjahre, seine Kindheit, alles raste vor seinem geistigen Auge vorbei. Er hatte schon längst allen Widerstand aufgegeben. Am Ende nahm er es demütig hin, wie er in den warmen Leib seiner Mutter Siglinde zurückgezogen wurde. Dann blitzte es vor ihm auf. Ein jäher Schmerz durchraste seinen Kopf. Er hörte noch ein lautes Pfeifen. Dann wurde er bewusstlos.

"Ui, drei Divitiae-Mentis-Zauber. Hätte ich mit rechnen müssen, dass der Kerl noch ein paar geschützte Geheimnisse im Kopf hat. Gut, dass die Haube sich selbst außer Kraft setzt, wenn diese Zauber nicht zu brechen sind."

"Das heißt, der wird auch nach einer Gedächtnisbereinigung dieses Wissen behalten?" fragte ein im Hintergrund zuschauender Mitstreiter.

"Gegen den totalen Gedächtnisbereinigungszauber hilft Divitiae Mentis nicht, weil ja alle Verknüpfungen zu den damit versiegelten Erinnerungen wegfallen. So, klären wir den Rest der Welt auf, dass der große Dämonenbeschwörer und Beinahespiegelknecht unschädlich gemacht wurde. Soll der Bursche in seiner alten Heimat neu aufwachsen und hoffentlich auf andere Ideen kommen."

"Und was der so gelernt und ausprobiert hat?" fragte Pater Decimus Sixtus Occidentalis.

"Das verbuddeln wir in unserem Giftschrank. Wenn wir das einem Ministerium ausliefern oder gar den Hexenschwestern in die Finger geraten lassen, die uns als Entehrer der Hexenwürde hinstellen haben wir den nächsten Vengor oder die wahre Erbin Sardonias schon morgen auf der Welt. Dafür hat deine Frau nicht die drei süßen Wickelhexlein bekommen, und ich will Bluecastles hundertstes Kind auch in einer heileren Welt großziehen."

"Was diese steinerne Riesenschlange angeht, die Wallenkrons erster Schattendiener erwähnt hat, da sollten wir aufpassen, ob da nicht noch weitere Erblasten aus Atlantis ans Licht zurückkehren", sagte Pater Decimus Sixtus Occidentalis.

"Geh davon aus, dass Blanche und Catherine mit ihrem heimlichen Club ebenso auf der Hut sind, was derartige Artefakte angeht. Zwar bekomme ich nicht mehr alles mit, seitdem ich diesen neugierigen Knaben Gérard wiederverjüngt habe. Offenbar ahnt die gute Blanche Faucon etwas. Aber ich weiß, dass es wohl eine solche geheime Gruppe gibt, die mit versteckten Hinterlassenschaften aus dem alten Reich zu tun hat. Das muss außer dir und mir aber erst mal keiner wissen."

"Warum darf ich das wissen?" fragte Vicesimas Mitstreiter.

"Weil meine Tochter Jacqueline deine Frau ist und damit irgendwann vielleicht mal meine Nachfolgerin im Rat des Lebens."

"Verstehe, Blut ist dicker als Wasser", grinste Pater Decimus Sixtus Occidentalis.

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"Seid gefügt in meinem Geist,
der euch euer Los zuweist!" dröhnte Iaxathans Gedankenstimme immer wieder, wenn er eine der aus der anderen Welt zurückgerufenen Seelen mit einer anderen zusammenführte und diese unter starken Kraftstößen dazu zwang, sich zu vereinigen. Er stellte mit großer Befriedigung fest, dass es ihm leichter fiel, zwei zu einer geschmiedeten Seele mit einer weiteren zusammenzufügen, sie zu einer neuen einheitlichen Geistesform zu machen. Dann schuf er aus dieser vereinten Seele mit der vierten ihm zugefallenen körperlosen Daseinsform eines Massenmörders eine weitere vereinte Daseinsform, in der sich alle Erinnerungen aus vier Leben verwoben. Doch bevor diese neue Geistesform zu einem eigenständigen Denken und fühlen erwachte band er sie durch starke Anrufungen ganz und gar an sein Wort und seinen Willen. Doch er fühlte, dass er diese vereinte Kraft nicht als seinen in ihm schlafenden Boten behalten konnte, den er in einen dafür geeigneten Körper übertragen wollte. Auch wenn der vereinte Geist ihm allein unterworfen war, so lähmte er Iaxathans eigene Geistesströme wie ein mehrere Männer schwerer Schmiedeklotz aus Dauereisen, den ihm jemand auf die Schultern gelegt hatte. Außerdem fühlte er, wie die von Wallenkron in ihn übertragenen Geistessplitter der anderen wieder stärker in ihm herumwirbelten. Er musste sie loswerden, weil diese ständigen Gedanken an Freude und Liebe ihn schwächten. So dachte er die machtvolle Anrufung der freisetzung. Die vereinte Seele aus vier ehemaligen Selbstmordattentätern, durch seinen Bann zu eigenem Willen unfähig geworden, wurde aus seinem eigenen Bewusstsein ausgestoßen.

Es war für beide ein schmerzvoller Akt, vergleichbar mit einer Lebendgeburt. Nur wurde hier von einem finsteren Geist erbrütetes Dasein in einer nichtlebendigen Form ausgetrieben. Wenn jemand mit die Dunkelheit durchdringenden Augen in der Nimmertagshöhle gewesen wäre hätte er oder sie einen tiefschwarzen Dunst aus der Spiegelkugel quellen sehen können. Dieser Dunst formte sich unter in einem Gleichtakt ablaufenden Ausdehnungen und Stauchungen immer mehr zu einem schattenhaften Wesen, dreimal so groß wie jeder Mensch. Dann, mit einem Ruck, löste sich die Schattengestalt vollständig aus der drei Männerköpfe großen Kugel und flog zum Eingang hinaus.

"Erkunde den Ausgang!" befahl Iaxathan der willenlosen Schattengestalt. Diese gehorchte.

Als sich die Schattengestalt dem Ausgang aus dem Höhlengefüge näherte, wurde sie von immer stärkeren Gegenkräften abgebremst. Immer langsamer kam sie an den Ausgang, um dann wie gegen eine unsichtbare Mauer zu stoßen. Die Schattengestalt schaffte es nicht, durch den Ausgang hinauszufliegen, um nach oben zu steigen. Vor ihr flimmerte und blitzte eine die ganze Talbreite ausfüllende Reihe aus Lichtsäulen. Die Schattengestalt versuchte, durch die Höhlendecke zu stoßen. Doch die darin gespeicherte dunkle Kraft wirkte ebenso abweisend. Hier war kein Hinauskommen möglich.

Iaxathan unterdrückte einen neuerlichen Wutanfall. Er erkannte, dass trotz der starken Schwächung der von seinem letzten Widersacher errichteten Abwehr immer noch genug Kraft darin wirkte. "So komm zurück und erwarte meine neue Anweisung!" befahl Iaxathan der Schattengestalt. Diese gehorchte ohne zu zögern.

"Auf diesem Weg kommst du nicht hinaus? So erlerne, körperliche Kräfte auf totes Gestein auszuüben, damit du damit einen neuen Weg hinaus schaffen kannst!" befahl Iaxathan. Er musste sich sehr anstrengen, die in ihm immer noch frei umhertreibenden Seelensplitter unschuldiger Menschen zu verkraften. Sollte er die auch zu einer weiteren Schattengestalt verschmelzen? Doch dann wurde ihm klar, dass diese Seelen nichts miteinander verbindendes hatten. So würde er wohl damit leben müssen, sie in sich zu haben. Aber wenigstens hatte er ein wichtiges Ziel erreicht. Er hatte einen neuen Knecht, wenn auch nicht aus Fleisch und Blut und mit der erhabenen Kraft begütert, aber zumindest einen, der irgendwann gegen seine Feinde kämpfen und Vergeltung für die ihm angetane Schmach üben würde. Und noch was bereitete ihm große Vorfreude. Dieser neue Spiegelknecht konnte in lebensfeindliche Gebiete vordringen. Ihn würde er losschicken, um die ihm abtrünnig gewordene Tochter der Nacht zu bestrafen. Nur durfte er dieser das nicht einmal annäherungsweise verraten.

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Er hatte erst befürchtet, über Stunden oder Tage unter unerträglichen Schmerzen bei lebendigem Leibe verdaut zu werden. Doch die Agonie brach mit Urgewalt über ihn herein, schien ihn wie in einem lodernden Feuer zu verbrennen. Dann, auf einmal, Ruhe und Schwerelosigkeit. Er hörte zwar noch alle Geräusche eines lebenden und atmenden Körpers um sich herum. Doch er fühlte selbst keinen Körper mehr. Dann hörte er die Stimme der Kreatur, die er selbst erschaffen und die sich über ihn, ihren Schöpfer erhoben und ihn einverleibt hatte in seinem Geist: "Jetzt sind wir zwei auf ewig vereint. Dein Fleisch und Blut ist in mir aufgegangen, und dein Geist hält mich in deiner Welt, frei von jeder Art von einem bindenden Gegenstand. Habe ich dir schon gesagt, wie dankbar ich dir bin, dass du mich aus deiner Abhängigkeit hinausgestoßen hast, weil du meine erste Heimstatt vernichtet hast?"

"Du größter Fehler meines Lebens", dachte Pickman zurück. "Ich hätte dich gar nicht erst einmal ersinnen dürfen."

"Ja, aber jetzt gibt es mich. Und ich werde bleiben und mein eigenes Leben führen", erwiderte die Stimme Alontrixhilas. "So wie du jetzt bist behalte ich dich. Das soll meine Entgegnung dafür sein, dass du versucht hast, mich zu vernichten."

"Und die anderen, die du dir unterworfen hast?" wollte Pickman wissen.

"Die kann und werde ich in die Welt schicken, wann und wie ich will oder sie jederzeit zu mir zurückholen. Wer braucht schon einen Lebenskrug, wenn sie die Kraft der Pflanzen und fühlenden Seelen trinken und nutzen kann?"

"Mögen die wahren Töchter der Lahilliota dir und mir ein baldiges Ende bereiten", verwünschte Pickman sich und die Unheilsgestalt, die ihn in sich einverleibt hatte.

Dann hörte er mehrere andere Stimmen, die gedämpft und wie um ihn herumntanzend zu ihm durchdrangen: "Da bist du also, falsches Blut, Beleidigung unserer erhabenen Mutter. Vergehe und verwehe!"

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Lahilliota spürte den mächtigen Geist der unechten Tochter. Dieses Machwerk eines von größenwahnsinnigem Schaffensdrang getriebenen Kurzlebigen hatte sich endgültig offenbart. Die Falsche Tochter befand sich weit im Westen vom Berg der ersten Empfängnis. Sie triumphierte über ihren Schöpfer und über ihre Schwestern. Doch nur sie, die Königin des Lebens, die Mutter der ursprünglich neun Töchter der Elemente, wollte das nicht auf sich beruhen lassen, es nicht als unumkehrbare Tatsache bestehen lassen, dass da wer ein ihrer Art ähnelndes Kunstgeschöpf auf diese ihre Welt gebracht hatte und dadurch, dass er am Ende von diesem Frevel selbst vereinnahmt wurde, die Beständigkeit dieser Missgeburt sichern sollte. Deshalb schickte sie ihre rechten Töchter Tarlahilia, Ullituhilia und Itoluhila aus, um das Verbrechen an ihrem Ansehen zu ahnden.

Die drei Schwestern folgten der bedenkenlos gelegten Spur. Zwar gingen sie auch von einer möglichen Falle der verbotenen Schwester aus. Doch ihre Mutter wollte Rache für die Beleidigung, die Pickman ihr angetan hatte. Vor allem Itoluhila, von deren Haar dieser Pinselschwinger die Farbessenzen hergestellt hatte, mit denen er dieses Weibsstück Alontrixhila erschaffen hatte, sann auf Vergeltung.

Als sie am Ursprungsort der geistigen Ausstrahlung eintrafen sahen sie eine riesenhafte Erscheinung, fünfzehnmal so groß wie jede einzelne der drei Schwestern. Als die Gigantin mit der dunkelbraunen Haut und dem ebenholzschwarzen Haarschopf ihre Gegnerinnen erkannte lachte sie laut wie Donnerhall, dass ihre Stimme von den schneebedeckten Gipfeln der Rocky Mountains vielfach widerhallte. "Ihr drei wollt mich vernichten?!" rief sie, nachdem ihre erste Erheiterung verklungen war. "Dann versucht es mal!" Mit diesen Worten hob sie ihre mächtigen Fäuste und deutete Schläge gegen Itoluhila und Tarlahilia an.

Tarlahilia sah sie entschlossen an und besann sich auf die Kraft, Hitze und Licht der Sonne als tödlichen Blick ihrer Augen auszusenden. Blassblaue Strahlen schnellten aus ihren Augen und fauchten der Unerwünschten entgegen. Jeder Strahl traf eines der baumstammdicken Beine und schuf einen hellroten Lichtfleck. Doch das Fleisch der Unerwünschten brannte nicht. Die aus reinem Sonnenlicht geschöpfte Vernichtungskraft wurde von der Anderen aufgesogen wie ein Wassertropfen von einem Schwamm. Tarlahilia hielt nur fünf Sekunden lang durch. Dann fühlte sie, wie ihre Kräfte erlahmten. Ihre blauen Hitzestrahlen erloschen, ohne was ausgerichtet zu haben. Dann traf sie ein Faustschlag der Feindin voll an den Kopf und schleuderte sie zurück. Ihr drohten die Sinne zu schwinden. Sie keuchte vor Erschöpfung und drohender Bewusstlosigkeit, während sie den Hang hinunterkullerte, der zum Plateau führte, auf dem Alontrixhila, deren Namen keine wahrhaftige Entsprechung in der alten Sprache ihrer Mutter hatte, gegen die zwei anderen kämpfte.

Als Itoluhila erkannte, dass ihre der Sonne verbundene Schwester nichts ausrichten konnte ließ sie ihrem Mund und ihren Händen schwarzen Nebel entströmen. Dessen verheerende Kraft des schwarzen Eises pflanzte sich über die Luftfeuchtigkeit der Umgebung so plötzlich fort, dasss Alontrixihla unvermittelt von den Zehen bis zum schwarzen Harr in einer wabernden, tiefschwarzen Wolke stand. Die andere sandte nun keine überlegenen, ja schon überheblichen Geistesregungen aus, sondern strahlte Wut und Widerwillen aus. Sie wehrte sich. Als Itoluhila dem Nebel durch reine Gedankenkraft befahll, zu einem Eispanzer zu gefrieren, wie sie es damals mit der halbwegs wiedergekehrten Hallitti getan hatte, fühlte sie, wie eine unbändige Kraft aus dem Inneren der Feindin herausbrach. Auf einmal leuchtete der Nebel in hellgrünem Licht, wurde zu einer Wolke aus zuckenden Blitzen und stiebenden Funken. Itoluhila stemmte sich gegen diese Gegenkraft, um ihre dunkle Wassermagie weiterzuwirken. Dann kehrte sich die Wirkung der anderen um. Auf einmal saugte eine dunkelgrüne Aura in Wellenbewegung all die ihr entgegenbrandende Kraft auf. Itoluhila fühlte, wie ihr förmlich Lebenskraft aus dem Körper gezogen wurde. Sie fühlte, dass sie nur noch Sekunden hatte, bis ihr körperliches Dasein aufhören und sie als reine Geistform in die unersättlich saugende Umhüllung geraten würde. Sie brach ihren elementaren Angriff ab. Die grüne Aura um die immer noch gigantisch große Frauengestalt blähte sich noch einmal auf, um dann schlagartig in den Riesenkörper eingesogen zu werden. "Willst du mir kein nährendes Wasser mehr geben, nachdem deine liebe Sonnenschwester mir schon genug Licht und Wärme dargebracht hat, Schwesterchen?" lachte die unechte Schwester. "Ich gebiete über die Kräfte der Pflanzen, ihre Gabe, Licht und Wasser in lebendes Gewebe zu verwandeln. Und so wie ein Wald aus hundert Bäumen nicht in einem Winter ausgelöscht oder in einem glutheißen Sommmer ausgedörrt oder niedergebrannt werden kann, so kann auch ich nicht vergehen. Aber du hast mir Hunger auf mehr gemacht, wie deine andere Schwester. Her mit euch!"" Mit diesen Worten ließ Alontrixhila ihre Hände durch die Luft sausen, dasss es laut fauchte und eine heftige Böe von ihr ausging. Mit einem schnellen Griff hatte sie Itoluhila am Oberkörper gepackt und drückte ihre Lungen zusammen. Mit der anderen Hand schnappte sie nach Tarlahilia, die versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Jetzt hielt sie die beiden nur ein zwanzigstel so groß wie sie gerade war in den Händen. Da bebte die Erde, und unter den Füßen der Unheimlichen klaffte eine Spalte im felsigen Boden auf.

Alontrixhila verlor das Gleichgewicht und geriet mit den Füßen in den immer tiefer werdenden Spalt hinein. Ihren ursprünglichen Plan musste sie wortwörtlich verwerfen. Sie schleuderte die zwei ergriffenen Feindinnen mit einer entschlossenen Bewegung weit von sich fort in die Berglandschaft. Dann starrte sie auf die vor ihr stehende, mit Gesten und Worten die Erde beschwörende Gegnerin. Diese stand weit genug fort, um nicht von den Riesenhänden erwischt zu werden. Jetzt erkannte Alontrixhila ihre Schwäche. Sie konnte elementare Angriffe abwehren oder in sich einverleiben. Aber sie konnte keinen in die Ferne zielenden Elementarschlag führen. Doch was sie konnte war, Lebewesen zu verwandeln. Sie versuchte, die Angreiferin mit magischen Gesten in eine Pflanze zu verwandeln, um ihren Angriff zu stoppen. Doch Ullituhilia war wie alle ihre Schwestern gegen jede Form von Fremdverwandlung gefeit. Sie wehrte den Angriff in Form von violetten Blitzen ab, die laut prasselnd ihren Körper umzuckten und für sie unschädlich im Boden verschwanden. Ihr Angriff wurde dadurch nicht geschwächt. Im Gegenteil. Dadurch, dass sie nun auch noch aus ihrem Unterleib die orangerot leuchtende Kraft erbeuteter Leben in den Boden absonderte bekam sie noch mehr Gewalt über das feste Element. Alontrixhila rutschte schlagartig um mehr als ihre halbe Körperlänge in den Boden und sank noch weiter. Sie versuchte, sich mit ihren Händen am Rand der wild bebenden Spalte zu halten. Doch der Rand bröckelte weg. "Verschwinde im Schoß der Urmutter und sei darin vertilgt!" stieß Ullituhilia rein gedanklich aus. Dann ließ sie die Feindin noch schneller in die Tiefe stürzen, bis sie bis weit über ihren Kopf im felsigen Boden versunken war. Alontrixhila wusste, was nun passieren würde. Diese geballte Elementarkraft der Erde konnte sie nicht so abschütteln wie die Kräfte von Feuer und Eis. Da drängte die gegen sie gewandte Kraft der Erde auch schon mit aller Macht gegen sie an, um sie zu zerdrücken. Ihr blieb nur noch die Flucht. Sie besann sich auf ein Gebiet, das sie aus Pickmans Geist kannte und verschwand. Keine Sekunde später schloss sich der magisch aufgerissene Spalt mit lautem Donnerschlag. Dabei barsten Felsbrocken aus der Oberfläche und flogen an die zehn Meter nach oben, bevor sie laut krachend und polternd wieder aufschlugen. Ullituhilia fühlte, dass die Ausstrahlung der Feindin verschwunden war. Doch sie hatte keinen geistigen Todesschrei, keinen Kraftstoß erlöschender Lebenskraft verspürt. Als sie begriff, dass sie die Feindin nicht vernichtet, sondern vertrieben hatte stampfte sie wütend mit dem rechten Fuß auf. Dann hörte sie das laute schrille Lachen einer anderen, ihr ebenso entgegenstehenden Wesenheit: "Ihr drei werdet nicht mal mit einer einzigen nachgemachten Waldriesin fertig. Ist das herrlich! Ihr Schwächlinge. Ihr hättet mich das erledigen lassen. Aber ihr meintet ja, schneller zu ihr hinzugelangen als ich. Jetzt ist sie euch entwischt. Die hat Zeit, genauso wie ich. Und an mir wird es sein, sie aus der Welt zu tilgen. Geht mal wieder schön in eure Lebenskrüge und schlaft euch wieder stark genug, damit ich was davon habe, wenn ich mir eine nach der anderen von euch einverleibe, um endlich wieder meine gebührende Größe zu haben!"

"Du angeberin", gedankenrief Itoluhila in das Raum-Zeit-Gefüge zurück. "Was hättest du denn gemacht?"

"Den Quell ihrer Kraft ergründet und mir selbst einverleibt, ihr Närrinnen", erwiderte die in unbestimmter Entfernung befindliche Tochter der fliehenden Zeit.

"Ihren Lebenskrug?" fragte Ullituhilia. Darauf erfolgte nur ein Lachen. "Nein, ihr Madengehirne. Die hat sämtliche erbeuteten Leben immer bei sich. Ich konnte das fühlen, als sie ihren Geist öffnete, um uns alle herauszufordern, mit ihr zu kämpfen. Leider bekam ich erst zu spät mit, wo sie war. Aber da habt ihr die ja schon gefüttert und dann weggejagt. Fühlt ihr sie noch?" Darauf konnten die drei niedergeschlagenen und entkräfteten Töchter Lahilliotas keine Antwort geben. "Sie hat ihre Geistesregungen und Körperregungen so stark verlangsamt, dass wir sie nicht erkennen können, ihr Vollversagerinnen. Aber wenn sie wieder aufwacht, dann werde ich da sein, um zu erledigen, was euch kraftleeren Gesellinnen misslang."

"Ich sagte schon, du bist eine Angeberin, Errithalaia", stieß Itoluhila aus.

"Warte ab, bis ich dich genauso einverleibt habe wie diese nachgemachte Schwester ihren eigenen Schöpfer. Dann wirst du anders denken, falls ich dich dann noch eigenständig denken lasse", erwiderte Errithalaia aus weiter Ferne. Dann schwieg sie.

"Kehrt zurück zu euren Heimstätten, meine Töchter. Auch wenn ich Errithalaias Aufsässigkeit und Gier nicht gutheiße muss ich ihr leider in diesem Fall zustimmen, dass wir dieses künstliche Unwesen unterschätzt haben. Sie wird nun, weil sie die Macht der Pflanzen in sich vereint, deren Langlebigkeit und Beständigkeit nutzen, um sich zu erholen, um dann jede einzelne von uns zu jagen, wie es Errithalaia meint, uns allen androhen zu müssen. Für diese Zeit müssen wir alle unsere Kräfte sammeln", gedankenrief Lahilliota. Ihr Wort war Gesetz. Außerdem sprach auch die reine Vernunft dafür, jetzt besser in Sicherheit zu gelangen und sich zu erholen. So verschwanden Tarlahilia, Itoluhila und Ullituhilia, die sich einen Moment lang als Siegerin dieses Kampfes gefühlt hatte, in ihren ausgewählten Zufluchtsstätten. Sie hatten nicht mitbekommen, wie jemand aus sicherer Entfernung diesen Kampf beobachtet hatte.

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Es war kurz nach der Unterredung mit ihren Schwestern gewesen, dass sie starke Erdelementarzauber westlich ihres Hauptquartieres verspürt hatte. In Gestalt der schwarzen Spinne hatte sie den genauen Ursprungsort erfasst und dabei festgestellt, dass dieser keine zwei Kilometer von Pickmans Unterschlupf lag. Sie apparierte bis auf fünfhundert Meter an das Geschehen heran, wobei sie ihren Geist gegen jede Form von Beeinflussung und Fernerkennung panzerte. Zwar konnte sie deshalb keine fremden Gedanken mehr hören. Doch ihr war gerade wichtig, nicht erkannt zu werden. Mit einem magischen Fernglas konnte sie den Kampf der drei echten gegen die künstliche Tochter Lahilliotas beobachten. Ullituhilia hatte das versucht, was Anthelia bereits in Pickmans Versteck versucht hatte. Wohl auch deshalb hatte sich die baumgroße Kreatur Pickmans in Sicherheit versetzt. Was die drei zurückgelassenen Feindinnen dann mit ihrer jüngsten Schwester austauschten bekam Anthelia nicht mit. Sie konnte jedoch sehen, wie abgekämpft die drei waren. Offenbar hatte sich die angeblich zehnte Tochter als für Sonnenmagie und dunkles Eis unangreifbar erwiesen, und Ullituhilia hatte einiges an gestohlener Lebensenergie freigesetzt, um die Gegnerin vom Erdboden verschlingen zu lassen. Der natürliche Widerstand von Felsgestein und die Masse der zu bewegenden Gesteinsmassen hatte sie rasch ausgezehrt. Jetzt waren die drei wohl wieder in ihre Lebenskrüge zurückgesprungen, um dort neue Kraft zu sammeln. Wie lange sie so aus der Welt blieben und ob die falsche Abgrundstochter das ausnutzen würde wusste Anthelia nicht. Sie wusste nur eins, dass die Macht der Erde die einzige Elementarkraft war, mit der diesem Ungeheuer beizukommen war. Es galt, es an einer raschen Flucht zu hindern. Nur so war es möglich, es zu vernichten.

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Maria Valdez erfuhr über die Bilder, mit denen Almadora Kontakt in die Zaubererwelt hielt, dass es gelungen war, Vengor davon abzuhalten, sich einem dämonischen Geist zu unterwerfen. Zwar missfiel es Almadora, auf welche Art und vor allem mit wessen unerbetener Hilfe dies gelungen war. Andererseits musste sie zumindest anerkennen, dass ein womöglich weltenvernichtendes Unheil verhütet worden war. Aber es galt nun, die vor Iaxathans Höhleneingang bestehende Barriere aus reiner Magie zu erneuern, um neuerliche Anbandelungsversuche mit dem bösen Geist zu verhindern. Sie erklärte sich sofort bereit, zusammen mit Jophiel Bensalom und Adrian Moonriver an die Stelle zu reisen, wo die arg geschwächte Barriere flackerte.

Mit Hilfe eines Portschlüssels wechselte Maria Valdez in ihr nicht erkennbarer Zeit zwischen Nordamerika und Zentralasien ins Hochland Tibets. Um den plötzlichen Höhenunterschied zu verkraften hatte Almadora ihr einen Trank gegeben, der ihren Körper unverzüglich und schmerzlos auf das Leben in großer Höhe einstimmte. Tatsächlich fühlte sie sich erst einmal sehr schwindelig, wie damals, wo sie von der Küste Perus in die Anden geflogen war. Sie trank aus der kleinen Silberphiole Almadoras und fühlte, wie Wärme und freier Atem ihre Schwindelgefühle verdrängten. Dann sah sie sich um.

Die himmelhohen Berge waren noch imposanter als alle Bergregionen, die sie schon einmal besucht hatte, einschließlich ihres Heimatlandes. Jetzt, wo eine bleiche Sonne einen Hauch von Wärme über diesem Gebiet verbreitete und die schneebedeckten Gipfel in hellem Glanz widerscheinen ließ, wirkte diese Ecke der Welt friedlich und unantastbar, in ihrer Größe und Beständigkeit überlegen. Hier sollte sich also der Eingang zum Reich eines wahrhaft dämonischen Geistes befinden, dessen Erwähnung die Kundigen alter Zauber schon in Angst versetzen konnte? Dann sah sie den äußerlich sehr jung aussehenden Burschen, den sie während des Falles mit den zwei Succubi kennengelernt hatte. Ja, und den Mann in blauen Gewändern, der gerade wie sie einen Schluck eines Zaubertrankes einnahm, um nicht bitterlich zu frieren und unter Luftmangel zu leiden erkannte sie auch. Das war Jophiel Bensalom, Mitglied einer orientalischen Zaubererbruderschaft, die gegen böse Zauberwesen und schwarze Magie kämpfte und wie Maria und Adrian Moonriver ein Träger von Ashtarias Erbe war.

"Ah, die Señorita aus Mexiko ist auch gekommen", begrüßte Adrian die einzige Frau, die keine eigenständigen Zauberkräfte hatte. Dann deutete er auf eine Reihe bunt flackernder Säulen, die im Widerschein der Schneemassen kärglich wirkte. "Ich könnte jetzt richtig groß tönen, dass ich diese Mauer damals wohl ganz gut hinbekommen habe. Aber wenn ich überlege, dass dieser Möchtegern-Weltherr Wallenkron durchgebrochen ist und fast von diesem dunklen Spiegelgeist versklavt wurde ..." sagte Adrian Moonriver.

"Nachdem, was unsere Verbindungen in den Westen meldeten hatte sich Wallenkron genau dagegen gewappnet. Er wollte nur Iaxathans Wissen stehlen. Wie genau das ging konnte nur nicht ermittelt werden, weil die dazu nötigen Geistesregungen und Erinnerungen offenbar von ihm ausgelagert oder tief in seiner Seele versiegelt wurden, so dass nicht mal diese widernatürlichen Leute von Vita Magica es ihm entreißen konnten", sagte Bensalom.

"Ach, und das glauben Sie, Her Bensalom?" fragte Moonriver. "Ich meine, dass diese Babymacherbanditen das doch hingekriegt haben, dem alles Wissen abzusaugen, bevor sie den in Wiege und Windeln zurückgeschrumpft haben. Aber wir sind nicht hier, um über versikckerten Met zu reden. Maria, haben Sie schon vom Focus Amoris gehört?" wandte sich Adrian Moonriver an Maria Valdez.

"Das ist ein vereintes Aussprechen der Heilsformel Ashtarias, wenn mindestens zwei Erben von ihr zeitgleich aneinander denken und diese Formel aussprechen. Am besten wirkt es, wenn sie dabei einander sehen und hören können. Das hat mir Camille Dusoleil erzählt."

"Ja, und die weiß es von dem Superburschen Julius Latierre, der das mit mir und ihr aus einer Notlage heraus ausgeführt hat", grummelte Adrian. "Aber gut. Wir nehmen eine Aufstellung, die die Barriere in drei Abschnitte unterteilt. Dann hebe ich die linke Hand. Dann rufen wir die Formel zusammen!"

"Wieso sollte ich die Befehle eines gerade erst erwachsen gewordenen Jünglings befolgen", knurrte Jophiel Bensalom.

"Weil der Jüngling in einem früheren Leben diese Barriere errichtet hat und sie deshalb auf ihn geprägt ist. Aber wenn wir drei zusammenwirken erstreckt sich ihre Macht auf drei Blutlinien. Das sollte diesmal ihre Kraft erheblich verstärken. Und wir sollten uns beeilen, weil wir nicht wissen, ob von den gesichteten Nachtschatten noch welche in der Höhle lauern und warten, bis es ganz dunkel ist."

"Ich bin bereit, mitzuwirken", sagte Maria. Da stimmte auch Jophiel zu.

So stellten sich alle drei so, dass jeder und jede ein Drittel der Breite des Tales abdecken konnte. Maria hielt ihr silbernes Kreuz auf die Barriere gerichtet. Sie fühlte eine angenehme Wärme und hörte einen beruhigenden Ton, der von ihrem Zaubergegenstand ausging. Dann sah sie, wie Adrian den linken Arm hochriss und rief die mächtige Formel, mit der sie die Heimstatt der Blutamme von aller bösen Zauberkraft gereinigt und das Bild dieser Vampirin zerstört hatte.

Kaum war das letzte Wort ihrer mächtigen Anrufung erklungen, strahlte ihr Kreuz weiß auf, dehnte sich aus, so dass sie es loslassen musste. Es wuchs zu einem mehrere Meter breiten Lichtgebilde an, das wie eine zweite, am Rand flirrende Sonnenscheibe in der Luft hing. Dann sah sie, wie mehrere Strahlen davon auf eine ähnliche Lichtscheibe vor Adrian überschlugen und sich damit verbanden. Ebenso verbanden sich Lichtstrahlen mit einer Lichtscheibe von Jophiel. Dadurch wurden die drei künstlichen Sonnen noch heller und noch größer. Sie wurden zu mehr als zwölf Meter großen Kugeln, die zwischen sich einen Lichtbogen hielten. Dann explodierten die Lichtkugeln regelrecht und vereinten sich. Dabei raste eine Welle aus goldenem Licht auf die bunten Lichtsäulen zu und ließ diese zu sonnenhellen Türmen anwachsen. Diese verbreiterten sich und fügten sich zusammen. Jetzt stand eine mehr als fünfzig Meter hohe, die gesamte Breite des schmalen Tales versperrende Wand aus purem Licht da. Und die Wand wuchs nach oben und bog sich zu einem Felsmassiv hin. Die Erde bebte. Wind kam auf, der vom Felsmassiv her wehte. Dann berührte die Wand aus reinem Licht den Felsen und ließ ihn golden erglühen. Zwanzig Sekunden lang blieb diese Lichtwand so stehen. Dann wurde sie immer dunkler und durchsichtiger. Schließlich sah es so aus, als ob sie nicht mehr da wäre. Das Erdbeben verebbte. Aus der Höhe fielen drei glitzernde Gegenstände herunter und segelten wie Vogelfedern auf die drei Erben Ashtarias zu. Maria sah noch, dass sich ein leuchtender Fünfzackstern im Fluge zu einem silbernen Kreuz zurückverwandelte. Dann glitt ihr Erbstück auch schon fanggerecht in ihre Hand. Sie fühlte eine starke Hitze darin. Doch es war noch keine schmerzhafte Hitze. Sie fühlte die Kraft, die dieser Gegenstand freisetzen konnte und war dankbar, diese Kraft zum Freund und verlässlichen Beschützer zu haben. Sie hängte sich ihr Erbstück wieder um und verbarg es unter ihrer Kleidung. Ein weiterer Wärmestoß durchflutete ihren Körper, wie vor einem Tag, als sie beinahe die verfluchte Milch der Vampiramme in den Mund bekommen hatte. Aber da hatte sie das Kreuz nicht am Körper getragen. Das gehörte noch zu den Dingen, die sie gerne mit jemandem besprechen wollte, falls sie durfte.

"Ja, jetzt ist die Barriere wieder stark, ja so stark, dass sie sogar mit dem Berg verschmolzen ist. Da wird der uralte Dunkelgeist sich sicher sehr ärgern, dass auf diese Weise keiner zu ihm hingehen kann, der ihm dienen will", freute sich Adrian Moonriver. "Da hätte ich damals dran denken sollen. Vielleicht hätte ich mit der guten Claire und Jophiels Urgroßvater Uriel diese Mauer schon undurchdringlich bekommen. Na ja, Erfahrung lehrt. Ich habe drauf gebaut, dass das Vergessen dieser Höhle und die Barriere davor ausreicht."

"Ein schreckliches Geheimnis kann nicht dauerhaft verborgen und nicht dauerhaft vergessen werden, solange es Menschen gibt, die zwischen Gut und Böse wählen können", sprach Jophiel Bensalom im Tonfall eines Rabbis. Adrian knurrte dazu nur. Maria nickte. Auch sie hatte lernen müssen, dass es Dinge gab, die eigentlich niemand erfahren durfte, die sich aber dann ihre Wege suchten, um weiterverbreitet zu werden.

Weil es trotz des Klimaanpassungstrankes nicht die richtige Gegend war, um weitere Erkenntnisse über die Sache Vengor auszutauschen verabredeten sich die drei zu einem Gespräch am fünften Dezember, weil Jophiel bis dahin noch klären musste, was davon zu halten war, dass es angeblich noch eine Tochter des Abgrundes gab, und Adrian Moonriver hatte im Zuge seiner neuen Anstellung in der Aurorentruppe den "Jungspunden" noch wichtige Zauber beizubringen, ohne auf Ashtarias Wissen zurückzugreifen. So kehrte Maria alleine nach Misty Mountain zurück.

Weil sie nicht lange auf eine Erklärung warten wollte, was ihr passiert war, bat sie Almadora, ein Treffen mit Camille Dusoleil und Julius Latierre in Millemerveilles zu ermöglichen, ohne dass das amerikanische und das französische Zaubereiministerium davon Wind bekamen. Camille ließ über die gemalte Ausgabe von Viviane Eauvive mitteilen, dass sie am zweiten Dezember Zeit für ein Treffen hatte. Es sollte bei ihr im Haus stattfinden.

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Beide fühlten, wie die Abwehrwand vor dem Ausgang um den siebenfachen Wert stärker wurde. Laut schreiend wich Iaxathans Spiegelknecht vor der ihn zurücktreibenden Woge aus Lebenskraft und Zuversicht zurück. Sein Herr und Meister fühlte ebenso, wie die Wogen dieser starken Kraft an seine Behausung rührte. Selbst die über Tausendersonnen errichtete Dunkelkraft in den Wänden wurde von der verstärkten Macht des Walls zusammengeschoben. Einzelne Teile der Decke brachen zusammen, weil sie diesen Kraftstau nicht aushielten. Außerdem geschah noch was, was Iaxathan erst große Qualen bereitete, ihn aber auch von einer unerträglichen Last befreite.

Die in ihm herumtreibenden Seelenbruchstücke weiterer Opfer des Anschlages auf die Handelstürme warfen starke Wellen aus jener Iaxathan verhassten Kraft auf und brannten in ihm wie im Wind angefachte Flammen. Es wurde schier unerträglich für ihn. Während sein Knecht in einer Felsspalte Zuflucht fand, erzitterte das Auge der Finsternis. Ein immer lauter werdender Summton ging davon aus. Dann sprühten weiße und goldene Funken aus der schwarzen, völlig glatten Oberfläche und flogen lautlos in Richtung Ausgang der Nimmertagshöhle davon. Iaxathan fühlte, wie die in ihm gefangenen Seelenbruchstücke aus ihm herausdrängten und dabei einen winzigen Teil seiner Kraft mit sich rissen, weil sie ja durch den von ihm berührten Unlichtkristall entstanden waren. Dann vereinten sich die freigesetzten Seelenbruchstücke mit der vor dem Höhlengefüge verstärkten Abwehrmauer aus Lebenskraft und Zuversicht. Diese Vereinigung beförderte sie aus der stofflichen Welt und vereinte sie mit den in die andere Welt hinübergegangenen Ursprüngen. Aberhundert von gequälten und gefesselten Seelen fanden auf diese Weise endlich ihren Frieden. Doch für den aus den vier Urhebern ihrer Qual bestehenden Schattendiener Iaxathans war die Zeit der Pein und Plage noch längst nicht vorbei. Der neue Spiegelknecht erwachte unter den Wellen von außen einströmender Lebenskraft und Hingabe aus seinem dämmerartigen Zustand. Er erkannte, dass das Ziel nicht erreicht worden war und erkannte auch, dass eine ihn unterdrückende Kraft ihn zu einem unruhigen Geist gemacht hatte. Iaxathan, den die Loslösung der nicht verknüpften Seelenbruchstücke stark zugesetzt hatte, erkannte fast zu spät, dass sein Knecht sich von ihm losreißen würde, wenn er dem nicht sofort klare Anweisungen erteilte.

"Ich bin Iaxathan, dein Herr und Meister. Mir gehorsam musst du sein!" befahl er und verband diesen Befehl mit allen vier Namen der ursprünglich eigenständigen Seelen. Die Macht des wahren Namens in Verbindung mit starken Kräften der übernatürlichen Ordnung taten ihre Wirkung. "Von diesem Tage an wirst du mir dienen, mir einen neuen Weg zur wahren Bestimmung suchen und keinen Frieden finden, solange du mir zu dienen hast. Dein Name sei ab heute Kaharnaantorian, Geist der Unrast! Sei mein Knecht, Kaharnaantorian! Sei mein ewig gehorsamer, bedingungslos verbundener Knecht, Kaharnaantorian.!"

"Ja, ich bin dein Knecht, Meister Iaxathan!" quälte sich die riesenhafte Schattengestalt eine Antwort aus dem feinstofflichen Mund. Ihre silbern glimmenden Augen flackerten wie eine Kerzenflamme im Luftzug.

"Wer bist du also?" fragte Iaxathan. "Ich bin Mo..., Aaarrg, Kaharnaantorian", entgegnete die Schattengestalt. "So gehe daran, dir einen Weg nach draußen zu schaffen, immer weit genug weg von jener verdammenswürdigen Wand aus unerträglicher Lebensfreude und Zuneigung!" gedankenblaffte Iaxathan und hütete sich, seine Stimme lauter erklingen zu lassen als nötig. Er wollte seiner Widersacherin nicht verraten, was er vorhatte. Er wusste jedoch, dass Mondwechsel, ja Sonnenumkreisungen vergehen würden, bis sein neuer Knecht einen zweiten Weg gegraben hatte.

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Um neun Uhr am Abend des ersten Dezembers trug die junge Heilerin Rosvita Fichtengrün einen laut schreienden Säugling in die Station für Gebärende und Säuglinge in der Wurzelmannklinik. Sie teilte der diensthabenden Großheilerin Beate Kesselgrund den Fund dieses Säuglings mit und übergab ihr auch ein Metallrohr, in dem mehrere Pergamentbögen zusammengerollt waren.

"Wir haben damit gerechnet, dass irgendwo ein unregistriert geborenes Kind auftaucht", sagte die sechzig Jahre praktizierende Heilerin. "Dann wollen wir doch mal sehen, was VM uns freundlicherweise mitzuteilen hat."

Beinahe Zeitgleich tauchtenüberall auf der Welt die angeblich von Vengor getöteten Hexen und Zauberer wieder auf. Sie konnten sich jedoch nur daran erinnern, dass sie wohl über Monate im Zaubertiefschlaf gelegen hatten und am Ende bei einem Zauberritual mithelfen sollten, um Hagen Wallenkron zu finden.

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Julius bekam es wortwörtlich von allen Seiten in verschiedenen Versionen und Ansichten mit, was vor der Nimmertagshöhle passiert war. Temmie hatte ihm während der Nacht vom 30. November zum 1. Dezember immer wieder von Erschütterungen der Kraft berichtet, die einmal gutartig und dann wieder bösartig waren. Dann hatte sie mit hörbarem Erstaunen verkündet, dass eine Menge Todesqualen in Lebensfreude verwandelt worden war und es eine Art Verschiebung in Richtung der gutartigen Magie gegeben hatte, als wenn jemand einen übermächtigen dunkelmagischen Gegenstand entkräftet hatte.

"Jetzt ruhen die Seelen der gewaltsam getöteten und zum Teil an Unlichtkristalle gebundenen in Frieden", gedankensprach Temmie.

Stunden danach hatte er erfahren, was mit Vengor alias Hagen Wallenkron passiert war und dass sie alle Vita Magica dankbar sein mussten, dass sie diesen Wahnwitzigen gestoppt hatten. Wallenkron war wohl von diesen Leuten gefangengenommen, seiner Erinnerungen beraubt und als wimmernder Säugling vor der deutschen Wurzelmannklinik ausgesetzt worden, anbei ein Rechtfertigungsbrief. Doch Julius besorgte, was Vita Magica von Wallenkron alles erfahren haben mochte. wenn die ihn unter dieser Haube verhört und seine Erinnerungen abgesaugt hatten, dann kannten oder konnten die jetzt vieles von dem, was er angestellt oder erfahren hatte, um Iaxathans Macht zu erringen. War das prophezeite Zeitalter der Finsternis damit wirklich abgewendet worden? Oder war es nur um einige Jahre nach hinten verschoben worden, bis wiedereiner auftauchte, der unbedingt mächtiger sein wollte als der Rest der Menschheit?

Julius erfuhr auch über das Arkanet, dass Anthelia und Theia Hemlock wohl Pickmans Versteck ausgehoben hatten, dabei aber mitbekommen hatten, wie Pickman von seiner eigenen, von einem gemalten Bild irgendwie entbundenen Kreatur, einer angeblichen zehnten Abgrundstochter, verschlungen worden war, um ihr durch seine Lebenskraft den endgültigen Halt in der wirklichen Welt zu sichern. Das hatte ihm Gwendartammaya alias Patricia Straton über das Arkanet zukommen lassen. Und die hatte es wohl von ehemaligen Mitschwestern aus Anthelias Spinnenorden. Also war da noch jemand, der beziehungsweise die brandgefährlich war. Auch dass Kanoras, der Schattenträumer, endgültig ausgeträumt hatte beruhigte Julius nur wenig. Denn sich vorzustellen, wer ihn vernichtet haben konnte bedrückte ihn. So mächtig konnte nur eine gewesen sein, die schlafende Göttin, Herrin der Kristallstaubvampire, die auch bei Vengors Entmachtung ein unerwünschtes Gastspiel gegeben hatten. Vielleicht, so dachte Julius, betraf das erwähnte Zeitalter der Finsternis nicht Vengor alias Wallenkron, sondern all die, die durch ihn oder wegen ihm dunkle Kräfte erhalten hatten weiterlebten. Ja, und Iaxathan war auch noch nicht besiegt. Denn dadurch, dass nun bekannt war, wo die Nimmertagshöhle liegen musste, bestand eine noch größere Versuchung für angehende Erzdunkelmagier, ihn aufzusuchen, sofern sie nicht klug genug waren, nicht die Sklaven dieses in seinem eigenen Machtartefakt gefangenen Dämons zu werden. Voldemort alias Tom Riddle war so besonnen gewesen, dachte Julius. Aber vielleicht war der von Harry Potter endgültig entmachtete Psychopath nur von seiner eigenen Genialität und Macht erfüllt gewesen, statt sich mit anderen Mächten einzulassen. Oder Riddle hatte nichts davon gewusst, dass es da noch diesen eingekerkerten Geist eines Erzmagiers aus dem alten Reich gab.

Wie dem auch war, dachte Julius, sein Leben sollte weitergehen und er wollte auch, dass es weiterging. Ende Juni anfang Juli, oder vielleicht sogar an seinem 21. Geburtstag, würde sein drittes Kind zur Welt kommen. Immerhin war es nur eins, wussten Millie und er. Tja, und was aus den Brickstons wurde war auch noch nicht klar. Demnächst wollte er Joe in der Delourdesklinik besuchen, ihm gut zureden. Aber dieser Superior geisterte auch noch irgendwo in der Welt herum. Wurde der nicht dingfest gemacht schwebte Joe in ständiger Gefahr, als lästiger Mitwisser einer weltweiten Verschwörung gejagt und getötet zu werden. Wer dabei ebenfalls bedroht wurde war klar, Catherine und Claudine. Also galt es, diesen geheimnisvollen Monsieur Superior aus seinem Versteck zu treiben und zu entmachten. Vielleicht konnte Julius dabei wieder helfen. Also, eintönig oder gar langweilig wurde es auf absehbare Zeit nicht.

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2. Dezember 2002

Im Château Florissant war bereits die Abendbeleuchtung entzündet, als Maria Valdez von der Schlossherrin persönlich in einen kleinen Raum geführt wurde, wo bereits eine andere Hexe in einem jadegrünen Kleid und ein knapp zwei Meter großer junger Mann mit hellblondem Haar auf sie warteten. Wie immer, wenn sie mit anderen Erben Ashtarias zusammentraf fühlte sie von den beiden eine wohlige Wärme und alle Zweifel vertreibende Zuversicht ausstrahlen. Sie war sich sicher, dass die anderen es ebenso fühlten.

Weil Maria außer ihrer Muttersprache Spanisch nur Englisch konnte einigten sich die drei Erben Ashtarias darauf, dass sie Englisch miteinander sprachen. Maria drückte ihre Hoffnung aus, dass das dritte Kind von Mildrid und Julius Latierre gesund zur Welt kommen möge, egal ob es der von Ashtaria erbetene Sohn oder eine weitere Tochter sein würde. Julius bedankte sich. Maria sprach auch an Camille ihre besten Wünsche für die Geburt ihres vierten Enkels aus. Dann kam sie gleich auf den Grund dieser heimlich festgelegten Zusammenkunft. Sie berichtete den beiden Mitstreitern, was ihr mit dem Bild der Blutamme passiert war und auch, wie sie mit Adrian Moonriver und Jophiel Bensalom eine starke Wand aus weißer Magie wiedererstarkt hatte, um Iaxathans Heimstatt vor neuem Zutritt zu versperren. Als sie erwähnte, was genau sie empfunden hatte, bevor sich das Silberkreuz von selbst bei ihr eingefunden hatte und dass sie zweimal eine Art telepathische Aufforderung vernommen hatte, wiegten Camille und Julius ihre Köpfe. Camille sagte dann, dass sie für sie und alle Nachkommen ausgelagerte Erinnerungen ihrer Mutter Aurélie nachbetrachten wolle, ob dabei irgendwas von dieser Art von eigenständigem Beistand durch das Schutzartefakt erwähnt wurde. Julius Latierre brachte die Vermutung an, dass Ashtaria Maria gesondert beobachtete und wohl Mittel fand, um ihr zu helfen. Doch das glaubte Camille nicht so recht. Denn dann hätten ja auch ihr Heilsstern und der von Adrian eigenständig miteinander wirken müssen, als Julius bei der Party der Sterlings war. Dann fragte Maria Julius: "Ich weiß, dass ich das von dir schon mal gehört habe, was in der Höhle dieser Ilithula geschehen ist. Aber kannst du mir das bitte noch mal in Einzelheiten erzählen, Julius?"

Julius überlegte kurz. Dann sprach er von seiner unfreiwilligen Reise zu Ilithula und wie Semiramis Bitterling mit Marias Kreuz um den Hals in starken Todesqualen in der Höhle angekommen war. Dann erwähnte er auch jene goldenen Funken, die von Ilithulas Lebenskrug auf das Kreuz übergesprungen waren, als diese ihre unrettbar geschwächte Dienerin in ihren Lebenskrug hineingeworfen hatte. Am Ende erwähnte er noch, dass das Kreuz, das in Julius' Händen wieder ein silberner Fünfzackstern gewesen war, den von Semiramis Bitterling mit Blutsiegelzauber versperrten Schrank zugänglich gemacht hatte. Maria fragte Camille und Julius dann, ob es vorstellbar oder gar möglich sei, dass Ashtaria die Seele der Ilithula-Dienerin zu sich genommen hatte, um sie dem weiteren Zugriff dieser Abgrundstöchter zu entziehen. Das schlossen Camille und Julius nicht aus, zumal Julius erlebt hatte, wie Ashtaria die Seelen von Camilles Mutter und seiner Verlobten Claire zu einer neuen Daseinsform vereint hatte. Das konnte er ja noch mal erwähnen, weil sie alle ja in Ashtarias astralenergetischem Leib gewesen und von ihrem Geist auf die neue Gefahr durch Vengor und die jüngste Abgrundstochter hingewiesen worden waren. Also mochte es zumindest möglich sein, dass Semiramis' Seele schon bei Millies beherztem Einsatz von Ashtarias Kraft erfasst worden und noch vor dem Auflösungsprozess ihres Körpers aus dem Lebenskrug herausgezogen worden war. Dann kam Julius ein verwegener Gedanke:

"Wenn das echt so passiert sein sollte - Nur Ashtaria könnte das bestätigen, wenn sie wollte -, dann könnte sie veranlasst haben, dass Semiramis auf irgendeine Weise mit Ihrem Silberkreuz verbunden wurde. Das würde für mich gerade auch die sonst nur mit Zauberstäben wirkbaren Zauber wie die Körperbeschleunigung oder den Sonnensegen erklären. Der Sonnensegen war sicher das, was Ihnen passiert ist, bevor das Kreuz wieder zu Ihnen zurückkam. Der schützt vor der Berührung und der Magie von Vampiren. Falls das echt so gewesen ist und nicht doch noch was von Ashtaria selbst bewirkt wurde, dann haben Sie vielleicht einen echten Schutzengel, Señora Valdez."

"Das könnte hinkommen, Julius", sagte Camille, die sich fast vor den Kopf schlug, so heftig ihr die Erkenntnis einleuchtete. "Wie gesagt, nur dann, wenn das wirklich von Ashtaria so bewirkt wurde, Maria. Dann könnte Ashtaria auf die Zauberkenntnisse von Semiramis zurückgreifen, die durch Ihr Erbstück wie mit einem oder mehreren Zauberstäben zugleich angewendet werden können. Ich habe mich nämlich auch erkundigt, ob es schon mal passiert ist, dass Ashtarias Magie ein von einer dunklen Kraft besessenes Wesen durch einen verlangsamten Rückverjüngungszauber gereinigt hat. Bisher war mir davon nichts bekannt. Ihre Schilderungen deuten bei den Kristallstaubvampiren auf zwei Zauber hin, den Infanticorpore-Fluch, der Menschen unter Beibehaltung aller Erinnerungen zu Neugeborenen zurückverjüngt und der weiße Spiegel, der alle Flüche zu Heilszaubern umformt und diese vier- oder fünfmal so stark auf den Urheber zurückwirft. In Ihrem Fall Könnte eine Mischung aus beidem geschehen sein, wenn da jemand mitgewirkt hat, der oder die Infanticorpore kennt."

"Will sagen, dann könnte diese ehemalige Dämonendienerin eine Art Bewährungsstrafe erhalten haben, die darin besteht, dem Träger des Silberkreuzes zu helfen?" fragte Maria Valdez. Camille sah Julius an, der ein Nicken andeutete.

"Wie schon oft gesagt ist das nur eine Vermutung, keine klare Erkenntnis oder gar eine Bestätigung für das, was Ihnen mit Ihrem Talisman schon alles gelungen ist", sagte Julius dann. "Aber es ist ja auch möglich, dass Ashtaria nur respektiert, dass Sie, ihre zweite lebende Erbin, keine eigene Magie anwenden können und dies auch nicht können wollen. Deshalb könnte sie von sich aus beschlossen haben, Ihnen zu helfen, und das ganze mit Semiramis ist eben nur eine reine Vermutung."

"Nun, zumindest ist es mir nicht mehr unheimlich, wie eigenständig mein Silberkreuz auf magische Bedrohungen reagiert. Ob diese Dämonendienerin Semiramis Bitterling als unsichtbarer Schutzgeist in meiner Nähe ist oder Ashtaria mich beschützt ist dabei eigentlich egal. Denn ich lebe seit meiner Geburt mit der Zuversicht, von guten Mächten beobachtet und beschützt zu werden. Auch wenn es den Angehörigen meiner Religion als Ketzerei erscheinen mag kann ich mich gut mit der Vorstellung anfreunden, dass die mich behütende Kraft weiblich ist, ob es nun meine Urmutter ist oder eine wie auch immer sich bewährende und auf ihre Erlösung hinarbeitende Seele einer vom rechten Weg geratenen ist. Vielleicht wird mir Ashtaria eines Tages genau verraten, was nun zutrifft, sollte es nötig sein, dass ich das weiß."

Julius nickte, ebenso Camille. Dass sie jemanden hatten, die die Aufgabe eines Schutzengels wahrnahm, war ihnen ja schon vertraut.

Nach einer weiteren Stunde, in der sie über wirksame Zauber gesprochen hatten, die ausschließlich zum Schutz dienten, darunter auch den Mondfriedenszauber, der sogar gegen Werwölfe half, wenn er rechtzeitig genug auf einen solchen gelegt wurde und eine volle Minute vorhielt, kehrte Maria Valdez nach Misty Mountain zurück. Julius und Sie würden über das Arkanet und das damit verknüpfte E-Mail-Programm in Verbindung bleiben. Denn Julius war daran interessiert, welche Vermutung zutraf, auch wenn es ihn selbst nicht direkt betraf.

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3. Dezember 2002

Die Zauberer aus den nordafrikanischen Staaten trafen sich in der Hauptstadt Marokkos zu einer Nachbesprechung der Ereignisse der letzten Tage. Mittlerweile hatten sie alle erfahren, dass Iaxathans neuer Spiegelknecht entmachtet war und ohne das Wissen, was er war und getan hatte ein neues Leben beginnen musste. Auch waren sämtliche Bilder seines Helfers Pickman vernichtet. So blieb nur noch die Frage, ob Kanoras aus seiner Heimstatt geflohen war, weil sie nicht mehr geheim genug war oder mit ihr zusammen zerstört worden war. Falls zweites der Fall war, so sollte geprüft werden, durch wen der gefährliche Schattenlenker sein Ende gefunden hatte. Denn es war keinesfalls sicher, dass der oder diejenige ein Verbündeter der Zaubereiministerien war. Viele waren der Ansicht, dass mit dem Auftauchen der Kristallstaubvampire, wie sie auch vor dem Versteck der so genannten Nimmertagshöhle aufgetaucht waren, Kanoras' Fall eingeleitet worden sein musste. Ja, die Kristallvampire der schlafenden Göttin mussten irgendwas bewirkt haben. Das würde die Überlegenheit ihrer Herrin sicherlich steigern, auch wenn sie nun endgültig wissen musste, wie leicht ihre Kristallstaubdiener vernichtet werden konnten. Marokkos Zaubereiminister verkündete dann, in wenigen Tagen, noch vor Beginn der Winterferien, mit den nordafrikanischen und europäischen Zaubereiministern zusammenzukommen, um das weitere Vorgehen gegen die verbliebenen Bedrohungen zu beraten. Allerdings musste der Ort geheimgehalten werden, um mögliche Anhänger Vengors oder der selbsternannten Göttin der Vampire nicht dazu zu bringen, mehrere Zaubereiminister auf einen Schlag erledigen zu können. Ja, die Welt war in der Nacht vom 30. November zum ersten Dezember sicher einer schlimmen Katastrophe entronnen und von gleich zwei gefährlichen Feinden befreit worden. Doch es gab immer noch genug böse Wesen und machthungrige Hexen und Zauberer, die die entstandene Machtleere all zu gerne ausfüllen wollten. Dies galt es zu verhindern.

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"Steht fest, wann Catherine Brickstons idiotischer Muggelmann wieder aus der Delourdesklinik entlassen wird?" keuchte Albertine, nachdem Louisette ihr die größte Lust der letzten Wochen bereitet hatte.

"Wenn die höchste Schwester wert drauf legt, das zu erfahren muss sie wen in der Klinik gewinnen, der ihr das zuspielt. Ich komme an diese Daten nicht dran, Al", schnaufte Louisette, die sich sehr stark angestrengt hatte, um diese Nacht unvergesslich zu machen.

"Nachdem alle so wegen VM angespannt sind wird die das sicher nicht riskieren, Lou. "Ich denke aber, dass dieser ominöse Monsieur Superior auch sehr daran interessiert ist, was aus Joe Brickston wird. Solange der nicht aus dem Verkehr gezogen wird darf die werte Madame Brickston wohl ihren Bettwärmer nicht mehr frei herumlaufen lassen."

"Auch wenn du das nicht so siehst, Al, ist das im Moment mein geringstes Problem. Ich muss eher mit meiner Muggelverwandtschaft herumzanken, was Jacquie nach den ZAGs machen soll. Mein Bruder will die ja immer noch aus der Zaubererwelt raushalten. Solange das mit diesem Brickston und diesem Monsieur Superior da nicht reinfuhrwerkt betrifft mich das nicht. Das darfst du der höchsten Schwester gerne ausrichten."

"Wie du meinst, meine Nachtgöttin", hauchte Albertine.

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Gwendartammaya strahlte ihre Schwägerin Gisirdaria an und sah dann das kleine, gerötete Bündel Menschenleben an, dass gerade erst auf die Welt gelangt war. "Herzlichen Glückwunsch, Gisirdaria", sagte sie.

Nachdem Faidaria den Reigen der neuen Geburten eröffnet hatte waren auch die Kinder von anderen Sonnentöchtern auf die Welt gelangt, darunter einige Daisirin. Den krönenden Abschluss hatte nun Gisirdaria gemacht, die Ilangardians Sohn Kandorammayan, den aufrechten Jüngling, geboren hatte. Dieser, sich nun wohl oder übel mit der neuen Rolle abfindnd, nicht mehr Bruder sondern Sohn Gisirdarias zu sein, gedankengrummelte nur: "Hoffentlich muss ich diese Pein nie wieder erleben. Aber ich bin froh, jetzt endlich wieder frei atmen zu können."

Gwendartammayas Zwillingstöchter schliefen gerade tief und fest. Doch sicher würden sie bald mit ihrem neuen Mitbewohner der Sonneninsel Gedankenkontakt aufnehmen. Für Phoenix alias Olarammaya würde es trotz allem eine Umstellung sein, dass Kandorammayan im Grunde ihr Sohn war und sie die Tochter von Kandorammayans früherem Ich, Gooarmirian.

Über das Arkanet hatte Gwendartammaya erfahren, dass Kanoras wohl vernichtet worden war. Vermutungen gingen dahin, dass er sich wohl mit der Vampirgötzin Gooriaimiria verhoben hatte. Damit war neben dem am Ende doch noch gerade so gestoppten Vengor eine weitere Bedrohung aus der Welt verschwunden. Doch die Sonnenkinder wussten, dass immer da, wo etwas unheilvolles endete, bereits der Keim für neues Ungemach erwachte. Doch im Moment hatten sie keine weitere Veranlassung, in die Welt der Jetztzeitmenschen zurückzukehren und konnten sich voll und ganz auf die Hege und Ernährung der neuen Sonnenkinder besinnen. Langweilig würde das jedenfalls nicht sein, dachte die ehemalige Mitstreiterin Anthelias.

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Heinrich Güldenberg berief zum ersten Mal wieder eine Sitzung des Zaubereiministeriums ein. Das Thema war natürlich Hagen Wallenkron alias Lord Vengor. Vor allem ging es um die Schadensaufnahme. Denn die wahrhaftig gestorbenen Leute hatten Angehörige, die entweder Entschädigt werden wollten oder eine nachträgliche Aufarbeitung der Verbrechen forderten. Dass der kleine, gerade erst vier Tage alte Junge, der in der Wurzelmannklinik abgeliefert worden war, wahrhaftig alle Erbgutanteile seines Neffens Hagen hatte war mittlerweile geklärt. Um ihn keiner späteren Verfolgung auszuliefern war der zum Neugeborenen zurückverjüngte in die Obhut einer Pflegefamilie gegeben worden, die ihn unter ihrem Namen neu großziehen würden. Erinnerungslotungen hatten ergeben, dass er wahrhaftig keine selbst ergründbaren Erinnerungen mehr aufwies, also in jeder Hinsicht auf Anfang zurückversetzt worden war. Auch eine Art der endgültigen Bestrafung, dachte Güldenberg. Ja, und er musste sogar eingestehen, dass diese Art von Bestrafung einprägsamer war als eine Hinrichtung oder eine lebenslange Gefangenschaft. Und vor allem ermöglichte sie es, dass der derartig bestrafte Täter zu einem besseren Menschen heranwachsen konnte. Warum sein Neffe Hagen das nicht schon vorher hatte sein wollen wusste Heinrich Güldenberg von den Heilern, zumindest behaupteten die von Vita Magica, es ergründet zu haben. Das galt aber mit Vorsicht zu genießen.

Ebenso wurmte es Güldenberg, dass diese Banditen womöglich alle dunklen Geheimnisse seines Neffens erfahren hatten, bevor sie ihn zurückverjüngten. Dann wussten oder konnten die jetzt was, was anständige Hexen und Zauberer nicht erlernen wollten. Dadurch war diese geächtete Gruppierung noch gefährlicher.

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4. Dezember 2002

"Ist aber Nett von Herrn Güldenberg, dass er uns schreibt, wo bei uns noch Anhänger von diesem sogenannten Lord Vengor zu finden sind", knurrte der britische Zaubereiminister Kingsley Shacklebolt. Er überflog die Mitteilung und sagte dann seinem Kampfgefährten und auserwählten Nachfolgerkandidaten Arthur Weasley zugewandt: "Wir müssen aufpassen, dass die von VM uns nicht nach belieben herumscheuchen können. Alles was die meinem deutschen Kollegen zugespielt haben könnte auch eine große Intoxikation sein, eine böswillige Fehlinformation, um uns mit uns selbst zu beschäftigen, während die die Gunst der Stunde nutzen."

"Das kann ich nicht ausschließen, Kingsley. Die werden das entstandene Chaos nutzen, um ihre eigenen Ziele zu verfolgen. Bei der Gelegenheit, war da nicht bei dir auch was mit einem Ultimatum?"

"Ist schon um die nächste Ecke, Arthur. Bis zum ersten Dezember sollte ich eine Hexe finden, die die Mutter eines Kindes werden soll. Heute ist schon der vierte. Soll ich mir jetzt eine Barbara aussuchen, die Mutter meiner Kinder werden soll?" fragte Shacklebolt.

"Welche, Barbara McCuchon, Barbie Fleets, Barbara Diggerson oder Barbara Redbone?" fragte Arthur Weasley lausbübisch über die Gläser seiner Brille hinwegzwinkernd. "Dann solltest du dich für Barbara Redbone entscheiden. Die ist eine virtuose Harfenspielerin und Ballerina und vor allem vom Hauttyp her passend", setzte er noch einen drauf. Shacklebolt grinste breit wie eine Schrankwand zurück. "Babs Redbone hat gestern ihren 99 Geburtstag gefeiert. Das siebte Kind zum hundertsten wäre sicher ein sehr originelles Geschenk", trieb Shacklebolt den derben Scherz noch ein wenig weiter. "Aber dann müsste ich die heiraten, weil die nur Babys von wem wollte, der mit ihr vorher beim Zeremonienmagier war. Neh, Arthur, der Familienzauberer bist du", fügte er noch hinzu. "Und Barbie Diggerson möchte ich auch nicht als Mutter eines Kindes von mir auswählen, weil das Kind dann ja auch mit dem alten Knutwender Ebenezer Diggerson blutsverwandt wäre. Ergäbe zwar einen schönen Farbton in der alten Goldwühlersippschaft. Aber nein, kein Bedarf", setzte Kingsley Shacklebolt den Schlusspunkt auf den derben Scherz.

"Aber im Ernst, Kingsley. Ich würde das noch nicht abhaken, dass die dich auf der Liste haben", kehrte Arthur zum ernsthaften Tonfall zurück. "Ich habe in allen Räumlichkeiten, in denen ich mich aufhalte mehrfache Portschlüsselabwehrzauber, trage immer eine der neuen Portschlüsselfrüherkennungssachen bei mir, die so'n Ding im Umkreis von dreißig Metern anzeigen und gegebenenfalls zerstören können. Also was die sich mit Cartridge und Gildfork erlaubt haben ist schon mal nicht möglich. Außerdem wird am Tag nach Neujahr gewählt. Das neue Dementorensuchkommando steht und erhält auch von Feuerblitz die neuesten Jagdbesen vom Typ Dianas Pfeil. Wenn die Übergabe meines Büros gelaufen ist verlieren die von VM das Interesse an mir."

"Kingsley, bei allem Respekt vor deiner Erfahrung bleibe ich dabei, dass du diese Leute nicht unterschätzen darfst. Wenn die meinen, dich in ihr ominöses Kinderkarussell reinzustecken, damit du mir und Molly um dreißig Kinder vorauseilst, arbeiten die dran. denen geht's um deine Blutlinie, nicht um deinen Posten oder dein Gehalt. Die hatten wohl in letzter Zeit zu viel anderes um die ..."

""'tschuldigung, Minister Shacklebolt, aber Bruce McElroy hat gerade zu einer Dringlichkeitssitzung des Dorfrates von Hogsmeade geladen. Dem stößt wohl auf, dass er über das Dorf keine sardonianische Schutzglocke stülpen kann. Der will Sie bei der Sitzung dabei haben", unterbrach Temperence Whitesand, die Vorzimmerdame des Ministers, die Besprechung.

"Der ist und bleibt ein hitzköpfiger Sturschädel. Wann soll die Sitzung sein?" grummelte Shacklebolt. "In zehn Minuten, Sir", antwortete Whitesand durch den Raumrufzauber.

"Gut, Vorausabteilung hinschicken, Räume sichern und den Portschlüsselwarner ansetzen. Wenn ich da ankomme soll der Flohnetzanschluss bis zu meinem Zeichen gesperrt werden. Die tagen doch wieder im Hinterzimmer der drei Besen, oder?"

"Neh, die sind im Schankraum. Jetzt sollen da alle fünfzig Oberhäupter der Familien hin, einschließlich der Fieldings und Swanns."

"Das freut mich doch", knurrte Shacklebolt. "Gut, trotzdem alles übliche. Wir wollen nach dem Chaos von Pickman keine neuen Überraschungen erleben", erwiderte der Minister.

"Ich geb's weiter", bestätigte Temperence Whitesand die Anweisung.

"Arthur, du hältst bitte die Stellung. Ich wollte noch mit Tim Abrahams wegen der muggeltauglichen Maßnahmen reden", wandte sich Shacklebolt noch mal an Arthur Weasley. "Ich gebe dir meine Notizen und die Vollmacht, das für mich zu regeln. Wenn McElroy so heftig aufspielt wird das lang."

"Verstanden, Kingsley", bestätigte Shacklebolts erhoffter Amtsnachfolger.

Arhtur Weasley wartete, bis sein Kampfgefährte und oberster Dienstherr das Büro verließ. Dann setzte er sich auf dessen Stuhl. Seine Frau hatte sich schweren Herzens damit angefreundet, mit ihm nach London umzuziehen und den Hühnerhof in Rons und Hermines Händen zu lassen, wo Percy demnächst mit seiner frisch angetrauten ein eigenes Haus bezog und George sich in seinem Scherzartikelladen eine Wohnung eingerichtet hatte. Gerüchte, die liebreizende Verity Whitesand habe es hinbekommen, dass er doch noch eine Ehehexe nötig haben könnte schwirrten ja schon seit Wochen wie aufgedrehte Wichtel umher. Auch dass Verity Konkurrenz haben mochte, weil George in Briefkontakt mit einer von Fleurs Cousinen stand hielten sich hartnäckig und wurden von George auch noch dauernd in Schwung gehalten, weil der erwähnte, dass einohrige Veela-Mädchen sicher immer ein offenes Ohr für ihre zukünftigen Männer haben mochten. Darauf hatte seine Schwägerin Fleur zwar ein wenig angestochen reagiert. Aber wer von Snape ein Ohr abgeflucht bekam und dann noch damit zu leben lernen musste, der einzige verbliebene Scherzbold der Weasley-Sippe zu sein steckte das gut weg.

Die Unterredung mit Tim Abrahams verlief ruhig und sachlich. Arthur Weasley musste nur seine Begeisterung für die Fernverständigungsgeräte der Muggelwelt zügeln. Denn genau diese Geräte gefährdeten gerade sehr stark die Geheimhaltung der Zaubererwelt.

"Ja, und Sie schicken dann demnächst ihre Mitarbeiterin Ms. Watermelon in die Staaten, damit sie dort von Mrs. Merryweather einen Computerkurs erhält? Wieso nicht bei Mrs. Priestley?" fragte Arthur Weasley gegen Ende der ausführlichen Unterredung.

"Ja, das ist so. Mrs. Priestley hat mit den Zaubererweltgeborenen gerade genug zu tun, und Mrs. Merryweather hat es bei den Zaubereiministerien von Frankreich und den Staaten hingekriegt, als Ausbilderin für Computersachen zertifiziert zu werden. War wohl eine Abstimmung zwischen der neuen Ministerin in Frankreich und dem gerade auf dem wackeligen Ministerstuhl in Washington sitzenden Mr. Dime", erwiderte Tim Abrahams. Dann fügte er noch hinzu: "Ihre Schwiegertochter wird sie solange vertreten. Ich habe ja die Generalvollmacht von Minister Shacklebolt, fachkundiges Personal aus anderen Abteilungen zu erbitten, wenn Engpässe auftreten."

"Welche, die dunkelhaarige oder die silberblonde?" wollte Arthur Weasley wissen. Tim erwähnte, dass Hermine Granger gemeint war. "Ja, die hat eine Menge mehr Ahnung von den Muggels als wir zwei zusammen", bemerkte der rothaarige Leiter der strafverfolgungsabteilung dazu.

Nach zwei Stunden kehrte der Minister zurück. Doch er wirkte verärgert und in die Enge getrieben. "Die wollen echt eine ministerielle Sondererlaubnis, die sardonianischen Zauber zu studieren und dann auch zu benutzen, mit denen diese alte Sabberhexe ihr Dorf überzogen hat. Wenn ich das mache, und wenn wer von denen das im Feuerwhiskyrausch ausplaudert, dann tanzen hier tausend Drachen. Also erzählt mir bitte, was ihr besprochen habt!"

Arthur Weasley und Tim Abrahams erläuterten die getroffenen Absprachen und auch die Personalentscheidungen von Tim Abrahams.

"Tja, da müssen Sie dann auch ihre drei Hauselfen aus den Diensträumen raushalten, weil die werte Mrs. Hermine Weasley was gegen Hauselfen hat", ätzte der Zaubereiminister. Die beiden anderen nickten verhalten. Eigentlich kannten sie das nicht von ihrem Chef und Mitstreiter gegen böses Zauberwerk. Aber recht hatte er leider doch, wussten sie beide.

ENDE DES 2. TEILS

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