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Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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P R O L O G

Über ein Jahr hat der Zauberer, der sich selbst Lord Vengor genannt hat, Angst und Schrecken in die magische und nichtmagische Welt gebracht. Sein Ziel, der mächtigste dunkle Magier aller Zeiten zu werden, ist jedoch von einer höchst umstrittenen Gruppierung vereitelt worden, von Vita Magica, einer Geheimgesellschaft, die durch verschiedenartige magische Machenschaften mehr Hexen und Zauberer auf die Welt kommen lassen will. Ebenso gibt es immer noch die Mondbruderschaft von Werwölfen, sowie die von ihrer mächtigen, sich selbst als schlafende Göttin bezeichnenden Meisterin geführten Vampire, die eine Neuauflage des weltweiten Vampirreiches Nocturnia anstreben.

Die schrecklichen Vorkommnisse der letzten Monate erwecken in den Überlebenden die Hoffnung auf ein friedlicheres Jahr. Doch viele, die durch die Machenschaften von Vita Magica ihr Leben umplanen mussten oder müssen, trauen diesem Frieden nicht wirklich. Ebenso ist fraglich, ob Joe Brickston, der ohne Zauberkräfte lebt, aber mit der Hexe Catherine Brickston verheiratet ist, jemals in sein früheres Leben zurückkehren kann, nachdem er zu viel von einer Wachhaltedroge eingenommen hat, die er von einer bis dahin im Verborgenen tätigen Gruppe unter einem geheimnisvollen Anführer namens Primus Superior erhalten hat. Für diese Organisation ist Joe ein unbequemer Mitwisser, an den sie zu gerne herankommen möchten. Somit ist fraglich, ob das Weihnachtsfest wirklich ein friedliches Fest sein wird.

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4. Dezember 2002

Es war dunkel um ihn herum. Sein Kopf tat so weh, als würden zwanzig Schmiede zugleich mit ihren Hämmern dagegenschlagen. Erst langsam kehrten seine übrigen Sinne zurück. Er merkte, dass er lag, und vor allem spürte er, dass er offenbar keine Kleidung mehr am Leib trug. Er fühlte ein wildes Kribbeln in seinen Armen und Beinen. Er öffnete und schloss die Augen. Die Dunkelheit blieb. Er lauschte. Doch er hörte nur das leise Rauschen seines Blutes in den Ohren, getrieben vom Wummern seines Herzschlages. Er versuchte sich zu bewegen. Dabei stellte er fest, dass er wohl an Hand- und Fußgelenken mit irgendwas gefesselt war. Er versuchte den schweeren Kopf zu bewegen. Das ging. Aber sofort überkam ihn ein Schwindelgefühl, und er meinte, sein Kopf sei dreimal so schwer wie gewohnt. Jetzt erkannte er auch, dass er auf einer schwach gepolsterten Unterlage lag.

Träge krochen die ersten Gedanken durch seinen schmerzenden Kopf. Er fing an, sich zu erinnern. Ja, er war zu dieser Besprechung gerufen worden, wo es um eine bessere Absicherung von Hogsmeade ging. Nach den Vorfällen und dem Endkampf gegen diesen verrückt gewordenen deutschen Zauberschmied Wallenkron, der meinte, einen irgendwo im Himalaya nistenden Geist eines uralten Erzmagiers zu suchen, waren sämtliche Wichtel auf dem Dach, wie Zauberersiedlungen noch besser geschützt werden konnten. Deshalb hatte man ihn nach Hogsmeade gerufen. Sein Vorauskommando hatte nach versteckten Portschlüsseln, Gassprühvorrichtungen oder Zauberfallen gesucht und keine gefunden. So konnte er selbst in den Schankraum der drei Besen gehen. Da hatte Bruce McElroy, Sprecher des Dorfrates von Hogsmeade, ein leicht cholerischer Rotschopf, ihn begrüßt und ihn ins Hinterzimmer gerufen, um schon mal erste Sachen vorzubesprechen. Da im Hinterzimmer alles geprüft worden war und auch McElroy nichts schwarzmagisches bei sich hatte war er drauf eingegangen.

Die Tür war zugefallen. Damit wurde der für das Hinterzimmer eingewirkte Dauerklangkerker wirksam. Er hatte sich hingesetzt. McElroy hatte seine verbeulte Aktentasche auf den Tisch geworfen, wie das so seine Art war.

"Mal sehen, wo das ist. Ihre übereifrigen Leibgardisten haben mir ja alles durcheinandergemacht", blaffte McElroy und durchwühlte die in der Tasche liegenden Pergamente. "Kein Funke Ordnungssinn in diesen Köpfen", hatte er geknurrt. Dann hatte er einen zusammengefalteten Pergamentbogen in der Hand. "Ah, der ist's, Sir. Lesen Sie den bitte. Is 'ne Petition zum Thema brauchbare Absicherung. Wird gleich von allen diskutiert." Mit diesen geknurrten Worten hatte der ihm das Pergament fast ins Gesicht geworfen. Er hatte es genommen und gelesen. Dabei verschwammen die Buchstaben vor seinen Augen. Irgendwie zerlief die Tinte, oder das Pergament weichte auf. Er hatte es nicht gewusst. Dann war er auf einmal wie in einen tiefen Schacht gestürzt ... und hier aufgewacht.

"Schlafgas? Kann nicht sein, die Jungs haben alles drauf geprüft", überlegte der offenbar nun gefangene. "Ein Fluch kann das auch nicht gewesen sein. Der hätte die Sonden und Incantimeter gekitzelt. Wie haben die mich ausgetrickst, zur dreigeschwänzten Gorgone?" Er wollte weiter überlegen, da störte ihn ein Lichtschimmer an der Decke.

Erst glomm es tiefrot. Dann wechselte das Leuchten von Orange zu Weißgelb. Jetzt leuchtete eine Kristallsphäre in derselben Farbe wie die Mittagssonne, nur nicht ganz so hell. Das wilde Hämmern in seinem Kopf ebbte schlagartig ab, als wenn das Licht eine schmerzstillende Wirkung hätte. Jetzt konnte er noch besser denken. Doch als ihm einfiel, dass der ihn erwischende Zauber nur ein Zwergenzauber gewesen sein konnte, weil die keine weit ausstrahlende Magieaura hatten, ging irgendwo in seiner Nähe eine Tür auf, und zwei Männer kamen herein. Der Gefangene bekam große Augen, als er die übergroßen, völlig haarlosen, runden Köpfe mit den großen blauen Augen sah. Die Männer trugen hellblaue Strampelanzüge.

"Gratulation, Leute! Wie auch immer, ihr habt mich echt erwischt. Aber glaubt nicht, dass ihr damit davonkommt, dass ihr mich habt verschwinden lassen", begrüßte der Gefangene die zwei Eintretenden.

"Hast du auch verstanden, wir würden ihn verschwinden lassen?" fragte der eine den Anderen. Die Stimme war die von einem Zweijährigen. "Stimmt, hat er gesagt", bestätigte der Zweite, der genauso eine Kleinkindstimme hatte.

"Ach, dann liege ich noch in den Drei Besen oder was?" fragte der Gefangene.

"Nöh, das nich'. Aber es sind gerade erst anderthalb Minuten rum, dass Sie ins Hinterzimmer reingegangen sind", antwortete der erste der Babykopfträger.

"Die Vorhut steht noch vor der Tür. Wenn ich da nicht mehr rausgehe gehen die rein."

"Deshalb beeilen wir uns auch. Locomotor Pritsche!" quiekte der zweite und zielte mit einem ziemlich kurzen Zauberstab auf die Unterlage. Diese hob sich um einen halben Meter nach oben, um dann den Zauberstabbewegungen folgend durch die Tür zu schweben. Der Gefangene meinte, dass die Luft irgendwie dichter oder träger war als sonst. Er konnte zwar atmen, aber es war anstrengender als sonst. Er kannte das von zwei Sachen: Einschrumpfung oder vielfache Beschleunigung. Ja, das musste es sein. Die hatten ihn und sich mit diesem nicht so einfachen und Kraftzehrenden Beschleunigungszauber belegt, um weniger Zeit zu verbrauchen. Er rief ihnen keck zu: "Ihr wisst, dass der Velociactus die sechzehnfache Ausdauer frisst, Freunde?"

"Ja, wenn er von einem selbst aufgebaut werden muss. Wenn der aber von mehreren Leuten in was totes, mit entsprechenden Runen vorbehandeltes reingezaubert wird altert nur der Gegenstand. Und Unsere Schnuller brauchen wir nach der Sache nicht mehr, und die Pritsche ist aus Eichenholz.

"Eh, wenn ihr hinterhältigen Riesenbabys glaubt, dass ich freiwillig in euer komisches Kinderkarussell reinkletter ..."

"Freiwillig ist am ersten Dezember abgelaufen", plärrte der erste, während er die Pritsche mit dem Gefangenen hinter sich herlotste und der andere eine Tür öffnete. Es ging in einen Raum, der wie ein thaumaturgisches Labor aussah. Der Gefangene erkannte sofort den hochlehnigen Stuhl und die etwa in zwei Metern Höhe darüber schwebende Silberhaube an durchsichtigen Schläuchen. Er wusste, dass er diesem Ding nur durch starkes Okklumentieren widerstehen konnte. Denn ihm war klar, warum sie ihn nicht gleich in jene Vorrichtung gesteckt hatten, mit der Gérard Dumas unfreiwillige Bekanntschaft gemacht hatte. Er spekulierte darauf, dass sie ihm die Hände und Füße losmachen mussten, um ihn auf den Stuhl zu setzen. Vielleicht ergab sich dann doch eine Möglichkeit, sie zu überwältigen.

Die Pritsche landete leicht ruckelnd neben dem Stuhl. Dann vibrierte sie einen Moment. Gleichzeitig sprangen die Schellen an den Hand- und Fußgelenken auf. Doch der Gefangene hatte keine Zeit, eine Gegenwehr zu starten. Denn wie wirbelnde Schatten waren die zwei Babykopfträger bei ihm, rissen ihn von der Pritsche, drückten ihn etwas unsanft auf den Stuhl und waren schneller als ein Augenzwinkern zwei Schritte davon weg. Noch ehe der Gefangene reagieren konnte schnellten aus der Rückenlehne mehrere unsichtbare Gurte und umschlangen ihn so schnell und sicher, dass jede weitere Aktion im Keim erstickt wurde. Jetzt fiel dem Gefangenen ein, dass die Pritsche ja bezaubert gewesen war. Der Zauber musste abgestellt worden sein, womit er auf die übliche Bewegungs- und Wahrnehmungsgeschwindigkeit zurückgefallen war. Dann hatten die zwei Babykopfbanditen natürlich leichtes spiel mit ihm gehabt.

Die zwei huschten wieselschnell aus dem Raum hinaus. Dann trat sie ein. Auch sie trug einen aufgesetzten Riesenbabykopf als Maskerade. "Sie hatten die Wahl und die Zeit, Mr. Shacklebolt", sagte sie mit einer völlig unnatürlichen Kleinmädchenstimme. Der Gefangene meinte, einen klaren Oxforddialekt herauszuhören. "Ich weiß, dass sie ein exzellenter Okklumentor sind, Mr. Shacklebolt. Aber wenn sie wert darauf legen, noch einmal in ihre gewohnte Umwelt zurückkehren zu dürfen, leisten Sie besser keinen mentalen Widerstand!"

"Oder sonst?" fragte der Gefangene. "Die werden nach mir suchen, Gnädigste. Da Ihr unanehmbares Ultimatum mehreren bekannt ist werden meine Leute die richtigen Schlüsse ziehen."

"Also, von der Uhrzeit her ist es noch zwölf Minuten bis zum Eintreffen der Dorfgemeinschaft. Unser Agent, der dank Vielsafttrank Bruce McElroy verkörpert, hat extra diese Zeitspanne angekündigt. Und jetzt bitte entspannen und den Dingen ihren Lauf lassen!"

"Verstehe, Sie wollen noch einen Agenten in Marsch setzen. Da haben Sie nur ein Problem, auf Meinem Kopf wächst schon seit zwanzig Jahren kein Haar mehr und ich rasiere mich jeden Morgen ganz gründlich."

"Außer an den Armen, den Beinen und dem Brustkorb", giggelte die Unbekannte, während sie an einer Steuerung hantierte. Der Gefangene verzog das Gesicht. Er blickte an sich hinunter. Ja, diese Banditen hatten ihm allen Ernstes jedes einzelne Körperhaar abrasiert, sogar im Schambereich. Und noch was fiel ihm auf. Seine Fingernägel waren bis knapp hinter die Fingerkuppen zurückgestutzt. Da landete die Haube auf seinem blanken Kopf. Sofort gab er das Sinnieren über die Hinterhältigkeiten dieser Banditen auf und besann sich auf seine Okklumentikkurse, erst in Hogwarts bei Professor Rochus Irongate und später bei den Auroren unter Instrukteur Zephyrus Rockwell. Er stimmte sich unverzüglich auf die genauen Techniken ein, den eigenen Geist zu verschließen. Da vibrierte das unheilvolle Ding auf seinem Kopf auch schon. Er fühlte, wie etwas wie mit dünnen Nadeln in seinen Schädel hineinglitt und versuchte, sich durch seinen Kopf zu bohren. Das Bibrieren ging in dumpfes Kopfbrummen über, das von innerhalb seines Schädels zu rühren schien. Er strengte sich noch mehr an, schloss die Augen und versuchte, das Gebrumm in seinem Kopf als zusätzliche Abschirmhilfe zu nutzen, um bloß keinen greifbaren Gedanken und keine erfassbare Erinnerung ins Bewusstsein zu lassen. Das Brummen wurde immer lauter. Jetzt dröhnte sein Schädel und schmerzte im Takt seines Herzschlages. Die in seinen Kopf stechenden Nadeln brannten förmlich. Er versuchte mit aller Macht, die ihn peinigenden Schmerzen und das immer unerträglicher werdende Dröhnen zu verdrängen, seinen Geist wie eine fest ummauerte Burg, wie ein tief unter der Erde gelegenes Gringottsverlies zu verschließen. Dann zuckten stechende Kopfschmerzen wie Blitzschläge durch seinen Schädel. Er verlor die mühsam beibehaltene Konzentration. Schlagartig entluden sich in seinem Kopf Bilder, Wortfetzen und Gefühle der letzten Tage. Es war, als hätte jemand seine Schädeldecke abgesprengt, um diese ganzen Eindrücke freizusetzen. Er versuchte wieder, dagegen anzukämpfen, wichtige Gedanken und Erinnerungen zurückzuhalten. Doch immer dann, wenn er es versuchte, blitzte es vor seinem inneren Auge auf, und er verlor den Halt.

Jetzt sog die dämonische Vorrichtung gerade die Erinnerungen an die Schlacht von Hogwarts ab. Er sah sich zusammen mit Minerva McGonagall und Horace Slughorn gegen den restlos dem Machtwahn verfallenen Tom Riddle kämpfen, sah dessen bleichen, schlangenhaften Schädel mit den vor wildem Zorn Funken sprühenden roten Augen. Dann raste die Rückschau weiter durch sein Leben, seine Niederlagen und Siege gegen Helfer des Psychopathen Riddle. Schließlich durchlief er in rasend schnellem Rückwärtslauf seine ganze Ausbildung und die Schulzeit, die Kindheit, wo er oft auf Roughwater Island gewesen war und erlebte mit, wie er zum Ungeborenen wurde. Dann war es vorbei.

Sein Kopf hämmerte jetzt wieder wie wild. Sein Herz jagte mit mehr als hundertfünfzig Schlägen die Minute Blut durch seine Adern. Er war schweißgebadet wie nach einem besonders schlimmen Albtraum. Aber er konnte sich noch an alles erinnern. Sie hatten nicht sein Gedächtnis wie einen vollen Kessel ausgeleert. Er öffnete die Augen und sah gerade noch, wie ein anderer Mann in den Raum kam. Er trug keine Babykopfmaske. Dafür trug er genau den Umhang, den vorher der unter der Haube sitzende getragen hatte. Der Gefangene erkannte ihn sofort. "Zephyrus Rockwell?! Das kann nicht sein", stieß der Gefangene aus. Doch vom Aussehen her war es der ehemalige Auroreninstrukteur für geistige Zauber und Wahrnehmungsbezauberungen. Aber der war vor fünfundzwanzig Jahren bei einem Kampf mit Leuten Riddles umgekommen. Seine Leiche war gefunden worden und konnte nur an Hand von Muttermalen und Narben identifiziert werden. Denn der Kopf war nur noch als verkohlte, schwarze Schlackekugel übriggeblieben. Vor allem war der da schon sechzig Jahre alt gewesen. Aber der Bursche hier sah wie gerade mal Mitte zwanzig aus.

"Zwei Minuten, Kandidat Shacklebolt. Gratuliere. Die Haube wirkt mit der Macht von zwanzig gleichzeitig zugreifenden Legilimentoren. Aber dann doch noch vielen Dank für Ihre Mitarbeit. So kann ich Sie würdig und vor allem fehlerfrei vertreten", sagte der jüngere Mann mit der flachsblonden Lockenfrisur und einem kecken Oberlippenbärtchen, dass der Gefangene von seinem Lehrer sehr gut in Erinnerung behalten hatte.

"Sie haben Ihren Tod vorgetäuscht?" schnarrte der Gefangene. "Similicorpus, nicht wahr?"

"Genau", sagte der andere. "Aber ich habe nur noch sieben Minuten, um alles wichtige von Ihnen zu übernehmen und in die drei Besen zurückzukehren. Wird zwar etwas gewöhnungsbedürftig sein, Ihre Schamhaare in den Vielsafttrank zu geben, aber ich kann sie gut portionieren, und manche der Damen, die bei uns zusteigen mögen lieber Männer ohne Gestrüpp im Schrittbereich. Frohes Schaffen, Kandidat Shacklebolt!"

"Sollte ich aus diesem Tollhaus lebend und bei Verstand wieder rauskommen erinnern Sie mich daran, dass ich Ihnen mal eine so gründliche Ganzkörperrasur verpasse, mit einer glühenden Klinge Marke Alecto Carrow", erging sich der Gefangene in einem Zornesausbruch. Doch wie er schon geahnt hatte brachte ihm das nur ein müdes Lächeln des Mannes ein. Dann hob sich die Haube von seinem Kopf. Shacklebolt wollte noch was sagen. Doch da fauchte ihm schon ein roter Schockzauber aus dem blitzartig in der Hand ligenden Zauberstab der Frau an der Steuerung zu und traf ihn voll.

Als er wieder aufwachte lag er auf einer bequemen weichen Unterlage in einem Raum ohne Ecken, dessen Wände ebenso weich waren und in dem ein warmes rotes Licht aus nicht zu erkennender Quelle leuchtete. Er wusste sofort wo er war. Er fühlte auch schon, dass eine lange zurückliegende Begierde das Blut in seinen Adern zum prickeln brachte. Er wusste, dass es jetzt gerade keinen Sinn machte, die Luft anzuhalten. Denn er lag sicher schon zu lange in diesem nestartigen Ding. Dann fing es sich auch noch zu bewegen an. Er fühlte eine leichte Abdrängung nach links. Also beschrieb das Ding einen Kreis. Ja, sie hatten ihn wahrhaftig in ihr gemeines wie geniales Karussell gesteckt. Das waren die letzten Gedanken, die Shacklebolt noch klar denken konnte. Denn da wanderten schon Erinnerungen an seine einstige Schulfreundin Annabel Sweetwater durch seinen Kopf, wie er sie und sie ihn einmal völlig hüllenlos abgetastet hatte. Weil sie da aber gerade in Hogwarts waren war es erst zu mehr gekommen, als sie sich in den Ferien mal trafen. Weil Annabel nach der Schulzeit unbedingt für ihre Eltern deren Besenfiliale in Australien leiten musste hatten sie sich aus den Augen verloren. Kingsley Shacklebolt dachte nicht mehr daran, dass sie ihn hier manipulierten. Die wildesten erotischen Vorstellungen und Erinnerungen trieben seinen sonst so unerschütterlichen Verstand in die Enge, rangen ihn nieder und überrannten ihn.

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"Ui, noch knapp eine Minute, bis die anderen da sind", sagte die Frau mit der Babykopfmaske, als die Haube alle in eine kopfgroße, durchsichtige Kugel gesaugten Erinnerungen in Rockwells Kopf zurückgespült hatte. Der Einsatzagent der erhabenen Gesellschaft zur Wahrung und Mehrung magischen Lebens musste erst die ihm zugeflossenen von den eigenen Gedanken unterscheiden. Erst als ihm dass gelang übergab ihm die Frau, die gerade ihre Babykopfmaske absetzte, eine undurchsichtige Feldflasche. "Der Inhalt reicht für die nächsten drei Tage. Ab da musst du dann neuen Trank ansetzen. Die Schnipsel von ihm stecken in der Rauminhaltsvergrößerten Innentasche deines Umhangs", sagte sie. Dann gab sie ihm zwei kleine kugeln, eine rote und eine blaue. "Die blaue ist für hin, die rote bringt dich von wo auch immer sofort zu uns zurück, sollten sie dich doch mal enttarnen, Zeph. Gute Reise und viel Erfolg!"

"Danke, Clau..., öhm, Véronique. "Und schreib mir, wenn die Babys da sind!" sagte Zephyrus. Dann schluckte er gekonnt die blaue Pille hinunter. Keine fünf Sekunden später rumorte es in seinen Eingeweiden. Dann meinte er, ein Schwall heißen Wassers ergösse sich in seinen Körper. Dann blitzte es um ihn herum blau auf, und er stürzte in einen wilden Farbenwirbel hinein. Als er aus einem weiteren blauen Blitz heraus auf den Boden fiel war sofort ein starker Arm da, der ihn auffing und auf den Stuhl setzte. "Hui, nur noch zwanzig Sekunden, bis wir rausmüssen. Schluck seine Essenz, bevor die Türsteher misstrauisch werden!" zischte der Mann, der wie Bruce McElroy aussah. Der echte McElroy drehte seit fünf Wochen seine Runden auf Mater Vicesimas Karussell.

Rockwell, der nun Shacklebolt sein sollte, trank schnell drei ganze Dosen dessen, was in der Feldflasche war. Keine zehn Sekunden später durchwalkten ihn schmerzhaft und heiß jene Kräfte, die seinen Körper umformten. Sein flachsblondes Lockenhaar verschwand unter der Kopfhaut, die von Blassrosa zu Ebenholzschwarz abdunkelte. Er fühlte ein leichtes Ziepen am linken Ohr. Auch das Ohrloch, wo der Original-Shacklebolt seinen goldenen Ohrring zu tragen pflegte, war mitkopiert worden. So brauchte der Nachahmer nur noch das Schmuckstück anzuhängen.

"Wenn die das mit der Rückschaubrille nachbetrachten sind wir erledigt", sprach der Umgewandelte mit der tiefen Stimme des britischen Zaubereiministers. "Wenn wir uns nicht zu dämlich verhalten kommt keiner drauf, hier in den nächsten zwei Tagen eine Rückschau zu machen", sagte der falsche McElroy. "Übrigens sollten wir jetzt raus", fügte er hinzu. Sein Gesprächspartner nickte.

Im Schankraum der drei Besen waren schon dreißig Leute versammelt, alles Ehepaare von zwanzig Jahren aufwärts. Immer noch kamen Leute dazu. Madam Rosmerta hatte sämtliche Bedinungen auf Trab gebracht, dass keiner oder keine ohne Getränk dasaß.

"So, Leute, ich habe dem Minister hier schon mal den Grundentwurf gezeigt", begann McElroy über das Gemurmel der hier versammelten Leute hinwegzusprechen. Vorstellen musste er keinen, weil Shacklebolt sie ja alle kannte. Da ging die Tür auf, und das Ehepaar Roy und Dina Fielding huschte von kühlem Wind begleitet herein.

"Sonni hat sich mit Herb Rodneys Bonsaidrachen gehabt. Ihr müsst die wandelnde Wunderkerze besser einsperren, wenn ihr aus dem Haus geht", sagte Roy Fielding.

"Sperrt lieber den orangeroten Flohsack ein, wenn ihr was zu erledigen habt", konterte der ältere Zauberer Herb Rodney. "Japanische Bonsaidrachen mögen nicht zu lange eingesperrt sein."

"Halbkniesel auch nicht. Aber die können kein Feuer spucken", erwiderte Roy.

"Ruhe, bei Merlins Unterhosen noch mal!" bellte McElroy dazwischen. "Der Minister ist hier und hat nicht den ganzen Tag Zeit, euren Dorfklüngel mitzukriegen. Also zur Sache", blaffte er noch und eröffnete damit die einberufene Sitzung.

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5. Dezember 2002

Irgendwie ging das nicht mit rechten Dingen zu, dachte Nancy Gordon. Seit mehreren Tagen fühlte sie sich morgens irgendwie schwindelig. Dann hatte sie sich schon zum dritten Mal nach dem Aufstehen erbrochen, als hätte sie sich eine üble Magen-Darm-Verstimmung eingehandelt. Sie kannte ähnliche Symptome von werdenden Müttern. Doch genau das hatte sie bei sich doch verhindert. Womöglich wirkte die hinterhältige Mixtur, die sie an Halloween geschluckt hatte auch ohne eine intakte Gebärmutter so, dass ihr Körper Schwangerschaftssymptome zeigte. Aber genau das war doch eigentlich auch unmöglich. Dann erinnerte sich Nancy an das, was sowohl die unheimliche Zaubertranklehrerin Nirvana Purplecloud als auch der Verteidigungszauberkundelehrer Ares Bullhorn ihr und den anderen sogenannten Muggelstämmigen immer wieder eingeschärft hatte: "Lernen Sie es, dass in der Magie für einen wahrhaft kreativen und entschlossenen Geist nichts aber auch wirklich nichts unmöglich ist! Nur so werden Sie vor unliebsamen Überraschungen oder verheerenden Selbsttäuschungen sicher sein." War sie einer Selbsttäuschung erlegen, dass sie davon ausging, dass das Befruchtungsgebräu von Vita Magica ihr nichts anhaben konnte? Das musste sie klären oder würde sich in irgendwelche unerwünschten Spekulationen verstricken.

Als sie an diesem Morgen schon wieder gleich nach dem Aufstehen den halbverdauten Rest Ihres letzten Abendessens in die Toilette gespien hatte rief sie ihre Frauenärztin an und beschrieb ihr die Symptome. Da die Gynäkologin wusste, dass Nancy sich vor zehn Jahren Gebärmutter und Eierstöcke hatte entfernen lassen, um auf gar keinen Fall schwanger werden zu können und die lästigen Menstruationsbeschwerden ein für alle mal loszuwerden war die Ärztin ebenso verwundert wie Nancy und erklärte sich gleich bereit, sie noch an diesem Tag gründlich zu untersuchen. "Am besten bleiben Sie nüchtern. Wir können dann das volle Programm durchziehen", sagte ihr Doktor Hastings. Nancy bedankte sich für die schnelle Bereitschaft und nahm sich für den laufenden Tag Frei.

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"Wie ist das möglich?" schnaubte der Mann, der sich Primus Superior nannte und eine Geheimgesellschaft von Leuten führte, die sich auf eine weltweite Katastrophenlage vorbereiten wollten, aus der heraus sie dann den wohl winzigen Rest der Menschheit neu anleiten wollten, um das Überleben des intelligenten Menschen auf Erden zu sichern. Seit drei Wochen saß er nun mit zwanzig weiteren Getreuen in einem anderen unterirdischen Bunker tief in den felsigen Eingeweiden der chilenischen Anden. Dabei hatte er jeden Tag eine neue Schreckensmeldung erhalten. Sein weltweites Netzwerk zerfiel, ohne dass er die nötigen Vorwarnungen bekam, welcher seiner Mitarbeiter da draußen gerade im Fadenkreuz der geheimen Ermittlungsbehörden war. Er bekam das erst mit, wenn mal wieder einer seiner Agenten enttarnt und festgenommen worden war und dessen eigenes Subnetzwerk von überneugierigen Leuten durchsucht wurde, was die Harakirischaltungen der darin gekoppelten Rechner auslöste. Vor allem in den USA und der europäischen Union kam es immer wieder zu unliebsamen Verlusten. Als dann auch noch irgendein ganz schlauer in den USA einen Weg gefunden hatte, die Harakiridämonen lahmzulegen, bevor sie die Rechner befehlsgemäß unbrauchbar machen konnten wusste Superior, dass die zwanzig Jahre seiner Arbeit gerade Stück für Stück in Fetzen gingen. Selbst seine Freunde bei den Geheimdiensten konnten ihm da nicht helfen, ohne sich zu weit vorzuwagen. Das hatte er sehr schmerzvoll zu spüren bekommen, als sein Kontakt bei der CIA aufgeflogen war, nur weil er versucht hatte, alle Daten über die Suchaktionen abzuzweigen. Was mit dem Kontakter passiert war wusste Superior nicht. Entweder war er getötet worden oder noch schlimmer, er plauderte alles aus, was er wusste und bot sich als Kronzeuge an.

Das alles führte Superior auf den Zwischenfall mit diesem Programmierer Joe Brickston zurück. Erst als dieser fast an einer Überdosis Ultradrenalon gestorben war hatten sich staatliche Behörden für seine Organisation interessiert. kleine Fabriken für Ultradrenalon waren ausgehoben worden, dort tätige Chemiker und Techniker festgenommen worden, bevor sie alles hatten zerstören können. Er hätte vielleicht doch den Rat seines russischen Partners Oblomow befolgen und an jeden seiner Leute Suizidkapseln ausgeben sollen, um den Verfechtern der bisherigen Ordnung nicht lebend in die Hände zu fallen.

"Helsinki ist auch gerade hochgegangen, Señor Superior", vermeldete einer der Computerüberwacher der zwanzigköpfigen Rumpfmannschaft in diesem weitläufigen Bunker. Superior, der möglichst wenig direkten Kontakt zu den hier arbeitenden Leuten pflegte, blickte in die vor dem LCD-Bildschirm angebrachte Kamera und sprach in das hochempfindliche Mikrofon:

"Was genau ist da hochgegangen, Carlos?"

"Verteilerstation für Ultradrenalon, Señor Superior". "Moment, gerade auch Ausfall von Oslo, wo unsere Anti-EMP-Forscher sitzen."

"Und es ging nichts durch die Netze, dass diese Stützpunkte bedroht sind?" fragte Superior. Die Antwort war ein klares Nein.

"Ist die Aktion Bayonne zumindest noch möglich?" fragte er.

"Ist angelaufen. Die vorbereiteten Videosequenzen werden bereits an unsere Außenstelle in Minsk überspielt. Erhalte Signal der eingeleiteten Selbstvernichtung. Keine Zeugen, keine unliebsamen Opfer."

"Gut, dann soll Agent 803 in Bayonne die Daten entsprechend aufbereiten und in der Nacht zum sechsten ins allgemeine Internet einspeisen!" sagte Superior. Er dachte daran, dass er damit genau das schuf, was er eigentlich nicht gebrauchen konnte, eine Menge Aufmerksamkeit. Doch weil er den Plan hatte, Joseph Brickston für den Rest der welt körperlich und gesellschaftlich zu vernichten, ging er dieses Risiko ein. Einige seiner Leute unterstellten ihm zwar eine unproduktive Vergeltungsaktion gegen einen kleinen Hilfsarbeiter. Doch er hatte klargestellt, dass dieser kleine Hilfsarbeiter offenbar sehr wichtige Beziehungen hatte. Wo immer der jetzt war - was er auch bei noch bestehenden Netzwerkverbindungen nicht hatte herausfinden können -, er wollte das noch wissen, welche Beziehungen das waren. Dass sein Geheimstützpunkt nur zwanzig Kilometer nördlich eines anderen nicht mehr ganz so geheimen Stützpunktes lag wusste er nicht.

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Chroesus Dime, der zeitweilige Zaubereiminister der vereinigten Staaten von Amerika, hätte fast mit der Faust auf seinen Schreibtisch gedroschen, weil der von ihm selbst als derzeitiger Leiter der Abteilung für magischen Handel und Finanzen eingeteilte Jungspund Cyrus Pickton dem Koboldverbindungsbüro zweitausend Galleonen hatte zukommen lassen, ohne die entsprechenden Gegenwerte ordnungsgemäß zu verbuchen. Dabei hatte er bei seinem schnell erfolgten Amtsantritt klargestellt, dass er nur solange das Ministeramt ausüben würde, bis ein besser mit diesem hohen Amt vertrauter Nachfolger gefunden war. Ihm behagte das ganz und gar nicht, jetzt als oberster Boss des Zaubereiministeriums öffentlich ausgestellt zu sein. Sicher, ohne sein Okay hatte nichts und niemand im Ministerium einen müden Knut ausgeben können. Insofern war er schon mit allen Vorgängen im Ministerium vertraut und sogesehen auch der heimliche Chef, der alle an goldenen und silbernen Drähten tanzen lassen konnte wie ein Marionettenspieler der Muggel. Doch jetzt musste er neben den wichtigen Amtsgeschäften auch noch Süßholz mit ausländischen Kollegen raspeln, für die zwei großen Zaubererweltzeitungen im Land Rede und Antwort stehen, wenn etwas passierte und vor allem mit Leuten gut auszukommen lernen, die ihm zu wider waren, solange die irgendwas wichtiges beizutragen hatten. Und jetzt dieses all zu großzügige Geschenk an die vom Koboldverbindungsbüro. Hatte Pickton den Verstand verloren? Nachher tanzten ihm diese Spitzohren noch mehr auf der Nase herum als schon zur Zeit, wo er ausschließlich für das Ministeriumsvermögen und die Handels- und Geldgeschäfte in der Zaubererwelt zuständig gewesen war.

"Herr Zaubereiminister, Miss Gordon hat sich abgemeldet, weil sie unerwartet in einer unaufschiebbaren Privatangelegenheit zu tun hat, die ihren weiteren Verbleib entscheidet und kann deshalb den Termin um neun Uhr nicht wahrnehmen", hörte Dime die magisch übermittelte Stimme seiner Sekretärin Dana Bullfinch, die vorher schon für Cartridge und die wenigen Tage auch für Sandhearst gearbeitet hatte.

"Das ist aber nett von Miss Gordon, dass sie das jetzt erst weiß, was sie noch zu erledigen hat", knurrte Interimsminister Dime. "Gut, Mrs. Bullfinch, Sie können den Neun-Uhr-Termin neu vergeben. Es sei denn, Charlie Westerley kann zwei Stunden früher mit mir über das Koordinationszentrum für den Wiederaufbau reden."

"Soll ich das nachfragen, Sir?" wollte Dana Bullfinch wissen. Dime bestätigte es. Drei Minuten später wusste er, dass Westerley, sein favorisierter Leiter für magisches Bauwesen, wegen der bereits von Cartridge angeschobenen Anbaumaßnahmen für Torntails eine längere Unterredung mit Prinzipalin Wright haben würde. Da war es eh fraglich, ob Westerley den ursprünglichen Termin um elf Uhr morgens einhalten konnte. Diese verdammten VM-Banditen hielten das Ministerium ständig in Aufruhr. Egal wo er hinsah, wen er fragte und was er hörte, an jeder zweiten Angelegenheit hing etwas, dass diese Babymacherbande angerichtet hatte. Am Ende war Nancy Gordons Abmeldung auch nur deshalb erfolgt, weil die auch mit diesen Gangstern zu tun bekommen hatte.

"Herr Minister, hier bei uns im Anfrageraum ist gerade ein Hauself appariert, der fragt, ob Sie heute noch Zeit haben, seiner Herrin, Mrs. Gildfork, einen Besuch abzustatten. Es sei sehr wichtig, behauptet der Elf", klang die magisch übermittelte Stimme von Euphemius Chimer zu ihm herein. Seitdem er festgelegt hatte, dass Eulenpost an ihn erst von seinen Vorzimmerleuten gelesen werden musste und niemand ohne seine wörtliche Aufforderung in sein vorübergehendes Büro eintreten durfte, hatte sich das Verbaventus-System so richtig entwickelt. Mit diesem der Elementarkraft Wind verbundenen Zauber konnten wie durch unsichtbare, nichtstoffliche Röhren Anrufe und Durchsagen zu bestimmten Zielpunkten übermittelt werden. Da Dime gerade in der Ministeriumsniederlassung Ostküste sein Hauptbüro unterhielt, nicht weit weg von seiner früheren Arbeitsstätte, hatte er gleich nach Amtsantritt erlassen, dass die Zaubereizentralverwaltung das Verbaventus-Verständigungsnetz weiter ausbaute, damit jeder, der ihm persönlich berichten sollte oder durfte, ohne Memoflieger oder Eulen kommunizieren konnte.

"Wann will Mrs. Gildfork mit mir sprechen, und warum bittet sie um meinen Besuch und kommt nicht selbst her?" wollte Dime wissen. Die Anfrage wurde wohl weitergereicht. Denn bis zur Antwort dauerte es eine halbe Minute. "Es geht um Firmeninterna und auch um die Zukunft von Bronco, weil ja immer noch nicht klar ist, wo Mrs. Gildforks Gatte abgeblieben ist. Sie erhofft sich wohl eine zeitweilige Befreiung von den Steuern, wenn ich den Elfen richtig verstanden habe, Sir."

"Und das soll ich mit ihr besprechen? Wenn Sie mit Mr. Pickton oder mir wegen ihrer Steuern verhandeln will möchte sie bitte unsere Amtsräume aufsuchen", sagte Dime. Ihm gefiel das nicht, dass diese übergewichtige Hexe meinte, er müsse springen, wenn sie rief. Außerdem stand mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit fest, dass ihr Mann Arbolus in die Gewalt von Vita Magica geraten war - schon wieder diese Gangsterbande! - und sicherlich bei denen als williger Zuchtbulle auf diesem obskuren Kinderkarussell festhing, bis er ähnlich wie Bluecastle an die fünfzig neue Zaubererweltkinder gezeugt hatte. Eigentlich wusste Phoebe Gildfork das schon. Offenkundig machte sie sich Gedanken um zu verteilende Hinterlassenschaften ihres Mannes.

"Herr Minister, Mrs. Gildforks Elfe ist gerade weg, um die Antwort auf Ihre Anfrage einzuholen", erfuhr Dime. Danach dauerte es ganze fünf Minuten, in denen Dime Pickton wegen der zweitausend Galleonen gefragt und ihn auf mögliche Anfragen von Bronco vorbereitet hatte. Steuererleichterungen sollte es nur dann geben, wenn Bronco im Gegenzug versprach, hundert weitere Harvey-Besen ohne Bezahlung an das Ministerium auszuliefern. Mit Arbolus hatte er derartige Geschäfte nie abschließen können, weil der darauf bestanden hatte, dass jeder gelieferte Besen ordentlich verrechnet wurde. Aber warum nicht die gerade vorherrschende Unsicherheit in der berühmten Besenfabrik ausnutzen?

"Der Elf ist wieder da und sagt, dass Mrs. Gildfork derzeit weder dem Flohnetz noch den Pförtnern am Besuchereingang über den Weg traue, seitdem das mit Minister Cartridge passiert sei. Sie würde nur noch auf einem Besen fliegen oder apparieren. Aber da sie das für Apparatoren freigegebene Foyer der new Yorker Außenstelle noch nicht besucht habe bitte Sie um Ihren Besuch, zumal Sie ja schon mal bei ihr im Haus gewesen seien. Es ginge um die Weiterbeschäftigung von zweihundert Besendrechslern im Zuge möglicherweise fälliger Privatvermögensaufstockungen durch Firmenkapitalentnahme bei möglichen Zahlungsansprüchen von mehreren Hexen, die von Mr. Gildfork - öhm - mit Kindern beehrt werden könnten, Sir."

"Dieses raffinierte Biest", dachte Dime für sich. Diese überquellende Hexe hatte also ernsthaft eingerechnet, dass ihr Mann womöglich für die von ihm unfreiwillig gezeugten Kinder aufzukommen hatte. Zumindest schloss sie das nicht aus. Ihn damit zu konfrontieren, deshalb die Firma verkleinern zu müssen, um mehr Privatvermögen herausholen zu können war schon ein Grund für eine direkte Unterredung. Sollte er ihr erzählen, dass die bisher bekannt gewordenen Unternehmungen von Vita Magica keinerlei Zahlungsforderungen an die unfreiwilligen Kindsväter nach sich gezogen hatten? Wenn jetzt aber zweihundert Leute ihre Jobs verloren hieß das Einnahmeverluste für die Finanzabteilung. Das grenzte schon an Erpressung und war somit ebenfalls ein Grund, mit der Dame direkt zu reden. Sollte er sie von seinen Leuten herbringen lassen? Da fiel ihm ein, dass Phoebe Gildfork fünf Hauselfen hatte, die ihr alle treu ergeben waren. Außerdem war ihr Haus sicher mit wirksamen Eindringlingsabwehrzaubern gesichert. Wenn er sie vorführen lassen wollte, dann ging das nur, wenn ein konkreter Straftatverdacht oder gar eine deutliche Anklage vorlag. Sonst schickte sie ihm auch noch ihre Rechtsanwälte auf den Hals. Die waren zwar nicht unbesiegbar, wie die Sache mit den Schadensersatzforderungen nach dem Debakel der US-Quidditchnationalmannschaft gezeigt hatte, aber für Dime gerade alles andere als willkommener Zeitvertreib. Zudem galt Bronco als größter Besenbaubetrieb der Staaten. Mit dessen Eigentümern legte sich ein Zaubereiminister nicht an, wenn es sich vermeiden ließ. Also willigte er ein, Mrs. Gildfork um neun Uhr zu besuchen. Er hoffte, die zwei durch Nancys Absage freigewordenen Stunden reichten aus, um alle aufgekommenen Fragen zu klären. Er dachte einen Moment daran, dass Phoebe Gildfork ihm vielleicht eine Falle stellen konnte, weil sie mehr als eine Steuererleichterung herausholen wollte. Doch dann fiel ihm ein, dass er ja genau mitteilen würde, wo er war. Kam er bis elf Uhr nicht mehr zurück oder ein magisch erzeugter Doppelgänger kam an seiner Stelle zurück, so bekäme die werte Dame eine ganze Menge Ärger. Dann musste er an diesen unglaublich intensiven Traum denken, in dem er mehrere Liebesakte mit dieser korpulenten und auf materielle Protzereien versessenen Hexe durchlebt zu haben schien. Irgendwie gefiel ihm die Vorstellung nicht, sich dieser prunk- und protzsüchtigen Hexe auszuliefern. Doch er war der Minister und trotz seiner zusätzlichen Verantwortung fühlte er sich hauptsächlich für den magischen Handel und Finanzen zuständig. Das durfte und wollte er nicht diesem Jungspund Pickton überlassen. Dieses Weib würde den doch glatt um jeden ihrer fetten Finger wickeln und dann nach ihrer Pfeife tanzen lassen wie ihre Hauselfen. Nein, er selbst musste zu der hin und das klarstellen, was sie vom Ministerium zu erwarten hatte und was nicht. "Ich komme um neun mit meinem Besen bei ihr an", sagte er. Doch er bekam die Antwort, dass das Haus wegen Arbolus' Verschwinden unter einem mehrfach gestaffelten Tarn- und Flugabwehrzauber stand und er deshalb von einem ihrer Hauselfen hin und zurückgebracht werden würde. Zähneknirschend ging er darauf ein. Dann musste er grinsen, weil er dachte, dass dieses Weib vor lauter Verfolgungswahn nicht mehr ihre sündteuere Garderobe und ihren exorbitanten Schmuck ausführen konnte, wenn sie sich jetzt in ihrem eigenen Haus verschanzte wie ein Trupp Ritter in einer belagerten Burg. Vielleicht konnte er sie damit aushebeln, dass er ihr das vorhielt, dass ihr öffentliches Ansehen verschwinden würde, wenn sie sich nicht mehr aus dem Haus hinaustrauen konnte.

Es war Minister Dime ziemlich unheimlich zu Mute, an der Hand der Hauselfe Witty zwischen der Voranmeldungshalle und der pompösen Empfangshalle des Gildfork-Anwesens überzuwechseln. Das Gefühl, sich dieser Hexe nun ausgeliefert zu haben nagte an seinem sonst so unerschütterlichen Selbstbewusstsein, das sogar gegen aufmüpfige Kobolde und von ihrer Rangstellung überzeugte Zauberer bestehen konnte. Warum machte ihn dieses überhebliche und übergewichtige Frauenzimmer solches Unbehagen? Die hatte doch selbst Angst, von irgendwelchen Widersachern behelligt zu werden, jetzt wo ihr Mann mal eben aus einem öffentlichen Zauberbus heraus per Portschlüssel entführt worden war. Der musste da doch klar geworden sein, dass alles Gold in allen Filialen von Gringotts an Ost- und Westküste sie nicht vor einem ähnlichen Angriff schützen konnte, wenn sie sich nicht mit all denen gutstellte, die sie beschützen konnten.

"Witty, hast du seine Exzellenz mitgebracht?" hörte Dime die Stimme von Phoebe Gildfork. Die Hauselfe rief mit ihrer piepsigen Stimme zurück: "Ja, Meisterin Phoebe, ich habe den Zaubereiminister mitgebracht. "Dann geleite ihn unverzüglich in das Arbeitszimmer von Meister Arbolus!" befahl Phoebe Gildfork. "

Minister Chroesus Dime folgte der Hauselfe die breiten, mit blüten weißen Läufern aus Einhornwolle bedeckten Treppenstufen bis zu einer schmalen grünen Tür, über der ein Schild mit leuchtenden Buchstaben prangte.

Arbeitszimmer von Arbolus Gildfork
Vor Betreten anklopfen!
Eintritt nur nach ausdrücklicher Genehmigung gestattet.
Unbefugtes Betreten des Zimmers führt zu unangenehmen Abwehrmaßnahmen.

"Mrs. Gildfork, sind Sie in diesem Raum?" wollte Dime wissen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Phoebe Gildfork das Allerheiligste ihres Mannes unangefochten betreten konnte. Er hatte Arbolus als sehr penibel auf den Schutz seiner Geschäftsgeheimnisse bedachten Zauberer kennengelernt.

"Seitdem mein Mann für mehr als zwei Wochen unangemeldet aus dem Haus ist ist mir als seine Geschäftspartnerin der Zugang zu diesem Raum gestattet, Minister Dime. Treten Sie bitte ein!" kam Phoebe Gildforks Antwort durch die einen Spalt breit offen stehende Tür. Daraufhin schwang die Tür von alleine nach innen auf. Dime nickte der Hauselfe, die sich eilfertig an ihm vorbei in den breiten Flur zurückzog. Dann trat er ein. Er fühlte ein leichtes Vibrieren auf dem Körper. Doch mehr passierte ihm nicht. Er hatte ja die ausdrückliche Erlaubnis zum Eintreten erhalten.

Phoebe Gildfork thronte wie eine angejahrte und vom Überfluss ihres Reiches aufgequollene Königin in einem hochlehnigen, schon einer Chaiselongue ähnelndem Sessel aus blütenweißem Material. Arbolus' üblicher Schreibtischstuhl stand mit der Rückenlehne zur Wand gekehrt in der der Tür entgegengesetzten Ecke. Der war für die gewichtige Hexe wohl zu schmal oder zu instabil, dachte Dime ein wenig abfällig. Dann hörte er hinter sich die Tür zufallen und sah für einen winzigen Moment ein Flimmern auf Wänden und Boden. "Ein Dauerklangkerker gekoppelt mit einem gesonderten Personenschutzzauber, Chroesus", bemerkte Phoebe Gildfork dazu. Dann deutete sie auf einen freien Stuhl, der augenblicklich wenige Zentimeter über den Boden schwebend auf Dime zuglitt und sich sitzgerecht unter sein Hinterteil platzierte. Unvermittelt saß Dime und wurde noch einen Meter weit getragen, bevor der Stuhl Phoebe Gildfork gegenüber anhielt. "Ich bin froh, dass dieses Treffen so kurzfristig stattfinden konnte, Chroesus", säuselte Phoebe Gildfork. Der Interimsminister blickte sie etwas verdrossen an, weil sie so persönlich mit ihm sprach und dabei so lächelte, als habe sie ihn genau da, wo sie ihn haben wollte. Dann sagte sie auch noch: "Wir beide haben nämlich eine Menge zu klären, was unser zukünftiges Leben betrifft."

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Nancy Gordon hatte wegen ihrer goldenen Krankenversicherungskarte den Eingang für Vorrangpatienten nehmen können und war als erste Patientin drangekommen. Einer unbestimmten Ahnung folgend hatte sie ihren Zauberstab in einem rauminhaltsvergrößerten Ledertäschchen mitgenommen.

Nachdem Doktor Hastings' Sprechstundenhilfe ihr Blut abgenommen und auch eine Urin- und Speichelprobe von ihr erhalten hatte musste sie sich auf den gynäkologischen Untersuchungsstuhl setzen. Erst sprach sie mit Doktor Hastings über ihre Symptome und deutete auch an, dass in ihrem Kollegenkreis mehrere Frauen schwanger geworden seien. Doch Doktor Hastings, die sie ja schon seit mehr als zehn Jahren betreute, wandte ein, dass Nancy nach dem radikalen chirurgischen Eingriff an ihrem Körper keinesfalls Schwangerschaftssymptome zeigen konnte. Das schloss Nancy zwar auch aus, sei aber genau deshalb so besorgt. Deshalb wurde sie erst auf übliche Weise untersucht. Nachdem Blutdruck, Herztätigkeit, Körpertemperatur und andere Werte ermittelt waren tastete Doktor Hastings Nancys Unterleib ab. Dabei meinte Nancy, merkwürdige Empfindungen zu erleben. Das schien auch die Ärztin zu empfinden. Denn sie wiegte ein ums andere Mal den Kopf. Dann sagte sie: "Wenn ich nicht wüsste, dass Sie sich ihre inneren Geschlechtsorgane operativ entfernen ließen müsste ich Sie für eine körperlich unversehrte Frau halten, die vielleicht im ersten Schwangerschaftsstadium sein könnte. Ich muss das unbedingt mit einer Ultraschallaufnahme überprüfen." Nancy verzog kurz das Gesicht. Doch dann willigte sie ein. Das würde sie doch auch beruhigen, wenn sie wüsste, dass alles so war wie sie das haben wollte.

Nachdem Doktor Hastings das für die Untersuchung nötige Gel aufgetragen hatte setzte sie den Messkopf an und führte diesen sehr behutsam über Nancys freien Unterleib. Beide konnten auf einem Monitor sehen, was das Gerät aufzeichnete. Nancy erbleichte sichtlich, als sie es sah. Auch Doktor Hastings erstarrte, als sie die als Bild widergegebenen Ortungsergebnisse sah. "Das ist medizinisch unmöglich", seufzte sie. Dann vergrößerte sie jeden Bildabschnitt einzeln. "Das ist absolut unmöglich", sagte sie dann laut. "Seit zehn Jahren leben Sie ohne innere Geschlechtsorgane und nehmen Hormonersatzpräparate ein, um die Funktion der entfernten Ovarien auszugleichen. Aber Sie sehen es deutlich, dass in Ihrer Bauchhöhle nicht nur zwei intakte Ovarien, sondern auch ein unversehrter Uterus enthalten sind. Ich kann sogar erkennen, dass dieser wohl mit einem Embryo besetzt ist. Aber das kann nicht sein", widerholte Doktor Hastings ihre Verwunderung. Nancy fühlte, wie ihr Herz mehrere Schläge übersprang und dann mit leichtem Schmerz weiterpochte. Wie konnte das angehen? Diese Saubande! Diese widerliche, hinterhältige Saubande von Vita Magica hatte irgendwas angestellt, dass sie doch noch wegen denen ein Kind auszutragen hatte. Wohl wahr, in der Magie war für kundige Zaubertrankbrauer und Zauberkunstexperten nichts unnmöglich.

"Ich möchte einen Ausdruck davon haben", sagte Nancy, nachdem sie die wilde Woge aus Schrecken, Enttäuschung und Wut überstanden hatte.

"Das kann nicht angehen. Sie waren erst vor einem halben Jahr bei mir. Da hatten Sie definitiv keinen Uterus und keine unversehrten Ovarien", sagte Doktor Hastings. "Sowas kann nicht nachwachsen wie Haut oder Fingernägel."

"Nicht unter üblichen natürlichen Bedingungen", knurrte Nancy. "Aber sind Sie sicher, dass ich schwanger bin?"

"Ganz sicher noch nicht, weil der Embryo wohl noch im Anfangsstadium ist. Aber wenn das Ultraschallbild keine üble Laune der Gerätesoftware ist haben Sie auf jeden Fall alle für eine fruchtbare Frau nötigen Organe im Körper."

"Prüfen Sie Ihre Gerätesoftware!" sagte Nancy ungewohnt entschlossen. Vielleicht hatte jemand der Ärztin einen Streich gespielt und ein Programm in das Ultraschallgerät eingeschleust, dass egal an wem es angewandt wurde eine Gebärmutter in freudiger Erwartung zeigte. Ja, das konnte es vielleicht noch sein, hoffte Nancy.

Als jedoch mit zwei weiteren Geräten, die nur bei mehreren parallel untersuchten Patientinnen zum Einsatz kamen dasselbe Bild erkannt wurde und zudem noch die sofort durchgeführten Blut- und Urinuntersuchungen zeigten, dass Nancy in der dritten oder vierten Schwangerschaftswoche sein mochte stand es für Nancy fest, dass sie diese Gangsterbande gründlich unterschätzt hatte. Um nicht zu einer international herumgereichten Fallstudie zu werden behandelte sie nachdem sie ihre Kleidung wieder angezogen hatte Ärztin und Sprechstundenhilfen mit dem Gedächtniszauber und löschte sämtliche Aufzeichnungen der letzten Minuten. Sie trug ein, dass sie wegen einer akuten Magen-Darm-Erkrankung untersucht worden war. Als sie das alles hinter sich hatte eilte Nancy in ihr eigenes Appartment zurück. Dort angekommen warf sie sich auf ihr Bett und ergab sich einem plötzlichen Weinkrampf. Diese heimtückische Bande hatte ihr wahrhaftig ein Kind angedreht oder womöglich sogar zwei oder drei. Das musste passiert sein, als sie mehr als fünfzehn Stunden geschlafen hatte. Womöglich hatte diese Verbrecherbande alle mit diesem Paarungscocktail behandelten Hexen untersucht und bei ihr irgendwas gemacht, dass sie ja wieder empfängnisfähig wurde, um ihr die ganzen Tiraden gegen Vita Magica heimzuzahlen. Ja, so und nicht anders musste das gelaufen sein. Wie man Gedächtnisse veränderte hatte Nancy ja gerade eben erst wieder eindrucksvoll ausgeführt. Sie hätte sich sofort nach der Party untersuchen lassen sollen. Dann hätte sie wohl noch die Zeit gehabt, diesen unerwünschten Eingriff rückgängig machen zu lassen. Doch jetzt war es zu spät. Denn sie fühlte jetzt, wo sie daran dachte, schwanger zu sein, dass sie dieses Kind oder diese Kinder nicht abtreiben konnte. Es tat ihr schon beim Gedanken in der Seele weh, zwei eigene Kinder töten zu lassen. Die Sabberhexenbrut! Die hatten ihre Cocktails mit einer Essenz versetzt, die Hexen den unbedingten Willen zum Austragen und Großziehen eines Kindes auferlegte. Wenn sie wirklich auch zu den Opfern dieser Halloweenparty gehörte und nicht wie eigentlich angenommen davon verschont geblieben war, dann würde sie genauso wie ihre Kolleginnen oder die weiblichen Verwandten ihrer Kollegen alles daransetzen, diesen ihr aufgeladenen Nachwuchs zur Welt zu bringen. Aber das sollten die von VM ihr büßen. Die hatten sich voll in alle Finger geschnitten, wenn die dachten, dass sie damit mundtot zu machen war, dass sie auch nur eines der vielen Opfer ihrer Machenschaften geworden war. Gerade dann, wenn die ihr ein Kind oder mehrere aufgedrängt hatten, dann sollten die auch dafür aufkommen. Das hieß, diese Bande musste endlich enttarnt werden, Besen und Besenreiter, Kessel und Löffel. Die würden sich umsehen, was denen blühte, die meinten, das Privatleben einer Hexe beliebig vorbestimmen zu müssen. Da konnten die noch so heuchlerisch behaupten, ihnen läge das Wohl der magischen Menschheit am Herzen. Doch was noch schlimmer war, sie musste einen Bußgang zu den magischen Heilerinnen machen. Denn bei Doktor Hastings oder anderen magielosen Frauenheilkundigen durfte sie sich jetzt nicht mehr blicken lassen, bis was da auch immer in ihr steckte ausgetragen und geboren war. Allein schon der Gedanke an die dabei auftretenden Schmerzen machte ihr eine gewisse Angst. Doch dann überwog die Entschlossenheit, das aushalten zu können, weil es ja ihr Nachwuchs war, der auf die Welt kommen würde. Sie dachte an Martha Merryweather, die gleich drei Kinder bekommen hatte, obwohl sie schon zweifache Großmutter war. Die hatte die kleinen bei Eileithyia Greensporn gekriegt. Ja, zu der musste sie wohl hin, um sich für ihre schroffe Zurückweisung ihrer Hilfsanfrage zu entschuldigen. Hoffentlich war die altehrwürdige Heilerin nicht all zu nachtragend.

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"Ich möchte gerne alle Mitarbeiter weiterbeschäftigen. Aber dafür muss ich wissen, ob mein Mann nun für immer verschwunden ist oder weiterhin sein Gehalt erhalten muss, ob ich die Fabrik behalten soll oder besser verkaufe oder ob ich mit nur der Hälfte aller Mitarbeiter nur die unmittelbar wichtigen Aufträge ausführe, zum Beispiel die Auslieferung von fünfzig Parsec-3-Besen an das Ministerium", sagte Phoebe Gildfork. Interimsminister Dime sah sie sehr aufmerksam an. Irgendwas an ihr war anders als sonst. Sie war zwar immer noch sehr korpulent und trug ein Kleid aus geschmeidiger Seeschlangenhaut, das sicher seine zweihundert Galleonen gekostet hatte und je nach Verarbeitung Reiß-, Säure-, Wasser- und feuerfest blieb. Doch dazu strahlte sie noch eine starke Kraft aus, eine fast schon greifbare Aura der Entschlossenheit und vor allem Lebendigkeit. Dime musste dieses und das gerade gehörte erst einmal ordnen. Dann sagte er:

"Was Ihren Gatten angeht, Mrs. Gildfork, so hat uns das Wiederauftauchen von Mr. Bluecastle gelehrt, dass wir ihn nicht mal eben für tot erklären dürfen, solange auch nur der Hauch einer Hoffnung besteht, dass er wiederkommt. Natürlich können Sie sein Gehalt bis dahin aussetzen, sofern Ihre Teilhaber dies auch bewilligen. Soweit ich weiß hat Ihr gatte vor fünf Jahren ein Viertel der Fabrik an die dort tätigen Besenentwickler und -zureiter übereignet, um die Loyalität zu festigen. Daraus ergibt sich aber dann auch die Lage, dass Sie nicht mal eben einen Teil der Belegschaft freistellen oder über Monate lang ohne Lohnzahlung belassen dürfen, weil diesen Mitarbeitern ein Teil der Firma gehört und sie somit Mitspracherecht haben, was die internen Abläufe angeht. Sie könnten die Firma nur verkaufen und den Mitarbeitern den diesen zustehenden Anteil vom Erlös auszahlen, wenn Sie den Betrieb nicht weiterführen möchten. Aber das ist doch wohl nicht das einzige, weshalb Sie ausgerechnet mich um eine persönliche Unterredung gebeten haben. Denn sowas hätte Ihnen mein Nachfolger Pickton auch erzählen und vorrechnen können."

"Das ist wahr, wegen der Firmenführung habe ich dich nicht hergebeten, Chroesus", sagte Phoebe unerwartet direkt und ohne jede förmliche Distanz. Sie lächelte überlegen. Dann strich sie sich mit der linken Hand über das Kleid. Es klaffte vom Hals bis hinunter zu den Waden auseinander und legte Phoebe Gildforks Körper frei. Sie trug keine Unterkleidung! Chroesus Dime fühlte einen heißen Schauer durch seinen Körper jagen, als er die sich so unvermittelt entblößte Hexe ansah. Ein Gefühl von Angewidertheit und Wut überkam ihn. Dieses Gefühl wurde auch nicht weniger, als sie auf ihren auch so schon sehr umfangreichen Bauch deutete und sagte: "Da drin wachsen zwei Kinder von dir, Chroesus. Versuche es nicht, mich anzugreifen. Der Personenschutzzauber hält jeden Angreifer zurück." Dime hatte in der Tat eine zu seinem Zauberstab führende Handbewegung gemacht und fand sich unvermittelt wie in warmen Brotteig eingebacken wieder. Nur Kopf und Brustkorb waren davon unbetroffen. "Du und ich, wir haben uns am fünfzehnten Oktober hier in diesem Haus, im Gästeschlafzimmer geliebt, viermal hintereinander. Womöglich war was in der Teemischung, die ich von einer guten Freundin bekommen habe, möglicherweise eine dieser Vita-Magica-Mischungen. Auf jeden Fall hast du mich viermal so richtig doll beglückt und dabei wohl was ganz wichtiges von dir bei mir unten im Bauch abgelassen. Witty, die als Säuglingspflegeelfe ausgebildet ist, sowie meine Vertrauensheilerin haben unabhängig voneinander bestätigt, dass ich von dir Zwillinge im Bauch habe. Und die sind von dir, weil das letzte Mal, wo ich mit Arbolus geschlafen habe ist schon mehr als ein Jahr her. Offenbar empfindet er meinen Körper nicht mehr als begehrenswert genug."

"Ich habe mit Ihnen ... Nein, kann nicht sein. Das kann unmöglich sein, wir hatten an dem Tag keinen Termin. Ich habe das doch nachgeprüft", sagte Dime sichtlich aufgebracht und versuchte erneut, sich zu bewegen. Wieder gelang es ihm nicht.

"Das haben wir beide so vereinbart, damit keiner von uns beiden in die verfängliche Lage kommt, eingestehen zu müssen, dass wir doppelten Ehebruch begangen haben. Ich konnte da nicht wissen, dass dieses Gebräu meine Fruchtbarkeit fördert."

"Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, Mrs. Gildfork. Aber ich habe es nicht nötig, mit fremden Frauen zu schlafen, wo ich selbst eine Gattin habe, die ... ja, mit der ich in dieser Hinsicht bestens auskomme."

"Krötendreck, Chroesus. Deine Frau ist sicher näher an den von der Bekleidungsbranche verbreiteten Schönheitsidealen dran als ich. Aber so ausgehungert du warst, als wir zwei nach der kurzen Unterredung das Bett geteilt haben hast du es schon sehr lange nicht mehr richtig getrieben. Glaub mir, das kann ich beurteilen."

"Ich würde es begrüßen, wenn Sie weniger persönlich mit mir sprächen, Mrs. Gildfork. Immerhin bekleide ich ein ehrenwertes Amt", versuchte Dime, seine in Stücke zerschlagene Autorität wiederherzustellen. Doch er erntete nur ein überlegenes Lachen.

"Wer mit mir so wilde Liebe gemacht hat wie du darf mich beim Vornamen nennen und wird von mir nur noch mit Vornamen angesprochen, wenn ich mit ihm alleine im Raum bin. Ob das von Vita Magica stammt, oder du es so nötig hattest, dass du mich unbedingt nehmen wolltest ist egal. Jedenfalls habe ich zwei Babys von dir im Bauch, und die kriege ich mit dir zusammen."

"Abgesehen davon, dass Sie sich gerade selbst entwürdigen begehen Sie gerade drei Straftaten: Verleumdung, weil Sie mir Ehebruch unterstellen, Beleidigung, weil Sie meine Würde als Minister wie als erwachsenen Zauberer missachten und versuchte Erpressung, weil Sie behaupten, ich hätte gegen mein Ehegelübde verstoßen und Sie noch dazu mit gleich zwei Kindern in andere Umstände versetzt, weil Sie offenbar darauf aus sind, die Abwesenheit Ihres Gatten finanziell auszugleichen. Ich glaube nicht, dass Sie von mir auch nur ein Kind tragen, Mrs. Gildfork."

"Dann beweise ich es dir. Und wenn ich das getan habe, dann wirst du mit mir wesentlich freundlicher reden, glaube es mir", erwiderte Phoebe Gildfork. Dann streifte sie sich das Kleid ganz vom Körper. Dime versuchte wieder, nach seinem Zauberstab zu greifen. Doch immer noch hielt ihn ein Bewegungsblockierzauber davon ab. Er wusste, dass er nicht einmal um Hilfe rufen konnte. Ein Dauerklangkerker war ein Dauerklangkerker. Außerdem war er in Phoebe Gildforks Haus. Er war ihr wahrhaftig ausgeliefert, wie eine Fliege ins Spinnennetz geflogen. Und diese fette Spinne da vor ihm genoss es sichtlich, vor ihm aufzustehen und sich so überquellend und blank vor ihm hinzustellen. Dann zog sie aus der Armlehne ihres breiten Sessels ihren Zauberstab, natürlich aus Mahagoni und mit der Herzfaser eines alten Vipernzahnweibchens als Kern. "So beweise ich dir, dass ich deine Kinder im Leib habe. Und diese Kinder werden dir beibringen, wie du fortan mit mir umzugehen hast, Süßer. Du hast mich deine süße Zuckerwattekönigin genannt, deine ofenwarme Apfeltorte ... Soll ich noch mehr Einzelheiten nennen? - Nein! Ich werde dir nun beweisen, dass ich mit deinen Kindern schwanger bin. Sanguis fetorum sanguis patris vocato!" Unvermittelt fühlte Dime, wie etwas wie ein warmer Hauch von der nun völlig nackten Hexe auf ihn überfloss. Er meinte, aus ihrem Bauchnabel und dann auch aus ihrem Geschlecht einen blutroten Lichtschein zu sehen und merkte, wie er in genau dieses Licht gebadet wurde. "Siehst du. Diese rote Leuchterscheinung zeigt sich nur, wenn der Vater eines Ungeborenen in dessen Sicht- und Hörweite ist."

"Einfacher Lichtzauber, nichts beweiskräftiges", widersprach Dime. Doch das Gefühl, in dieser blutroten Aura wie in warmem Wasser gebadet zu werden war unbestreitbar echt. "Silencio!" knurrte Phoebe und stieß ihren Zauberstab in Richtung Dimes Mund. Offenbar wirkte der Personenschutzzauber nur für den Inhaber des Hauses, dachte Dime und versuchte, den ihm auferlegten Schweigezauber abzuschütteln. Doch es gelang nicht. Er versuchte etwas zu rufen. Doch er konnte keinen Laut mehr hervorbringen. "Per Sanguinem Fetorum Sanguis Patris Catenatus! Nenne mich fortan bis zur Entwöhnung deiner Kinder beim Vornamen, wenn wir im selben Raum und ohne Zuhörer sind! Catena sanguinis durato per tempus spatiumque! Du wirst dafür sorgen, dass mein ehemaliger Mann für tot erklärt wird. Denn ich weiß, dass er nicht mehr lebt! Vita fetorum tuorum vita tua sit per gestationem et partum! In den nächsten zwei Monaten wirst du deine Frau verlassen und mich heiraten, damit wir beide unsere insgesamt sieben Kinder gemeinsam großziehen. Dolores fetorum tuorum dolores tuos sint! Vor allem wirst du mit jener Gruppierung namens Vita Magica einen Friedenspakt schließen, damit diese dich und mich nicht doch noch voneinander trennen. Per vitas fetorum vita tua mattri submissa per catena sanguinis! Catena secreta sit per vitam tuam vitas fetorum! hic et nunc executo!" Bei jeder auf Latein gesprochenen Anrufung bewegte Phoebe Gildfork ihren Zauberstab zwischen Dime und ihrem Bauch hin und her. Dabei entstand eine sich windende, blutrote Lichtschlange, die sich bei jeder weiteren Bedingung der Wirkung in mehrere Windungen legte, bis mit dem letzten Ausspruch aus dem Zauberstab ein blutroter Blitz zuckte, der die blutrote Schlange aus reinem Licht wild rotieren und dann zu einer starren, klaren Kette werden ließ. Die Dimes Körper umhüllende blutrote Aura wurde noch eine Spur heller. Hitze wallte in seinem Körper. Er meinte, zwei Herzen schlagen zu hören. Dann erlosch die Aura und auch die zwischen Phoebe Gildfork und ihm geschmiedete Kette. Doch er wusste, dass die Kette nur unsichtbar und ungreifbar geworden war. Sie winkte mit dem Zauberstab, und das teure, wasserblau schimmernde Kleid aus der Haut einer großen Seeschlange hüllte sie von ganz alleine wieder ein und schloss sich züchtig. Dann hob sie den gegen Dime verhängten Schweigezauber wieder auf. Der gerade sehr heftig bezauberte Minister versuchte, Schimpfwörter auszustoßen. Doch allein schon der Gedanke daran bereitete ihm Kopf- und Herzschmerzen. "Damit werden ... Sie ... Arg! - wirst du nicht durchkommen, Misseaaarg! Phoebe Gildf-aaaauua!" stieß er aus und krümmte sich vor Schmerzen, immer wenn er versuchte, laut oder besonders verärgert zu klingen.

"Glaub mir, mein kleiner süßer Chroesus, dass ich schon damit durchgekommen bin. Normalerweise wirkt der Zauber schon bei einem Kind heftig. Aber wenn zwei unterwegs sind quadriert er sich sogar, habe ich gelesen. Mächtigere Zauberer als du mussten sich vor den Müttern ihrer Kinder unterwerfen, wollten sie nicht leiden oder gar sterben. Ab heute wirst du alle meine körperlichen Unannehmlichkeiten auszuhalten haben. Wenn dann die beiden Kinder auf der Welt sind wirst du alles tun, was ich von dir erwarte, , bis du alle vier Bedingungen erfüllt hast, die ich in die Blutkette eingewirkt habe. Ja, du wirst die zwei, die in mir wachsen und noch fünf weitere Kinder mit mir haben, Chroesus Dime. Solange darfst und wirst du mir nichts antun und auch nicht zulassen, dass mir jemand etwas tut. Ja, und du darfst auch niemandem verraten, mit welchem starken Zauber ich uns beide verbunden habe."

"Du bist waaaaarrrg!", stieß Dime aus und fühlte, wie sein Herz wilde Sprünge machte und sein Kopf wie von einem Hammer von innen her malträtiert wurde. Dann versiegte sein letzter Widerstand. Die mit ihm verbundene magische Blutkette hatte nun vollständig seinen Körper und seinen Geist durchdrungen. "Knie vor mir und bitte mich um Verzeihung für deine Anmaßungen, mich belehren zu müssen!" befahl Phoebe Gildfork. Dime fühlte, wie er aufstand und sich vor der übergewichtigen Hexe hinkniete. Er bat sie um Verzeihung für alle ihr missfallenden Worte. "Ich verzeihe dir, weil du der Vater meiner Kinder bist. Setz dich wieder hin, Chroesus. Dann können wir in Ruhe darüber sprechen, wie du und ich unsere Zukunft gestalten werden."

Als Chroesus Dime von Witty, der verschwigenen wie loyalen Hauselfe wieder ins provisorische Zaubereiministerium zurückgebracht wurde konnte ihm niemand ansehen, dass Phoebe Gildfork ihn ihrem Willen unterworfen hatte. Sie beide hatten ja auch schon einen Plan gefasst, wie er seine Ehefrau Argentea loswerden konnte, ohne sie töten zu müssen. Doch vorher musste er klären, ob Arbolus Gildfork noch lebte oder nicht. Und das konnte er nur, wenn er sich heimlich mit einem Abgesandten von Vita Magica traf. Das ging aber nur, wenn er dieser Gruppierung einen Waffenstillstand anbot. Das, so wusste er, würde sehr große Empörung auslösen. Doch er hatte schon eine Idee, wie er sein Vorhaben begründen konnte, ohne gleich wieder des Amtes enthoben zu werden.

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Es war einfacher gewesen als Nancy Gordon befürchtet hatte. Sie war zu Eileithyia Greensporn hingegangen und hatte ihr offenbart, dass sie auch zu denen gehörte, die auf dieser Halloweenparty gewesen war und dass sie wohl wie viele andere Hexen auch im Juli Nachwuchs bekommen würde. Die altehrwürdige Großheilerin hatte sie zwar erst tadelnd angesehen und dann genickt. "Hätte mich auch sehr gewundert, wenn ausgerechnet Sie von diesen Machenschaften verschont geblieben wären", hatte sie dann geseufzt. Nancy hatte ihr dann erklärt, dass sie eigentlich dafür gesorgt hatte, keine Kinder zu bekommen. Als Eileithyia sie gefragt hatte, ob sie das mit magischen Mitteln oder der einfachen Körperschnippelei der Muggelchirurgen hatte hinbekommen lassen hatte Nancy erwähnt, von einem nichtmagischen Arzt operiert worden zu sein. "Tja, dann möchte ich Ihnen als Betroffene gerne verraten, was wir Heilerinnen seit den letzten zertifizierten Fällen unfreiwilliger Kindszeugungen erfahren haben. In den Tränken, die Hexen und Zauberer aufeinander einstimmen sind auch Komponenten, die von hochregenerativen Tieren wie Phönixen und Hydren stammen. Versuche mit diesen Komponenten haben gezeigt, dass alle nicht durch Flüche oder magische Giftstoffe geschädigte oder abgetrennte Organe innerhalb von zwei Stunden wieder gesundeten oder neu wuchsen. Sie sind nämlich nicht die erste Hexe, die meinte, eine Gebärmutterentfernung sei eine Garantie für ein kinderloses Leben. Außerdem sind ja durch VM nicht wenige ältere Hexen schwanger geworden und haben ohne unterstützenden Fortuna-Matris-Trank Mehrlingsgeburten überstanden, was nur bei vollständig intakten und optimal gesunden Geschlechtsorganen möglich ist. Dass Ihnen während der Abstimmungsphase, wo der Trank in ihrem Körper seine volle Wirkung entfaltete, intakte Geschlechtsorgane wuchsen und diese sofort in Empfängnisbereitschaft versetzt wurden ist also nichts wirklich neues mehr für uns. Sie dürfen sogar damit rechnen, dass sich Ihr Brustumfang während der nun wohl doch auszutragenden Schwangerschaft vergrößert, um dem Kind oder den Kindern auch wirklich genug Milch bereitstellen zu können. Eine meiner Patientinnen, die doppelt so alt wie Sie ist, verhalf dieser Nebeneffekt zur Steigerung ihrer körperlichen Anziehungskraft auch weit nach der Entwöhnung ihrer zwei späten Kinder."

Nancy griff sich bei dieser Erwähnung unwillkürlich an die linke Brust. Sie hatte sich früher nie viel auf ihre Oberweite eingebildet und damit wunderbar gelebt, nicht sonderlich üppig ausgestattet gewesen zu sein. Doch die Bemerkung, dass sie in der Hinsicht zulegen würde beruhigte sie auch irgendwie. Natürlich, weil sie ja darauf geprägt war, dieses neue Leben mehr als ausreichend zu ernähren. Als sie die Neuigkeit verdaut hatte, dass sie durch das Gebräu von VM körperlich problemlos ein Kind oder mehrere bekommen konnte erzählte sie Eileithyia, was sie bei der Party mitbekommen hatte und dass sie, wo sie im Rausch der Fruchtbarkeitsdroge mit dem Enkel von Maya Unittamo zu Gange gewesen war, mitbekommen hatte, wie Eileithyias Enkelsohn mit seiner wohl auch auf ihn abgestimmten Partnerin den Festraum verlassen hatte. "Das passt, die ist auch nicht wieder aufgetaucht. Sie hat ihn sicher in das Hauptquartier dieser obskuren Gruppierung gebracht, damit er dort als fügsamer Zuchthengst weitermachen soll", hatte Eileithyia leise geraunt. Dann sagte sie: "So, und wie ich Ihnen bei unserem letzten, unangenehmen Gespräch mitgeteilt habe sollten Sie sich nun einer residenten Heilerin in der Nähe ihres Wohnsitzes anvertrauen. Für die Entbindung können Sie dann gerne einen Platz bei uns im Honestus-Powell-Krankenhaus beantragen. Ich weiß, dass gerade viele muggelstämmige Hexen an einem für heilmagische Behandlungen ausgewiesenen Ort niederkommen möchten."

"Was soll ich wegen des Kindsvaters unternehmen?" fragte Nancy sichtlich kleinlauter als bei der erwähnten letzten Unterredung.

"Sie können ihm die frohe Botschaft verkünden, dass er erfolgreich mit Ihnen mindestens ein Kind gezeugt hat, es aber auch als von ihm und Ihnen absolut ungewolltes Zusammentreffen werten und ihn nicht darüber informieren, den betreffenden Zauberer fragen, ob er Sie heiratet, damit Ihr gemeinsamer Nachwuchs in einer ehelichen Eltern-Kind-Beziehung aufwachsen kann oder ihren Standort wechseln, um weit ab von Ihrem früheren Betätigungsfeld und Kollegenkreis heimlich die Mutterschaft antreten. Rein rechtlich hat jedes Kind Informationsrecht, was seine leiblichen Eltern angeht. Dies nur als Ihnen zur Verfügung stehende Auswahlmöglichkeiten, Ms. Gordon."

"Das wird Maya Unittamo sicher nicht gerade begeistern, eine Schwiegerenkeltochter zu kriegen, die erst schwanger wurde und womöglich nicht gerade die Traumhexe ihres Enkels ist", grummelte Nancy.

"Das müssen Sie für sich selbst klären oder mit Ihrer Vertrauensheilerin besprechen. In Ihrer Umgebung arbeiten fünf Stück. Was Mutterschaftsbetreuungen von muggelstämmigen Hexen angeht hat Eulalia Goldfield die besten Referenzen. Was bereits vollzogene Geburten auf Grund von Vita Magica angeht ist Heilerin Deborah Sweetwater erfahren. Gut, wenn sie unabhängig von Wohnortsnähe eine Heilerin suchen steht natürlich auch Chloe Palmer in Viento del Sol als unfreiwillige Expertin für VM-betroffene zur Auswahl. Aber ich habe immer die Erfahrung gemacht, dass kurze Wege und schnelle Verfügbarkeit von Heilerinnen sehr wichtig sein können, besonders dann, wenn Sie ab dem dritten oder fünften Monat nicht mehr apparieren dürfen, Ms. Gordon."

"Gut, dann werde ich wohl zu Heilerin Goldfield gehen. Öhm, ist das nicht eine von den beiden Goldfieldschwestern, die selber eine von nichtmagischen Eltern stammende Mutter haben?"

"Ja, eben diese. Kennen Sie die etwa schon?"

"Deren Mutter Doris kenne ich, weil ich für sie schon einmal tätig werden durfte. Wenn deren Tochter ähnlich groß ist wie sie wird das aber interessant bei Untersuchungen."

"Eulalia und ihre Schwester Pia messen stolze zwei Meter und zwei Zentimeter. Das tut ihren Fähigkeiten aber keinen Abbruch. Dann gebe ich Ihnen am besten schon eine Kurzzusammenfassung unseres ersten Erkundungsgespräches mit", sagte Eileithyia und händigte Nancy eine Kopie der mit einer flotte-Schreibe-Feder notierten Zusammenfassung ihres gerade geführten Gespräches aus. Nancy verzog zwar erst das Gesicht, weil die Heilerin mal eben mitgeschrieben hatte, was sie ihr berichtet hatte. Doch dann erkannte sie, dass das gar nicht so schlimm war.

Wenige Minuten später saß sie bereits in einem Warteraum der Heilerin Eulalia Goldfield, in dem um diese doch noch frühe Uhrzeit keine andere Patientin saß. Nancy musste sich erst daran gewöhnen, die fast zwei köpfe größere Hexe unbeklommen anzusehen. Doch die warmherzige Ausstrahlung der schwarzhaarigen zwei-Meter-Hexe vertrieb diese anfängliche Beklemmung. Auch die Untersuchung verlief nicht so unangenehm, wie Nancy befürchtet hatte. "Normalerweise gratuliere ich einer Mutter werdenden Hexe. Aber ich weiß nicht, ob Sie das nicht als pure Gemeinheit auffassen, Ms. Gordon. Aber nachdem, was Sie mir geschildert haben und was Sie meiner ehrwürdigen Kollegin schon erzählt haben kann ich Ihnen verbindlich versichern, dass Sie noch einmal von Glück reden dürfen, dass sich Ihr körper allein durch den Trank zu einer Schwangerschaft fähig erholt hat. In den letzten Wochen sind Zauberer und Hexen verschwunden, die wegen der von VM ausgelösten Babyflut beschlossen hatten, sich unfruchtbar zu zaubern beziehungsweise mit Hilfe obskurer Zeitgenossen oder Gebräue ihre natürliche Zeugungs- und Empfängnisfähigkeit nehmen zu lassen. Dann gerieten die wohl in ähnliche Situationen wie Sie und die anderen Hexen und Zauberer in Miami und verschwanden. Für diese Leute von Vita Magica ist jeder Eingriff, der die eigene Fruchtbarkeit beendet ein Verbrechen an der eigenen Natur. Womöglich wurden die Betroffenen, nachdem ihre Zeugungsverweigerung aufgeflogen ist durch die beiden einzigen Zauber "behandelt", die solche mit Magie ausgeführten Eingriffe rückgängig machen: magische Geschlechtsumwandlung oder Vollständige Rückverjüngung mittels Infanticorpore-Fluch, also das, was Ihrem früheren Vorgesetzten Cartridge passiert ist."

"Will sagen, ich bin für diese Leute von VM auf Bewährung?" fragte Nancy, während sie den körperwarmen Einblickspiegel auf ihrem Unterbauch fühlte.

"Ja, wenn die wussten, dass Sie beschlossen haben, kinderlos alt zu werden", erwiderte Eulalia Goldfield gelassen. Dann sagte sie: "Im Moment kann ich zwei getrennt wachsende Embryonen unterscheiden. Falls da noch ein dritter wächst kann ich das erst einige Wochen später erkennen."

"Na wunderbar, gleich zwei auf einmal", knurrte Nancy.

"Eine Thorntails-UTZ-Schülerin, die gegen jeden Ratschlag auf einer wilden Party war darf im Mai fünf neue Erdenbürger ans Licht der Welt bringen. Die hat es offenbar ganz darauf angelegt, möglichst noch vor der Abschlussprüfung eine Großfamilie zu gründen", sagte Eulalia Goldfield. Nancy erkannte, dass schlimmer eben immer ging. Dann bedankte sie sich für die Untersuchung und bekam noch Broschüren über die ersten zu beachtenden Sachen für werdende Mütter und Adressen für Säuglingspflegekurse und preiswerte Babybekleidungsgeschäfte mit. Was die körperliche Vorbereitung auf die Geburt anging machten sie Termine aus, die größtenteils am Freitagnachmittag lagen. Nancy würde zwar nicht darum herumkommen, sich als weiteres Mitglied im Club der Miami-Halloween-Hexenmütter zu offenbaren, wollte aber dieser ungewollten Änderung ihres Lebens nicht ihre sonstige Arbeitskraft opfern. "Und was den Vater angeht sollten sie mit diesem unbedingt sprechen. Am Ende wartet er schon bange darauf, ob die ungewollte Zusammenführung mit Ihnen Folgen hatte oder nicht. Außerdem sollten Sie sich geehrt fühlen, Nachfahren von Madam Unittamo unter dem Herzen zu tragen."

"Ob die werte Madam Unittamo das auch so sieht?" fragte Nancy.

"Dann hätte sie wohl nicht so viele eigene Kinder, Enkel und Urenkel um sich herum", erwiderte Eulalia Goldfield. Das musste Nancy einsehen.

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"Heute lassen wir die Aufblasnummer weg, Benny. Wir haben drei Ministeriumszauberer und eine Hexe im Publikum."

"Stimmt, dann sollten wir das lassen. Aber die üblichen Zauber können wir bringen. Der immaterielle Kraftkerker fängt jede nach außen dringende Magiestreuung ab", sagte Eartha Dime, die mit den halbitalienischen Zwillingsschwestern Beata und Benedetta Clarimonti eine Drei-Frauen-Zauberschau auf die Bühne des Kaisergoldhotels brachte. In jedem der Stühle war eine Grundkraftaufspürvorrichtung versteckt, die magisch begabte Menschen orten konnte. War kein solcher Mensch im Publikum, konnten die drei sogar mit noch spektakuläreren Zaubern wie einer zeitweiligen Vergrößerung von Eartha unter überdehnung der Kleidung bis zum für voyeuristisch veranlagte Zuschauer grandiosem Zerreißen vollführen. Dass verdankten sie einer Erfindung der beiden Zauberkunstexpertinnen und heimlich zu vollwertigen, aber nicht offiziell aprobierten Heilerinnen ausgebildeten Hexen, aus abgestorbenen Hautzellen im Umkreis von hundert Schritten benötigte Körpersubstanz für eine Vergrößerung auf sechs Meter zu machen. Eartha dachte dabei nicht ohne gewisse Freude an die vorletzte Vorstellung, wo sie einen sehr vorwitzigen Burschen von gerade siebzehn Jahren auf der Bühne hatten, der ihre Echtheit geprüft hatte, indem er ganz frech in eine ihrer Brüste gekniffen hatte und sich nach der Vergrößerung Earthas hatte gefallen lassen, dass sie ihn wie ein Neugeborenes Kind in die Arme geschlossen und ihrem Herzschlag hatte lauschen lassen. Da sie jedoch jede Schau anders aufführten konnte jeder Zuschauer anschließend andere haarsträubende Sachen erzählen.

Diesmal brachten sie Verschwinde-, Verwandlungs- und Ortsversetzungskunststücke, die sowohl mit echter Magie als auch rein artistischen und mechanischen Illusionen ausgeführt wurden. Anschließend bekamen sie Besuch von einer gewissen Nancy Gordon, die so tat, als sei sie eine Reporterin der Zeitschrift "Welt des Varietés". Sie fragte Eartha nach ihrer Arbeit als Assistentin, wobei Eartha Dime natürlich klarstellte, dass sie keine Auskünfte über die ausgeführten Zaubertricks geben dürfe und es einfach nur faszinierend fand, wie sehr die zwei Magierinnen doch den Glauben an wirkliche Zauberei verstärken konnten.

"Hat die dich oder uns überprüfen wollen, Eartha?" fragte Benedetta Clarimonti ihre Mitarbeiterin.

"Die hat sicher einen dieser neuen Grundpotentialaura-Aufspürringe am Finger gehabt", sagte Eartha. "Da ich ja ganz offiziell für das Ministerium auskundschaften soll, ob ihr nur trickst oder doch richtig hext konnte die bei mir wohl die nötige Grundkraft anmessen."

"Ja, dieser Florymont Dusoleil hatte schon eine gute Idee mit seinen Antisonden. Allerdings konnte er nur einen Schnellschuss anbringen, um diese Fluchthilfebewegung abzusichern. Dass wir jetzt auf unsere eigenen Grundkraftauren abgestimmte Kleider tragen, die jede Ausstrahlung dämpfen und trotzdem noch freies Zaubern zulassen weiß noch keiner", sagte Beata, die gemäß der Schwarz-weiß-Aufmachung der beiden als goldblonde Frau im weißen Satinkleid mit goldenen Verzierungen auftrat, während ihre Zwillingsschwester ihre natürliche schwarze Haarfarbe beibehalten hatte und noch ihr schwarzes Samtkleid mit silbernen Verzierungen trug. Eartha hatte an diesem Abend wegen der im Programmheft verheißenen erotischen Elemente einen goldfarbenen Badeanzug an, der bei der Bühnenschau einmal unsichtbar geworden war und dann als gerade noch sichtbarer Rest der ganz unsichtbar gewordenen Eartha über die Bühne geschwebt war.

"Und, was sagt dein Steinchen, Benedetta?" fragte Beata ihre Schwester. Sie konnten gerade frei sprechen, weil ihre Garderobe zu einem provisorischen Klangkerker bezaubert war.

"Nancy Gordon strahlt vier Lebensauren aus, wobei die drei schwächeren sich in ihrem Unterleib konzentrieren. Die hat es also auch erwischt." Die drei Hexen lachten schadenfroh. Doch dann wandte sich Beata an Eartha Dime. "Du bist jetzt mehr als drei Jahre bei uns, Eartha. Hast du für die letzte Initiationsstufe wen gefunden?"

"Ich habe mir die Jahrgangsfotos der letzten zehn Jahre angesehen und die verglichen, die in der Zeit nicht geheiratet haben. Da habe ich drei Kandidaten in Aussicht. Aber die können wir nicht so einfach in unsere Obhut nehmen, und das was unsere andere Mitstreiterin gemacht hat will ich auch nicht machen, weil ich meine Kinder unabhängig vom körperlichen Wohlbefinden ihres Vaters kriegen will, so mächtig dieser Zauber auch ist."

"Hol sie dir alle drei und lass sie dich richtig durchwalken. Von einem von denen wirst du dann rund oder von allen dreien", feixte Benedetta.

"Hör nicht auf meine Schwester, die ärgert sich nur, dass ihr Auserwählter kurz vor dem großen Ereignis unbedingt nach Argentinien verreisen musste und da geheiratet hat. Gemäß dem Gesetz, einem Ehepaar mindestens zehn Jahre Zeit zu lassen ist der erst mal vom Markt", erwiderte Beata darauf.

"Daran haben sich die Kameraden auf Martinique nicht gehalten, als sie die Quidditchweltmeisterschaft gefeiert haben", warf Eartha ein.

"Was ja dann vom hohen Rat sehr wild diskutiert wurde, bis Mater Vicesima klargestellt hat, dass außer den Dumas' kein verheiratetes Paar dabei war und es so dem Zufall überlassen werden konnte, ob die beiden zusammenfanden oder jeder wen anderen. Deshalb habt ihr doch in Viento del Sol dieses Ehepaargemisch ausgeteilt, wenngleich diese idealistische Göre Brittany Brocklehurst ja nichts alkoholisches trinken wollte."

"Ja, und ich sehr stark aufpassen musste, dass mich keiner verdächtigen konnte, den Wirkstoff verteilt zu haben."

"Wofür wir dir ja dann doch sehr dankbar sind, Eartha", wandte Benedetta Clarimonti ein.

Um keinen weiteren Anlass für Argwohn zu bieten lösten sie dann den Klangkerker auf und unterhielten sich über die Zuschauer und kicherten wie Fünfzehnjährige über Kleidung und Verhalten der Leute. Eartha wurde scherzhaft gefragt, ob sie nach dem Ende des laufenden Vertrages nicht ganz ins Erotiktanzgewerbe überwechseln würde. Darauf meinte Eartha ebenso scherzhaft:

"Wenn die 'ne Frau mit dickem Umstandsbauch nehmen wäre das mal was. Denn ich werde sicher nicht nach dem vierzigsten Geburtstag erst mit dem Kinderkriegen loslegen, Schwestern."

"Hauptsache, du kriegst dein erstes Baby nicht genau während der Schau", sagte Beata. Eartha bekräftigte, dass sie nicht darauf ausginge. Dann verließen die drei den Garderobentrakt des Kaisergoldhotels. Benedetta juckte es in den Fingern, noch einmal ins Kasino zu gehen und dort noch ein paar Getons beim Roulette zu setzen. Doch Benedetta riet ihr wieder davon ab. "Du wwillst doch nicht unser mühsam verdientes Geld irgendwelchen Spielbankbetreibern in den Hals werfen, Schwester." Das sah Benedetta ein.

In ihrer Unterkunft fand Eartha einen Brief, der mit einem Körperspeichersiegel versehen war. Sie berührte das Siegel und öffnete den Brief. Es war eine Nachricht von Mater Duodecima Oxidentalis, die für die amerikanische Westküste zuständige Hexe aus dem hohen Rat des Lebens.

Liebe Mitstreiterin,

ich bin hoch erfreut, erfahren zu haben, dass deine letzten Unternehmungen alle zum Erfolg geführt haben. Ich erfuhr von unserer sehr begüterten Unterstützerin und nun auch Bundesgenossin, dass sie den Zaubereiminister für sich und auch für unsere Anliegen gefügig machen konnte. Bereite dich bitte darauf vor, eine mögliche Auswanderung deiner Mutter mitzuerleben oder darauf hinzuwirken, dass sie ohne Gewaltanwendung den Platz an Minister Dimes Seite freimacht. Denn du wirst sicher einsehen, dass nach allen Vorhaben der letzten Jahre ein unseren Bemühungen gewogener Zaubereiminister in der Nähe einer unserer erwiesenen Mitstreiterinnen verweilen sollte. Ich weiß, dass wir vom hohen Rat des Lebens dich in einen unangenehmen Gewissenskonflikt hineintreiben, da wir natürlich auch anerkennen müssen, das du deiner Mutter gegenüber eine unverbrüchliche Dankbarkeit und Loyalität erweisen möchtest. Deshalb kommt dir unsere Anregung sicher gelegen, mitzuhelfen, dass Minister Dime ohne körperliche oder magische Gewalteinwirkung von ihr freigegeben wird. Zudem besteht die nun große Wahrscheinlichkeit, dass Minister Dime bald mit Delegierten von uns zusammentreffen möchte, um ein Stillhalteabkommen auszuhandeln, dass alle gegen unsere Organisation gerichtete Handlungen aufgegeben werden und wir im Gegenzug unsere Unternehmungen zur Mehrung magischen Blutes mehr außerhalb der USA verlagern. Womöglich ist sogar ein geheimer Pakt zur Ausrottung der Werwütigen möglich. Denn wir verzeichnen wieder erste Aktivitäten der sogenannten Mondbruderschaft. Offenbar wähnen sie sich wieder sicher genug, ihren verfluchten Keim an unbelastete Leute weiterzugeben. In diesem Zusammenhang merke dir bitte den Namen Maria Valdez gut! Es handelt sich um eine Muggelfrau, die jedoch zu den Nachfahren dieser legendären Erzmagierin Ashtaria gehört und ein von ihr einsetzbares Schutzartefakt dieser Blutlinie besitzt. Wir wissen noch nicht genug über die in diesem Artefakt gebündelten Zauber und wie sie angebliche von echten Feinden unterscheiden können und ob wir davon als echte Feinde angezeigt werden. Solltest du also in ihre Nähe geraten zeige bitte keinerlei Reaktion auf dich überkommende Empfindungen, welcher Art auch immer diese sind!

Unsere europäischen Mitstreiter forschen noch nach, um wen es sich bei dem zweiten Ashtaria-Erben handelt, mit dessen Hilfe der Ruster-Simonowsky-Zauberer Julius Latierre geb. Andrews diese Unperson Ilithula und deren in ihrem Leib eingesperrte Schwester Hallitti gebannt hat. Zumindest steht fest, dass eine der beiden eindeutig die Tochter von Aurélie Odin, Camille Dusoleil, ist. Sie hat also den für sie bestimmten Talisman erhalten. Wie und von wem genau muss auch noch verifiziert werden. Eine Spekulation von unserer ehrwürdigen Ratskollegin Mater Vicesima deutet an, dass auch hier der junge Zauberer Julius Latierre geb. Andrews einbezogen war. Da wir diesen jungen Zauberer nicht direkt ansprechen und ausforschen dürfen müssen unsere Kollegen in Europa eben mühsam nachforschen.

Wo wir schon über diesen sehr viel versprechenden Jungzauberer reden darf ich dir mit Genehmigung des Rates mitteilen, dass seine Frau und er im Juli nächsten Jahres das dritte Kind erwarten. Insofern hat sich die Entscheidung, ihn als unantastbar zu bestimmen als richtig erwiesen, zumal er gewollt oder ungewollt weiterhin mithelfen wird, die magischen Übel unserer Zeit zu bekämpfen.

Ich wünsche dir und deinen beiden kreativen Bühnenkameradinnen noch eine erfolgreiche Gastspielzeit in der sündigen Stadt und hoffe bald von dir zu lesen, ob und mit wem du den letzten Initiationsschritt vollzogen haben wirst. Hierfür musst du dich nicht abhetzen. Mylène Lerouge hat sich mehr als zwanzig Jahre Zeit dafür gelassen und hat bestätigt, dass sie gerade erst wieder in freudiger Erwartung ist und zwar mit drei Kindern. Es ist also nicht wichtig, wie früh du deinen Körper seine Bestimmung zuführst, sondern mit wem und wie ergiebig. Das sagt auch Mater Vicesima, von der ich dich bei der Gelegenheit recht herzlich grüßen darf.

In der Hoffnung, dass du weiterhin erfolgreich und mit Freude und Überzeugung an unserer Sache weiterarbeitest verbleibe ich

mit freundlichen Grüßen
M. 12 Ox.

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"Ich kann mir nicht helfen, aber irgendwie kommen mir die zwei Schwestern nicht so unschuldig vor wie die junge Kollegin sie darstellt", grummelte Nancy Gordon, als sie sich mit Mitarbeitern aus ihrer Abteilung und dem Minister persönlich traf. Nachdem sie verkündet hatte, auch zu den Miami-Halloween-Müttern zu gehören war ihr natürlich erst mal Spott und viel Mitleid entgegengeschwappt. Doch nun war der Alltag wieder am Zug. Heilerin Goldfield hatte ihr bestätigt, dass sie körperlich bis in den achten Monat hinein alle anstehenden Arbeiten ausführen konnte und mit der für berufstätige Hexen entwickelten Innertralisatus-Unterkleidung auch wilde Bewegungen ausführen konnte, wenn es sein musste. Nur Apparieren und Portschlüsselreisen würden ihr wohl im vierten Monat verboten.

"Sie haben den neuen Grundkraft-Aufspürring getragen, Nancy. Hat der außer bei Eartha was angezeigt?" wollte Minister Dime wissen.

"Nein, hat er nicht. Aber ich werde den Verdacht nicht los, dass die beiden dennoch Hexen sind. Einige der vorgeführten Phänomene deuten auf echte Magie hin. Doch der mitgeführte Spürstein hat auch keine Kraftstreuung vermeldet. Ich erwarte Eartha Dimes Bericht in fünf Tagen. Dann kann ich immer noch entscheiden, ob wir es hier mit den üblichen Taschenspielern und Spiegelfechtern aus der Muggelwelt zu tun haben oder mit unter welchem Vorwandt auch immer vor Muggeln posierenden Hexen. Womöglich habe ich auch vor Ms. Dimes Bericht Klarheit über die beiden Damen."

"Ms. Gordon, ich kann verstehen, dass Sie nach der Ihnen zugegangenen Mitteilung, dass Sie Ihr Leben neu ausrichten müssen, sehr argwöhnisch sind", setzte Randolph Cunningham an, der sich auf Film- und Theatertricks spezialisiert hatte, um echte von vorgetäuschter Zauberei unterscheiden zu können. "Auch nach unserem Wissensstand ist es nicht möglich, einen mobilen Spürstein zu täuschen. Außerdem steht fest, dass die von Florymont Dusoleil anlässlich der Muggelstämmigen-Fluchthilfe entwickelten Antigrundkraftsonden-Bekleidung jede aktive Magieentfaltung unterdrückt. Wenn Sie also meinen, die beiden hätten sich derlei Hilfsmittel verschafft - wobei dann das von wem und wie sehr interessant wäre -, dann hätten sie keinen Funken nach außen wirksamer Magie freisetzen können, schon gar nicht bei diesen vorgeführten Platztauschaktionen, wo die im weißen Kleid auf einmal rechts stand und die im schwarzen Kleid links oder die teilweise Unsichtbarkeit von Ms. Dime."

"Ich habe da meine Bedenken und kann sie im Moment weder begründen noch als unhaltbar abtun", sagte Nancy.

"Bauchgefühl, Nancy?" fragte Wayne Rutherford, der sich mit Verkehrsmitteln der Muggelwelt auskannte und ein offizielles Verkehrsflugzeugkapitänspatent erworben hatte.

"Immerhin besteht bei mir jetzt die Möglichkeit, dass in meinem Bauch mehr Gehirnmasse vorrätig sein wird als in Ihrem Kopf jemals vorrätig war", knurrte Nancy Gordon. Minister Dime räusperte sich tadelnd. dann sagte er:

"Auch wenn der Albdruck dieses selbsternannten Erben des Unnennbaren von uns genommen ist bleiben immer noch die anderen Unruhe- und Gefahrenherde: Die Werwölfe, die Vampire der schlafenden Göttin sowie die Spinnenschwestern. Über Vita Magica muss ich ja nichts mehr erzählen, zumal ja gerade wieder eine davon betroffene bei uns ist. Also, die Damen und Herren, lassen Sie uns endlich etwas auf die Beine stellen, das in uns gesetzte Vertrauen und die uns auferlegte Verantwortung zu rechtfertigen!"

Nach der Konferenz blieb der amtierende Zaubereiminister mit seinen Sorgen und Gedanken allein in seinem Büro zurück. Die Besprechung hatte ihm verdeutlicht, dass er nicht mal eben ein Friedensangebot an Vita Magica richten konnte, um eine der ihm auferlegten Bedingungen Phoebe Gildforks zu erfüllen. Jetzt, wo Pickman und Vengor gleichermaßen erledigt waren bestand weder die Notwendigkeit, einen Burgfrieden zu verhandeln, noch eine Art Zweckbündnis zu vereinbaren. Die Abneigung gegen diese ... diese ... - er schaffte es nicht mal, böse von diesen Leuten zu denken, die bedenken- und rücksichtslos magisch begabte Menschen in ihrem Sinne manipulierten, um dem Überhang magieloser Menschen entgegenzuwirken. Diese f..., viel zu d... -sehr große Besenfabrikantin hatte es ihm doch wieder vorgeführt, wie skrupellos diese Leute waren. Ja, für ihn stand fest, dass Phoebe Gildfork auch zu denen von Vita Magica gehörte. Aber wie sollte er das jetzt anstellen, dass das Zaubereiministerium mit dieser Gruppierung Frieden machte? Im Land und auch vom Ausland her würde ihm eine Woge von Wut und Ablehnung bishin zum Hass entgegenbranden, wenn er sowas im Alleingang machte. Andererseits wollte er auch nicht tot umfallen, weil er es nicht geschafft hatte. Denn ob er noch lange Zaubereiminister bleiben würde wusste er nicht. Hatte er vor dem Treffen mit Phoebe Gildfork noch darauf spekuliert, bald wieder in die Handelsabteilung zurückzukehren, so fürchtete er jetzt jeden Grund, der ihn zum vorzeitigen Rücktritt oder gar zu seiner fristlosen Entlassung führen mochte. Denn das wusste er: Nur als Zaubereiminister konnte er das ihm aufgezwungene Stillhalteabkommen mit Vita Magica herbeiführen.

Ihn bekümmerte auch, dass er niemanden ins Vertrauen ziehen konnte, was ihm widerfahren war oder besser von Tag zu Tag immer mehr belastete. Ebenso graute ihm vor der Tatsache, dass er seine geliebte Frau verstoßen oder gar töten musste, um nicht selbst zu sterben. Denn aus irgendeinem ihm nicht bewussten Grund empfand er eine unerträgliche Schuld, wenn er nur einen Moment an einen selbstbestimmten Tod dachte, um dem Albtraum ein schnelles Ende zu bereiten. Dann kam ihm ein merkwürdiger Gedanke: Vielleicht war sein Los eine von irgendeiner höheren Macht beschlossene Prüfung seines Charakters. Jahrelang hatte er nur mit Galleonenbeträgen jongliert, mit Goldmengen, die er noch nicht mal in eigenen Händen gehalten hatte, dieses oder jenes ermöglicht. War diese Zusammenführung zwischen ihm und Phoebe Gildfork die Antwort auf all die Schicksale, die er durch sein Ja oder Nein zu kostspieligen Vorhaben bestimmt hatte? Er hatte nie an diesen Christengott geglaubt, der in diesen Tagen mal wieder mit dem neuen Götzen des Massenkonsums zusammen gehuldigt wurde. Aber irgendwie sah er die Welt und was darauf lebte auch nicht als eine rein zufällige Sache an. Was also wollte jene irgendwie wirksame Macht von ihm? War es seine Bestimmung, den nun seit längerer Zeit bestehenden Konflikt zwischen den Interessengruppen in der Zaubererwelt beizulegen? Doch da war eben die Frage, wie genau, ohne sich mit dem ganzen großen Rest der magisch begabten Mitbürger zu verfeinden.

Dime ertappte sich dabei, zu bedauern, dass Pickmans Mörderbilder und der Alleingang Wallenkrons alias Vengors gestoppt waren. Es brauchte im Grunde einen neuen Anlass, um die Vereinigung der Interessengruppen zu beschwören und herbeizuführen, so wie Cartridge damals wegen Nocturnia den Burgfrieden mit den Spinnenhexen gesucht hatte. Nocturnia! - Das Erbe dieses Vampirreiches auf Erden wirkte doch immer noch, ja schien sogar stärker zu sein als vorher. Dann waren da ja noch die kriminellen Werwölfe von dieser obskuren Mondbruderschaft, die mit asiatischen Wertigern gemeinsame Sache gemacht hatten. Zwar hatte er auch in seinem Rang als Leiter der Handelsabteilung die französische Zaubereiverwaltung auf Schadensersatz verklagt, weil die sich von Vita Magica die ausgehändigten Lykanthroskope hatten rauben lassen. Aber da konnte er womöglich sogar mit den Räubern eine gemeinsame, aber bloß sehr gut geheimzuhaltende Abstimmung finden. Denn die verbrecherischen Wolfsmenschen waren aller Menschen Feinde, auch der Gruppe Vita Magica. So ging es vielleicht.

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6. Dezember 2002

Laurentine Hellersdorf hörte die kleine Claudine von unten juchzen. Die hatte also den vor die Tür gestellten Stiefel und die darin versteckten Fruchtschaumschnecken, Lakritzzauberstäbe und mehrere Haselnüsse gefunden. Catherine hatte zwar gemeint, dass Claudine wegen ihres Vaters noch nicht ganz in Vorweihnachtstimmung war. Aber Laurentine hatte gesagt, dass sie es mal ausprobieren wollte. Sicher war die Tradition, am Nikolaustag kleine Geschenke zu bekommen für französische Kinder nicht so geläufig wie für deutsche Kinder. Aber sie hatte das immer ganz gerne gehabt, wenn sie am fünften Dezember einen von ihr selbst blitzblank geputzten Winterstiefel vor die Tür gestellt hatte und am nächsten Morgen was süßes oder eine Kleinigkeit dringesteckt hatte. Auch hatte sie wieder einen eigenen Adventskalender gebaut, den Claudine jeden Tag um ein kleines Säckchen erleichtern durfte.

Seitdem Joe Brickston wegen einer Überdosis der Durchhaltedroge Ultradrenalon vor seinem Rechner zusammengeklappt war und Laurentine da ein Gutteil zur Aufklärung dieser Angelegenheit geleistet hatte, fühlte sie sich merkwürdigerweise der Familie Brickston noch mehr verbunden, als es das reine Vermieter-Mieter-Verhältnis betraf. So war es für sie auch selbstverständlich geworden, mit der großen und der kleinen Brickston-Hexe zu frühstücken. Wenn sie aber dran dachte, dass sie bloß nicht vor Claudines aufmerksamen Ohren darüber reden durfte, dass Catherine ein Geschwisterchen für sie trug und dass Joe das womöglich auch nicht sonderlich begeistern mochte, wann immer er endlich von den Nachwirkungen dieses Teufelszeugs geheilt war ...

Claudine erzählte ihr, dass der Nikolaus ihr einen Brief geschrieben hatte, dass sie sehr tapfer war und er hoffte, dass sie ihren Papa bald wieder in die Arme nehmen könnte. Da meinte Laurentine: "Ich hoffe das auch, dass du mit deinem Papa zusammen Weihnachten feiern kannst, Claudine."

"Babette ist ja voll sauer, weil der ihr gesagt hat, keine krank machenden Sachen zu essen und das dann doch selbst gemacht hat", erwiderte Claudine darauf. Laurentine musste nicken und antwortete: "Ich kapiere, warum Babette sich deshalb ärgert. Ich habe das mit meinem Papa auch erlebt, dass der mir immer einen erzählt hat, was ich alles müsste und dass ich mit den Sachen, die sind, klarzukommen habe, dass ich ein Mädchen bin und nicht wie Jungs spielen kann oder dass ich ein Kind bin, dass noch nicht alles darf, was die Großen dürfen. Ja, und der hat sich dann immer darüber geärgert, dass ich eine Hexe bin und Maman und er das nicht können. Hat lange gedauert und vielen Leuten Ärger gemacht, auch mir, bis ich das endlich kapiert habe, dass ich nicht alles nachmachen kann, was der für richtig hält."

"Aber du feierst doch ganz bestimmt mit deinem Papa Weihnachten, oder?" fragte Claudine. Laurentine musste den ersten Impuls, loszulachen, mit fest zusammengepressten Lippen abschütteln. Dann sagte sie: "Ich kann da zwar in nur drei Minuten hin, wo der ist. Aber meine Eltern sind über Weihnachten auf einem großen Schiff unterwegs in der Karibik, also dem Meer mit den vielen Inseln im Osten von Mittelamerika. Da kann und darf ich nicht mal eben mit einem Besen hinfliegen oder hinapparieren." Das machte Claudine zwar traurig. Aber dann sagte sie, dass sie ja aber mit ihrer Maman, Babette und mit ihrem Papa feiern könnte.

"Wenn dein Papa das möchte, dass ich mitfeiern darf, Claudine."

"Also, Babette hat geschrieben, dass wir natürlich zusammen feiern, egal was ihr Papa erzählt, ich möchte das auch und Claudine sowieso", sagte Catherine.

Nach dem Frühstück durfte Claudine einen der kleinen Säcke, den mit der Sechs drauf, von Laurentines Adventskalender pflücken. Der sah jetzt aus wie ein großer, fliegender Schlitten mit vier Rentieren davor, von denen eines eine rot leuchtende Nase hatte. In dem Säckchen war ein kleiner Schokoladenweihnachtsmann.

"Und, was erzählst du den Kindern heute noch?" fragte Catherine Laurentine, bevor sie nach Millemerveilles aufbrach.

"Mit der Klasse, die im nächsten Sommer nach Beaux geht mache ich schon einfache Zauberstabübungen. Die Klasse drunter kriegt von mir den Unterschied zwischen der einfachen Bruchrechnung und der Dezimalrechnung und warum das Dezimalsystem beim Vermessen oder Geldzusammenrechnen für viele Leute so wichtig ist. Ob die damit später mal was anfangen können weiß ich nicht. Aber zumindest sind die dann nicht unvorbereitet, wenn sie mit Leuten wie mir zu tun kriegen, die vor Beaux nicht gewusst haben, dass es die Zaubererwelt gibt", erwiderte Laurentine. Da läutete das Telefon in der Wohnung der Brickstons. "Maman, Telefon!" rief Claudine. Denn sie selbst durfte nicht an den Apparat gehen. Catherine beeilte sich nach unten zurückzugehen. Laurentine packte noch einmal ihre Unterlagen zusammen, zu denen auch ein Maßband und zwei Messbecher gehörten, sowie mehrere Geldstücke aus der sogenannten Muggelwelt. Bevor die Eingangsklässler nach Beauxbatons gingen wollte sie denen noch Grundlagen der magielosen Naturkunde und die Prozentrechnung weit genug beigebracht haben.

Sie war gerade dabei, Flohpulver für die Abreise nach Millemerveilles abzumessen, als Catherines Gedankenstimme in ihrem Kopf erklang: "Laurentine, gib bitte noch an Julius weiter, er möchte das Internet nach einer Verfolgungsjagd mit anschließender Explosion auf einem Fabrikgelände bei Bayonne prüfen. Angeblich ist Joe dabei umgekommen."

"Häh?!" schickte Laurentine zurück. Seitdem sie in der Wohnung über den Brickstons wohnte hatte sie mit Catherine die Kunst des Mentiloquierens einstudiert und ausgefeilt. War auf eine gewisse Entfernung schon ganz praktisch, das zu können.

"Ich habe hier gerade einen angeblichen Anruf von der Sûrté, dass die wegen irgendwelcher Polizeiaufnahmen im Internet alarmiert sind, dass Kollegen in Bayonne bei einer Explosion starben."

"Ich geb's an Julius weiter", schickte Laurentine zurück. Dann reiste sie mit Flohpulver ins Postamt von Millemerveilles. Von dort aus apparierte sie vor dem Apfelhaus der Latierres und rief nach Julius. Der war aber schon im Zaubereiministerium, weil er noch mal über die Eigenschaften jener Unlichtkristalle berichten sollte, mit denen sich der angebliche Lord Vengor und diese neuartigen Supervampire übermächtig gemacht hatten.

"Ich probier mal gerade, ob er schon was zu tun hat oder er eine Minute Zeit hat", sagte Millie, die gerade die kleine Chrysope beaufsichtigte, wie sie immer flinker die von einer unzerbrechlichen Glaswand umfasste Wendeltreppe hinaufkrabbelte. Laurentine wartete eine halbe Minute. "Er sitzt noch bei Fleurs und Gabies Papa und sortiert seine Unterlagen. Er hat nur zurückgeschickt, dass er erst nach zehn Uhr in den Computerraum kann, sofern Vendredi nichts hat, was er ihm noch aufdrücken kann."

"Danke, Millie. Dann muss ich wohl jetzt erst mal meinen Tag anfangen", seufzte Laurentine.

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Julius Latierre hatte alle Unterlagen in vorzeigbarer Ordnung zusammen. Ohne auf die Beziehung zu den Kindern Ashtarias oder gar das Wissen der Altmeister von Altaxarroi einzugehen hatte er genug Hinweise auf den Unlichtkristall gefunden und konnte so über dessen Eigenschaften referieren.

Als Millies kurze Melobotschaft bei ihm ankam musste er sich sehr anstrengen, mit den Gedanken bei seiner Aufgabe zu bleiben. Er war froh, als er nach nur einer halben Stunde mit der Konferenz der gesamten Abteilung für magische Geschöpfe durch war. Monsieur Beaubois und seine Mitarbeiterin Adrastée Ventvit hatten auch noch mal über die in Marokko ausgeschwärmten Schattenwesen und deren fast vollständige Auslöschung berichtet. Julius gefiel es nicht, zu hören, dass es offenbar wenigen dieser Schattenwesen gelungen war, doch noch zu entkommen. Ob sie ohne ihren Meister Kanoras bestehen bleiben konnten wusste keiner. Adrastée hielt es jedoch für möglich, sofern Kanoras, der mit Wallenkron alias Lord Vengor einen Pakt eingegangen haben mochte, einige dieser Schatten an materielle Anker gebunden hatte.

"Bleibt nur noch die große Frage, woher Vita Magica wusste, wo diese dunkle Niederlassung zu finden war", erwähnte Monsieur Vendredi, der Leiter der gesamten Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe. Damit unterstellte er eindeutig, dass jemand diesen Leuten das Versteck verraten hatte. Es vergiftete eh schon das Vertrauen in vielen Zaubereiministerien, dass dort Spione oder gar Handlanger geächteter Organisationen untergebracht waren, ohne diese zu ermitteln.

"Wir dürfen nicht den Fehler begehen, uns gegenseitig zu verdächtigen. Das würde unsere Organisation schwächen und damit genau das erreichen, was diese Leute erreichen wollen", sagte Monsieur Lamarc aus der Tierwesenbehörde.

"Das ist mir bekannt, Monsieur Lamarc. Genau deshalb missfällt mir das, dass wir damit leben sollen, dass wir Spione der Sardonianerinnen oder die von dieser Gruppe namens Vita Magica in unseren Reihen haben. Wir können eben nur hoffen, dass wir schneller mit den uns zugänglichen Kenntnissen umgehen können als diese unzulässigen Vereinigungen."

"Sollen meine Leute noch weiter über diese Schattendämonen recherchieren, Monsieur Vendredi?" fragte Simon Beaubois aus der Geisterbehörde.

"Ich bitte darum, Monsieur Beaubois. Wir dürfen nicht darauf verfallen, dass dieser Gefahrenherd endgültig erkaltet ist. Den Fehler hat Kingsley Shacklebolt mit den Dementoren schon gemacht", sagte Vendredi.

Nach der Konferenz machten alle erst mal Frühstückspause. Danach fand Julius ein mit roter Dringlichkeitstinte geschriebenes Memo auf seinem Schreibtisch vor. Es kam aus Belle Grandchapeaus Abteilung.

Bitte umgehend Computerbildaufzeichnungen prüfen, die angebliche Erstürmung einer Rauschgiftfabrik bei Bayonne an der Grenze zu Spanien betreffen! Angeblicher Tod von Joseph Brickston im Internet vermeldet.

Julius holte sich die Genehmigung seines direkten Dienstvorgesetzten Delacour, diese prüfung vornehmen zu dürfen. Zusammen mit Belle, die wegen des ihr aufgeladenen Veela-Zaubers Euphrosynes nicht mehr direkt an einer Tastatur sitzen konnte, ohne den daran hängenden Rechner durcheinanderzubringen, sichtete Julius im Computergebäude des Zaubereiministeriums die im Internet kursierenden Dateien eines angeblich bei dieser Aktion gestorbenen Polizisten, sowie der von einer Ermittlungsgruppe angezapften Überwachungsviedeos der Anlage, in der angeblich Nahrungskonzentrate für die Armee hergestellt wurden, aber wohl auch verbotene Substanzen zusammengemischt wurden. Es hatte eine wilde Schießerei gegeben. Dabei war mehrmals jemand durchs Bild gelaufen, der wie Joe Brickston im weißen Laborkittel aussah. Joe hatte angeblich drei Beamte erschossen, bis irgendwer wohl alle explosiven Stoffe auf einmal in die Luft gejagt hatte, vielleicht eine Art Selbstvernichtungsschaltung. Die Quelle, aus der die Bilder stammten bezeichnete sich mit dem Decknamen AufdeckerX2002. Die Videos waren nicht allen französischen und ausländischen Medien zugespielt worden. Julius versuchte über das IP-Adressen-Suchprogramm den Ursprung zu ermitteln und bekam dabei heraus, dass die Bilder von einem Internetcafé in Minsk, Weißrussland, abgesetzt worden waren. Wenn er wissen wollte, wer die Daten über diesen Rechner überspielt hatte müsste er selbst an diesen Rechner dran. Doch daran war nicht zu denken. Denn das russische Zaubereiministerium würde eine entsprechende Anfrage als für sie unwichtig zurückweisen. Die Koordinaten der betroffenen Anlage stimmten tatsächlich mit einer alten Fabrik für Munition überein, die im zweiten Weltkrieg hergestellt worden war und nach dem Kriegsende mehrmals den Besitzer gewechselt hatte. Der letzte war eine Firma, die die Vitamin- und Proteinpräparate für militärische Einrichtungen und die europäische Raumfahrtagentur ESA hergestellt hatte. Das alles sah so glatt und sauber aus, dass Julius schon stutzig wurde. Sicher, weil er wusste, dass Joe Brickston nicht in dieser Fabrik gestorben war ging er von einer gewaltigen Täuschungsaktion aus. Er ließ auch über das Arkanet den Namen jedes einzelnen Polizisten prüfen, wobei er ebenfalls für jede Prüfung einen anderen Server ansprach und die eigene IP-Adresse ständig so änderte, dass der Rechner mal in den USA, mal in Spanien, dann in Kenia und auch mal in Südkorea beheimatet war. Ebenso schickte er Mails über das Arkanet an seine Mutter und nach England, weil die Leute dort wissen sollten, dass da demnächst jemand an Joes Verwandtschaft interessiert sein könnte. Dann betrachtete er den Videofilm in zehnfacher Zeitlupe, um rauszukriegen, wo die Fälscher die Bilder von Joe in eine echte Aufzeichnung eingebaut hatten. Doch es sah wirklich so aus, als rase ein schwarzer Mercedes über die Landstraße, verfolgt von drei Polizeiwagen, alles beobachtet von einem Hubschrauber. Dann waren da die angeblichen Videos von der fabrikeigenen Überwachung, wo Joe Brickston im weißen Laborkittel herumlief und dabei selbst mit einer Maschinenpistole auf die stürmenden Polizisten feuerte. Die letzte Sekunde der Aufnahme zeigte einen nichtuniformierten Mann, der eine Panzerfaust abfeuerte. Das Geschoss traf aber nicht den Polizeiwagen, sondern einen Tank so hoch wie ein fünfstöckiges Haus. Es blitzte auf. Dann war nur noch ein schwarzer Bildschirm zu sehen. Julius ließ die Aufnahme noch einmal zurücklaufen und betrachtete die Hintergrunddarstellung und die Lichtverhältnisse. Als er bei Joes Bildern war vergrößerte er einzelne Bildausschnitte. Dabei erkannte er, dass die Macher dieser Aufzeichnung echt alles bedacht hatten. Dinge wie Schattenwurf und Hintergrund waren immer gleich. üblicherweise konnten an solchen Einzelheiten nachträglich eingearbeitete Bilder oder Filme entlarvt werden. Auch die Bildauflösung blieb immer gleich. Wer da also die Aufzeichnungen frisiert hatte hatte wohl erst Joe vor dem Hintergrund einer leeren Halle aufgenommen und dann ähnlich wie das Blauraum-Verfahren beim Fernsehen die hektischen Bilder der Erstürmung dazugemischt. Auch wenn er wusste, wie weit die Computertechnik sowas schon zuließ beunruhigte es ihn doch, wie gut man heutzutage eindeutige Fälschungen als echte Aufzeichnungen ausgeben und dann auch noch weltweit verbreiten konnte. Wer auch immer diese Aufnahme hergestellt hatte ging sogar so weit, eine angebliche Liste der Mitarbeiter herauszugeben, auf der Joe in hoher Rangstellung als für chemische Mischverfahren zuständig ausgegeben wurde. Damit das nicht wie aus dem Hut gezaubert aussah wurde hier auf nicht ganz so legale Anzapfaktionen des französischen Inlandsnachrichtendienstes verwiesen, dessen Daten ein besser ungenannt bleibender Informant abgegriffen hatte.

"Tun wir jetzt mal so, als wenn diese Aufnahmen keine Fälschung wären, Julius. Wer hat ein Interesse daran, derartiges zu veröffentlichen?" fragte Belle. Julius nickte ihr zu und dachte kurz nach. Dann sagte er:

"Also, nach dem elften September gibt es sowohl Leute, die eine strengere Überwachung aller Menschen begrüßen würden, damit sowas nicht noch mal passiert, aber auch eben solche, die jetzt erst recht Angst haben, ihr Land oder ein anderes Land könnte sie rund um die Uhr überwachen. Die möchten dann zeigen, was die Polizei oder der Geheimdienst für Gaunerbanden sind und nutzen dann echte oder angebliche Lecks aus, um die Internetnutzer gegen diese Behörden aufzubringen. Dabei sehe ich selbst eine Überwachungsgefahr eher bei den Privatunternehmen, die Internetdienste anbieten und mit den da versendeten Daten Geschäfte machen. Ansätze hierfür gäbe es schon, hat Madame Merryweather vor kurzem herumgeschickt."

"Aha, und darauf bauen jetzt diese Leute, die Joseph Brickston für tot erklären wollen?" fragte Belle.

"Ja, darauf und darauf, dass Joe Brickston jetzt nicht mehr in sein früheres Leben zurückkehren kann. Die Aktion dient dazu, einen gerade nicht auffindbaren Mitwisser zum schweigen zu bringen. Diese Superior-Organisation kommt nicht an ihn heran, was diesen Leuten sichtliche Kopf- und Bauchschmerzen machen dürfte. Vielleicht haben sie auch schon versucht, Catherine oder Claudine Brickston zu ergreifen. Aber die sind meistens per Flohpulver unterwegs. Außerdem hat Catherine einen Frühwarner für feindliche Annäherungen bei sich. Dann kommen solche Leute eben auf die Idee, Joe Brickston einfach mit lautem Knall in die Luft fliegen zu lassen. Wenn der Echte sich dann später zur Polizei traut könnte es ihm passieren, dass er entweder als Schwindler festgenommen wird oder weil er seinen Tod vortäuschte als Verdächtiger behandelt wird, den sie einsperren und vor Gericht bringen müssen. Auf diese Weise bekämen die Informanten von Superior wohl wieder raus, wo er ist und könnten ein weiteres Killerkommando losschicken, um ihn umzubringen. Ja, und wenn er offiziell für tot erklärt ist kann er nicht mehr ermordet werden oder gar als lebender Mensch spurlos verschwinden."

"Danke für diese kurze Erläuterung. Öhm, Wirst du das auch Madame Brickston sagen, Julius?" fragte Belle.

"Wenn sie mir dieselbe Frage stellt ... komme ich wohl nicht drum herum. Allein schon, damit wir planen können, wie es dann mit Joe weitergeht. Weil so wie das da gerade inszeniert wurde kann er unter seinem wahren Namen und seiner echten Hintergrundgeschichte nirgendwo mehr arbeiten, zumal das ja dann auch von diesen Superior-Verbrechern herausgefunden werden kann."

"Ja, aber warum geben diese Verbrecher sich die Mühe, einen spektakulären Tod mit zusätzlichen Behauptungen in die Welt zu setzen?" fragte Belle. Julius sah sie genau an und sagte: "Weil nach seinem Zusammenbruch und seinem für die magielose Öffentlichkeit ausgearbeiteten Verschwinden in einer geheimen Klinik eine weltweite Jagd auf Superior und seine Leute losgegangen ist. Die denken wohl, er habe Kontakte zu sehr mächtigen Leuten, was ja in gewisser Weise auch stimmt. Also bleibt ihnen nur, ihn für nicht mehr existent auszugeben, in der Hoffnung, dass er nicht noch mehr Leuten was erzählen kann."

"Ja, aber das ist doch so nur eine billige Rache, Julius. Was wollen diese Verbrecher damit für sich gewinnen?"

"Eine sehr logische Frage, Belle. Können sie damit überhaupt was gewinnen außer noch mehr Aufmerksamkeit? Es geht ihnen darum, Joe Brickston handlungsunfähig zu machen oder gar, ihn dazu zu bringen, diese Inszenierung als Fälschung aufzudecken, um ihn dann doch noch erwischen zu können. Die denken, dass er sicher sein Leben wiederhaben will und deshalb alles tun wird, um seinen angeblichen Tod nach vorangegangenem Polizistenmord als Täuschung zu entlarven, was nach der Qualität der Videoaufnahmen sehr schwierig sein dürrfte. Im Grunde wissen nur wir in der Zaubererwelt, warum das hier eine eindeutige Fälschung ist."

"Gut, dann sollten wir zwei jetzt mit den Aufzeichnungen zu Madame Brickston gehen", sagte Belle. Julius nickte. Doch erst einmal wollte er auf die Überprüfung der an der Aktion angeblich beteiligten Polizisten warten. Das dauerte nur eine Viertelstunde, weil die Ergebnisse über mehrere Umwege verschickt werden mussten, bis sie alle auf Julius' Arbeitsrechner eingetrudelt waren. Dabei kam heraus, dass die zwanzig am Ende in die Fabrik gelangten Polizisten, sowie die Besatzung des beobachtenden Hubschraubers seit genau zehn Jahren im Polizeidienst waren. Julius musste grinsen, als er eine Auflistung der Eintrittsdaten und der Geburtsdaten der Polizisten in einer Tabelle miteinander verglich. "Tja, werte Leute, Computer sind eben nicht so kreativ wie menschliche Gehirne", grinste er und zeigte Belle, dass die angeblich in Erfüllung ihres Auftrages gefallenen Polizisten altersmäßig gerade ein Jahr auseinanderlagen und ihr Dienstverhältnis zwischen einem Tag vor bis zehn Tagen nach ihrem Geburtstag erfolgte. Offenbar hatte da jemand nicht so gründlich gearbeitet, wie die restlichen Datensätze es vermuten ließen und einen Zufallsgenerator mit eingeschränkter Zahlenauswahl eingesetzt. Diese Datenabgleichstabelle ließ er auch noch mal in dreifacher Kopie ausdrucken und schickte sie verschlüsselt an seine Mutter, damit die bestimmen konnte, mit welcher Art Zufallsauswahlroutine diese Daten erstellt worden waren.

"Gut, dass ich die ip-Adressänderungsmaschine zwischengeschaltet habe. Da haben doch tatsächlich mehrere Rückverfolgungsprogramme versucht, meinen Ursprungsrechner zu finden", sagte Julius, als er eine Statusmeldung des sogenannten Suchlaufrückspiegels erhielt, der mögliche Verfolgungsanfragen anzeigte. Doch das Spurenlöschprogramm hatte die Anfrageunterprogramme nach drei erkannten Knotenpunkten abgehängt. Selbst wenn eine Rückverfolgung über alle Ablenkdaten hinweg eine Internetprotokolladresse hätte feststellen können, so wäre diese weit weg von Frankreich zu finden gewesen.

"So, jetzt können wir zu Madame Brickston", sagte Julius endlich. Belle nickte ihm zu.

Der Kamin von Catherine war zugänglich. Doch als Belle wegen der Anfrage ihren Kopf dorthinversetzte stellte sie fest, dass jemand wohl den geräuschlosen Raum auf den Partyraum gelegt hatte. Als sie ihren Kopf wieder zurückzog sagte sie: "Catherine erwartet mich und/oder dich. Allerdings musste sie den Feierraum geräuschlos bezaubern, damit die da draußen nicht mitbekamen, dass jemand im Haus ankommen kann, ohne durch die Tür zu müssen. Sie hat das auf ein Schild geschrieben, das sie in Blickrichtung eines mit Flohpulver reisenden vor dem Kamin angebracht hat", sagte Belle.

"Geräuschloser Raum? Oha, dann kommen wir zwar hin, aber nicht mehr weg, weil Flohpulver nur auf eine hörbare Zielanweisung reagiert", sagte Julius. Da Belle wusste, dass er auch ein Intrakulum hatte fügte er nur mentiloquistisch hinzu: "Und per Intrakulum kommen wir auch nur hin, aber nicht mehr weg, wenn da draußen nicht wer eine Glocke aus Schallschutzmagie aufbaut, die nur Kühlschrankgeräusche und das Fauchen des Heizungsbrenners rauslässt."

"Will sagen, wenn solche Geräusche nicht zu hören sind werden die Leute argwöhnisch?" fragte Belle. Julius nickte. "Unser Mann von der Sûrté ist aber auch schon vor Ort. Der Name Brickston und die Adresse Rue de Liberation 13 haben ihn umgehend in den Einsatz gerufen", sagte Belle. Julius nickte.

Trotzdem es im Moment nur eine Einbahnstraße darstellte, zu Catherine zu reisen, flohpulverten Belle und Julius in ihr Haus hinüber. Als sie den geräuschlos bezauberten Partyraum verlassen hatten wurden sie schon von Catherine erwartet und in ihr Arbeitszimmer gelotst. Dort mussten sie Hausschuhe mit Lautloslaufsohlen anziehen, die Catherine über ihre Mutter von den Leuten aus dem Laveau-Institut hatte beschaffen lassen, wenn sie einmal unhörbar durch das Haus gehen musste. So für mögliche Richtmikrofone unhörbar schlichen sie an den Fenstern entlang. Das Haus war bis fünfzig Metern Entfernung von Absperrbändern umschlossen, hinter denen alle fünf Meter ein uniformierter Polizist stand. Sowohl an der Hintertür als auch an der Haustür standen zudem zwei Männer in Anzügen mit Schlips und Kragen. Belle deutete auf einen kleineren Herren mit einer mitternachtsblauen Krawatte und nickte dreimal. Also war das wohl der erwähnte Verbindungsmann zur Pariser Kriminalpolizei Sûrté. Die Polizisten hielten eine scheinbar noch immer größer werdende Meute aus Menschen ab, die mit Mikrofonen und allen möglichen Kameras auf das Grundstück wollten. Julius sah fünf Übertragungswagen: Einen des französischen Staatsrundfunks, einen der luxemburgischen Privatanstalt RTL, einen vom pariser Stadtsender Paris 96,3, der gerne aus der Welt der angeblich so wichtigen Leute zu berichten pflegte, sowie einen Wagen von der britischen Rundfunkanstalt BBC und ihres privaten Konkurrenten ITV. Gerade fuhr noch ein Kleinbus mit nach hinten umgeklappter Satellitenschüssel vor. Die Schüssel wurde aufgerichtet und so gedreht, dass sie wohl einen günstigen Satelliten anfunken und von dem was aufnehmen konnte. Das war ein Wagen des amerikanischen Nachrichtennetzwerks CNN.

"Ui, wusste gar nicht, dass der Afghanistanfeldzug jetzt auch bei uns stattfindet", mentiloquierte Julius Catherine an und deutete auf den amerikanischen Ü-Wagen.

"Belagert werden wir auf jeden Fall. Gut, dass ich Claudine zu Tante Madeleine gebracht habe, nachdem dieser Anruf war", schickte sie ihm zurück. Dann bat sie ihn und Belle per Handzeichen zurück in ihren Dauerklangkerker-Arbeitsraum.

"Halten wir fest, dass ihr euch im Moment nicht vor die Tür trauen dürft", sagte Julius. Belle räusperte sich und bestand auf eine förmliche Anrede. "Also, es besteht im Moment keine Möglichkeit, Madame Brickston, dass sie oder ihre Mitbewohner offen vor die Tür treten können, ohne gleich von mehreren hundert Reportern bestürmt zu werden. Wie sollen wir vorgehen?"

"Das hängt davon ab, wie wir mit dieser gefälschten Nachricht umgehen, dass mein Mann als Mitglied einer Verbrechergruppe umkam", sagte Catherine, während von draußen immer wieder Rufe von Polizisten klangen, jemand solle sich zurückziehen.

"Monsieur Latierre, bitte erläutern Sie Madame Brickston Ihre Vermutungen, die Sie mir gegenüber schon erwähnten!" forderte Belle ihren zeitweiligen Mitarbeiter auf. Julius sah Catherine an. Er wusste ja, dass sie ihr drittes Kind erwartete. Das hatte ihn schon ziemlich erschüttert, als er das eine Woche nach dem Zusammentreffen mit Otschungu und der Abgrundstochter Ullituhilia erfahren hatte. Dennoch wusste er, dass eine behutsame Vorgehensweise die Sache nicht erträglicher machen würde. So wiederholte er seine Vermutungen, wobei er betonte, dass es eben nur solche seien.

"Das bestätigt, was ich schon befürchtet habe, nachdem die ersten Stützpunkte dieses Verbrechers Superior ausgehoben wurden", sagte Catherine. "Er will haben, dass Joe kein normales Leben mehr führen kann und uns bei der Gelegenheit auch bestrafen, dass wir mit ihm zusammenleben."

"Wenn Superior nicht diesen Riesenknaller gelandet hätte würde ich vorschlagen, wir tun so, als hätte es euch für die restliche Welt nicht gegeben", sagte Julius. Er wusste, dass das schon häufiger gemacht worden war, wenn Familien durch Magie zu Tode gekommen waren. Aber so viele Reporter, Polizisten und das ganze Internet auf einmal entsprechend zu behandeln war sehr aufwändig. Dann fragte Belle: "Wann hat wer Sie oder ihre Tochter sowie Mademoiselle Hellersdorf zu letzt außerhalb dieses Hauses angetroffen?"

"Da Ich für Laurentine immer miteinkaufe hat sie keiner außer den Angehörigen der Zaubererwelt zu sehen bekommen. Ich selbst bin vor einer Woche zu letzt einkaufen gewesen. Dabei hatte ich Dank meines mitgeführten Frühwarners jedoch immer wieder Vorwarnungen, dass jemand mit feindlichen Absichten mir hinterherspioniert. Deshalb musste ich Claudine auch verbieten, nicht vor die Tür zu gehen und habe ihr die leider nicht so ganz abwegige Schauergeschichte auftischen müssen, dass draußen Leute warten, die sie einfangen und einsperren wollen, damit sie rauskriegen, wo ihr Papa ist. Ich bin zumindest froh, dass Claudine vernünftiger ist als ihre große Schwester in dem Alter", sagte Catherine.

"Dann gilt es wohl nur, die Bediensteten der Geschäfte mit Gedächtniszaubern zu belegen, Sie seit mehr als drei Wochen nicht mehr gesehen zu haben", sagte Belle. Julius hatte genau dieselbe Idee gehabt und nickte zustimmend.

"Mit anderen Worten, wir, also Claudine und ich sollen vorübergehend anderswo unterkommen, bis das Interesse an uns vorbei ist oder die Ursache für diesen Zustand unschädlich gemacht ist?" Julius nickte Catherine zu, Belle auch.

"Gut, dann muss ich meine Mutter anschreiben, ob sie mir und Claudine erlaubt, in ihrem Haus zu wohnen. Denn nach Millemerveilles wird keiner hinkommen, und Joe kann dort Dank Madame Eauvives Vorkehrungen auch ohne den Muggelabwehrhemmungstrank wohnen. Aber was ist mit Mademoiselle Hellersdorf?"

"Hmm, Madame Grandchapeau, wenn Sie das erlauben möchte ich das gerne mit ihr klären", sagte Julius.

"Erlaubnis erteilt, Monsieur Latierre. Ich bitte jedoch um eine schriftliche Zusammenfassung dieses Gespräches und der daraus erfolgten Maßnahmen für die Akten."

"Selbstverständlich, erwiderte Julius.

"Wie komme ich denn hier weg?" fragte er Catherine.

"Auf die selbe Weise wie Claudine. ich verschicke Sie und Madame Grandchapeau mittels Translokalisationszauber zu meiner Tante Madeleine. Von ihr aus können Sie dann den Flohnetzanschluss benutzen", sagte Catherine förmlich.

So geschah es, dass Julius zum ersten Mal in seinem Leben am eigenen Leib mitbekam, wie das war, wenn sein Körper mit dem eines vorbezauberten Gegenstandes den Standort tauschte. Was der für ihn in die Rue de Liberation gezauberte Gegenstand war erfuhr er, als er im Haus "Colline des corbeaux, dem Rabenhügel, neben einer gerade ausschwingenden Schaukel landete. Auf der Schaukel saß Claudine und ließ sich von Madeleines Enkeltochter Lucille Duchamp anstoßen. Lucille hatte die gleichen saphirblauen Augen wie Claudine. Allerdings hatte sie dunkelrotes Lockenhaar und war drei Jahre älter als Claudine.

"Ach, Hat Catherine dich gegen meinen verbeulten Putzeimer ausgetauscht?" fragte Madeleine grinsend, als Julius sie am Fenster eines herrschaftlichen Hauses auf der Kuppe eines fünfzig Meter hohen Hügels auftauchen sah. "Solange ich nicht der Eimer geworden bin", rief er zurück. Dann blitzte es violett auf, und Belle stand auch neben der Schaukel. "Öhm, meinen Teppichklopfer möchte ich aber gerne noch heute wiederhaben!" rief Madeleine. Zur Antwort erfolgte ein mehrstimmiges Krächzen, und Julius konnte drei Raben sehen, die im schnellen Flug herankamen und sich auf die Querstange der Schaukel setzten.

"Ich hatte schon befürchtet, ich hätte erst als dieser Teppichklopfer erscheinen müssen", grummelte Belle und begrüßte dann die Hausherrin. Deren Ehemann kam gerade mit geschultertem Leinensack hinter dem Haus hervor. "Maddie, hat Catherine uns noch mehr Gäste zum Mittagessen geschickt?" fragte er und zwinkerte Julius und Belle zu. Belle erklärte dann in ihrer bekannten amtlichen Sprechweise, warum sie jetzt hier waren.

"Okay, du gehst dann nach Millemerveilles und ich schicke ein Porträt zu meiner Schwester, um das zu erörtern", sagte Madeleine.

Julius kam jedoch nicht eher weg, bevor er nicht das an die fünfhundert Quadratmeter große Grundstück mit gerade winterfertig gemachtem Garten, drei Gewächshäusern und an jedem Baum hängenden Nistkästen für die zusammen sechs erwachsenen Raben und ihren Nachwuchs besichtigt hatte, zumal Laurentine ja gerade noch unterrichtete.

Er aß bei den L'eauvites noch zu Mittag. Dann reiste er per Flohpulver nach Millemerveilles, wo er Laurentine in der Schulkantine traf, wo sie mit ihren Kollegen und Kolleginnen zusammen aß. Er gab ihr eine schriftliche Zusammenfassung von dem, was am Morgen passiert war und fragte sie dann, ob sie sich zutraute, alleine in dem Haus zu bleiben, jedoch bloß nicht vor die Tür zu gehen. Laurentine las die Zusammenfassung durch und sagte dann: "Muss ich klären, wo ich hier unterkommen kann. Darf ich dann zwischendurch an deinen Rechner, um mit meinen Verwandten in Verbindung zu bleiben?" fragte sie. Julius bestätigte das. Er bot sogar an, seine Frau zu fragen, ob Laurentine bei ihnen wohnen könnte. Darauf antwortete sie: "Neh lass mal! Julius. Ich möchte gerne eine Tür zwischen mir und einem Baby im Krabbelalter und einem sehr wuseligen Kleinkind zuschließen können. Außerdem hat deine Frau ja schon Nummer drei unter dem Umhang, wenn ich das richtig mitbekommen habe." Julius bejahte es.

Zwanzig Minuten später stand fest, dass Laurentine mit zu den Brickstons in Madame Faucons Haus durfte, wo sie außer Claudine ja kein kleines Kind um sich herum hatte. Zwar hatte ihr Camille Dusoleil auch angeboten, bei ihrer Familie zu wohnen. Aber Laurentine hatte behutsam aber unmissverständlich erwähnt, dass sie nicht zu Philemons dritter Aufsichtsperson werden wollte, wo der immer wieder meinte, seine Grenzen austesten zu müssen.

Der Sûrté-Mann vom Zaubereiministerium schaffte es, eine vorübergehende Schallschutzglocke über das Haus der Brickstons zu stülpen, ohne dass seine magielosen Kollegen oder die lauernden Medienvertreter das mitbekamen. So konnte Laurentine alle ihre Habseligkeiten zusammenpacken, was durch Verkleinerungszauber wunderbar ging. Sie nahm sogar ihren Laptop mit, wofür sie jedoch den Akku herausnahm, um auch die Bereitschaftselektronik nicht durcheinanderkommen zu lassen. Genauso verfuhr sie mit ihrem Mobiltelefon.

Wie damals, wo Catherine mit ihrer Familie und Julius' Mutter vor Didiers und Pétains Hescher geflohen war, machte sie aus einem Tischtuch einen Portschlüssel. Dann rief sie noch: "Totum securum in Absentia!"

Kaum waren sie alle fort, knisterte es im ganzen Haus, und alle Türen und Fenster wurden zugeschlagen, fest verriegelt und von einer Art unsichtbarem Schutzüberzug abgesichert. Die Kamine waren eh schon gegen Benutzung versperrt worden.

"Es ist eigentlich demütigend, vor einem Haufen Muggels wegzulaufen", grummelte Millie, als sie spät am Abend mit Julius im Ehebett mit den Schnarchfängervorhängen lag. Er meinte dazu nur: "Diese Leute von Superior wollen sämtliche Wichtel aufs Dach jagen, um Joe komplett fertigzumachen oder ihn sogar unauffällig umzubringen, wenn keiner ihn mehr sucht. Für ihn ist das erst recht fies, weil er bis auf weiteres nicht mehr in das für ihn gewohnte Leben zurück kann. Du erinnerst dich ja noch gut dran, wie ihn Millemerveilles angenervt hat, weil er hier nichts tun konnte."

"Besser nichts tun wollte. Der hätte auch die ganzen Grundschüler hier unterrichten können. Aber das war ja unter seiner Würde", grummelte Millie.

"Hättest du das gemacht?" fragte Julius mal wieder und bekam einmal mehr die gleiche Antwort.

"Wenn ich bei den Leuten hier bestes Wetter hätte machen, irgendwas sinnvolles tun und dabei noch das Gefühl haben wollen, was wichtiges gemacht zu haben hätte ich das der Schmollerei vorgezogen, die der veranstaltet hat, Monju. Vielleicht kommt er ja jetzt drauf, dass er den Leuten hier doch dankbar sein sollte."

"Nicht, nachdem der jetzt dieses Sauzeug geschluckt hat und deshalb in der DK liegen muss", sagte Julius. "Aber übermorgen bin ich mit Catherine da. Belle Grandchapeau will wissen, wie der Stand der Dinge ist."

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Anthelia erfuhr von Romina Hamton, was in Frankreich passiert war. Sie wusste jedoch, dass Joe Brickston wegen seiner Verwandtschaft mit echten Hexen in der Delourdesklinik untergebracht war. Deshalb konnte sie über das in diesem Internet dargebotene Spektakel nur lauthals lachen. "Die Unfähigen wollen allen weißmachen, Joseph Brickston sei als flüchtiger Verbrecher ums Leben gekommen. Das soll ihn wohl vor Nachstellungen der Magieunfähigen schützen, wie?" fragte sie ihre Mitschwester Romina. Diese nickte und antwortete: "Das soll sowas sein wie dass wir den Hexenjäger Wishbone ermordet haben sollen. Der soll wohl für den Rest der Welt als unerträglich und verachtenswert hingestellt werden, um den's nicht schade ist, dass er tot ist."

"Natürlich, und wenn er doch wieder sein eigenes Leben führen möchte würde er entweder als Hochstapler oder flüchtiger Untäter aufgegriffen oder von denen, die ihm dieses tückische Wachhaltegift zugespielt haben ganz heimlich getötet, um ihn als gefährlichen Mitwisser zu beseitigen. Ja, das war und ist wohl die Absicht derer, die dieses theatralische Geplänkel in euer Internet eingetragen haben, Schwester Romina", erwiderte Anthelia. Dann dachte sie daran, dass die Brickstons ja viele gute Freunde in der Zaubererwelt hatten. Wann immer die Heiler dieses vertrackte Gift ganz aus ihm herausgewaschen hatten, sie würden ihm zum Dank, dass er zwei Hexen gezeugt hatte wohl ein für ihn erträgliches Leben in der Zaubererwelt verschaffen, auch wenn er selbst zu keiner Magie fähig war. Das brauchte sie nicht zu kümmern. Für sie war nur bedenkenswert, wie durchschlagend diese Maschinen und Geräte der Unfähigen schon waren, einfach so den Tod eines Menschen zu bestätigen, der in Wirklichkeit nicht gestorben war. Das musste sie immer im Kopf behalten.

"Wie es mit dem Unfähigen Joseph Brickston weitergeht betrifft uns nur dann, wenn er persönlich mit uns in Verbindung treten soll oder wegen ihm eine Aktion gegen uns geplant werden sollte. Beides ist sehr unwahrscheinlich. Aber danke für diesen doch sehr lehrreichen Einblick in die magielosen Täuschungsmittel der Unfähigen, Schwester Romina. "Das heißt nämlich für uns, dass längst nicht alles, was in diesem Internet-Verbundnetz herumgereicht wird der Wahrheit entspricht."

"Damit arbeiten wohl auch die Ministerialzauberer und -hexen, echte Magie als geniale Täuschung im Internet zu verkaufen", sagte Romina. "Ich kann aber nicht dauernd auf die Arkanet-Knoten unserer drei Mitschwestern zugreifen. Dieses Netzwerk führt zu gut Protokoll, wer da wann was macht."

"Verstehe, Schwester Romina. Vielleicht kommt der Tag, wo wir ganz offiziell Zugang zu diesem versteckten Verbund erhalten dürfen. Aber bis dahin vertrauen wir auf unsere eigenen Nachrichtenquellen", erwiderte Anthelia.

Wieder in der Daggers-Villa erfuhr sie, dass auch Nancy Gordon zum Opfer dieser Missachter der Hexenrechte am eigenen Körper und Entscheidungsrecht auf eigenen Nachwuchs geworden war. "Das wird sie vielleicht ein wenig umgänglicher stimmen, was meine Schwesternschaft angeht", dachte Anthelia/Naaneavargia.

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Der vor kurzem mal wieder zehn Jahre alt gewordene Fachzauberer für magische Maschinen und besondere Vorrichtungen genoss in einer Seitenhöhle unter jenem Berg, wo der geheime Stützpunkt der ehrenwerten Gesellschaft zur Wahrung und Mehrung magischen Lebens untergebracht war sein großes Hobby. Die technischen Fantasien und Vorstellungen von einer nahen oder fernen Zukunft begeisterten ihn, seitdem er es geschafft hatte, einen echten Kinofilmprojektor, eine Leinwand und gleichmäßig im Raum verteilbare Lautsprecherboxen zu organisieren. Gerade sah er mal wieder jenes haarsträubende Zeitreise-Abenteuer der Besatzung des Raumschiffes Enterprise E mit den Kreaturen namens Borg, was wohl eine weitere Verkürzung des Kurzwortes Cyborg sein sollte. Gerade war die Königin der wie ein Bienenvolk beschaffenen Halbautomata dabei, den einem echten Mann voll nachempfundenen Automaten Data zu geschlechtlichen Bedürfnissen und Handlungen zu verführen. Gerade als er ihr was von multiplen Techniken erzählte klopfte es. Er hielt den Film an der Stelle an und drückte den magielosen Türöffner. Außer ihm hatte keiner den Schlüssel zu diesem Raum, und der Locorefusus-Zauber, der im Stützpunkt eingerichtet war, wies jeden, der apparieren wollte ganze zehn Kilometer weit ab.

"Hallo, Clau..., öhm, Véronique. Braucht ihr mich für irgendwas?" fragte der äußerlich nur zehn Jahre alte Mitstreiter Mater Vicesimas.

"In zwei Stunden, wenn die Beobachtungsgruppe Kapstadt zusammen mit Izadora Macana abreisen will. Ich weiß nämlich nicht, ob alle Portschlüssel genau auf das Schloss abgestimmt sind."

"Kriegen wir. Bis dahin ist der Film wohl durch."

"Jaja, du und deine Marotte mit den Zukunftsfantasien der Muggel", grinste Mater Vicesima.

"Ey, sag nix über die Fantasie der Muggel. Ohne die hätte ich sicher nicht dran gedacht, eine Portschlüsselpille zu erfinden. Ohne die hätten wir die schwarze Billardkugel nicht auf unseren Tisch gekriegt, dass die jetzt so richtig ins Rollen kommt."

"Ja, wobei die Idee ja aus einem Film kam, wo jemand sich aus einer von Maschinen gemachten Scheinwelt herauslösen musste und nicht von einem echten Standort zu einem anderen reisen wollte", sagte Mater Vicesima. Perdy glubschte sie erstaunt an.

"Ey, du guckst dir auch sowas an?" fragte er höchst verwundert.

"In Ausschnitten", sagte Mater Vicesima. "Aber wenn wir schon mal dabei sind, kriegen wir vielleicht doch mal Zugriff auf dieses ominöse Arkanet, von dem die Ministeriumsangehörigen reden?"

"Dafür müsste ich von den Elektrorechnern mehr wissen als wie eine Maus geht und wo ich drauf drücken muss, um was an- oder auszumachen, Véronique. Wir müssten wen kriegen, der da drandarf."

"Bleibt abzuwarten. Weihnachtsfrieden Phase zwei ist gestern erfolgreich angelaufen. Wenn es gut anläuft haben wir bald freie Bahn in den Staaten. Dann sehen wir weiter, ob wir auch Frankreich kriegen, wenngleich das so wie bei Dime nicht laufen kann."

"Du bist schon seit mehr als sechzig Jahren aus Frankreich raus und hängst immer noch dran, wie?"

"Genau wie du dich immer noch auf jede Nachricht über deinen großen Bruder stürzt, Perdy."

"Leider richtig. Würde den gerne noch mal sprechen um zu versuchen, ihm zu erklären, warum ich damals ganz zu euch rübergekommen bin. Nachher stirbt der noch in seinem Wunderhaus und ich kriege das nicht mit."

"Das ist unser Los, das Los der vom Rest der Welt verstoßenen, weil wir an Sachen glauben und Dinge tun, die viele für anstößig oder kriminell halten. Aber wem erzähle ich das?" seufzte Mater Vicesima. "Ich würde mich auch freuen, wenn ich mal sehen könnte, wie Blanches und Madeleines Kinder und Enkelkinder so leben."

"Reden wir besser nicht mehr von, Véronique. Willst du weiter mitgucken. Gleich fliegt das von Erdenmenschen gebaute Warp-Raumschiff los, und die Borg wollen es abschießen."

"Nein Danke, ich will sicherstellen, dass unser neuer Fahrgast, den du in deiner neukindlichen Frechheit als Billardkugel bezeichnet hast, wirklich gut unterhalten wird und unterhält."

"Tja, so'n Pech, dass du unbedingt die Bälger von diesem Busdompteur haben wolltest."

"Wenn der es nicht geschafft hätte hätte ich lieber die von diesem naseweisen Gérard bekommen, allein schon um die eifrige Blanche zu ärgern", sagte Mater Vicesima. "Aber noch viel Spaß mit diesem Automaton und deinem Warp-Raumschiff!"

"Yep, werde ich haben, Véronique", sagte Perdy.

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8. Dezember 2002

Am Morgen dieses Tages sprach Minister Dime mit Nancy Gordon über die Neuigkeiten, die aus der magielosen Welt hereingekommen waren und für die Zaubererwelt von Interesse sein mochten. Dabei ging es auch um die von jemandem ins Internet ausgestreuten angeblichen Pressemitteilungen, Joseph Brickston sei auf der Flucht vor einem Sonderkommando der französischen Kriminalpolizei bei einem Gefecht mit Schnellfeuerwaffen und einer verheerenden Gebäudesprengung getötet worden. Das war insofern erwähnenswert, weil Joe Brickston als Ehemann einer Hexe und Vater zweier magisch begabter Töchter den Familienschutz der Heiler und der Strafverfolgungsbehörde genoss. Da er immer noch in der Delourdesklinik behandelt wurde konnte er natürlich unmöglich als medienwirksames Opfer einer wilden Verfolgungsjagd mit anschließender Explosion verstorben sein. Also plante die Macht, die Joe das Rauschgift zugespielt hatte, seinen Tod zu veröffentlichen, wohl um ihn entweder dazu zu zwingen, sich öffentlich als doch nicht gestorben zu offenbaren oder alle Vermögenswerte und Kontakte mit anderen Menschen zu verlieren. Nancy erwähnte, dass die Kollegen in Frankreich schon an einer entsprechenden Antwort arbeiteten. Ebenso erwähnte sie, dass immer noch keine Meldungen über die verschwundenen Menschen in Umlauf waren, die von Wallenkron als dunkle Energiespender für seine Unlichtkristalle hingeschlachtet worden waren. Womöglich hatte Wallenkron alias Lord Vengor genau nach solchen Leuten gesucht, die niemand vermisste, Bewohner kleiner Dörfer, Obdachlose, Flüchtlinge.

Am Schluss der Unterredung bat Dime die Büroleiterin für friedliche Koexistenz von Menschen mit und ohne Zauberkräfte darum, weiterhin Meldungen über mögliche Vampir- oder Werwolfsichtungen zu suchen. Denn die Bedrohung sei immer noch da, so der Minister.

Den restlichen Arbeitstag verbrachte Chroesus Dime damit, die Wiederaufbaumaßnahmen für ein neues washingtoner Zentralgebäude des Zaubereiministeriums zu prüfen. Dabei kam er nicht umhin, die vorgeschlagenen Baugrundstücke zu besuchen, um Ende des Jahres das einzig ausgewählte zu bestimmen. Eigentlich konnte die New Yorker Außenstelle, die alle Räume seiner früheren Abteilung beinhaltete, auch gleich zum offiziellen Zentralsitz des Zaubereiministeriums bestimmt werden. Aber da hatten die von der Westküste und aus den Südstaaten was gegen. Also sollte irgendwo bei Washington das neue unterirdische Gebäude für das Zaubereiministerium entstehen. Die Kosten sprengten so oder so jede Zuteilung der nächsten zwanzig Jahre. Dann war da noch die vertraglich vereinbarte Ausbauunterstützung für Thorntails, wenn alle von Vita Magica angeregten Zaubererweltkinder im entsprechenden Alter waren. Womöglich musste er noch mal mit Prinzipalin Wright unterhandeln, ob das eine oder andere Projekt nicht doch verworfen werden durfte.

Chroesus Dime empfand es nach dem machtvollen Zauber Phoebe Gildforks ziemlich unangenehm, als er in das von starken Schutzzaubern umschlossene Haus zwanzig Kilometer westlich vom äußersten Stadtrand von New York zurückkehrte. Diese Schutzbanne wechselwirkten in Form eines leichten Pulsierens in seinem Körper mit dem ihm aufgehalsten Verkettungszauber. Jede Minute, die er in seinem Haus zubrachte fürchtete er, dass diese Wechselwirkung auch sichtbar werden mochte oder er irgendwann, wenn die von ihm gezeugten Kinder noch größer geworden sein würden, als unerwünschtes Subjekt abgewiesen wurde. Ihm war klar, dass die Zeit gegen ihn lief. Aber wie sollte er Argentea loswerden? Was wer auch immer da über den Muggel, öhm, Bürger ohne magische Befähigung verzapft hatte mochte eine gute Idee sein, auch Argentea loszuwerden, ohne sie gleich umzubringen.

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"Ach, lassen Sie dich jetzt auch zu mir hin", begrüßte Joe Brickston Julius Latierre, als der erst ohne Catherine in das Zimmer getreten war. Joe sah nicht bleich oder ausgezehrt aus. Dafür sorgte wohl die Verpflegung. Joe begann daraufhin, Julius und den Rest der Zaubererwelt zu verwünschen und erging sich dann unter Tränen in heftigstem Selbstmitleid. "Wie konnte ich so blöd sein, dass ich dachte, ich käme hier auch nur einen Meter weiter voran, wenn ich für diese Franzen meinen Körper und meinen Geist verheize. Ich hätte Daddys Vorschlag annehmen und als IT-Mann bei den Verkehrsbetrieben in Birmingham oder am Flughafen anfangen sollen. Aber nein, ich Hohlbrägen musste ja unbedingt den großen Sprung aus dem Nest machen und mit einer echten Hexe nach Frankreich ziehen und der dann auch noch zwei Kinder machen. Das habe ich jetzt davon."

"Hey, Joe, ich kann das irgendwie nachfühlen, wie beschissen es dir gerade geht", setzte Julius an. "Aber Catherine und die Kinder sind am wenigsten Schuld an dem Mist, der dir passiert ist. Ja, und du hast recht, sich für irgendwen zu verheizen macht einen nur fertig, und du kriegst einen Arschtritt als Dankeschön. Die einzigen, die voll Angst schieben, weil du dich mit diesem Dreck ausgeknockt hast sind Catherine und Claudine. Und wegen denen solltest du langsam mal in deine Spur zurückfinden."

"Eh, du bist doch ganz ruhig. Du bist doch wegen dieser abnormen Begabungen gleich von denen voll vereinnahmt worden", stieß Joe aus. "Jetzt sehe ich meine Freunde nicht mehr, und meine Eltern? Habt ihr denen erzählt, ich wäre tot, weil ich für euch wertlos geworden bin, eh?"

"Catherine hat mit deinen Eltern telefoniert und denen erzählt, dass du wegen dieser Drecksdroge im Krankenhaus liegst. Ich bin mit ihr dran, dass die dich mal besuchen kommen können. Aber dann solltest du diese Selbstzerfleischungsarie nicht noch weitersingen. Ja, du hast Bockmist gebaut, als du dieses Ultradrenalon eingeschmissen hast. Denkst du, die haben dich gerne hier? Das Krankenhaus ist eigentlich für Leute, die mit ganz fiesen Zaubern aneinandergeraten sind und so. Aber die haben dich hier, weil du Catherines Mann und Babettes und Claudines Vater bist. Sonst hätte dich schon längst wer von irgendeiner Nervenklinik abgeholt. Das genau ist nämlich einigen passiert, die wie du diese angebliche Wunderdroge eingeworfen haben. Denen hat's die Gehirne so zerbröselt, dass die wohl ihr restliches Leben lang nicht mehr alleine vor die Tür gehen können."

"Ich weiß, dass ihr mich alle nicht abkönnt und Catherine mich nur geheiratet hat, um ihrer überstrengen Mutter eins auszuwischen, mich, den zauberunfähigen Muggel zu heiraten."

"Das klärst du mit ihr, wenn du wieder ganz klar im Kopf bist. Noch ist das Sauzeug nicht ganz aus dir raus", sagte Julius.

"Du hast doch absolut keinen Dunst, wie das ist, für wen zu arbeiten, der immer noch mehr von dir will und dir immer wieder steckt, dass er dich sofort feuert, wenn du auch nur eine Minute länger brauchst als er das für richtig hält. Da hat mich Catherine wunderbar auflaufen lassen. Und ich Supertrottel bin da auch noch drauf eingestiegen."

"ja, stimmt, hast recht. Du Volltrottel hast dich von deinen Chefs verheizen lassen", sagte Julius unvermittelt. "Und in Beauxbatons wurde ich auch immer gefordert, mehr rauszuhauen als ich selbst raushauen wollte, eben gerade weil ich mehr konnte als die meisten von denen. Und dann hatte ich die Sache mit Madame Maximes Blut an der Backe, die mich auch voll aus der Bahn gefeuert hat. Wenn hier also einer 'ne Ahnung hat, was gerade in dir so durcheinandertickt bin ich das wohl, ob dir das passt oder nicht", erwiderte Julius, der schon beim Betreten des Zimmers beschlossen hatte, keine falsche Rücksichtnahme und übermäßige Behutsamkeit anzubringen. Das einzige, was er Joe noch nicht sagte war, dass seit zwei Tagen sein Haus abgeriegelt war, weil irgendwelche Presseleute und Polizisten Catherine befragen wollten.

"Quatsch nicht rum, Julius. Du springst doch durch jeden Reifen, den die dir hinhalten. Und wenn deine dir angehängte Frau das dir sagt machst du der noch Baby Nummer drei, vier und fünf, weil sie deine angeblichen Supergene weitergeben will. Aber für mich ist die Geschichte jetzt wohl aus. Dass die mich nicht abgemurkst oder in irgendwas nützlicheres als einen blöden Muggel verwandelt haben liegt doch nur daran, dass die alte Eauvive mir ihre angejahrte Strulldose auf die Füße gedrückt und mich daraus mit ihrer Zauberkraft aufgefüllt hat. Das soll ja nicht ganz für nichts und wieder nichts sein."

"Gerade die besagte hätte dich auch mal eben in ein neugeborenes Baby zurückverwandeln können. Viel hätte sie da ja nicht mehr machen müssen, so wie du gerade rumflennst", erwiderte Julius knüppelhart.

"Und warum macht die das nicht?" stieß Joe aus.

"Hast du gerade gesagt, weil die eine Menge von ihrer Kraft in dich reingepumpt hat. Das muss sich immer noch rentieren. Von einem sabbernden, tränenden Windelpupser kommt ja die nächsten Jahre nichts brauchbares als ein paar Pfund Babykacke zum Blumendüngen", erwiderte Julius. Joe setzte sich auf. Doch Julius stieß ihn wieder aufs Bett zurück. "Catherine ist vor der Tür, Joe. Wenn wir uns hier prügeln holt sie die Sicherheitsleute. Willst du nicht wirklich", sagte er zu Joe. Dann sagte er noch: "Außerdem kannst du froh sein, dass Madame Eauvive das Ritual mit dir gemacht hat. Das hat dir wohl das Leben gerettet. Denn wer mit diesem Ritual gewürdigt wird hat eine mindestens doppelt so hohe Giftverträglichkeit und Krankheitsabwehr. Das hat mir auch geholfen, als mich dieser Schlangenmensch aus grauer Vorzeit gebissen hat, nicht selbst zu so einem Monster zu werden."

"Ach neh", versetzte Joe Brickston. Julius sagte dann: "Womöglich wärest du dann draufgegangen, als du das Zeug so heftig eingeworfen hast." Joe setzte sich noch mal auf, aber ruhiger. Er sah Julius sehr nachdenklich an. Dann meinte er: "Ist wohl der Grund, warum das Zeug bei mir nicht so gewirkt hat wie bei den Kollegen, die nach einem Bonbon anderthalb Tage ohne Müdigkeit durchhalten konnten." Julius nickte zustimmend. Dann sagte er:

"Ich kläre das mit Catherine und meiner zweiten Chefin ab, dass deine Eltern herkommen dürfen. Aber dann solltest du mal wieder mehr Selbstbeherrschung hinkriegen. Bis dann!"

"Ja, jetzt hast du es mir wohl gegeben. Immer auf den blöden, schwachen Muggel draufhauen, der sich nicht wehren kann und wenn er es doch tut gleich einen Zauberbann übergebraten kriegt."

Julius ging hinaus und ließ Catherine ohne Worte vorbei.

"Oha, wenn Antoinette das hier jetzt mitgekriegt hätte würde die mich nicht weiter löchern, ob ich nicht bei ihrem Verein anfange", dachte Julius. Dabei musste er daran denken, dass er Aurora Dawn anrufen wollte um zu wissen, ob sie mit der kleinen Rosey schon wieder in ihr eigenes Haus zurückgekehrt war.

Als Catherine aus dem Zimmer kam winkte sie Julius mit verdrossenem Gesicht zu und ging mit ihm in die Cafeteria der Klinik. Dort standen die Tische von gläsernen Trennwänden umgeben für sich, damit Leute, die dort aßen oder tranken in Ruhe über ihre hier liegenden Angehörigen reden konnten, ohne dass alle anderen das mithören konnten oder mussten.

"Joe hat gemeint, du hättest ihn mit dem Holzhammer drauf gebracht, was für ein Idiot er ist. Das war aber sehr riskant, Julius", sagte Catherine. Er erwiederte, dass er Joe beibringen wollte, dass Selbstmitleid und Selbstvorwürfe nichts bringen. "Er hat mir unter Tränen gesagt, er wäre lieber tot oder würde das alles wieder ungeschehen machen, angefangen an dem Abend, wo wir uns zum ersten mal getroffen haben."

"Oha, das setzt dir jetzt bestimmt heftig zu, vor allem, wo du jetzt sein drittes Kind im Bauch hast", flüsterte Julius.

"Echt, ich weiß nicht, wie ich ihm das auch noch erklären soll, Julius. Nachher behauptet er noch, dass er nicht bei Sinnen war, es mit mir auf den Weg zu bringen", seufzte Catherine. Dann sagte sie entschlossen: "Aber da wird er durch müssen. Da hast du leider recht, Julius. Mit Behutsamkeit ist bei ihm nichts zu machen. Immerhin hat er mich gefragt, ob wir wirklich mit Jennifer und James zu ihm wollen. Ich habe ihm gesagt, dass wir das auf jeden Fall machen. Da hat der doch glatt gesagt, dass sie ihn vorher wieder zum Baby zurückverwandeln sollen, aber auch gleich alles aus seinen Erinnerungen rauslöschen sollen und ihn dann an Jennifer und James herausgeben, damit die noch mal mit ihm richtig von vorne anfangen können. Da habe ich ihm gesagt, das wenn die ihn echt ganz von vorne anfangen lassen wollten, ihn meiner Tante Madeleine übergeben, weil die schon drei freche Burschen über die ersten Lebensjahre gebracht hat, deren Mütter im Sternenhaus massakriert wurden. Ich denke mal, das war für ihn dann doch keine gewünschte Aussicht."

"Öhm, hat deine Tante das echt ..." Catherine nickte. Darauf sagte Julius nichts weiteres. Sie beschlossen dann nur, Joes Eltern zu informieren, die vielleicht schon von der getürkten Meldung gehört hatten.

"Das habe ich schon mit Jennifer geklärt. Manchmal können wir zwei doch ganz manierlich miteinander reden. Laurentines Mobiltelefon ist wirklich eine brauchbare Sache.

"Könnte nur sein, dass Superior seine Leute drauf angesetzt hat, auch ihr Telefon zu überwachen, Catherine.

"Das darf er ruhig machen. Aber sie hat nichts erzählt, wo Joe ist und ich auch nicht", erwiderte Catherine.

Am Abend klärten sie in Madame Faucons gemütlicher Wohnküche ab, wie es weitergehen sollte. Julius hatte bereits eine entsprechende Anfrage rausgeschickt.

"Pina hat uns geschrieben, dass Melanie sie auch eingeladen hat, Monju. Abgesehen davon bekommt sie so eine kostengünstige Überfahrt in die Staaten", sagte Millie, als Julius wieder im Apfelhaus war.

"Ach ja, die will ja ab Januar bei meiner Mutter Computerunterricht nehmen, weil Mrs. Priestleys Kurs voll ausgebucht ist. Dann schreibe ich die an, dass sie gerne einen Tag vor der Abreise zu uns rüberkommen kann, falls du das erlaubst."

"Die Zeiten, wo ich auf Pina eifersüchtig sein müsste sind doch wohl vorbei", grinste Millie. Julius nahm das erst einmal so hin.

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9. Dezember 2002

Julius Latierre sah sich die fünfzig dünnen Silberkettchen an, die wahlweise um einen Arm oder ein Bein gelegt werden konnten. Winzige Bruchstücke von Diamanten waren in das Silber eingearbeitet worden. An jeder Kette war ein Zauber gewirkt worden, der den Träger oder die Trägerin vor allen von außerhalb seines Körpers wirkenden Versetzungs- oder Bewegungszaubern abschirmte. Zumindest hatten Florymont und Julius das so geplant.

"Test mit Portschlüssel", sagte Florymont und griff nach einer kleinen Holzdose, die Julius für diesen Versuch zum Portschlüssel gemacht hatte. Die Reichweite betrug allerdings nur einen Kilometer.

"Drei - zwei - eins - null!" zählte Julius herunter. Da glühte die Holzdose blau auf. Einen Moment lang sah es danach aus, als wenn sich eine blaue Lichtspirale um Florymont aufbauen würde. Dann blitzte die Dose blau auf und war weg. Florymont war noch da. Die Holzdose hatte ihn nicht mit sich gerissen.

"Okay, das machen wir jetzt noch an fünf Ketten. Dann steht fest, dass die ganze Mühe sich lohnt", sagte Florymont Dusoleil.

"Erst wenn wir wissen, ob die Dose noch in einem Stück an ihrem Zielpunkt angekommen ist", warf Julius ein. Florymont nickte und disapparierte. Das ging also noch, erkannte Julius.

Vier Sekunden später war Florymont wieder da, in den Händen einen Haufen Holzmehl. "Tja, Holz hält die Gegenmagie offenbar nicht aus. Aber das hier habe ich genau da gefunden, wo mich der Portschlüssel eigentlich hätte hinbringen sollen. Testen wir also noch mit anderen Materialien!" Julius nickte zustimmend.

Nach fünf weiteren Versuchen, unter anderem mit einem Körper aus Metall, einem bezauberten Eisklumpen, einem aufgeblasenen Luftballon und einem Stück Leder wussten sie, dass alle nicht organischen Portschlüssel in einem Stück am Zielort ankamen, ja sogar das pure Stück Eis vollständig erhalten geblieben war. Also wirkte die Zerstörungskraft nur auf ursprünglich pflanzliche oder tierische Bestandteile.

"Bleibt es dabei, dass ich die unter meinem Namen anbiete", fragte Florymont Dusoleil. Julius stimmte zu. Damit hatten sie beide nach Vorgaben von Julius' altem Erdmagiewissen und Florymonts Kenntnissen über thaumaturgische Konstruktionen einen wirksamen Antiportschlüssel erfunden, der in Form von Ringen, Armbändern oder Fußketten getragen werden konnte und jeden vor einer unfreiwilligen Portschlüsselreise beschützte. Das war nötig geworden, nachdem bekannt war, dass die Gruppierung Vita Magica einige ihrer Opfer mit zugesteckten Portschlüsseln entführte.

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10. Dezember 2002

Sechs Tage ging es schon gut. Keiner hatte was gemerkt. Zephyrus Rockwell hatte Dank der in seinen Kopf übermittelten Erinnerungen Shacklebolts und einem neuen Vorrat Vielsaft-Trank, der mindestens einen Monat vorhielt alles im Griff. Unterschriften zu fälschen war schon damals als Auror sein großes Steckenpferd gewesen. Das kam ihm jetzt zu Pass, als er gerade eine Genehmigung zur Dienstreise von Pina Watermelon unterschrieb. Diggerson wollte unbedingt die Erklärung vom Minister selbst, dass diese Computersachen so wichtig waren, dass dafür Personal ausgebildet werden musste. Er hatte gerade den Memoflieger mit den Unterlagen losgeschickt, als Shacklebolts Sekretärin Temperence Whitesand zwei ausländische Besucher ankündigte: Madame Catherine Brickston und Monsieur Julius Latierre. Letzterer kam offiziell vom französischen Büro für friedliche Koexistenz.

Als Catherine Brickston eintrat stellte der falsche Shacklebolt sofort fest, wo sie ihrer Urgroßmutter Claudine Rocher ähnelte. Nur die Augen waren anders gefärbt, ein Erbe von der Großmutter mütterlicherseits. Außerdem musste er aufpassen, immer zu okklumentieren. Denn Catherine war wie ihre Mutter sehr gut in Legilimentik bewandert. Aber er war trotz der Wiederverjüngung vor 25 Jahren immer noch ein Großmeister in dieser Kunst.

"Ach, es geht darum, diese leidige Sache mit Ihrem Mann zu klären, beziehungsweise, dass Ihre Schwiegereltern wissen, dass er noch lebt und kein bei einer Explosion getöteter Verbrecher ist", sagte die Vielsaft-Trank-Kopie des Zaubereiministers. Catherine bestätigte das. "Ja, und meine derzeitige Dienstvorgesetzte möchte eine auch von Ihnen abgezeichnete Genehmigung, dass wir die Eltern von Joe Brickston in die Delourdesklinik mitnehmen dürfen, ohne dass ihnen danach ein Gedächtniszauber auferlegt werden muss", sagte der durch Halbriesenblut beinahe zwei Meter große, sehr gut gebaute Julius Latierre. Er öffnete eine mit Körperspeicherschlössern verschlossene Aktentasche und förderte drei sehr sorgfältig gefaltete Pergamentbögen zu Tage. Shacklebolts derzeitiger Doppelgänger nahm die beschriebenen Pergamente und zeichnete dann unter den Namen von Tim Abrahams und Belle Grandchapeau im Feld "Genehmigt von britischem Zaubereiminister."

"Die Eltern heißen übrigens Jennifer und James Brickston und wohnen in Birmingham, Mittelengland", erwähnte Catherine Brickston. Diese Angaben musste Rockwell noch nachtragen. Dann verließen die beiden Besucher das Ministerbüro wieder. Kaum waren sie draußen, bat Tessa Highdale um Einlass.

"Ich habe mal wieder eine Anfrage aus den Staaten. Ich war damit zwar schon bei Beowulf Coats und Amos Diggory. Aber die zwei finden, dass Sie das entscheiden müssen, weil ja im wesentlichen auch außerministerielle Fachkräfte betroffen sind", sagte die blonde Werwölfin, die das britische Werwolfsondereinsatzkommando Remus Lupin anführte.

"Wollen Ihre Kollegen in den Staaten wieder wissen, ob wir nicht doch mit dem Rezept für den LNT rüberkommen wollen?" fragte Rockwell verschmitzt grinsend. Tessa nickte. "Okay, dann muss ich wohl dem Kollegen und Goldkrümelzähler Chroesus Dime persönlich antworten. Aber soviel für Ihre Kollegen in den Staaten: Solange wir von Minister Dime keine weitergehenden Angebote bezüglich der ganz neuen Harvey-Flugbesen kriegen oder mindestens noch zwanzig Lykanthroskope mehr werden wir denen nicht weiter entgegenkommen. Oder haben die Mondbrüder sich jetzt auch wieder bei den Yankees blicken lassen?"

"Dann hätte ich einen Brandbrief gekriegt, Sir. Nein, es geht den Leuten von der SQB nur darum, mit den Mondgeschwistern mithalten zu können, wenn die aus Südamerika rauskommen sollten."

"Ich habe gesagt, was ich dazu zu sagen habe", sagte der falsche Shacklebolt. Er wusste, dass der echte Minister in dieser Hinsicht genauso unnachgiebig war. Das musste er unbedingt durchhalten, solange keine Änderung der Lage vorlag.

Als Tessa mit einer schriftlichen Kurzfassung von Shacklebolts Entscheidung gegangen war dachte Rockwell daran, dass der findige Perdy bald mal mit den Arbeiten am Projekt Mondfeuer fertig werden sollte. Dann würde sich die Frage nach weiteren Aktivitäten dieser ihre Seuche immer wieder weitergebenden Pelzwechsler erledigen, auch wenn dabei wohl auch mehrere hundert Hexen und Zauberer sterben mochten.

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Jennifer Brickston trug ein grünes Kleid. Ihr Mann hatte sich einen mittelgrauen Anzug angezogen, in dem er sich höchst ungern bewegte. Aber als Julius und Catherine die Brickstons abgeholt hatten und mit ihnen per Portschlüssel nach Frankreich gereist waren hatte Jennifer darauf bestanden, anständig gekleidet in "diese Delourdesklinik" zu gehen. Das dort Menschen wegen magischer Unfälle und Krankheiten behandelt wurden bekamen sie nicht mit, als sie nach Vorlage der ministeriellen Genehmigung aus Frankreich und England durch die Flure gingen. Nur die sich bewegenden Inhalte der an den Wänden hängenden Bilder beunruhigten Joes Mutter und erstaunten Joes Vater.

Als Jennifer und James Brickston alleine bei ihrem Sohn im Zimmer saßen unterhielt sich Julius mit Antoinette Eauvive über die getroffenen Entscheidungen. Demnach sollte die Welt im Glauben bleiben, Joe sei wirklich getötet worden. Da seine Eltern per Fidelius-Zauber davor sicher waren, wegen ihm noch einmal angegangen zu werden würden sie wohl auch damit zurechtkommen, ihn zwischendurch besuchen zu können. Anrufen konnten sie ihn wohl dann über eine Vorbezahlkarte in ihren Mobiltelefonen, solange das noch ging, ohne dass die Kunden solcher Karten ihre Personalien anzugeben hatten. Das sollte nämlich demnächst auch erforderlich sein, um mögliche Terroristen überwachen zu können.

"Wie ist der Stand der Dinge, Julius. Kann dieser weltweit operierenden Verbrecherbande noch Einhalt geboten werden, damit Joseph Brickston ein für seine Ansprüche würdiges Leben führen kann?" fragte Antoinette.

"Da bin ich gerade überfragt, weil noch längst nicht alle Knotenpunkte ermittelt wurden. Aber Superior hat sicher schon gemerkt, dass sein dichtes Netzwerk immer größere Löcher hat. Wenn die Aktion gegen Joe ihn dazu bringen sollte, sich ihm auszuliefern, und das passiert nicht, wird er sich wohl wieder drauf stürzen, ein neues Netzwerk aufzubauen. Der will doch eine Gruppe von Leuten haben, die nach einer weltweiten Katastrophe die neue Führung der Menschheit übernimmt."

"Inwieweit würde uns eine derartige Katastrophe betreffen?" fragte Antoinette Eauvive. Sie schob gleich nach, dass Joe ihr auf diese Frage keine Antwort geben wollte, weil er da gerade in der totalen Ablehnungsphase gewesen war. Julius erwähnte dann mögliche Katastrophenszenarien, von einem doch noch ausbrechenden Atomkrieg, über eine weltweite Verseuchung, gegen die die Pestepidemien im Mittelalter harmlose Erkältungswellen an Grundschulen waren, über mit einem Schlag explodierende Supervulkane wie dem unter dem Yellow Stone Nationalpark bishin zu einem neuerlichen Asteroideneinschlag, wie der, der laut der gängigen Meinung der Naturwissenschaftler die Dinosaurier ausgelöscht hatte. Das einzige, was die magische Menschheit völlig unbeeindruckt lassen würde wäre ein heftiger Sonnenwindausbruch, der alles elektrische und elektronische stören oder zerstören würde, aber ansonsten keine direkten Klimaauswirkungen haben würde. "Der neueste Schlager für die Fans von Untergangsszenarien ist ein Superblitz aus Gammastrahlen, der unsere Atmosphäre zersetzt und alles und jeeden total verstrahlt, der nicht in einem tiefen Granitstollen oder ganz tief unter Wasser ist. Sowas passiert, wenn übergroße Sterne explodieren oder sich gegenseitig anziehen und zusammenstoßen", beendete Julius seine Auflistung.

"Wenn ich schon jemanden hier beherberge, der im festn Glauben, gegen eine derartige Katastrophe vorgehen zu müssen, seine körperliche und geistige Gesundheit aufs Spiel setzt, dann wollte ich doch gerne wissen, ob das auch einen Sinn gemacht hätte", grummelte Antoinette. "Aber so wie du es beschreibst würde so oder so ein Großteil der Menschheit umkommen und der Rest in einem Chaos aus Hunger, Angst und Krankheiten aufgerieben. Keine wirklich erstrebenswerten Aussichten. Da ist es vielleicht doch besser, sich nicht mit derartigen Endzeitschreckensvorstellungen das Leben zu belasten."

"Das ist wohl wahr. Aber gegen so Sachen wie einen Sonnensturm oder einen Atomkrieg kann man schon was machen. Beim ersten würde es gut sein, die elektrischen Leitungen und elektronischen Geräte abzusichern, und beim Atomkrieg würde es dringend erforderlich sein, dass immer nur die Leute regieren, die ihn auf gar keinen Fall haben möchten und die dazu geeigneten Waffen vernichten, ohne weiteren Schaden anzurichten."

"Dir ist klar, dass Leute wie dieser vom Weg abgekommene Wallenkron oder die Sardonianerinnen eine derartige Zukunft für sich ausnutzen würden, genau wie dieser Superior?" fragte Antoinette Eauvive. Julius bejahte es. Aber er räumte ein, dass Superior eben genau Angst vor einem Totalausfall elektrischer und elektronischer Systeme haben musste, wo er und seine Organisation die Möglichkeiten von Computern so ausnutzten.

Als die Brickstons wieder aus dem Zimmer kamen war Jennifers Schminke von Tränen verwischt und James Brickston wirkte sichtlich erschüttert.

"Ich will bloß nicht sagen, dass wir nicht gewarnt wurden", sagte er, während seine Frau mit einem weiteren Weinkrampf zu ringen hatte. "Aber das ich von meinem eigenen Sohn gesagt bekomme, ich hätte mir die Klöten abschneiden lassen sollen, anstatt ihn in diese Welt zu setzen, ist schon heftig. Der hat auch erst geglaubt, wir wären sowas wie Klone oder Androiden oder sowas", sagte James. Julius nickte und wollte Antoinette die Begriffe erklären. "Simulakren und Homunculi", sagte sie schnell. "Kann ich mir leider zu gut vorstellen, dass eine derartige Anschuldigung sehr verletzend ist." Julius bewunderte, dass Antoinette ein akzentfreies, lupenrein britisches Englisch sprach.

"Und Sie sagen, der war am Anfang Ihrer Behandlung noch härter drauf?" fragte James Brickston. Antoinette sah Julius fragend an. Dieser übersetzte, dass Mr. Brickston Senior wissen wollte, ob dieses Verhalten am Anfang noch schlimmer war. Das musste sie zu ihrem größten Bedauern bestätigen.

"Ich stelle mir vor, der wäre nicht in einem Hexenhospital sondern einem gewöhnlichen Krankenhaus gelandet. Die hätten den ja glatt in die Klapsmühle überwiesen", sagte James, während seine Frau hinter einem großen, schon sichtlich durchtränkten Taschentuch schluchzte. "Und das Arschloch suchen Sie noch, das unserem Jungen das Dreckzeug aufgeschwatzt hat?" fragte James. Seine Frau zuckte bei dem Kraftausdruck heftig zusammen und bekam knallrote Ohren. Antoinette und Julius blieben ungerührt. Antoinette antwortete:

"Nach dem oder denen, die für den Zustand Ihres Sohnes verantwortlich sind, wird sowohl von den Sicherheitsbehörden Ihrer Lebensgemeinschaft als auch von den unseren gesucht. Wir haben ein elementares Interesse daran, dass Väter von angehenden Hexen und Zauberern nicht von verbrecherischen Zeitgenossen gefährdet werden. Außerdem ist diese höchst fragwürdige Organisation ja darauf erpicht, den Aufenthalt Ihres Sohnes zu ermitteln. Daher haben sie ja auch diese gefälschte Todesmeldung verbreitet, um ihn nach seiner Genesung an der Fortsetzung seines bisherigen Lebens zu hindern."

"Will sagen, wenn Joe hier rausdarf darf er nicht mehr als Joe Brickston leben?" fragte James Brickston sichtlich erschüttert. Antoinette Eauvive und Julius nickten ihm zu. Jennifer schaffte es indes, ihre Tränenflut zu stopen und sagte mit leiser Stimme:

"Auch wenn wir mit Ihrer Lebensweise aus religiösen Gründen sehr große Probleme haben, so muss ich doch anerkennen, dass Sie keinen Grund hatten, meinem Jungen das anzutun. Ich kann Ihnen deshalb keinen Vorwurf machen. Falls Sie es wirklich hinkriegen, dass er völlig gesund wird, muss ich mich ja sogar bei Ihnen bedanken. Aber wenn er nicht mehr er selbst sein darf, was hat sein Leben dann noch für einen Sinn?"

"Darf ich darauf antworten?" fragte Julius die oberste Heilerin Eauvive. Diese nickte. "Erstens bleibt er für Sie beide und seine Familie sowie deren magische Angehörigen immer noch Joe Brickston. Insofern ist sein Leben nicht vorbei. Zum zweiten gab und gibt es ja immer wieder Fälle, wo jemand, der zur Gefahr für gefährliche Verbrechergruppen geworden ist, eine neue Identität bekam und damit auch mit allem, was er oder sie an Sachen gelernt hat, weiterleben konnte. Da wir die von dieser Organisation Superior in Umlauf gesetzte Meldung vom dramatischen Tod Ihres Sohnes als gültige Geschichte für den Rest der Welt stehenlassen wollen ist er sogar noch mehr abgesichert, auch wenn diese Bande gehofft hat, ihn dann unauffällig verschwinden zu lassen, wenn er doch wieder auftaucht. Könnte nur sein, dass er für den Rest der Welt unter anderem Namen leben und arbeiten muss, sofern seine Kenntnisse nicht auch in unserer Welt gefragt sind."

"Ihr habt doch nix mit Computern", stieß James Brickston aus. Das verneinte Julius und erwähnte, dass gerade zur Geheimhaltung echter Magie mittlerweile mehr Leute mit Computern und dem Internet zurechtzukommen lernten, wobei er sich selbst erwähnte, seine Vorgesetzte im Zaubereiministerium, sowie seine eigene Mutter, die dieses Wissen auch weitergab. "Also, wenn er wieder frei von allen Auswirkungen dieses Giftes ist, kann er sich das überlegen, ob er nicht auch dabei mithelfen kann, diese Kenntnisse weiterzugeben. Nur hat er an dem Ort, an den er mit seiner Familie fliehen musste, als wir hier das große Problem mit einem aus der Spur geratenen Zaubereiminister hatten, nur Leute getroffen, die sowas ablehnen. Das sind aber nicht alle Mitglieder der magischen Welt."

"ichkapiere. Durch das Internet ist ja auch dieser Riesenhaufen Bullenscheiße aufgekommen, der meinem Jungen jetzt an den Füßen klebt", grummelte James Brickston. Seine Frau zuckte wieder zusammen und sah ihm aus ihren rot verweinten Augen bitterböse an. So sagte er nur: "Jenn, was stimmt muss auch so gesagt werden, wie es ist. Mit hochanständigen Wörtern ist so eine Lumpenbande nicht richtig beschrieben."

"Abgesehen davon, dass ich Ihrer Frau nachempfinden kann, unter all diesem seelischen Ballast nicht den Sinn für eine gesittete Sprechweise zu verlieren, weil derartiges nämlich zu deutlich macht, wie hart der erhaltene Schlag getroffen hat, kann ich Ihnen, Monsieur Brickston, nur beipflichten, dass Ihr Sohn wegen dieser Umtriebe jetzt vor einer schweren Entscheidung steht. Als seine Eltern möchten Sie sicherlich mithelfen, dass er diese Entscheidung so gut es geht bewältigen kann, nicht wahr?" Die Brickstons nickten Antoinette Eauvive zu. Dann baten sie darum, bis zur Abreise noch einige Minuten für sich alleine zu haben. Hierfür ließ Antoinette die beiden in einem kleinen Arbeitszimmer zurück, in dem die hier tätigen Heiler ihre schriftlichen Berichte für die Akten verfassten.

"Das wird ein heftiges Jahr", grummelte Julius im Hinblick auf das bevorstehende Jahr 2003. "Aber besser als damit leben zu müssen, dass Wallenkron alias Vengor die Welt erobert hätte", fügte er noch hinzu.

"Klär das bitte mit Catherine und Madame Grandchapeau ab, dass du den Brickstons jederzeit als Vermittler zur Verfügung stehst. Ich denke, sie brauchen da wen, der sich in ihrer Welt zurechtfindet und nicht alles als lächerlich abtut, was ihnen wichtig ist oder Wortverständnisprobleme hat."

"Ich habe das schon mit den besagten Damen und auch mit Madame Nathalie Grandchapeau geklärt, Antoinette. Allerdings sollten wir hierzu noch wen aus England ins Vertrauen ziehen. Da die Gefahr von Riddle und Wallenkron jetzt ja doch ausgeräumt ist wäre es sogar möglich, mehrere Hexen und Zauberer in das Fidelius-Geheimnis einzuweihen. Catherine und ihre Mutter kümmern sich darum, und Tim Abrahams ist ja auch informiert worden, ebenso wie meine ehemalige Schulkameradin Ms. Watermelon."

"Hat Catherine den beiden das erzählt?" fragte Antoinette. Julius nickte. "Gut, dann gehe ich mal davon aus, dass sie diesen Leuten vertraut. Ich persönlich hege auch kein Misstrauen gegenüber der jungen Mademoiselle Watermelon. Ich empfinde nur ein gewisses Unbehagen, weil Tim Abrahams zu sehr in die Belange der Familie Barley einbezogen ist. Bei der weiß ich nämlich nicht hundertprozentig, ob die nicht ganz eigene Ziele damit verfolgen, dass sie einen Muggelstämmigen mit Beziehungen zu den magielosen Sttreitkräften in ihre Familie eingegliedert haben. Aber das ist nur eine Vermutung, nichts zum aufschreiben oder diskutieren", sagte sie. Julius verstand zumindest, was Antoinette umtrieb, so zu reden. Zum einen war Ceridwen Barley eine Großmeisterin verschiedener Bereiche, auch denen, wo Heiler sich für zuständig hielten. Zum anderen stand im Raum, dass die Hexen aus der Barley-Familie mit einer geheimen Schwesternschaft verbunden waren. Aber konnte er mit Sicherheit ausschließen, dass Pina nicht mittlerweile auch dazugehörte oder gar ihre Cousine Melissa früher Melanie?

Catherine und Julius brachten die Brickstons am Abend zurück nach Birmingham. Nirgendwo in irgendwelchen Dateien war deren Reise oder gar Reisegrund aufgetaucht. Was immer Superiors Organisation bezweckt hatte, einen Hinweis auf Joes Unterbringung hatte er so nicht erhalten.

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12. Dezember 2002

Chroesus Dime erschrak, als er mitten in der Nacht aus einem wilden Traum aufwachte. Er hatte sich und Phoebe Gildfork wiedererlebt, wieder so detailreich. Dazu hatte er das schnelle Wummern von zwei Herzen gleichzeitig gehört, die in ihm selbst schlugen und ihm mit jedem Pulsschlag einen starken Wärmestoß durch den Körper jagten. Als er richtig wach war fühlte er immer noch dieses heftige Pulsieren in sich. Er tastete schnell nach rechts, ob da jemand lag. Doch Argentea war noch nicht aus Ecuador zurück, wo sie neue Einfuhrbestimmungen für die dort lebenden Riesenfrösche auszuhandeln hatte. Er holte Luft und lauschte. Ja, er hörte sein eigenes Herz pochen, schnell und angeregt. Ja, und er vermeinte zwei winzige Herzen im schnellen Takt wummern zu hören. Er tastete beklommen über seine Bauchdecke. Ja, er hatte einige Wohlstandspfunde angesammelt. Aber er war nicht schwanger. Wie sollte das auch gehen, ohne einen Contrarigenus-Fluch, wie ihm der Halbzwerg Lorne Vane zum Opfer gefallen war? Dennoch fühlte und hörte es sich für ihn so an, als trüge er die zwei Kinder in sich, die er gänzlich unbeabsichtigt mit Phoebe Gildfork gezeugt hatte. Und dann war da noch dieses sanfte Zugreifen einer riesenhaften, unsichtbaren, körperwarmen Hand. Zumindest fühlte es sich so an. Er schlug die Bettdecke zurück, um sich zu überzeugen, dass mit seinem Körper alles in Ordnung war. Da sah er sie, eine sehr schwach leuchtende, dunkelrot glimmende Aura, die seinen Unterleib umfloss und im Takt jener winzigkleinen Herzen zuckte. Kalter Schweiß schoss Dime aus allen Poren. Jetzt wusste er, dass er hier niemals übernachten durfte, solange die zwei Kinder nicht geboren waren. Das schwarzmagische Band zwischen ihnen, ihrer Mutter und ihm wurde wirklich stärker, je weiter sie herangereift waren. Der sein Haus umschließende Schutzzauber wirkte dagegen an und rief diese befremdlichen Begleiterscheinungen hervor. Das durfte Argentea nicht mitbekommen. Die würde nachprüfen lassen, was mit ihm war. Bekamen sie oder ein Heiler das raus, was ihm aufgeladen worden war starb er, weil der ihn an die zwei Ungeborenen bindende Fluch enthüllt wurde. Er wollte aber nicht sterben. Jetzt begann auch sein eigenes Herz schneller zu pochen. Die nur seinen Unterleib umhüllende schwache Aura glomm ein wenig heller.

"Ich muss hier raus", dachte Chroesus Dime. Er sprang beinahe aus dem bequemen Doppelbett heraus. Er langte nach seinem Zauberstab und ließ damit die Zimmerbeleuchtung aufflammen. Jetzt konnte er die schwache Leuchterscheinung um seinen Unterkörper nicht mehr sehen. Er atmete auf. Also war diese Begleiterscheinung nur bei völliger Dunkelheit zu sehen und dann auch nur, wenn keine Bettdecke darübergezogen wurde. Doch er sah das als ein Vorzeichen an, bald aus diesem Haus wegzugehen. Es würde ihn wirklich früher oder später als unerwünschten Eindringling bekämpfen.

Gegen fünf Uhr Morgens verließ er den Kamin in seinem Arbeitsbereich im provisorischen Zaubereiministerium. Die Flohpulverwirbelei hatte ihn so schwindelig gemacht, dass er beinahe über seine eigenen Füße fiel. Er fühlte eine große Übelkeit und eilte schneller als üblich in das zum Arbeitsbereich gehörende Badezimmer. Er schaffte es gerade noch, den Toilettendeckel hochzuklappen, bevor er sein Abendessen erbrach. So heftig hatte ihn Flohpulvern doch noch nie beeinträchtigt, dachte er, als er sorgfältig alle Spuren seines Übelkeitsanfalls wegputzte. Dann wurde ihm klar, dass er wohl Phoebes Schwangerschaftsübelkeiten mitfühlen musste. Er konnte sich gut daran erinnern, wie heftig es seine Frau in den ersten Monaten immer mitgenommen hatte. Er hatte sie deshalb immer bedauert. Wenn die mitbekam, dass er ähnliche Beschwerden hatte könnte die glatt fragen, woher das kam. Denn ihm war klar, dass er das heute nicht zum letzten mal erlitten hatte.

"Das kann noch ein tolles Weihnachtsfest werden, wenn das so weitergeht", grummelte Chroesus Dime.

Zu seinem Glück hatte er noch genug Magentrosttrank im Vorrat. Der brachte ihn wieder in Form. So konnte er zwei Stunden später die ersten Mitarbeiter persönlich begrüßen. Die aus der Handelsabteilung kannten es schon von ihm, dass er an manchen Tagen früher im Büro war. Vor allem wo Wishbone Minister gewesen war hatte Dime schon öfter im Büro geschlafen, um abends noch was fertigbekommen zu können und morgens gleich nach dem Frühstück weiter zu machen.

Als er die druckfrischen Ausgaben der führenden Zaubererweltzeitungen Kristallherold und Stimme des Westwindes vorgelegt bekam hellte das seine Laune nicht gerade auf. Linda Knowles hatte ein Interview mit Chloe Palmer aus Viento del Sol geführt, wie es mit den zwischen Ende September und Anfang Oktober geborenen Mehrlingen voranging. Dabei hatte die Heilerin ganz gezielt Stimmung gegen die Machenschaften von Vita Magica gemacht und noch einmal bekräftigt, dass "diese Art von Kindersegen" gegen alle Verhaltensregeln der Heilerzunft und gegen Würde und Selbstbestimmungsrechte von Hexen und Zauberern sei. Mit einer derartigen Meinung in der Öffentlichkeit war sein Vorhaben schwer umsetzbar.

Gegen zehn traf er wieder Nancy Gordon. Er musste sich sehr anstrengen, ihr nicht auf den Bauch zu starren. Sie würde wohl auch als eine der letzten für eine Übereinkunft mit Vita Magica eintreten, wusste er.

"Ich darf Ihnen von meiner französischen Kollegin Grandchapeau ausrichten, dass in Paris beschlossen wurde, die Falschmeldungen über Mr. Brickstons Tod als für die magielose Öffentlichkeit gültige Wahrheit stehen zu lassen, bis die Organisation entmachtet und bestenfalls vollständig aufgelöst werden konnte, die ihm nach Leib und Leben trachtet. Dies sei auch und vor allem der Sicherheit von Mrs. beziehungsweise Madame Brickston und ihrer fünfjährigen Tochter Claudine geschuldet. Womöglich rechnen die von dieser Endzeitvereinigung damit, dass Joe Brickston schnell an die Öffentlichkeit geht, um sein Überleben und seine Unschuld zu bekunden. Sollte er dies nicht tun bestehe die Gefahr, dass Madame Brickston oder ihre Tochter entführt werden könnten. Soweit Madame Grandchapeau mir unter der Klassifizierung C6 mitteilte hätten sich wirklich merkwürdige Leute in der Nähe des Hauses der Brickstons herumgetrieben. Allerdings gäbe es da immer noch einen starken Schutzbann, der wirklich feindliche Angriffe mit oder ohne Benutzung von Magie unterbinden soll, Sanctuafugium."

"Natürlich, von diesem Zauber habe ich gehört. Leider gibt es in den Staaten keinen, der ihn praktisch anwenden kann, zumal er zur Absicherung von größeren Gebäuden von mindestens zwei oder drei Leuten ausgeführt werden muss, wenn ich da nicht falschliege", erwiderte der zeitweilige Zaubereiminister. Er dachte dabei daran, dass dieser Zauber ihm womöglich den Garaus gemacht oder ihn unter großen Schmerzen von dem Fluch befreit hätte.

"Öhm, auch wenn uns das nur am Rande betrifft, Nancy, was geschieht dann mit Joe Brickston, wenn die Heilerihn wieder freilassen, öhm, als geheilt entlassen können?"

"Das sei die Angelegenheit der Familie Brickston, schreibt Madame Grandchapeau. Wenn Madame Brickston es für richtig hält, uns darüber zu informieren, wie es für sie und ihre Familie weitergeht wird sie dies tun."

"Will heißen, dass die wohl anderswo unterschlüpfen, bis diese Superior-Angelegenheit erledigt ist", stellte Dime fest.

"Steht zu vermuten. Schließlich wohnen die Brickstons in einer für Mugg..., öhm, nichtmagische Menschen frei zugänglichen Straße", sagte Nancy Gordon. Dann erwähnte sie noch, dass ihr britischer Kollege die Ankunft seiner Mitarbeiterin Pina Watermelon angemeldet habe. Sie sollte für die nächsten drei Monate im Glashutturm der Familie Redlief wohnen und zwischendurch in einen der Computersäle des Zaubereiministeriums gelangen dürfen, um ihre hier erlernten Fertigkeiten praktisch anzuwenden. Minister Dime fragte als altgedienter Finanzverwaltungszauberer nach den anfallenden Kosten und deren Verteilung auf die zwei Ministerien.

"Das ist schon geklärt. Die Engländer bezahlen das Gehalt von Ms. Watermelon, sowie die Zusatzkosten für den Unterricht und den Flohpulververbrauch für die Reisen zum Lernort und zurück zur Unterkunft. Wir sollen den Teil übernehmen, den Ms. Watermelon in unseren Diensträumen beansprucht, also Elektrizität, Arbeitszeit an einem der Rechnergeräte, sowie Pausenfrühstück und Mittagessen. Ich denke, ihr Nachrücker wird Ihnen die entsprechenden Posten heute noch vorlegen."

"Oh, wusste nicht, dass die Engländer den großen Goldtopf ausgebuddelt haben. Ich kann mich an sehr eulenintensive Briefwechsel mit meinem britischen Kollegen Diggerson erinnern, wo es um die Unterbringung unserer Abordnung bei internationalen Konferenzen ging", erwähnte Chroesus Dime. Dann sagte er: "Gut, ich bedanke mich für Ihre Mitteilungen und erwarte den Bericht meines Mitarbeiters."

"Öhm, noch was, das uns als Zaubereiministerium betrifft, Sir", setzte Nancy zu einem weiteren Thema an. Dime nickte ihr zu. "Die ganzen Messwerte und Beobachtungsberichte über die Vernichtung des ursprünglichen Ministeriumsgebäudes sind zwar absprachegemäß verändert worden. Aber ich erfuhr von einem Verbindungsmann zur Luft- und Raumfahrtbehörde, dass über der Stelle alle zwei Stunden ein russischer Satellit vorbeifliegt, der wohl noch aus der Zeit stammt, wo die USA und die von Russland dominierte Sowjetunion einander belauert haben. Könnte also sein, dass den Russen der Krater in der Bergflanke doch aufgefallen ist und das bei denen im Zaubereiministerium noch nicht angekommen ist."

"Moment, ich selbst habe den Russen doch die Nachricht geschickt, was hier passiert ist und das kein Atombombenangriff war."

"Problem nur, dass dieser ehemalige Spähsatellit nicht mehr ausschließlich von den russischen Luftstreitkräften oder wer immer dafür zuständig ist überwacht wird. Die haben nach dem Ende des gegenseitigen Belauerungszustandes, der bei den Magielosen als kalter Krieg bezeichnet wird, einige Satelittennutzungszeiten verkauft, um die laufenden Kosten wieder reinzuholen. Im Grunde weiß keiner, wer über diesen Satelliten mitverfolgen kann, was hier in den Staaten passiert."

"Sie meinen, wer immer den noch nicht geschlossenen Krater sieht könnte nachforschen, was da passiert ist? Aber unsere Leute müssen noch das restliche Giftzeug rausholen und diese unsichtbare Strahlung irgendwie auslöschen. Das kann noch einige Wochen dauern. Aber danke für den Hinweis. Dann werde ich die entsprechenden Katastrophenumkehrtruppen antreiben, schneller zu machen. Aber wenn da was über den Sandhearst-Krater an die Presse der Nichtmagier gelangt wäre hätten wir das schon längst mitkriegen müssen, oder?"

"Zumindest in den Staaten. Was in Russland und den mit Russland immer noch verbündeten Ländern passiert kriegen wir hier nicht mit", sagte Nancy. Dann verabschiedete sie sich von ihrem höchsten Vorgesetzten und kehrte in ihr eigenes Büro zurück.

Um elf Uhr betrat Howard McRore, der Sprecher der geheimen Sondergruppe Quentin Bullhorn, das Ministeriumsbüro durch eine getarnte Geheimtür. Sofort baute Dime einen zeitweiligen Klangkerker auf. Als dessen Ockergelbes Licht Boden, Decke und alle Wände überzog begrüßte er McRore mit Handschlag. Der Werwolf kam ihm gerade recht. Denn dessen Truppe war unzufrieden, weil sie gemäß Geheimvertrag nur Bereitschaftssold von hundert Galleonen im Monat bekam, wo sie zur Zeit von Lykotopia das zehnfache erhalten hatte. So wunderte ihn nicht, dass McRore sehr kurz angebunden war. Doch sogleich wartete der Minister mit einer für den Lykanthropen sicherlich interessanten Eröffnung auf:

"Ich weiß, dass Sie alle damit hadern, dass Sie nach der Zerschlagung von Lykotopia nur noch den Bereitschaftslohn bekommen. Aber ich hörte sowas, dass die Mondbrüder wieder aktiver geworden sind. Meine Amtskollegen aus Argentinien, Brasilien und Venezuela haben von neuerlichen Angriffen auf magielose Menschen berichtet, bei denen beißwütige Wölfe die Hauptrolle gespielt haben sollen. Daher bin ich bereit, Ihre Gehälter gemäß bevorstehender Verteidigungsbereitschaft auf fünfhundert Galleonen zu erhöhen. Finden Sie bei Ihren Nachforschungen stichhaltige Beweise, dass jemand auch bei uns in den Staaten für die Mondgeschwister tätig ist oder auch nur Sympathien hegt, kann ich sogar die Anhebung auf die Gehaltsstufe zur Zeit von Lykotopia durchbekommen."

Der hellhäutige McRore stierte den früheren Finanzabteilungsleiter verdutzt an. Ein derartiges Entgegenkommen hatte er offenbar nicht erwartet. Dann knurrte er: "Haben Sie sich damals, wo Cartridge noch auf dem Stuhl da gehockt hat wunderbar ausgedacht, uns auf Minigehalt runterzudrehen, wenn mehr als drei Wochen kein anderer Lykanthrop in den Staaten rumgelaufen ist als die registrierten. Aber da war noch was ausstehendes: Wir möchten statt des Wolfsbanntrankes den Lykonemisis-Trank. Wir wissen, dass Cartridge über seine Beziehungen nach England angeleiert hat, dass auch wir in den Staaten was davon abkriegen oder zumindest die Rezeptur rübergeschickt wird, Sir."

"Leider hat sich gezeigt, dass die Zutaten dieses Trankes in den Staaten nicht zu beschaffen sind, weil diese in Europa und Afrika vorkommen. Deren Import würde Berge von Gold kosten. Daher habe ich damals Cartridge davon abgeraten, wie die Briten und Franzosen allen registrierten Werwölfen eine Dosis pro Vierteljahr anzubieten. Natürlich könnten wir Ihnen als Sondergruppe diesen Trank zugänglich machen, aber dann nur gegen eine Halbierung des Einsatzgehaltes und eben nur für eine Dosis pro Vierteljahr. Ist Ihnen das die Sache wert?" McRore gab zur Antwort nur ein unwirsches Knurren von sich. "Dann bleibt es von meiner Seite her dabei, dass Ihr Sold wieder angehoben wird, sobald wir stichhaltige Hinweise oder auch Beweise haben, dass die Mondbruderschaft auch hier in den Staaten wieder aktiv ist."

"Das will ich schriftlich haben, Sir."

"Das haben Sie doch schon. Es steht in dem Geheimvertrag, den Sie mit meinem Vorvorgänger abgeschlossen haben", sagte Dime erstaunt tuend. McRore überlegte und nickte dann ungehalten dreinschauend. Dann überflog ein Lächeln das Gesicht des Werwolfes.

"Wir haben da einen, von dem wir denken, dass er für die Mondbruderschaft ist, weil der auch gerne den LNT haben will, ein Zauberer namens Hubert Snyder. Der hängt soweit wir wissen in Glo Puddyfoots Abteilung rum als Übersetzer von Englisch in Brasilportugiesisch. Der hat Doro Carrington gegenüber mal erwähnt, dass er irgendwo da unten bei den Sambatänzern wen kennt, der ihm helfen kann, auch mal bei wolkenloser Vollmondnacht Samba zu tanzen oder wilde Liebe zu machen. Als Doro den gefragt hat, wie er denn auf sowas käme hat der gelacht und gesagt, dass man ja doch wohl noch träumen dürfte."

"Berty Snyder. Hmm, oh, weiß ich noch, wie der von dieser alten Werwölfin bei Misty Mountains gebissen wurde. Traurige Sache, wo der gerade mit den ZAGs zu tun hatte. Sein Vater ist ja noch in der Handelsabteilung", sagte der Minister. McRore nickte.

"Wenn Sie's sagen überwachen wir den mal, bis wir sicher wissen, ob der zu den Mondbrüdern gehört oder nicht", sagte der Leiter der Sondergruppe Quentin Bullhorn. Der Minister nickte zustimmend. "Bis zum zwanzigsten will ich mehr wissen, ob er schuldig ist oder nicht, Howard. Bis dahin bekommen Sie alle das halbe Einsatzgehalt angewiesen, und zwar rückwirkend zum ersten November." Dime genoss das verdutzte Gesicht gepaart mit dem freudigen Leuchten in den braunen Augen des Werwolfs. Dieser bedankte sich ruhig aber erfreut für diese Wertschätzung und erwähnte ein heute stattfindendes Treffen der Gruppe bei Kelly Barkley, einer Werwölfin aus der Umgebung von Houston in Texas. Der Minister wünschte McRore viel Erfolg bei seiner Arbeit. Damit war das Geheimtreffen auch schon vorbei.

Als McRore ging erlosch der zeitweilige Klangkerker von selbst. Dime atmete auf. Das war ja leichter gewesen als er dachte. Die Aussicht, an mehr Zauberergold zu kommen wirkte eben doch immer noch auf die meisten humanoiden Wesen, abgesehen von Vampiren, Sabberhexen oder diesen ultraattraktiven Veelas. Über den Ministerialboten Leonard ließ er sich unter Berufung auf angedeutete Vorhaben der Mondbruderschaft die vollständige Liste aller registrierten Werwölfe auf dem Boden der USA kommen. Als Lenny mit der gewünschten Pergamentrolle zurückkehrte sagte er: "Mrs. Puddyfoot will nachher noch mal mit Ihnen drüber reden, was wegen der gemalten Blutamme noch an Maßnahmen ansteht, Sir. Nan Gordon war bei der und hat mit der wohl was angeleiert. Aber das will sie Ihnen ganz persönlich sagen, Sir."

"Die zwei zusammen? Oha, da sollte ich aber vorher noch Alraunenohrenschützer bestellen."

"Im Einsatzausrüstungsdepot sind genug. Soll ich Ihnen welche holen, Sir?" wollte Lenny wissen.

"Nein, sollen Sie nicht, Lenny. Sie dürfen jetzt Mittagspause machen, falls nicht noch wer Sie bemühen möchte."

"Alles klar, Sir", erwiderte Lenny und kehrte in seinen Bereitschaftsraum zurück. Dime dachte daran, dass Lenny trotz seiner verpatzten UTZs und der damit einhergehenden Beschränkung seiner Aufstiegsmöglichkeiten noch den besten Job im Ministerium abbekommen hatte. Er war schon bei Poles Amtsantritt da gewesen und mochte auch noch hier arbeiten, wenn Dime aus welchem Grund auch immer nicht mehr Minister sein würde. Dass der Ministerstuhl für einen brennenden Besen mit eingewirktem Schleuderfluch angesehen wurde wusste Dime. Vielleicht hatte auch schon irgendwo irgendwer eine große Sanduhr mit seinem Namen darauf hingestellt. Doch solange er Minister war und weil er von Phoebe Gildfork an das Leben der gemeinsamen, in ihr heranwachsenden Kinder gekettet worden war, musste er diesen Posten so gut er konnte ausnutzen. Und die Werwölfe sollten ihm helfen, eine von Phoebes Bedingungen zu erfüllen.

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13. Dezember 2002

Hubert Snyder hatte alle Fenster fest mit lichtdichten Läden verschlossen. Er wusste zwar, dass ihm das nicht half, wenn Vollmond war. Aber er hatte seit seinem Zusammenstoß mit einer alten Werwölfin, der Urgroßtante seines Schulfreundes Gilbert, jedes Interesse an Mondlicht verloren und gehörte wohl zu den zwei Promill der Menschen, die sich freuten, wenn bei Vollmond Gewitter oder auch nur totale Bewölkung herrschte. Zudem halfen ihm die Fensterläden gegen unbefugte Eindringlinge, ebenso wie die vierfach mit Verschlusszaubern belegten Türen seines Hauses. Er wusste zu gut, dass es Zeitgenossen gab, die ihn all zu gerne umbringen würden, nur weil er diesen verfluchten Keim in sich trug.

Mitten in der Nacht hörte er das auf seine hochempfindlichen Ohren abgestimmte Zirpen des Eindringlingsvorwanzaubers. Jemand mit feindlichen Absichten hatte eines der Fenster oder die Tür berührt. Hineinapparieren konnte niemand, sobald die Türen verschlossen waren. Snyder setzte sich auf und lauschte. Doch außer dem nur für Wolfsmenschen, Haushunde und Fledermäuse hörbaren Zirpen war erst mal nichts. Er spielte schon mit dem Gedanken, sich selbst den Lupaures-Zauber aufzuerlegen, der sein Gehör noch einmal verstärkte. Doch beim letzten mal hatte er sämtliche Herzschläge und Atemzüge in fünfhundert Metern Umkreis hören können und sein eigenes Herz wie donnernde Kanonenschüsse wahrgenommen. Also ließ er den Zauber besser weg. Er sog leise und tief die Luft in die Nase. Ja, da war was fremdes in der Luft.

Jetzt konnte er auch leise Schritte aus Richtung seiner Haustür hören. Das wurde sicher lustig, wenn wer auch immer versuchte, die aufzukriegen. Er hörte ein Flüstern, das leider zu leise war, um die Wörter zu verstehen. Offenbar wollte da wer einen Zauber ausführen. Es prasselte kurz, dann fauchte es tief. Dann war wieder Ruhe. Wieder flüsterte jemand vor der Haustür. Diesmal wimmerte es dreimal. Dann ploppte es wie ein aus einer Magnumflasche springender Sektkorken. Dann war es wieder still. Snyder grinste. Wer seine Verschlusszauber aufheben wollte musste eine genau vorgegebene Reihenfolge einhalten und das innerhalb von nur fünf Sekunden. Sonst bauten sich die vier Zauber nicht ab. Er lauschte, ob wer immer sich Zutritt verschaffen wollte wieder wegging oder es weiter versuchte. Sicher würde der keinen Reducto-Fluch wirken, weil sowas bei den höheren Verschlusszaubern locker nach hinten losgehen konnte.

Es verstrichen zehn Sekunden. Dann klirrte etwas vor der Haustür auf den Boden. Schnelle Schritte eines Mannes entfernten sich. Snyder ahnte, dass der wohl mit Brachialgewalt die Tür aufkriegen wollte und argwöhnte einen magielosen Sprengkörper. Aber sowas bekam die Tür auch nicht auf. Auf jeden Fall hielt er sich die Ohren zu und riss den Mund weit auf. Da krachte es auch schon. Doch es war kein dumpfer oder überlauter Knall, sondern ein Geräusch wie zwei zeitgleich platzende Luftballons. Doch das Geräusch danach gefiel Snyder überhaupt nicht. Es war ein Splittern und Knacken, als wenn jemand ein Stück Holz zerbrach. Dann hörte er die Schritte wieder, diesmal noch schneller. Dann hörte er ein lauteres Splittern von Holz und die Schritte im Haus. Der Feind hatte die Tür tatsächlich überwunden. Das Eindringlingszirpen wurde nun unerträglich laut und kam in schneller Abfolge. Snyder verwünschte diesen Meldezauber, der sein Gehör zu überlasten drohte. Er nahm seinen Zauberstab und zischte: "Deflegeto inimicum!" Das Zirpen verstummte. Dafür sprangen nun sämtliche von Snyder im Haus eingerichtteten Feindesabwehrzauber ein, die jeden Menschen ohne den Werwolfskeim im Blut als tödlichen Feind bekämpften. Es Pfiff, zischte, prasselte, schwirrte und schrillte. Einmal meinte Snyder, eine Männerstimme eine Verwünschung ausstoßen zu hören. Doch dann krachte es laut wie zerspringendes Glas. Die Schritte kamen immer näher. Wieso konnte der Einbrecher die Zauber so einfach überwinden? Snnyder wünschte sich jetzt doch, den Lykonemisis-Trank zu haben, um den anderen als bissiger Werwolf entgegenzuspringen. Doch als Zauberer war er vielleicht doch besser dran. Wenn der andere durch seine Schlafzimmertür kommen sollte und nicht dem Vitricorpus-Fluch anheimfiel, der zwischen Snyder und der Schlafzimmertür lauerte, würde er ihm den Todesfluch aufbraten, wer auch immer es war.

Es dauerte nur noch zehn weitere Sekunden, bis die Schlafzimmertür aufflog und ein völlig unsichtbarer Mann hereinsprang. Sofort umfloss ihn eine milchigweiße Aura, die sichtbare Ausprägung des Verglasungsfluches. Doch der Fremde lief einfach weiter. Mit scharfem Knall erlosch die ihn umfließende Zauberkraft wieder. Snyder riss den Zauberstab hoch, um die zwei geächteten Worte zu rufen, als ihm eine unsichtbare Macht Mund und Arme, ja den ganzen Körper lähmte. Er blieb in der gerade eingenommenen Haltung und musste zulassen, wie der Fremde auf ihn zukam, ihm den Zauberstab aus der Hand pflückte und den eigenen Zauberstab auf Snyders Kopf richtete.

Da durchfuhr ihn ein eisiger Schreck. Er fand sich in seinem Bett liegen und keuchte. Er blickte sich sofort suchend um. Doch da war niemand. Er nahm auch keinen fremdartigen Geruch war. Er dachte daran, doch besser einen vierfachen Zauber auf die Tür zu legen, wenn er das nächste mal einen so brisanten Auftrag hatte, wie die Beschaffung der vollständigen Liste aller Werwölfe in den Staaten. Er sollte sie für seine Freunde in Brasilien ergattern, was nur ganz heimlich geklappt hatte. Jetzt musste er die Liste nur noch danach markieren, wer für die Mondbruderschaft wichtig genug war, angeworben zu werden. Aber mehr Sorgen bereitete Snyder, dass der Kurier, den er morgen Nacht erwartete, eine Probe des Wolfskindgases mitbringen würde. Mit dem Gas konnten ungeborene Kinder von Menschen ohne den Werwutkeim noch im Mutterleib damit angesteckt werdenund kamen als kleine Werwölfe zur Welt. Das würde deren Müttern sicher heftig zusetzen, wenn sie beim Säugen von ihren Kindern selbst zu Trägern der Werwut gemacht wurden. Ja, die Mondbrüder hatten im verstrichenen Zeitraum nach Lykotopia einiges hinbekommen. Er, Berty Snyder, sollte das Zeug dann im Ministerium versprühen, damit die gerade so vielen schwangeren Hexen da alle mit kleinen Werwölfen im Bauch herumlaufen mussten. Das sollte die Rache der Mondbrüder für den tückischen Werwolfabtötungskeim sein, den Vita Magica in Umlauf gesetzt hatte und der von kleinen mechanischen Moskitos übertragen wurde.

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Der Unsichtbare Eindringling reparierte die Tür, die wegen der Incantivacuum-Entladung schlagartig um zweihundert Jahre gealtert zu sein schien und gesplittert war. Dann schlich er zu den das Haus beobachtenden drei Figuren, alles Leute aus der Sondergruppe Quentin Bullhorn und besorgte einen weiteren Gedächtniszauber, dass diese mitbekommen hatten, wie Snyder einen nächtlichen Besucher eingelassen hatte und dass dieser morgen Nacht wiederkommen wollte.

Erleichtert, dass alles so geklappt hatte wie er gehofft hatte, schlich er zu seinem ganz privaten Harvey-Besen der neuesten Generation, der nicht nur sich und alles auf ihm beförderte unsichtbar machte, sondern auch völlig geräuschlos fligen konnte, so dass auch die empfindlichen Ohren von Werwölfen und Vampiren ihn nicht kommen hören konnten. Er zog den Tarnumhang aus, damit dessen Zauber nicht den des Besens durcheinanderbrachte. Darunter trug er einen hautengen, schwarzen Zweiteiler und eine ebenso schwarze Ledermaske mit Mund- und Sehschlitzen. Er saß auf dem Besen auf und flog sogleich unsichtbar und unhörbar davon.

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Minister Dime saß kaum an seinem Schreibtisch, als jemand an die geheime Zugangstür klopfte. Der Minister ließ die Tür für zwei Sekunden völlig durchsichtig werden und gab sie dann für den Besucher frei. Es war Howard McRore. Dieser schien sehr aufgeregt zu sein. Kaum hatte Dime den Klangkerker aufgebaut sprudelte es auch schon aus dem Werwolf heraus:

"Sir, meine Jungs haben gestern Snyders Haus überwacht. Um kurz nach zwei kam ein vermummter Mann, vom Geruch her auch ein Lykanthrop und klopfte zweimal kurz, dreimal lang und viermal kurz an die Tür. Snyder hat ihm aufgemacht und hereingelassen. Der Besucher ist dann mit ihm in einen Raum gegangen. Da wurde ein Klankerker gemacht. Was besprochen wurde konnten meine Leute nicht hören. Nach zwanzig Minuten ist der Besucher wieder gegangen. Es muss ein Zauberer gewesen sein, weil der zweihundert Meter vom Haus weg disappariert ist."

"Vermummt, wie?" fragte Dime sehr erregt klingend.

"Dunkler zweiteiliger Sportanzug nach Muggelart mit schwarzer Kapuze und schwarzem Tuch vor dem Gesicht."

"Groß, Klein, dick oder dünn?" fragte der Minister.

"Meine Leute sagen einhellig, dass der Typ lang und dünn wie eine Bohnenstange war. Hey, stimmt, könnte dieser Fino sein, der zu diesen Mondbrüdern gehören soll", sagte McRore, der offenbar jetzt erst kapierte, wen seine Leute da beobachtet haben wollten.

"Und Sie haben nicht die vorgeschriebene Warneule losgeschickt, um das Fangkommando hinzurufen?" stieß Dime aus.

"Die Leute von mir haben keine Eulen, weil sie keine Zauberer sind. Hätte ich dran denken sollen. Aber die magisch begabten Leute von der Truppe beobachten gerade die Grenze, weil die Mexis ja auch Lykanthropen bei sich gesichtet haben. Die mussten wen losschicken, der mit seinem Mobilsprechgerät bei einem anderen anrufen konnte. Ich bekam die Nachricht dann erst heute morgen. Deshalb kam ich gleich selbst.""

"Nichts für ungut, aber einen Zauberer mit Mugg..., öhm, Menschen ohne eigene Zauberbefähigung zu überwachen ist doch genauso unsinnig wie einem Adler ohne Besen hinterherfliegen zu wollen", schnaubte der Minister. Dann meinte er: "Hoffentlich kriegen wir diesen Burschen noch zu fassen, bevor der sich und/oder alle Spuren seines Besuchers verschwinden lässt."

"Wieso, haben Sie nicht diese Wunderbrillen aus Frankreich, die alles was bis zu zwei Tagen zurück passiert ist nachbetrachten lassen?" fragte McRore. Dime nickte. Da die Sondergruppe selbst Geheimnisträgerstatus hatte durften die auch was von den Retrocularen wissen.

"Ich schicke die Inobskuratoren hin. Sie begleiten diese", sagte Dime dem Werwolf zugewandt.

"Dürfen die wissen, dass ich von der SQB bin?" fragte McRore. Dime nickte. Immerhin gab es drei Inobskuratoren, die die Liste der Mitglieder kannten. Diese Leute bestellte er nun ein und erteilte ihnen den sofortigen Auftrag, Hubert Snyder festzunehmen und bei magischer Gegenwehr kampfunfähig zu zaubern und alles mitzunehmen, was verdächtig war.

Eine Viertelstunde später erfuhr Dime, dass die Abwehrtruppe gegen dunkle Hexen und Zauberer auf gebündelte Schutzzauber gestoßen war, die das Haus umgaben. Nur mit vereinten Kräften sei eine Bresche hineingeschlagen worden. Snyder habe Fallenzauber im Haus in Kraft gesetzt und sich gegen die Festnahme gewehrt. Eine halbe Stunde später wurde Snyder unter Gabe von Veritaserum verhört. Was dabei herauskam erschütterte alle, die davon mitbekamen. Der Minister selbst konnte in einem Nebenraum per Schallverpflanzungszauber mithören, dass die Mondbrüder ein tückisches Gas erfunden hatten, dass den aus Blut und Speichel von Werwölfen herausgefilterten Werwutkeim in form von größtenteils harmlosen Schnupfenkeimen übertragen konnte. Das tückische daran war, drangen diese verfremdeten Keime in das Blut einer schwangeren Hexe ein, vermehrten sich die Keime im Körper und wurden dem Ungeborenen zugeführt. Dort vollzog sich dann wohl die Ansteckung mit dem Werwuterreger. All das sagte Snyder aus und auch, dass er noch in dieser Nacht von dem dünnen Mann besucht werden sollte, um die Probe des gefährlichen Gases zu bekommen. Deshalb befahl Dime nur den SQB-Leuten, das Haus zu überwachen. Der Minister wollte bei dieser Aktion keine unbelasteten Zauberer und schon gar keine Hexen dabei haben.

McRore musste auf ministerielle Anweisung und mit dem Versprechen, dreitausend Galleonen Gefahrenzulage zu bekommen, eine Dosis Vielsaft-Trank mit Snyders Haar einnehmen, als der Abend kam. Dime selbst wollte im Büro warten.

Als dann die Einsatzgruppe auf dem Posten war flog derselbe Zauberer, der in der Nacht zuvor Snyders Haus betreten hatte auf seinem Besen über den Einsatzort. Er bekam über das mitgeführte Lykanthroskop, dessen Summen wegen der neuen Bezauberung des Besens ebenso nach außen abgeschirmt wurde mit, wie sich zehn Werwölfe um das Haus innerhalb der Apparierbeschränkungszone verteilten und McRore selbst im Haus Stellung bezog. Er wartete noch eine Minute. Dann warf er eine luftdicht verkorkte Phiole nach unten, genau vor das Haus. Als diese unten aufschlug und zerbarst rückten die Beobachter sofort vor und fielen der Reihe Nach um. Das sofort wirksame Schlafgas drang durch die Türritzen auch in das Haus ein. Der auf dem auf der Stelle schwebenden Harvey-Besen reitende Zauberer wartete, bis auch McRore der Wirkung erlag und in den einstündigen Tiefschlaf verfiel. "Die müssen unbedingt zu einem Sicherheitstraining der Inobskuratoren hin, wie man sich bei einer geworfenen Phiole verhalten muss", dachte der unsichtbare Besenreiter und landete.

Er brauchte nur zehn Minuten, um im Schutz einer Kopfblase alle bewusstlosen Werwölfe mit seinen Zaubern zu behandeln. Dann flog er wieder davon.

Zwei Stunden, nachdem die Schlafgaswirkung verklungen war, bekam der in seinem Büro sitzende Minister Dime die Meldung über eine der praktischen Fernsprech-Silberdosen, dass sie den Kontaktmann nicht hatten festnehmen können. Der hatte wohl eine Falle gewittert und hatte um sich einen Zauber gemacht, der allen die Ohren zum Klingeln brachte, einen sphärisch wirkenden Sirennitus-Zauber wohl. Jedenfalls war der Fremde unverzüglich auf einem aus seiner wohl rauminhaltsbezauberten Jackentasche gezogenen Besen davongeflogen, einem Parsec 1, wie die Besenfachleute unter den Beobachtern bestätigten.

"Hat er außer dem wilden Heulton noch was gezaubert oder gar versprüht?" fragte Dime. Die Antwort war ein klares nein. "Gut, dann müssen Sie nicht in Quarantäne", antwortete Dime erleichtert klingend.

Gleich am frühen Morgen ließ er die Leiter der Abteilungen für magische Geschöpfe, Strafverfolgung, sowie Nancy Gordon vom Büro für friedliche Koexistenz von Menschen mit und ohne Zauberkräfte in einen fensterlosen Konferenzraum kommen, der ein Dauerklangkerker war. Dann durfte auch Howard McRore dazustoßen, der die noch in der Nacht geschriebenen Einsatzberichte mitbrachte. Dime legte den Anwesenden zusätzlich die magischen Mitschriften von Snyders Vernehmung vor. Als alle die Aussagen gelesen hatten sagte der Minister:

"Wir hatten gehofft, dass die sogenannten Mondgeschwister nach ihrer Niederlage in Spanien und dem Fall von Lykotopia wesentlich friedlichere Töne anstimmen würden oder sich dauerhaft aus der Zivilisation zurückgezogen haben. Dem ist wohl leider nicht so. Sie haben die Zeit genutzt, um einen heimtückischen Gegenschlag vorzubereiten, der nicht nur gegen die magische, sondern auch nichtmagische Menschheit gerichtet sein sollte. Wir müssen also davon ausgehen, dass sie dieses sogenannte Wolfskindgas anderswo bei uns in den Staaten einsetzen können, womöglich von fliegendem Besen aus. Wir hatten im Grunde Glück, dass sich der Verdächtige Snyder bei einer Mitarbeiterin aus der Sondergruppe Quentin Bullhorn verplappert hat. Wäre ihm dieser Fehler nicht unterlaufen hätten wir wohl alle in wenigen Tagen dieses heimtückische Gas zu spüren bekommen. Da hier im Ministerium und überhaupt im ganzen Land gerade viele Hexen schwanger sind, ob gewollt oder erzwungen ist hier zu vernachlässigen, hätten diese Hexen womöglich Kinder mit angeborener Lykanthropie austragen und zur Welt bringen müssen. Ob die von VM zur Mutterschaft getriebenen Hexen durch die Manipulationen dieser Gruppierung dagegen immunisiert gewesen wären wage ich zu bezweifeln. Es steht also wohl im Raume, dass wir alle in Gefahr sind, vor allem die Hexen in anderen Umständen. Ich erwarte daher Ihre Vorschläge, wie wir damit umgehen sollen!"

Nun setzte eine lange und erregte Diskussion ein, wie mit einer derartigen Bedrohung umgegangen werden konnte. Nancy Gordon, die bei Dimes Ansprache immer wütender dreingeschaut hatte, erwähnte die Angst der Magielosen vor sogenannten Biowaffen, die ohne großen technischen Aufwand hergestellt werden konnten, weil dazu hauptsächlich gefährliche Krankheitserreger gebraucht wurden. Gegen sowas würde nur eine frühzeitige Entdeckung des Keimträgers und eine Impfung aller Menschen gegen die gefährlichen Keime helfen, sofern es dagegen überhaupt Impfstoffe gab. Allerdings erwähnte sie auch die nach dem elften September aufgekommene Angst vor Milzbranderregern, die in verschiedenen Behörden aufgetaucht sein sollten und dass viele menschenunfreundliche Zeitgenossen diese Angst ausgenutzt hatten, um scheinbare Träger dieses Krankheitserregers zu verschicken. Vielleicht war das mit dem Wolfskindgas so eine Finte, um Angst zu schüren, nach dem Motto: "Dein nächstes Baby wird ein Werwolf." Auf die Frage, ob vielleicht Vita Magica hinter dieser Aktion steckte sagte Strafverfolgungsleiter Greystone: "Soweit ich weiß verachten die alle Lykanthropen. Deren Antiwerwolf-Mücken fliegen ja wohl immer noch herum. Nur unsere Leute tragen Silberabwehr-Armbänder oder Fußkettchen, um diese Biester auf Abstand zu halten." Gloria Puddyfoot aus der Zauberwesenbehörde nickte bestätigend.

Nachdem alle sich einig wurden, dass die Sache auf der zweithöchsten Geheimhaltungsstufe S9 eingeordnet werden musste, um keine Panik unter der Bevölkerung zu schüren, sagte Dime etwas, das alle anwesenden erst verblüffte und dann zu einer neuen, hitzigen Debatte anregte.

"Ich möchte von Ihnen allen die Zustimmung, dass ich in dieser Angelegenheit auch die vom Zaubereiministerium als unerwünschte Gruppierungen eingestuften Geheimgesellschaften kontaktiere. Weder den Spinnenschwestern, noch jenen, die sich als schweigsame Schwestern bezeichnen und auch nicht Vita Magica kann daran gelegen sein, dass die Mondbruderschaft mit dieser gefährlichen Waffe Erfolg hat. Hier sollten wir alle magischen Organisationen, legal oder illegal, zu einer zeitweiligen Zusammenarbeit anregen, zumal es außer den Mondbrüdern ja auch immer noch die uns alle bedrohenden Vampire dieser Nachfolgeorganisation von Nocturnia gibt, die womöglich ebenfalls an einem neuen Vampyrogen arbeiten. Wie das letzte Mittel dieser Art gewirkt hat ist Ihnen hier sicher noch gut in Erinnerung." Alle nickten. Nancy Gordon sah den Minister verdrossen an. Dann eröffnete sie die Debatte, ob es wirklich so klug oder mit den Grundsätzen des Ministeriums vereinbar war, eindeutig kriminelle Gruppierungen zu einer Zusammenarbeit einzuladen. Auch andere waren nicht begeistert, die Spinnenschwestern einzuladen. Allerdings bot der Leiter der Strafverfolgungsabteilung an, dieser Gruppierung zumindest einen ähnlichen Burgfrieden anzubieten, wie Cartridge ihn schon mal erzielt hatte, als es um Nocturnia ging. Damit würden zumindest mehrere Ministerialkräfte frei, um nach den Mondbrüdern zu suchen. Darauf bekam er natürlich zu hören, dass diese Gruppe immer noch im Verdacht stand, Zaubereiminister Wishbone ermordet zu haben. Doch daran glaubte außer dem Leiter der Inobskuratorentruppe keiner mehr, weil dessen Tod ihn ja zum Märtyrer seiner hexenfeindlichen Ansichten gemacht hätte.

Am Ende einer sich irgendwann im Kreis drehenden Debatte fragte Dime, ob er die Zustimmung bekam, die Spinnenschwestern, sowie die Vereinigung Vita Magica anzuschreiben. Als Nancy Gordon sagte, dass sie von Vita Magica nichts hielt, aber denen all zu gerne um die Ohren hauen wolle, dass sie die ihr aufgedrängten Kinder vielleicht als kleine Werwölfe zur Welt bringen würde sagte Dime verschmitzt grinsend: "Gut, Nancy, Sie haben die Erlaubnis, das in einem eigenen Brief so zu formulieren, nur nicht als Heuler. Ich werde da noch einen Brief dabeilegen, dass ich ungern aber unter Abwägung des größeren gegen das kleinere Übel befunden hätte, dass alle derzeit nicht mit dem Werwuterreger belasteten Hexen und Zauberer gegen diese mögliche Gefahr für unseren Nachwuchs eine zeitweilige Koexistenz ohne weitere Beeinträchtigungen erzielen sollten."

"Dann schreiben Sie auch an die schwarze Spinne alias die neue Anthelia, Sir. Von mir kriegen Sie dazu keinen eigenen Brief", sagte der Leiter der Strafverfolgungsabteilung. Der Leiter der Inobskuratoren nickte ihm zustimmend zu.

"Sie alle wissen, dass ich als amtierender Zaubereiminister solche Schritte auch ohne Ihre Zustimmung, ja auch ohne Ihr Wissen unternehmen könnte. Aber mir liegt etwas an einer vertrauensvollen Zusammenarbeit und vor allem daran, dass Sie alle hier auf dem gleichen Stand der Entscheidungen sind, um Ihre Abteilungen entsprechend zu führen. Dann werde ich den schweren Gang antreten und bei uns sehr unerwünschten Gruppen um einen zeitweiligen Frieden bitten, einen Weihnachtsfrieden, wenn Sie so wollen."

"Gut, das ist ein griffiger Name für eine solche Stillhalteaufforderung", grummelte Nancy Gordon. Die Vorstellung, die ihr aufgenötigten Kinder als kleine, beißwütige Pelzwechsler bekommen zu müssen und dann vielleicht von denen selbst zu einer Werwölfin gemacht zu werden hatte sie doch ziemlich heftig getroffen.

Noch am selben Tag schickte der Minister drei Briefe auf die Reise. Der eine sollte die Lady der schwarzen Spinne erreichen und enthielt eine sehr demütig formulierte Bitte um eine Erneuerung des einstigen Burgfriedens. Der zweite Brief sollte in die Nähe jener Koordinaten getragen werden, wo die von den LI-Leuten ausgemachte Basis von Vita Magica lag, und die seither von keinem Portschlüssel oder Apparator erreicht werden konnte und jedes Ding mit Flugbezauberung wie mit einem überstarken Ansaugzauber vom Himmel herunterriss, wie zwei nach Chile geschickte Detektionsdrachen schlagkräftig bewiesen hatten. Über dem Stützpunkt lag wohl ein Antiflugzauber mit verstärkender Wirkung. Also gab es diese Basis offenbar noch. Ein auf das Anfliegen von zugerufenen Längen- und Breitengradangaben abgerichteter Uhu trug den mit einem Bleigewicht beschwerten Briefumschlag, an dem zu allem noch eine weiße Fahne angehängt war. Brief Nummer drei ging an den Kontakt zu den mit dem Ministerium zusammenarbeitenden Hellmondvampiren. In diesem Brief wurde angekündigt, dass diese weiterhin das Treiben der Sekte der schlafenden Göttin beobachten sollten, damit diese das nicht ausnutzten, wenn die Werwölfe von der Mondbruderschaft einen neuen Schlag gegen die Menschheit führten.

Dime lehnte sich in seinen Sessel zurück. Jetzt hieß es warten und hoffen. Wenn er von Vita Magica eine Absage bekam, weil Nancy in ihrem Brief pures Drachenfeuer versprüht hatte, dann war alles vergeblich gewesen. Doch wie hätte er vor allem Nancy Gordon dazu bringen sollen, friedlich mit denen umzuspringen, die ihr zu ungewolltem Kindersegen verholfen hatten? Nein, so war es authentischer, fand Dime. Sein wesentlich beschwichtigenderer Tonfall mochte da den gewünschten Eindruck vermitteln.

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15. Dezember 2002

Wie sehr muss er sich da gewunden und immer wieder vor den Kopf geschlagen haben, dass er mir diese höchst unterwürfige Nachricht geschickt hat", lachte Anthelia, als sie ihren amerikanischen Mitschwestern den Brief des amtierenden Zaubereiministers Dime vorgelesen hatte. der hatte ja schon um Gnade gefleht und bei seiner Formulierung zwischen den Zeilen angedeutet, dass er vielleicht lieber als Hexe geboren worden wäre. Doch den Gefallen, diesen Zustand herzustellen, wollte ihm Anthelia/Naaneavargia nicht erweisen. Ihr war es nur wichtig, dass Dime wegen einer angeblichen Geheimwaffe der Mondgeschwister auf ihre Unterstützung hoffte. Doch stimmte das überhaupt, dass die Werwölfe ein Gas erfunden hatten, das ungeborene Kinder mit der Werwut ansteckte, ohne dass ihre Mütter diesen Keim bereits im Blut hatten? Das musste sie zuerst genau ergründen, bestenfalls die Zeugen dieser höchst beunruhigenden Botschaft verhören. Denn ihr kam in den Sinn, dass sie und ihre Schwestern vom Ministerium vereinnahmt werden sollten, um Dime den Rücken freizuhalten, ja ihn sogar als Befrieder der nordamerikanischen Zaubererwelt auftreten zu lassen. Das würde sie ihm auf keinen Fall durchgehen lassen. Deshalb war ihr wichtig, alle Hinweise und Beweise zu prüfen. Die Lykanthropie schreckte sie nicht. Die in ihrem Körper wirkenden Tränen der Ewigkeit vereitelten jede magische oder alchemistische Körperumwandlung von außen. So beschloss sie, auf Dimes so knapp an der Selbstgeißelung entlangschrammenden Anfrage zu antworten, jedoch nicht in eigener Person, sondern durch das Lied der kleinen Gesandten, einen den Erdvertrauten bekannten Zauber, um ohne eigene Gefahr für Körper und Geist mit einem anderen zu verhandeln. Allerdings prägte sie, nachdem sie die nötigen Vorbereitungen und Zauber durchgeführt hatte, noch einen Zauber auf, der jeden, der es wagte, die kleine Abgesandte von ihr festzuhalten, auf deren geringere Körpergröße einzuschrumpfen.

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Der US-amerikanische Zaubereiminister musste die ihn immer wieder heimsuchenden Übelkeits- und Schwindelanfälle mit Zaubertränken niederhalten. Dieser übermächtige Zauber ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Um eine weitere Bedingung Phoebe Gildforks zu erfüllen hatte er angeregt, Klarheit über den Aufenthaltsort von Arbolus Gildfork zu erlangen. Im Brief an Vita Magica hatte er nur erwähnt, dass er hoffe, dass diese Vereinigung die in ihrer Obhut befindlichen US-Amerikaner zu ihren Angehörigen zurückschickte, wenn sie damit einverstanden seien, dass das US-Zaubereiministerium keine weiteren Nachforschungen über deren Mitglieder oder die Zusammensetzung der verschiedenen Fruchtbarkeitsanregungselixiere betreiben würde. Falls Arbolus Gildfork dabei wieder zurückkehrte musste er selbst irgendwas tun, um eine Leiche von ihm auftauchen zu lassen. Denn sonst starb er. Ihm graute davor, Arbolus womöglich mit eigener Hand oder Zauberkraft töten zu müssen. Denn eines war ihm durch Phoebes auf ihn gesprochenen Zauber bewusst: Sie wollte nicht mehr mit ihrem Mann zusammenleben.

Mit den schwermütigen Gedanken im Kopf, jemanden ermorden zu müssen, um selbst am Leben zu bleiben setzte er sich zum Frühstück in sein kleines Esszimmer. Er bestellte bei den Küchenelfen einen Pfannkuchen mit Apfelfüllung, zwei Erdnussbuttertoastbrote und eine Halbliterkanne Kaffee mit einem Viertel Milch darin. Er rechnete damit, dass die Bestellung augenblicklich auf seinem Tisch verstofflicht wurde. Doch als es über dem Tisch flimmerte und wahrhaftig etwas darauf erschien verschlug es ihm die Sprache. Denn das war keinesfalls das, was er bestellt hatte.

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"Wie lange wird Blanche Faucons Tochter mit ihren Töchtern in Millemerveilles bleiben müssen?" fragte Selene Hemlock ihre Mutter, als diese ihr alle Neuigkeiten der letzten Tage mitgeteilt hatte.

"Das ist wohl davon abhängig, was mit ihrem Mann passiert. Offiziell ist der ja jetzt tot und begraben. Es kann nur sein, dass diese Leute, die ihm dieses Wachhaltemittel gegeben haben nicht aufgeben. Eigentlich ist er für sie wertlos geworden. Aber da sie seinen scheinbaren Tod inszeniert haben unterstelle ich denen eine gewisse Rachementalität, dass niemand, der ihnen ins Handwerk zu pfuschen wagte, das überleben darf. Also besteht durchaus noch Gefahr für Leib und Leben, sowohl für ihn selbst wie für seine Familie."

"Ja, aber Julius Latierre hat doch mit veranlasst, dass diese Gruppierung entmachtet wird, die ihn bedroht, oder?"

"Soweit es ohne Verwendung von Magie ging, die Hinterleute zu entlarven und zu entmachten ja. Einige von denen haben ja sofort die neue Lage genutzt und sich als Kronzeugen angeboten. Erinnert mich ganz an die Gerichtsverhandlungen nach dem Sturz von Riddle."

"Oder Didier", erwiderte Selene Hemlock. Soweit ich das noch weiß, was Austère Tourrecandide von Martha Merryweather, damals noch Eauvive, erfahren hat gibt es unter den Magielosen auch skrupellose Elemente ..."

"Hämm-ämm", machte Theia Hemlock. Selene stierte sie verdrossen an. Doch Theia sah sehr entschlossen zurück. "

"Also gut. Die Martha Merryweather sagt, dass es ganz böse Leute bei den Muggels gibt, die Leute mit Giften oder anderen Sachen in die Köpfe treiben, für die zu arbeiten. Gedankenkontrolltechnik hat sie das genannt. Das haben auch Leute gemacht, die ganze Länder regiert haben."

"Ja, und die deshalb zu bösen Leuten gewordenen, die das tun, was denen jemand anderes in die Köpfe getrieben hat, sagen dann, wenn sie gefangengenommen werden, dass sie das nicht wollten und erzählen dann, was denen passiert ist und dass sie doch eigentlich auch unschuldig sind", sagte Theia mit unüberhörbarer Verachtung.

"Ja, und was geht jetzt weiter?" fragte Selene Hemlock mit verdrossenem Gesicht.

"Das sollen die in Frankreich klären, ob sie Joseph Brickston noch für lebendig erklären oder das einfach so lassen, dass der für alle anderen tot zu sein hat", sagte Theia Hemlock.

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Auf dem Tisch lag eine Puppe oder Figurine von annähernd siebzehn Zentimetern Länge. Sie stellte eine in allen anatomischen Einzelheiten nachgebildete Frau mit langen Beinen, weitem Becken und üppiger Oberweite dar. Die Miniatur schimmerte blassgolden und hatte feines, dunkelblondes Haar, das ihr auf die Schultern fiel. Sie erschien in einer einladend willigen Pose, die in Dime eine unstatthafte Erregung hervorrief. Sogleich fühlte er jedoch ein krampfhaftes Ziehen im Unterleib, und die verbotene Erregung verschwand. Da öffnete die auf dem Tisch erschienene Miniatur ihre blaugrünen, kreisrunden Augen, die sich sofort auf ihn richteten. Dann bewegte die Miniatur ihre Arme und Beine. Sie war lebendig. Minister Dime streckte behutsam die rechte Hand aus. Er wollte wissen, ob es nicht in Wahrheit eine wirkliche, nur verkleinerte ...

"Halt, Sir, wenn mich jemand berührt wird er auf meine Größe geschrumpft!" rief die auf dem Tisch liegende Nachbildung einer Frau. Dime zog die Hand zurück. Die Stimme klang laut und tief, ja sehr anregend tief. Das passte nicht zu einer Winzlingsfrau oder einer Puppe. Dann setzte sich das kleine Geschöpf auch noch auf und stellte sich auf ihre kleinen Füße. Unbekümmert, dass es alle Formen und Merkmale einer erwachsenen Frau darbot sagte es dann:

"Ich sehe, Sie erkennen, wem ich nachempfunden wurde. Meine Vorlage hat mich zu Ihnen geschickt, weil ihr Versetzungstischchen bei den Küchenelfen die einzige Möglichkeit bietet, etwas an allen Sicherheitsleuten vorbei zu Ihnen zu schicken. Ich will auch nicht lange bleiben, sondern mir noch mal genau erzählen lassen, warum Sie über ihren Schatten springen mussten, um meine Vorlage und ihre Mitschwestern um eine Erneuerung des Burgfriedens zu bitten."

"Ach, und du bringst ihr dann meine Botschaft auf die gleiche Art, wie du zu mir gekommen bist?" fragte der Minister, der natürlich jetzt wusste, wessen Miniaturausgabe da vor ihm stand.

"Ich enthalte ein winziges Fragment meiner Vorlage. Deshalb kann sie alles hören, was ich höre und sehen, was ich sehe. Wenn Sie aber versuchen, den Zauber zu erfassen, der das bewirkt verschwinde ich sofort wieder und damit die Möglichkeit, den gewünschten Burgfrieden zu schließen."

"Sag deiner Vorlage, dass dies dann aber ihr Pech sein würde", setzte Dime erst an, besann sich aber dann darauf, dass er ja sehr behutsam auftreten wollte. So schob er gleich nach: "Denn ich möchte nicht Schuld daran sein, dass die Kinder der Mitschwestern deiner Vorlage als Lykanthropen zur Welt kommen müssen. Es ist für mich sehr schwierig, das wem außenstehenden anzuvertrauen. Doch ich erkenne an, dass deine Vorlage und ihre Mitschwestern sehr kundige Hexen sind, wie du ja gerade wieder beweist. Auch hoffe ich sehr darauf ..."

"Ja, das hast du alles in dem Brief geschrieben, den meine Vorlage bekommen hat. Aber was genau soll das mit den angeblichen Wolfskindern sein?" fragte die puppengroße Nachbildung der obersten Spinnenschwester. Dime erklärte es ihr und hielt ihr auch die Protokolle zum lesen hin. Eigentlich ganz praktisch, fand er. So musste er die Mitschriften nicht kopieren und auf einen ungewissen Eulenflug schicken. Wenn die Eule unterwegs abgefangen wurde gelangten die Dokumente in falsche Hände. Aber das taten sie ja irgendwie ohnehin, dachte Dime verdrossen.

"Da haben wir gerade so den grassierenden Vampirismus abgewendet und kriegen demnächst alles kleine Werwölfe, wenn das stimmt, was hier steht. Aber was sollen wir dabei tun. Sie verlangen doch nicht wirklich, dass meine Vorlage ihren Schwestern rät, sich mit Ihnen und Ihren Mitarbeitern zusammenzusetzen, oder?"

"Ich erwarte nur, dass die Schwesternschaft deiner Vorlage keinen US-Bürger an Leib und Leben bedroht und bis auf weiteres darauf verzichtet, ihre eigenen Ziele zu verfolgen, welche das auch immer sein mögen. Ich bin bereit, alle Nachforschungen zu unterlassen, die nach der Verjüngung und Geschlechtsumwandlung von Lorne Vane angeregt wurden. Ich habe meine Mitarbeiter aus den entsprechenden Abteilungen aufgefordert, jeder Hexe eurer Schwesternschaft freies Geleit zu geben, falls sie mit uns zusammentreffen möchten, um Wissen oder Erfahrungen auszutauschen. Wohl gemerkt, falls sie das möchten."

"Aber außer der Aussage dieses Snyders und der ihn beobachtenden Ministeriumstruppe haben Sie nichts vorzuweisen. Wer sagt mir, also meiner Vorlage, dass die Werwölfe euch nicht allesamt ins lodernde Drachenmaul hineintreiben wollen? Wenn Ihre Leute eine Probe dieses Wolfskindelixiers hätten, wie meine Vorlage eine Probe des Werwolfabtötungserregers erhalten konnte, wäre meine Vorlage sicher dazu bereit, alle verfügbaren Kenntnisse mit Ihnen zu teilen. Wie wäre es, wenn Sie den Führer Ihrer Sondergruppe und diesen Snyder einfach mal in einer Wüste oder auf den Gipfeln der Rocky Mountains ablieferten, damit meine Vorlage sie genauer überprüfen kann. Sie ist gegen die Werwut immun, wegen ihrer besonderen Beschaffenheit. Nachher hat irgendwer denen noch ein falsches Gedächtnis verabreicht, damit Ihr Ministerium in Panik gegen jeden auftauchenden Lykanthropen vorstürmt oder alle gerade schwangeren Hexen an einem werwolfsicheren Ort zusammenpfercht. Am Ende ist das ein groß angelegtes Täuschungsmanöver von Vita Magica, dieser hexenverachtenden Bande." Dime musste sich sehr beherrschen, nicht ertappt oder in die Enge getrieben zu wirken. Denn er durfte der Puppe da nicht verraten, dass er unter magischem Bann stand und mindestens mit Vita Magica Frieden schließen musste. So sagte er schnell:

"Ich kann doch nicht einen meiner wertvollen Sondermitarbeiter einfach so jemandem ausliefern, von dem wir bisher fürchten mussten, dass er oder sie die bestehende Zaubererweltordnung umstürzen möchte."

"Doch, das können Sie, wenn ich es Ihnen sage. Wenn Sie wirklich einen Frieden haben möchten, dann nur auf der Grundlage wahrhaftiger Absichten. Wahrhaftig heißt, auf wahre Gegebenheiten gründend. Das kann meine Vorlage jedoch nur beurteilen, wenn sie die einzigen Zeugen dieser Sache überprüfen darf."

Dime dachte daran, dass eine genaue Überprüfung durchaus einen aufgepfropften Gedächtniszauber enthüllen konnte. Das durfte er also keinesfalls zulassen.

"Snyder hat unter Veritaserum seine Aussagen gemacht", blaffte Dime, bevor ihm wieder einfiel, nicht zu forsch zu sein. Diese Hexenschwestern mussten den Eindruck haben, dass das Ministerium in einer ernsthaften Notlage war und daher alle Feindseligkeiten einstellen wollte.

"Ja, das, was er als die Wahrheit im Kopf hat. Schicken Sie mir zumindest den Werwolf Berty Snyder. Wenn er wirklich ein Agent der Mondbrüder ist können Sie doch gut auf den verzichten", forderte die Miniaturausgabe der obersten Spinnenschwester.

"Du meinst, weil ich ihn nach der Geheimhaltungsstufe nicht vor den Gamot bringen kann?" fragte der Zaubereiminister. Die puppengroße Ausgabe der Spinnenhexe nickte bestätigend. "Nein, das geht auch nicht. Er ist im Moment der einzige Anknüpfpunkt an die Mondbruderschaft", sagte er laut und dachte, dass dies die geniale Begründung dafür war, Snyder nicht auszuliefern, an wen auch immer.

"Ja, aber nach dem Protokoll hier ist er als Agent aufgeflogen und somit wertlos. Die Mondbrüder werden ihn nicht mehr ansprechen, eher werden sie ihn töten. Also können Sie ihn auch zu uns schicken."

"Das darf ich leider nicht tun, auch wenn ich dir rechtgeben kann, dass er jetzt keinen Wert mehr für die Mondbrüder hat", erwiderte Dime und dachte, dass Snyder nie wirklich mit einem der Mondbrüder zu tun hatte.

"Gut, meine Vorlage wird entscheiden, was sie tun möchte. Ich darf anbieten, dass der Burgfrieden zwischen dem Ministerium und dem Orden der schwarzen Spinne durchaus ein großes Ziel ist, solange hexenfeindliche Wesen uns alle bedrohen. Bitte befehlen Sie nun, den Tisch wieder abzuräumen, Sir!"

"Wer sagt mir, dass du nicht doch das Original bist", dachte der Minister für sich und griff blitzschnell zu. Denn er ging davon aus, dass er jedem Fluch und Verwandlungszauber unterhalb von Decompositus und Avada Kedavra widerstehen würde. Seine rechte Hand bekam den linken Arm der Puppengroßen zu fassen, die das ohne Ausweichversuch hinnahm. Augenblicklich umflogen den Minister rote und grüne Funken. Um seinen Unterkörper flackerte es elmsfeuerartig rot und grün auf. Dime fühlte, wie eine eiserne Faust seinen Halsund seine Lungen umklammerte und meinte, seine Gedärme wollten durch die Bauchdecke brechen. Er wollte schreien, bekam aber nicht genug Luft dafür. Fünf Sekunden lang hielt er den miniaturisierten Arm fest. Dabei wurde die Nachbildung immer heißer und heißer, bis sie mit einem lauten Fauchen zu einer Wolke aus schwarzer Asche und heißem Dampf zerplatzte. Dime bekam was davon an die Hand und ins Gesicht. Er schrak zurück. Das rot-grüne Lichterspiel um seinen Körper erlosch im selben Moment, wo die Verkleinerung der Spinnenschwester vernichtet wurde. Auch der Druck auf Hals und Lunge und das schmerzhafte Drängen seiner Eingeweide gegen die Bauchdecke verschwanden übergangslos. Er sah sich um. Er war noch normalgroß. Außer dem kleinen Haufen Asche auf dem Tisch gab es keinen Hinweis auf die merkwürdige Begegnung. Der Tisch selbst war unbeschädigt, weil er mit einem magischen Feuerschutzlack versiegelt war.

Die heiße Asche und der kochendheiße Dampfschwall piesackten ihn nur für eine Minute. Er behandelte die leichten Verbrennungen mit Brandheilsalbe, die er wegen mancher viel zu heißen Speisen doch in Griffnähe hatte. Als er wieder saß dröhnte die Gedankenstimme Phoebe Gildforks in seinem Kopf.

"Was immer du da gerade angestellt hast, mein Goldstück, tu das nie wieder!!"

"Wie kannst du durch eine doppelte Melosperre mit mir ..."

"Weil etwas von dir in mir heranwächst und der von mir gewirkte Zauber durch die zwei Kleinen vervierfacht wirkt. Deshalb kann ich dich besser anmentiloquieren. Also, noch mal: Was immer du da gerade getan hast, tu das nie wieder!"

"Ich wusste nicht, dass das dich auch betrifft, Phoebe", erwiderte Dime ungewollt abbittend. "Ich werde das nicht mehr tun."

"Will ich dir auch geraten haben, sonst sterben wir alle vier und werden als Geister weiterexistieren, weil der Tod nicht durch Gewalt oder Altersschwäche eintritt sondern durch Magie."

"Das heißt, wenn mich jemand mit dem Todesfluch angreift ..."

"Werden wir zwei und die dann für alle Zeiten in meinem Bauch weiterstrampelnden Kinder den Rest der Zeit zusammen sein, für immer und ewig. Also mach keine weiteren Experimente mit höheren Zaubern der Erde."

"Der Erde? Woher weißt du das?"

"Weil was immer du gemacht hast meinen Bauch härter und was drin ist immer schwerer gemacht hat, als wollte da was aus der erde alles herausziehen. Wie gesagt, lass das bleiben!"

"Ja, mach ich", gedankenantwortete der Minister. Dann war er wieder mit seinen Gedanken alleine.

Er fragte sich, ob er der Spinnenschwesternschaft gerade den totalen Krieg erklärt oder doch den gewünschten Frieden errungen hatte. Womöglich hatte die Spinnenlady auch damit gerechnet, dass man ihre Nachbildung festzuhalten und zu untersuchen versuchen würde. Es war eben nur eine Nachbildung gewesen, nicht das Original, dachte Dime. Er konnte ja nicht wissen, dass die Oberste der Spinnenhexen sich nur noch in eine schwarze Riesenspinne verwandeln konnte und in nichts anderes. Ebenso wusste Dime nicht, dass die Nachbildung nicht nur die fünf üblichen Sinne mit ihrer Vorlage geteilt hatte, sondern auch den Sinn für worthafte Gedanken. Weil er das nicht wusste, lebte er noch.

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Belle Grandchapeau und Großheilerin Antoinette L'eauvite begleiteten Catherine Brickston und Julius zu Joes Krankenzimmer. Heute war es endlich so weit. Joe war völlig von den Nachwirkungen der gefährlichen Aufputschdroge befreit worden, ohne bleibende Gehirnschäden zurückbehalten zu haben. Offenbar hatte der Besuch seiner Eltern ihm gezeigt, dass er sich nicht durchhängen lassen durfte. Vielleicht hatte sein Vater auch sowas gesagt oder seine Mutter, dachte Julius.

"Monsieur Brickston, begann Antoinette Eauvive, "ich bin hocherfreut, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass alle Spuren der Vergiftung, die sie sich zugezogen haben, restlos und ohne Gefahr von weiteren Auswirkungen beseitigt sind. Daher nutze ich das Privileg der Chefheilerin, Ihnen persönlich Ihre Entlassung aus unserer Obhut zu verkünden. Sie dürfen mit Ihrer Ehefrau zu ihrer gemeinsamen Tochter Claudine zurückkehren. Madame Brickston wird Ihnen das weitere Vorgehen erläutern." Mit diesen Worten übergab sie Joe ein Pergamentstück, auf dem seine Entlassung nach erfolgreicher Heilung verzeichnet war. Joe, der wohl daran dachte, wie sehr er sich immer wieder ausgelassen hatte, fragte behutsam: "Und was ist mit den Kosten?"

"Abgesehen davon, dass jeder erwerbstätige Zauberer oder jede Hexe immer einen kleinen Teil für die Unterstützung der Heiler abführt steht es Ihnen frei, eine Geld- oder Sachspende Ihrer eigenen Wahl an unser Krankenhaus zu überreichen. Ob Sie davon Gebrauch machen möchten oder nicht und falls ja wann und wieviel Sie uns geben möchten liegt ganz alleine bei Ihnen", erwiderte Antoinette Eauvive.

"Catherine hat was gesagt, dass wir nicht in unser eigenes Haus zurückkehren dürfen, bis genug Gras über diese Sache gewachsen ist und ich weiß, unter welchem Namen ich anderswo weiterarbeiten kann, zumal da vielleicht eine Gesichtsoperation ansteht, sofern ich mich nicht auf einen Verwandlungszauber einlassen will", sagte Joe. Antoinette nickte und deutete auf Catherine. Diese sagte: "Meine Mutter hat uns erlaubt, bis auf weiteres in Ihrem Haus zu wohnen. Zum einen wirkt ja wohl immer noch Madame Eauvives Grundkraftverstärkungszauber, den du so abfällig erwähnt hast, als du noch nicht wieder bei Verstand warst. Zum anderen kann dich da niemand aus der magielosen Welt aufspüren oder gar angreifen. Es ist auch für Claudine und Babette wichtig, dass sie nicht in einem Haus gefangensitzen müssen, nur weil darum herum feindselige Leute schleichen. Julius hier hat mit seiner Mutter die von diesem Superior aufgetischte Legende dahingehend erweitert, dass deine Angehörigen in einer ganz geheimen Trauerfeier von dir abschied genommen haben, weil sie nicht als Angehörige eines angeblichen Verbrechers von der Presse zerpflückt werden wollten. Außerdem besteht die Möglichkeit, dass diese Organisation in den nächsten Wochen restlos zerschlagen werden kann, da Julius hier mit Leuten von der CIA, die auch zur Zaubererwelt gehören, in die Welt gesetzt hat, dass die Geheimdienste von Leuten Superiors unterwandert sind. Das wird die Damen und Herren von den Geheimdiensten erst recht darauf bringen, ihre Reihen von Verrätern zu befreien. Wer auch immer für diese Organisation arbeitet muss sich jetzt sehr klein und unauffällig verhalten."

"Im Schach ist das wohl ein Patt", grummelte Joe. "Ich darf nicht unter meinem bisherigen Namen und Leben weiterarbeiten, und die dürfen sich jetzt keine Blöße geben, um nicht allesamt aufzufliegen, indem sie weiter nach mir suchen, wo ich doch angeblich bei einem Sturmangriff gestorben bin."

"Das ist zumindest das, was wir hoffen", sagte Catherine. Dann nickte sie Julius zu:

"Auch wenn dich das jetzt doch noch mal heftig annervt, Joe, ich habe mit den Leuten vom Dorfrat von Millemerveilles geredet, ob es irgendwas gibt, was du auch ohne Zauberei machen kannst, um dich nicht für unnütz zu halten oder zu langweilen. Da du ja nicht das machen wolltest, was meine Mutter im dunklen Jahr gemacht hat, du aber gezeigt hast, wie wichtig es ist, auch naturwissenschaftliche Tatsachen zu vermitteln, wie das mit den Heißluftballons und den Flaschenzügen, möchten sowohl Madame Lumière, die für Kulturfragen zuständige Dorfrätin, als auch Madame Dumas, die Direktrice der Grundschule, einige Angebote machen, die nichts mit direktem Grundschulunterricht zu tun haben. Internet geht in Millemerveilles. Mum und ich haben über Phantomkonten ein Satellitenmodem besorgt und Florymont hat noch zusätzliche Solarstrommodule gebaut, die Madame Faucons Haus nicht optisch verändern. Diesmal wirst du dich nicht wie ein mitgeschleppter Ballast fühlen müssen, wenn du das nicht willst."

"Und weiß Babette das auch schon, dass sie mal wieder zu ihrer Oma Blanche hinziehen muss?" fragte Joe. Catherine erwähnte, dass Babette das mit Madame Faucon besprochen hatte, zumal Madame Rossignol ihr ja immer wieder Gesprächssitzungen angeboten hat, um über die ganzen Vorfälle zu reden.

So reisten die Brickstons und Julius Latierre mit einem Portschlüssel außerhalb der Klinik an die Grenze von Millemerveilles. Dort wurden sie von einem kleinen Fuhrwerk mit vorgespanntem Abraxaner-Pferd abgeholt, dass sie zum Faucon-Haus brachte.

Wieder im Apfelhaus durfte Julius einen Brief von Babette und einen von Pina lesen. Babette schrieb:

Hallo Millie und Julius.

Da meine Oma Blanche ja über Weihnachten in Beaux bleibt und nur mal für einen Weihnachtsbesuch rüberkommt habe ich kein Prob damit, dass ich mit Maman und meinem voll aus der Spur geflogenen Vater in ihrem Haus wohne. Hat wohl auch was für sich, weil ich nicht andauernd mit Claudine zusammenhängen muss und in Millemerveilles auch mal Schulfreunde treffen kann.

Ist schon eine ziemlich üble Nummer, was die ehemaligen Bosse von meinem Vater da abgezogen haben. Ich hoffe, die kriegen sie bald. Aber so richtig vergessen, was mein Vater sich geleistet hat kann ich dann doch nicht. Der hat uns immer was von wegen wie pfui bäh Rauschgifte sind und es keinen Grund gibt, sowas zu nehmen erzählt. Dann schluckt der selbst so'n dreck und krepiert da noch fast dran. Wenn Maman und Laurentine nur eine Stunde später nach hause gekommen wären hätte der wohl nicht mehr gelebt. Das ist das, was mich so heftig aus dem Tritt gebracht hat. Aber das kläre ich mit dem noch selbst. Wir haben ja ab dem 20. Dezember Ferien.

Ich zoffe mich noch mit Denise darum, ob Lionel aus dem roten Saal eher auf sie oder auf mich steht. Was die anderen Mädels aus meinem Dreierclub so treiben erzähle ich besser nur, wenn ich in der passenden Stimmung bin. Ich soll euch auf jeden Fall schon mal von Mel Odin grüßen. Die kommt im roten Saal immer besser klar und hat sich auch bei Madame Rossignol in der Pflegehelfertruppe gut eingearbeitet.

"Daa wir ja nach Millemerveilles kommen treffen wir uns dann wohl häufiger als vorher möglich war. Ich möchte mir doch mal ansehen, wie groß die kleine Chrysie mittlerweile ist. Echt, Millie und du hast schon das nächste unten drin. Das würde ich mir aber nicht antun, so schnell hintereinander immer 'nen dicken Bauch zu kriegen und mir unten alles aufzureißen, um so'n Plärrbündel rauszuschieben. Aber vielleicht lerne ich das ja irgendwann noch, was daran so toll sein soll.

Julius, ich hab's von Gabie Delacour, dass das jetzt amtlich ist, dass die Pierre Marceau heiratet und du das mit dessen Muggelwelteltern abgeklärt hast. Vielleicht lädt die mich ja dazu ein. Aber na klar muss ich warten, dass die sowas sagt.

"Bis dann um Weihnachten rum!

Babette Brickston

P.S. Ob mein Nachname nach Weihnachten noch so bleiben darf?

Pina schrieb, dass sie am Morgen des 16. Dezember aus London bei den Latierres ankommen würde. Am Nachmittag war ja die Überschall-Luftschiffreise nach Viento del Sol, wo sie mit Brittany und Linus die Ankunft des kleinen Leonidas feiern würden. Ab da wollte sie dann zu Melanie und Myrna in den Glashutturm, wo sie ja bis zum ersten März 2003 wohnen würde, solange der Intensivkurs in Computer- und Internetarbeit dauerte.

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16. Dezember 2003

Pina Watermelon kam mit einem großen Rucksack von Prazap aus dem Kamin in der Wohnküche heraus. Sie trug einen dicken blauen Reiseumhang über einem wasserblauen Festkleid, das hundertprozentig mit ihrer Augenfarbe übereinstimmte. Ihr strohblondes Haar war zu einem adretten Knoten hinter dem Nacken gebunden, was Julius sofort auffiel, weil Pina sonst gerne ihr Haar offen getragen hatte.

"Ich bin nicht über nacht siebzig Jahre älter geworden, Julius", sagte Pina. "Aber ich habe festgestellt, dass es bei meiner Arbeit und beim Verreisen so am besten in Form bleibt. Beim Tanzen mache ich es aber gerne auf und lasse es frei hängen."

"Das werde ich dann ja wohl nachher mitkriegen, sagte Julius. Dann überließ er es Millie, Pina zu begrüßen. Pina fragte, ob Millie echt schon wieder ein Baby erwartete. Sie grinste darüber nur und meinte: "Julius und ich haben ja immer noch ein Abkommen laufen, dass da außer den zwei kleinen Hexen der eine oder andere kleine Zauberer in mir drinsteckt und zu uns an die Luft kommen darf. Und du hast dich in der Richtung noch nicht festgelegt, mit wem du das auch mal erleben möchtest?"

"Ich guck mir das erst mal an, wie das bei Livy läuft. Ich käbbel mich ja noch mit Toms Tante Erica, wer Patin von dem kleinen Fielding wird. Aber wenn ich mir ansehe, wie heftig Olivia schon aufgegangen ist, als wenn sie'n Hefeteig wäre, weiß ich echt nicht, ob ich mir das doch mal geben soll."

"Hängt immer davon ab, von wem und wo", sagte Millie.

"Zumindest habe ich Vorkehrungen getroffen, dass mir diese Vita-Magica-Bande kein Baby zu Tragen aufdrängen kann", sagte Pina. Millie fragte sie, wie genau. "Ich habe mir den Preservirgines-Zauber verpasst. Der blockiert fremde Körperteile, die in meinen Körper eindringen wollen."

"Den hat meine Tante Béatrice wohl schon seit Geburt wirken", sagte Millie und zwinkerte Julius zu. Der hätte fast gesagt, dass er davon nie was mitbekommen habe. Doch er kannte den Zauber nicht und wusste daher auch nicht, ob der gesagt oder ungesagt gewirkt werden oder durch einen reinen Gedanken aufgehoben oder zeitweilig unterbrochen werden konnte.

Bevor sie losflogen verabschiedete sich Julius von Joe, Catherine und Claudine. Joe unterhandelte gerade mit dem Dorfrat, was genau er für die Dauer seines Exils in Millemerveilles tun konnte. Jedenfalls musste er nicht in Zauberschlaf versenkt werden, weil Antoinettes Vita-Mea-Vita-Tua-Zauber noch wirksam war.

Als das Luftschiff mit den Latierres und Pina als einzigen Fahrgästen abhob dachte Julius daran, dass er wegen der drei Feierlichkeiten in den Staaten gleich nach dem Weihnachtstag wieder ins Ministerium zur Arbeit gehen sollte. Gerade die Sache mit Superior hatte gezeigt, wie wichtig es war, die Entwicklungen im Internet so gut es ging zu beobachten. Außerdem stand da noch ein Treffen mit Nathalie Grandchapeau an, die nach dem ersten Januar als Halbtagskraft wieder ins Ministerium zurückkehren wollte, wo sie ja das angeblich im Juni geborene Kind nicht mit zur Arbeit nehmen konnte.

Brittany freute sich, dass alle ihre Gäste zur Feier von Leonidas Andronicus Brocklehursts Ankunft kommen konnten. Da sie selbst, ihr Vater und dessen ebenfalls eingeladene Eltern vegan lebten gab es zur Feier keinerlei Alkohol, und zu essen gab es raffinierte Gerichte roh oder gekocht, gebraten oder gegrillt, die nur aus pflanzlichen Zutaten bestanden. Besonders die Mischung aus Zucchini und verschiedenen Reissorten mit Kokos-Curry-Soße mit Ananas gefiel Julius.

"Ui, der ist aber schon gut genährt", stellte Pina fest, als Brittany ihr ihren Sohn in die Arme legte, nachdem er eine gefühlte halbe Stunde von seinen glücklichen Großmüttern geknuddelt und besungen worden war. Julius stand derweil mit Melanie zusammen, die am 20. Dezember ihre Verlobung mit Titonus Chimer feiern würde. "Jetzt kann ich mir noch angucken, wie das ein Mädchen verformt, wenn es Mutter wird", sagte sie. "Vielleicht bin ich ja nächstes Jahr um die Zeit auch schon zu zweit unterwegs."

"Hmm, Angst?" fragte Julius.

"Sagen wir so, es ändert doch eine ganze Menge, ob jemand für sich alleine planen kann oder immer an wen mitdenken muss. Und ich kriege ja drei Schwäger und vier Schwägerinnen auf einen Schlag und dazu gleich zwölf Neffen und neun Nichten. Oma Pat hat sich da vielleicht ein wenig viel vorgenommen, weil die alle natürlich zur Feier kommen."

"Und dein Verlobter, will der auch gleich so viele Kinder haben?"

"Das kläre nur ich mit dem, wenn wir vor dem Zeremonienmagier waren", stellte Melanie Redlief klar. Dann winkte sie Pina zu sich heran und sagte: "Ich habe das mit meinen Eltern und Oma Pat geklärt, dass du nur das bei den Haushaltskosten dabeitun musst, was du von dir aus dazugeben möchtest. Meinem Vater ist das zwar schwergefallen, keine Miete von dir oder dem Ministerium zu kassieren. Aber ich habe dem gesagt, dass du ja dann auch gleich im Haus zum sonnigen Gemüt hättest einziehen können."

"Öhm, da wird wohl noch ein amtliches Schreiben von meinem Vorgesetzten kommen, wie viel Miete seine Abteilung für mich bezahlen kann. Er möchte auf jeden Fall nicht, dass der Eindruck entsteht, das britische Zaubereiministerium könne seine Mitarbeiter nicht anständig finanzieren, wenn sie eine Fortbildung machen", sagte Pina. "Insofern könnte dein Vater sich doch noch freuen."

"Mit dem Baby auf dem Arm siehst du richtig süß aus", feixte Myrna, die bis dahin bei Millie und der kleinen Chrysope gestanden hatte. Aurore half Brittanys Vater, der am großen Fass für Traubensaft stand.

"Ich muss ja üben, wenn meine eigene Schwester sowas Kleines kriegt", sagte Pina ruhig.

"Dann musst du aber auch den ganzen Ekelkram wie Windeln Wechseln oder den Sabber aus dem Gesicht wischen lernen", sagte Myrna.

"Myrna, du rutschst gerade sehr nahe ans vordere Besenende. Vielleicht sollte ich meine künftige Schwägerin Tracy fragen, ob sie dir die Zwillinge für das alles ausborgt, damit ich mir keine Sorgen mache, dass die Tante meiner eigenen Kinder da Probleme kriegt, wenn sie unter sich lassen."

"War klar, dass du mir sowas unter die Nase reibst, Määäählanie", grummelte Myrna.

"Sei du lieber froh, dass wir bei meiner Verlobungsfeier zwei Heilerinnen dabei haben, damit du nicht schon vor dem Funkenregen mit Kindersegen zu tun kriegst", erwiderte Melanie und grinste ihre jüngere Schwester an. Julius blickte sich schnell um und sah Chloe Palmer, die die Feier als von Brittanys Mutter eingeforderte Heilerin betreute.

Nachdem das sehr umfangreiche Abendessen weit genug verdaut war ließ Brittany aus einem Musikfass Lieder der magischen und nichtmagischen Welt erklingen, darunter auch viele Kinderlieder wie "Blinke blinke kleiner Stern". Julius, der den ersten Tanz mit seiner Frau erlebte flüsterte ihr zu: "Hat schon echt was, in beiden Welten leben zu können, oder?"

Als um elf Uhr die Feier wegen unaufschiebbaren Schlafbedürfnisses des kleinen Gastgebers beendet wurde bezogen Julius und seine Familie das Gästezimmer im Haus Buchecker, wo die Brocklehursts lebten. Millie klopfte auf das breite Gästebett und mentiloquierte Julius: "Hier ist Nummer drei auf den Weg gerufen worden. Schon lustig, dass er oder sie mit mir so früh wieder in diesem Bett schlafen darf."

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Im geheimen Bunker unter den Anden verfolgte der Mann, der sich Primus Superior nannte, die Nachrichten im Internet. Offenbar hatte er auf das falsche Pferd gesetzt, als er in Umlauf gebracht hatte, Joe Brickston sei verstorben. Die frei zugänglichen Nachrichtenquellen hatten diesen Zwischenfall als tragischen Ausgang einer Polizeiaktion bezeichnet. Allerdings war das ganze als Versuch, ein illegales Drogenlabor auszuheben in die Abteilung "Nicht gern gesehen aber nicht wirklich selten" eingeordnet worden. Nur wer die öffentlichen oder streng geheimen Informationskanäle überwachen konnte bekam mit, dass da wohl jemand sehr schnell und gründlich mehrere Löcher gestopft hatte oder eben auch auf der getürkten Geschichte aufbauend weitere Scheingeschichten aufsetzte. Vor allem, dass die Nachrichten versiegten, Joe sei seit dem elften November in einer geheimen Militärklinik behandelt worden, alarmierte Superior. Jemand, der oder die genauso mit gefälschten Daten herumjonglieren konnte wie er und seine IT-Fachleute, hatte die Gunst der Stunde genutzt, um alle Joe Brickston betreffenden Daten aus dem Netz zu tilgen oder es so hinzudrehen, dass er wahrhaftig gestorben und beerdigt worden war. Er bekam sogar einen Totenschein von Joe Brickston auf den Schirm und konnte feststellen, dass der diesen ausstellende Arzt ein ehemaliger Arzt aus der Fremdenlegion war. Da Superior auch in diese berühmt-berüchtigte Armee aus Frankreich Drähte hatte war ihm bald bekannt, dass es diesen Arzt genausowenig gegeben hatte wie die Verfolgungsjagd mit anschließender Schießerei in der Fabrik. Das bereitete ihm schon gewisse Sorgen, dass da wer ihn mit seinen eigenen Mitteln bekämpfte. Hinzu kam, dass in den beiden vergangenen Tagen weitere Agenten und Verbindungsknoten ausgefallen waren, diesmal in Kanada. Wieder hatte es vorher keine Datenflüsse zwischen Polizeiorganisationen gegeben. Es erschien so, als würden seine Widersacher sich über nichtelektronische Nachrichtenwege verständigen, womöglich noch Brieftauben hin und herschicken. Dass er mit dieser Vermutung nur ein wenig danebenlag wusste Superior nicht. An Eulen als Briefboten hätte er wohl auch nicht geglaubt. Er dachte nur daran, dass er womöglich bei Joe Brickston in ein Wespennest gestochen hatte und froh sein konnte, wenn die aufgescheuchten Wespen nicht wussten, in welche Richtung sie fliegen mussten, um den Störenfried zu erwischen. Um nicht die Agenten zu verlieren, die wussten, wo er sich gerade aufhielt hatte er diesen über verschlungene elektronische Pfade befohlen, sich an der mexikanischen Grenze zu treffen. Dort waren sie in Frachtcontainern mit eigener Sauerstoffversorgung und gepolsterten Innenwänden in einer Maschine nach Santiago de Chile verbracht worden und wurden nun in zufällig gesetzten Zeitabständen von Hubschraubern herangeflogen, die immer unterhalb der höchsten Gipfel fliegen mussten, um trotz der Tarnkappenlackierung nicht doch noch von unerwünschtem Radar erfasst zu werden. Gerade war Babyschaukel Nummer sieben unterwegs, der siebte von zwölf geplanten Umsiedlungsflügen, die seine eingeweihten Agenten in den Bunker bringen sollten. Gemäß der Zufallsroutenauswahl flog dieser Hubschrauber aus Südrichtung an. Ein alle dreißig Sekunden abgesetzter Richtfunkimpuls mit den gerade passierten GPS-Koordinaten und der Flughöhe zeigte, wie weit der Zubringer noch weg war. Erst wenn der gelandet war lief die Zufallszeit ab, bis der nächste Hubschrauber abheben durfte.

"Caramba! Was soll das?!" hörte Superior in seiner von allen anderen abgeschirmten Kammer Pedro Moreno rufen, der als Satelliten- und Fernmeldetechniker arbeitete. Der Mann, der sich Primus Superior nennen ließ, schaltete das Mikrofon an seinem Hör-Sprech-Aufsatz ein und wollte wissen, was los war. "Babyschaukel sieben hat gerade laut GPS-Daten Sprung über zweitausend Kilometer nach osten und dreitausend nach Norden gemacht. Eingangsstärke und Einfallswinkel des Signals zeigt aber, dass er noch auf vorgesehenem Kurs ist", vermeldete Moreno über die Kopfhörerverbindung.

"Wie bitte?!" fragte Superior. Er ließ sich die Daten auf den Monitor aufspielen und sah, dass die letzte wohl korrekte Standortmeldung knapp zwanzig Kilometer vom Landepunkt entfernt erfolgt war. Dann ging der Alarm los. Denn Babyschaukel sieben sendete Notsignale. Außerdem rief der Pilot über die Richtfunkanlage auf hochverschlüsseltem Digitalfunk um Hilfe. Moreno hatte von sich aus Superior auf Mithören geschaltet. "Achtung, Wickeltisch, Navigation unklar, Antrieb gestört. Verlieren Höhe!"

"Leitstrahl, Señor Superior?" fragte Moreno.

"Nein, könnte eine Falle sein", sagte Superior. "Keine Bestätigung, keine Antwort, kein Leitstrahl, solange die Maschine nicht unter einem Kilometer entfernt ist."

"Achtung, Wickeltisch, Navigation ausgefallen, Antrieb ... -ren höh..." kam es von heftigem Rauschen und Zirpen durchsetzt bei ihnen an. Dann gab es nur noch Geräuschsalat, weil die hochverschlüsselten Signale nicht in natürlichen Schall zurückverwandelt werden konnten.

"Ist Satellit KGB sieben zwo neun wieder im Beobachtungsfenster?" fragte Superior. Moreno verneinte das. "Geschätzte Zeit bis Akquisition des Signals von KGB sieben zwo neun in fünf Minuten, Señor", vervollständigte er seine Angaben.

"Haben wir die Avioniktelemetrie von Babyschaukel sieben?" fragte Superior. Moreno bestätigte es und übermittelte seinem geheimnisvollen Chef die mit dem GPS-Wert mitgelieferten Zustandsdaten von Antrieb, Treibstoff und Bordcomputer in ein dafür dargestelltes Bildschirmfenster. Daraus ergab sich, dass irgendwas dem Hubschrauber in der letzten Minute vor dem Signalverlust massiv Energie entzog und vor allem, dass der Computer bereits auf dritter Redundanzstufe lief.

"Ein massives Störfeuer mit Radar oder Mikrowellen", knurrte Superior nach Studium der letzten Daten. Er musste sich zusammennehmen, um die anderen nicht hören zu lassen, wie heftig ihm dieser Vorfall Angst einjagte. Jedenfalls schaltete er die zusatzverrigelungen seines kleinen Arbeitsraumes ein. Jetzt kam niemand mehr unerwünscht zu ihm rein, der nicht mindestens zwei Tonnen TNT Sprengkraft auf die Panzertür losließ. Auch mit Schweißgeräten oder gar Hochenergielasern war die Tür unter fünf Minuten nicht zu öffnen. Jetzt hatte er Zeit, diesen unerwarteten und höchst unerwünschten Vorfall zu durchdenken.

Bisher waren sie davon ausgegangen, dass niemand außer ihnen in dieser Gegend war. Doch der Ausfall des anfliegenden Hubschraubers bestätigte überdeutlich, dass etwas da sein musste. Die Art, wie der Hubschrauber außer Gefecht gesetzt worden war sprach für massive elektronische Störungen. Doch die Hubschrauber waren allesamt gegen sowas abgeschirmt, gerade weil sie auch bei Störungen wie massivem Sonnenwind oder einem Atomangriff weiterfliegen können mussten. Außerdem war die Frage, ob der Hubschrauber noch hatte landen können oder bei einem Absturz in Stücke gegangen war oder von wem und was auch immer noch im Flug in Stücke geschossen worden war.

"Exitussignal?" fragte Superior seinen Fernmeldetechniker.

"Negativ, bis jetzt keins", war die Antwort. Das konnte heißen, dass der Hubschrauber noch hatte landen können. Denn nur bei der Zerstörung bestimmter, rein mechanischer Teile würde der Todesfallsender ausgelöst, der den Verlust der Maschine meldete. Oder war der Sender genau wie die Bordelektronik außer Gefecht gesetzt worden? War die Maschine möglicherweise in einer Zone heruntergekommen, die gegen nach außen dringende Funk- und Radarwellen abgeschirmt war? Damit war Superior genauso schlau oder ratlos wie vorher. Er dachte jedoch daran, dass es schlimmer für ihn und das ganze Projekt stand, wenn der Hubschrauber hatte landen können und die Besatzung überlebt hatte. Wenn die nämlich in feindliche Hände geriet konnten Pilot und Passagiere unter Folter oder der Einwirkung halluzinogener Drogen ausplaudern, wohin und für wen sie unterwegs gewesen waren. Blieb dann nur die eine Möglichkeit?

Superior griff zur Maus und zögerte keine Sekunde. Der Hubschrauber meldete sich nicht mehr. Wenn der aus seiner Einsatzhöhe noch eine sichere Landung hatte hinlegen sollen hatte er dafür mindestens anderthalb Minuten gebraucht. Er wählte in der Leiste für aufrufbare Programme das Symbol einer Sense aus und brachte drei Eingabefelder auf den Schirm. In das eine gab er die Registriernummer des Hubschraubers ein, in das zweite seinen Benutzernamen und in das dritte das Zugrifsspasswort. Dann klickte er auf "Ausführen". Das Programm lief an, zeigte eine rote, fast volle Sanduhr und gab dann ein Klingelzeichen über seine Kopfhörer aus: "Objekt reagiert nicht. Befehl nicht ausführbar", blinkte nun ein roter Schriftzug neben der mitten im Lauf angehaltenen Sanduhr. Damit hatte er es sozusagen amtlich, dass die Maschine selbst gegen einfallende Hochfrequenzfunksignale abgeschirmt war. Denn die Selbstvernichtungssprengladung war wie der Todesfallsender von allen anderen Bordeinrichtungen unabhängig. Sollte er nun die anderen auf den anderen Flugrouten heranholen lassen? Die Gefahr, dass die Geheimdienste sie schon suchten war zu groß, um sie an den Sammelpunkten zurückzulassen.

"Babyschaukel acht nach Zufallszeit acht starten!" befahl er seinen Leuten. Der Zufallsgenerator rotierte und zeigte dann einen Countdown von siebenhundertzwanzig Sekunden, also zwölf Minuten an. Diese Zeit wurde nun in Mikrosekundenschnelle durch die elektronischen Verbindungen als kleines Datenpaket an eine bestimmte Internetprotokolladresse befördert, wo der nächste Hubschrauber auf seinen Einsatz wartete.

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"Pater Decimus Quartus, metallischer Flugkörper von elektrischer Aura umhüllt kurz vor Erreichen unserer Residenz", hörte der diensthabende Leiter des chilenischen Stützpunktes aus einer kleinen Silberdose auf seinem Schreibtisch eine Warnung seiner Annäherungsüberwacher. "Flughöhe nur hundert Meter über Grund, Geschwindigkeit zweihundert Kilometer in der Stunde."

"Was für ein Flugkörper?" wollte der Residenzleiter wissen. "Moment, Bildsammelzauber auf Ziel. Ah, ein Drehflügelapparat der Muggel, dringt gleich in unseren Flugabwehrbereich ein. Sollen wir Flugabwehr unterbrechen?"

"Wie schnell ginge das?" wollte Pater Decimus Quartus Borealis wissen.

"Eine Minute zur Unterbrechung. Gleiche Zeit für die Wiederbelebung des Zaubers", bekam er die Antwort. "Öhm, erledigt sich gerade, weil Flugkörper jetzt in den Bereich einfliegt. Oh, die elektrische Aura ist mit einem Schlag erloschen. Wusste nicht, dass unsere Flugzauberabwehr gerichteten Elektrostromfluss unterbricht."

"Wenn er abstürzt Trümmer beseitigen. Wenn Landung erfolgt Besatzung und Mitreisende in Gewahrsam nehmen und verhören! Ich verständige die anderen Ratsmitglieder", gab der Residenzleiter weiter.

Eine Minute später stand fest, dass der Drehflügler mit Hilfe der beim schnellen Sinken in Drehung gehaltenen Luftschraube in einem Stück gelandet war. Sofort wurden die dreizehn Leute aus dem Fluggerät von Außentrupplern eingesammelt und in die Residenz gebracht. Mater Vicesima, die gerade erst durch die geheime Portschlüsselverbindung aus der französischen Nachrichtensammelstelle eingetroffen war übernahm in der üblichen Verkleidung das Verhör, wobei sie erst den Piloten und dann alle Fluggäste mit der Haube der Erinnerungen ausforschte. Dabei fand sie heraus, dass sie alle Kenntnisse über eine weltweit arbeitende Geheimgesellschaft hatten, die sich mit allen Mitteln, auch gegen die Gesetze der Muggel verstoßenden, auf eine Zeit nach einem weltweiten Zusammenbruch der Zivilisation vorbereiteten. Einer der Verhörten, ein sogenannter Informationstechniker, hatte dafür gesorgt, dass ein gewisser Joseph Brickston auf die Liste unerwünschter Mitwisser gesetzt und dessen Tod vorgetäuscht worden war, um ihn bei Wiederauftauchen unbemerkt ausschalten zu können, wenn es sein musste zusammen mit seiner Familie. Als Mater Vicesima das aus den Erinnerungen des Gefangenen herausfilterte musste sie sich sehr stark zusammennehmen, nicht vor Wut den Zauberstab zu nehmen und diesem Muggel da den Cruciatus-Fluch aufzuerlegen. Da war eine Gruppe von Muggeln, die meinten, besser zu wissen, wie es nach dem möglichen Zusammenbruch der auf magielose Maschinen setzenden Menschheit weiterzugehen hatte drauf und dran, drei Hexen umzubringen, nur weil ein mit diesen verwandter Muggel ein gefährlicher Mitwisser war. Die waren das also, die Catherine Brickston und ihre Tochter Claudine nach Millemerveilles getrieben hatten. Sicher, da konnten sie bleiben. Aber so wie sie Catherine Brickston zu kennen meinte würde die irgendwann wieder gerne in der ganzen großen Welt herumreisen wollen. Da der gerade ausgeforschte alle Lebensdaten und Bilder von Catherine, babette und auch Claudine im Kopf hatte bestand die Gefahr, dass auch andere aus seiner Gruppe hinter ihnen herjagen mochten. Dies galt es hier und jetzt ein für allemal zu unterbinden.

Da sie von allen Verhörten wusste, dass das Flugziel ein unterirdisches Versteck in einem Bergmassiv war und wohl noch weitere solche Maschinen dorthin fliegen sollten gab Mater Vicesima den Auftrag, diesen Stützpunkt anzugreifen und alle dort festzunehmen und zu verhören, vor allem den dort Zuflucht besitzenden Anführer.

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Superior argwöhnte, dass er hier nicht mehr sicher sein würde. Doch um sich heimlich absetzen zu können brauchte er eine Alarmsituation, die alle dafür nötigen Vorrichtungen freischaltete. Tat er das ohne den entsprechenden Alarm löste er selbst Alarm aus und machte damit seine Leute unnötig auf seine eigene Flucht aufmerksam. Er gab die Befehle aus, alle automatischen Abwehrvorrichtungen wie lasergestützte Flugabwehrgeschütze in Stellung zu bringen. Hier im Bunker selbst konnten sie durch Verstecken in besonderen Schutzräumen automatisierte Abwehrvorrichtungen benutzen, die bei einem möglichen Eindringen von Feinden wirksam wurden. Vor allem auf die Sauerstoffentzugseinrichtung war er stolz. Davon wussten nur drei Techniker, die ihm die Anlage eingebaut hatten und bei einer angeblichen Betriebsfeier mit Überdosen eines K.O.-Mittels eliminiert worden waren, um das Geheimnis ins Grab mitzunehmen.

"Mögliche Ursache für Ausfall von H303-KH-303: Angriff mit extraterrestrischer Energieabsorbtionstechnologie. Wahrscheinlichkeit 50,999993 %", las Superior das Ergebnis einer dreiminütigen Computeranalyse, die aus allen Signalen des verschollenen Hubschraubers ermittelt erstellt worden war. Für Superior war die Existenz außerirdischer Zivilisationen kein Zukunftsmärchen. Auch ein Angriff auf die Erde gehörte für ihn zu den einzuschätzenden Bedrohungen für die Menschheit, wenngleich sie bis vor wenigen Minuten noch im Milliardstelbereich eines Prozents angesiedelt werden musste. Doch der Analyserechner hatte aus alle den zugegangenen Faktoren einschließlich der Unstörbarkeit der elektronischen Systeme diesen einen Schluss als zumindest wahrscheinlich herausgefiltert. Jetzt war die Frage, ob die Außerirdischen es beim Ausschalten des Hubschraubers belassen würden oder gegen das Geheimversteck Superiors loszuschlagen. Leider würde er erst in knapp einer Stunde einen Beobachtungssatelliten einsetzen können. Die Zeit hatte er jedoch nicht.

Unvermittelt gingen die Alarmsirenen los, und eine weibliche Computerstimme rief: "Warnung! Warnung! Unbefugte Personen in der Basis geortet!"

"Das gibt's nicht!" rief Superior. Er hatte mit anfliegenden Feindfahrzeugen gerechnet, ja, auch mit auf die Basis abgefeuerten Geschossen oder Energiestrahlen. Doch die sofort mit dem Alarmsignal erfolgende Darstellung aller durch RFID-Chips gekennzeichneten Leute im Bunker verriet, dass mindestens zehn Personen mehr da waren als erlaubt. Die Fremden waren aus einem die Überwachungskameras wie grünes Leuchten treffenden Kraftfeld herausgekommen. Jetzt wechselten sie innerhalb von Sekundenbruchteilen ihre Standorte. Ein Bild der Angreifer zeigte sie als ... Riesenbabys? Superior konnte einen Mann in einem hellblauen Anzug sehen, der wie ein Strampelanzug beschaffen war. Der Fremde trug einen überdimensionalen Babykopf zwischen den Schultern. Also waren das wirklich Außerirdische! Ja, und sie beherrschten die Teleportation, den zeitlosen Ortswechsel von Festkörpern und Lebewesen. Damit stand für Superior fest, dass er unverzüglich von hier weg musste. Er löste die Panikraumschaltung aus, die jetzt im Alarmfall seine Kabine ohne weitere Meldungen an seine Leute nach unten fuhr. Über ihm würden dann in den Wänden verbaute Maschinengewehre und Nervengassprühvorrichtungen ausgefahren und auf jedes sich in ihrem Erfassungsbereich bewegende Ziel feuern. Seine Kabine fiel beinahe frei in die Tiefe, nur durch Wirbelstrombremsen auf einer Geschwindigkeit von sieben Metern in der Sekunde gehalten. Da plötzlich fielen alle elektronischen und elektrischen Einrichtungen aus. Völlige Finsternis und Stille umschlossen Superior. Er versuchte sofort, die Notsysteme zu starten. Doch nichts passierte. Da wurde ihm klar, dass die Fremden etwas getan hatten, um alles mit elektrischem Strom betriebene unbrauchbar zu machen, wie mit mehreren hundert EMP-Bomben zugleich oder mit einer fantastischen Methode, freie Elektronen zu stoppen. Doch dann müsste er ja auch gelähmt sein, wo in seinen Nerven und vor allem dem Gehirn elektrische Vorgänge abliefen.

Die Kabine jedenfalls wurde erst schneller. Dann, mit einem Ruck, wurde sie gestoppt. Das rein mechanische Notbremssystem hatte die ohne Seil geführte Kabine abgefangen, weil die Schutzverankerungen bei totaler Schwerelosigkeit ausgelöst wurden. Jetzt hing die Kabine tiefer als vorher, kam aber keinen Millimeter weiter. Superior steckte nun in totaler Dunkelheit und Stille fest. Nicht mal das Säuseln der kleinen Lufterneuerungsvorrichtung war zu hören. Superior erkannte, dass er nun genau den Fall erlebte, gegen den er eigentlich alles und jeden absichern wollte. Doch weil er auch mit der Situation gerechnet hatte, dass alle elektrischen und elektronischen Anlagen ausfielen war er noch nicht am Ende. Er griff an die Schublade seines Schreibtisches und zog sie heraus. Ohne sehen zu müssen konnte er den Chemoluminiszenzstab ergreifen und die mit panzerbrechender Munition geladene Waffe. Ebenso nahm er den Schraubenzieher mit dem besonderen Griff, der das Werkzeug ein- oder zweihändig nutzbar machte. Er konnte die wie in einer Trommel steckenden Schraubenzieherformen so drehen, dass er jene auswählte, mit denen er die zwanzig Schrauben an einer der beiden Notausstiegsluken aufdrehen konnte.

Er knickte den Stab. Das leise Knacken der brechenden Glasröhre im inneren wirkte in dieser Totenstille sehr laut. Dann schwenkte er den Stab, um die beiden Substanzen zu vermischen. Nun erleuchtete der Stab in jenem Licht, mit dem Leuchtkäfer die Sommernächte erhellten. Nur war dieses Licht um einiges heller. Jetzt konnte er im geisterhaften Licht des Leuchtstabes die dicken Schrauben im Boden finden. Denn er hatte sich für den Notausstieg nach unten entschieden. Er kniete sich hin, setzte den Schraubenzieher immer wieder an und drehte die schrauben heraus. Er musste alle zwanzig eingedrehten Schrauben herausbekommen, weil jede einzelne reichte, um die Luke fest verschlossen zu halten.

Er hatte gerade die letzte Schraube herausgedreht und klappte den Griff im Lukendeckel um, damit er die restlichen vierzig Meter an den Wandsprossen hinunterklettern konnte. Vielleicht bekam er seine ganz private Rettungskapsel noch zum laufen. Da fühlte er, wie etwas über ihn strich, wie eine unsichtbare Hand, die über seinen Körper tastete und übergangslos verschwand. Was war das? Jener, der sich Superior nannte, fühlte sich gerade alles andere als überlegen. Er hielt den Leuchtstab nach unten um zu prüfen, wie tief er noch hinabzuklettern hatte. Da ploppte es laut neben ihm. Reflexartig riss er den Leuchtstab hoch und ließ den Schraubenzieher durch die geöffnete Luke fallen. Da standen zwei ihm völlig fremde Gestalten, die im geisterhaften Grünlicht des Leuchtstabes noch gespenstischer wirkten, als ihr Erscheinen sowieso schon verhieß.

"Sie sind aber mutig, in so einer unsicheren Butterbrotbüchse einen Schacht runterzurutschen", giggelte einer der beiden mit einer völlig unerwarteten Kleinkindstimme. Der andere giggelte auch. Dann sagte der: "Was ist daran mutig, abzuhauen, wenn die anderen für ihn kämpfen, eh?" "Auch wieder richtig", erwiderte darauf der erste.

Superior leuchtete die beiden genauer an. Sie beide trugen übergroße haarlose Köpfe mit vergrößerten Augen wie bei Säuglingen oder Kleinkindern. Dann sah er, wie die beiden dünne Stäbe auf ihn richteten. Sein Reflex, zur Waffe zu greifen kam zu spät. Ein roter Blitz traf ihn fauchend am Brustkorb und raubte ihm alle Sinne.

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Hubschrauber Babyschaukel Nummer 8 flog aus nordöstlicher Richtung die geheimen Koordinaten an, die der Pilot erst zwei Minuten nach dem Start aus dem Bordcomputer hatte abrufen können. Noch waren sie sieben Kilometer entfernt. Wenn sie nur noch zwei Kilometer entfernt waren sollte ein Laserleitstrahl den Zielanflug absichern. Doch als sie laut GPS und Trägheitsnavigation nur noch zwei Kilometer vom geheimen Landepunkt entfernt waren kam kein Leitstrahl. Der Pilot hatte strickte Anweisung, keinen Funk zu benutzen, es sei denn, es bestehe Gefahr für die Maschine und die zwölf Passagiere. So flog er erst mal weiter, bis er genau über dem angegebenen Punkt war. Er sah einen Einschnitt zwischen zwei massiven Felswänden, gerade breit genug, um mit der Maschine hineinzufliegen. Das tat er dann auch, nachdem er das dahinterliegende Plateau gesehen hatte. Die Maschine setzte auf. Der im Flüsterbetrieb laufende Antrieb wurde abgestellt, die Zwillingsrotoren kreisten immer langsamer. Jetzt griff der Pilot zu einem Mikrofon und schaltete ein Sende- und Empfangsgerät auf Infrarotbasis ein. "Babyschaukel 8 an Zielpunkt gelandet. Wickeltisch ausklappen!" befahl er.

"So, wir sollen euch auf den Wickeltisch legen?" kam eine kleinmädchenhafte Stimme aus den Kopfhörern des Piloten. "Wenn ihr das so wollt, kein Problem."

"Entschuldigung, rede ich mit Sierra Alpha?" fragte der Pilot argwöhnisch.

"Nein, neugieriger Muggel. Du sprichst mit Mater Duodecima Australis."

"Leute, wir starten wieder!" rief der Pilot und kippte einen kleinen roten Hebel nach unten. Unvermittelt krachte es, als die Motoren mit einem Gemisch aus Treibstoff und purem Sauerstoff in Schwung gebracht wurden. Die Turbinen liefen mit ungewöhnlicher Geschwindigkeit an. Doch es war schon zu spät. Blaue Blitze zuckten von außen und trafen die in Schwung kommenden Rotorblätter. Gleichzeitig fiel das Anlaufgeräusch der Turbine wieder in der Tonhöhe ab. Dann tauchten plötzlich fünf menschenähnliche Geschöpfe um den Hubschrauber herum auf. Der Pilot sah die übergroßen Köpfe der Unbekannten, die wie aus dem Nichts gekommen waren. Dann krachte es im Seitenschott, weil ein Lichtblitz darauf getroffen war. Die Tür glitt laut schabend und innerhalb einer Sekunde auf. Kalte Hochgebirgsluft flutete das Innere der Maschine.

Der Pilot löste den Sicherheitsgurt und griff blitzschnell unter das Instrumentenbrett, wo er eine an einem Magneten hängende Armeepistole freizog. Wenn er schon draufgehen sollte wollte er wenigstens zwei oder drei von denen mitnehmen.

Als er sich umsah entdeckte er nun zehn Fremde, die mit dünnen Stäben in den Händen auf die Maschine zuliefen. Er zielte auf den vordersten und drückte ab. Mit lautem Knall spie die Waffe ein eigentlich tödliches Stahlmantelgeschoss aus. Der Pilot sah, wie es vor dem runden Kopf des ihm nächsten bläulich aufblitzte und hörte dann ein lautes Sirren knapp an seinem rechten Ohr vorbei. Es knackte laut. Dann erkannte der Hubschrauberpilot, dass sein Schuss ihn fast selbst erwischt hatte. Er drückte noch mal ab. Wieder schlug die Kugel laut sirrend zurück und bohrte ein Loch in die Kabinendecke. Da trat einer dieser Fremden vor, deren Köpfe rund und haarlos waren wie die von neugeborenen Babys. Der Unbekannte hob seinen dünnen Stab an wie ein Dirigent vor dem Beginn eines Konzertes oder wie ein Zauberer. Der Pilot zielte noch einmal. Da rief der andere mit einer Kleinjungenstimme: "Expelliarmus!" Die Armeepistole wurde ihm von einem scharlachroten Lichtblitz aus den Händen geprellt und flog aus seiner Reichweite.

Wie ein Chor aus kleinen Kindern riefen die nun zehn Angreifer Worte, die keiner im Hubschrauber erkannte. Die Wirkung war, dass sie alle von goldenem Licht getroffen wurden, dass sie scheinbar restlos aufzulösen schien. Als der Pilot aus dem goldenen Licht herausfiel merkte er, dass seine Pilotenmontur um mindestens zehn Größen zu groß geworden war. Sie umschloss seinen Körper, der sich nun auch noch ungewohnt schwer anfühlte. Er bekam seine Arme und Beine nicht mehr von der weichen Unterlage hoch. Vor ihm schien dunkler Nebel zu wabern. Dann fühlte er, wie zwei riesenhafte Hände ihn durch die viel zu groß geratene Montur ergriffen. "Bevor wir euch bedürftigen Menschen zur Wiederaufzucht reichen werdet ihr uns verraten, was ihr alle noch wisst und wieso ihr überhaupt hier seid", hörte er die kleinkindhaft hohe Stimme eines der Fremden in der Nähe seines Kopfes. Er fühlte, wie er an Kopf und Körper abgestützt und von übergroßen Armen an einen riesigen Körper gezogen wurde. Er wollte sich losreißen. Doch seine Arme und Beine waren zu schwach, und sein Kopf fühlte sich zu schwer an. So musste er sich wie alle anderen aus dem Hubschrauber gefallen lassen, wie er davongetragen wurde, bis etwas wie er in einen bodenlosen grauen Raum hineinfiel. Er dachte schon, wahnsinnig zu werden. Doch dann war es vorbei. Er wurde weitergetragen, zu einem Punkt, von wo aus es durch einen grauen, ihn herumwirbelnden Strudel ging.

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"Bevor Sie Ihre Gehirnwaschmaschine da anwerfen, zwei Fragen, falls das nicht zu vermessen ist", stieß der gerade unter der Haube sitzende aus. Mater Vicesima, die nun ohne Kopfvermummung vor ihm stand sah ihn aus ihren Meergrünen Augen sehr feindselig an.

"Was bringt Ihnen die Antwort auf diese Fragen? Aber bitte", stieß sie höchst ungehalten aus.

"Was gibt Ihnen das Recht, unseren Planeten besetzt zu halten? Welches Ziel verfolgen Ihre Auftraggeber mit der Menschheit?"

"Erstens, wir sind keine Extraterrestrier, wie Sie wohl in Ihrem beschränkten Weltbild vermuten müssen. Will sagen, wir halten diesen unser aller Planeten nicht besetzt, sondern wurden hier geboren und haben somit dasselbe Anrecht darauf, dass er uns und vor allem unsere Kinder und Kindeskinder auch in Zukunft mit allem notwendigen zum Leben versorgen kann. Ihre sogenannte Zivilisation wirkt darauf hin, das zu beenden. Zweitens, wir sind dazu entschlossen, dem Wildwuchs Ihrer Art von Menschheit durch gezielte Vermehrung unserer eigenen, Ihnen überlegenen Form, die Stirn zu bieten. Da Sie Ihr Leben darauf ausgerichtet haben, sich auf die Zeit nach einem weltweiten Unglücksfall vorzubereiten dürfte es Sie vielleicht trösten, dass so ein Unglücksfall von uns als neue Möglichkeit genutzt werden wird, die seit Jahrhunderten bestehende Irrlehre von einer für alle friedlichen Koexistenz beenden zu können, insbesondere, wenn die Maschinenmenschheit sich wahrhaftig selbst jeder Lebensgrundlage berauben sollte. Wie erwähnt, wir sind keine Außerirdischen. Uns gehört die Erde genauso wie Ihresgleichen, Muggel! Ihr Unglück ist, dass Sie sich wenn auch unbeabsichtigt zum Feind von mir sehr wichtigen Menschen gemacht haben. Andernfalls hätte ich Sie und Ihre Leute problemlos mit veränderten Erinnerungen in das zurücksenden können, was Sie als Zivilisation ansehen. Aber Sie haben bereits zu viel Wissen über unsere noch zum Stillhalten verurteilte Gesellschaftsgruppe angehäuft. Deshalb und auch um den Angehörigen meiner Gesellschaftsgruppe zu zeigen, dass es fatal wäre, gegen uns Krieg zu führen, wird an Ihnen und Ihren Leuten ein Exempel Statuiert. Bald haben wir alle die von Ihnen zusammengerufenen Spießgesellen beisammen. Dann beginnt für Sie alle eine sinnvolle Daseinsform. Dixi!"

"Sie wollen mir doch nicht etwa einzureden versuchen, die ganzen gegen uns angewandten Waffen und Kräfte seien irdischen Ursprungs, sowas wie Magie oder was?" fragte der Mann, der dachte, in die Gewalt von außerirdischen Besatzern geraten zu sein.

"Genau das ist es aber. Wir können Magie verwenden und sind daher eigentlich Ihrer dazu völlig unfähigen Rasse weit überlegen. Nur die Furcht vor einem blutigen Krieg mit allen denen, die meinen, mit Ihresgleichen friedlich zusammenleben zu können, ohne zu verraten oder ans Licht gelangen zu lassen, dass es echte Hexen, Zauberer und magische Wesen gibt, hindert uns daran, die notwendigen Berichtigungen vorzunehmen. Sie dürfen zumindest froh sein, dass Sie mithelfen dürfen, uns bei der Aufzucht unserer Nachkommen zu helfen. Andere Gruppierungen hätten Sie womöglich nur getötet."

"Was heißt hier "nur getötet"?" fragte der Gefangene. Doch darauf erhielt er keine Antwort. Noch nicht. Statt dessen setzte Mater Vicesima den Erinnerungsschöpfungsvorgang in Gang, jedoch so, dass diese nur kopiert und nicht aus dem Gedächtnis des Gefangenen herausgetilgt wurden. Er sollte wissen, was mit ihm passierte, wenn es passierte. Denn ihm hatte sie ein sehr hartes Los zugeteilt. Hätte sie gewusst, dass eine wesentlich jüngere Hexe vor Jahren auf ähnliche Grausamkeiten verfallen war hätte sie wohl was anderes beschlossen.

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17. Dezember 2002

Pling-Plong!- Pling-Plong! Das magische Glockenzeichen für ein ohne Zauberkraft fliegendes Wesen mit einem toten Gegenstand am Körper im Umkreis von zehn Kilometern rief Egil Rasmusson alias Pater Decimus Quartus Borealis in den Beobachtungsraum. Drei andere Mitstreiter hatten bereits einen großen Eulenvogel auf der silbern gerahmten Ausblickscheibe. Der Uhu trug einen Umschlag mit einem wohl runden Gegenstand darin. Jetzt kreiste er über einem bestimmten Punkt, genau über dem Bergabschnitt, unter dem der Stützpunkt lag. "Na, noch mal eine Bombe, diesmal aus freiem Fall?" fragte Rasmusson.

"Dann müssten die schon Antimaterie herstellen können, um uns hier unten zu kriegen", feixte Perdy, der auch vom Klingelzeichen aufgescheucht worden war. "Ah, jetzt legt der Uhu den Umschlag unter den Felshang. Sollen wir nachsehen, wer uns das geschickt hat?" fragte Perdy.

"Okay, Schadmittelprüfkommando raus!" rief Pater Decimus Quartus Borealis, wobei er den Überallklangzauber nutzte, mit dem er in fast jeder Ecke des Stützpunktes zu hören war, ausgenommen die Kabinen vom Karussell.

Zwei Minuten später hatten vier Zauberer mit Seriositätssonden, Incantimeter, Strahlenfinder und Wirkstoffprüfsauger den Umschlag erforscht. Er war nicht bezaubert, vergiftet oder radioaktiv verstrahlt.

Als der diensthabende Stützpunktkommandant den unerwartet unterwürfig formulierten Brief von Chroesus Dime las musste er erst lachen. Dann berief er eine Sondersitzung des hohen Rates des Lebens ein. Allerdings sollten sich die Mitglieder in der Niederlassung in Frankreich unter den Pyrenäen treffen, da der Standort des chilenischen Stützpunktes doch zu bekannt geworden war.

"Will sagen, der ehemalige Goldhüter der Amerikaner hängt jetzt an der unzerbrechlichen Kette einer unserer Mitstreiterinnen und muss machen, was sie will, ganz ohne Imperius-Fluch oder Fügsamkeitstrank?" wollte Egil Rasmusson wissen. Seine Ratskollegin Mater Vicesima bestätigte das.

"Dann wollen wir ihn noch ein wenig zappeln lassen?" fragte ein Ratsmitglied aus Kanada. "Ich will das mit Chrysostomos Greensporn bis zum vierundzwanzigsten Dezember geklärt haben, ob er noch hier bleiben soll, als Erwachsener zu seinen Verwandten zurückkehren kann oder als Wiederverjüngter mit oder ohne vollständige Erinnerungen zurückgeschickt wird", sagte Mater Vicesima. "Liest sich doch sehr entgegenkommend, dass wir keine Strafverfolgung mehr zu erwarten haben. Aber wir formulieren das noch weiter aus. Soweit ich weiß haben sie sich in den Staaten am lautesten darüber beklagt, ihre Zauberschulen weiter ausbauen zu müssen, und einige Leute da haben sehr übel über uns hergezogen. Wenn wir schon die Möglichkeit haben, einen uns sehr gewogenen Zaubereiminister dort zu haben sollten wir das auch gleich richtig ausnutzen." Alle stimmten zu. Als dann die Frage aufkam, ob jemand vom Rat das erbetene, ja schon fast erflehte Treffen besuchte schlug Mater Vicesima vor, kein Ratsmitglied zu schicken, sondern eine Person, die sicher ihre helle Freude an dieser Mission haben würde. Außerdem sei im Fall, dass die bisherigen Absicherungen nicht ausreichten wenigstens kein wirklicher Geheimnisträger in Gefahr. Alle lachten, als sie erfuhren, wen genau Vicesima meinte.

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18. Dezember 2002

Der Uhu, der auf das Anfliegen von geographischen Bezugspunkten abgerichtet war kehrte an diesem Morgen erst zurück und trug einen anderen Umschlag an seinem rechten Bein. Dime vertraute dem neuen Schutz vor unerwünschten Portschlüsseln. Weil der Briefumschlag mit dem Vogel durch die Zauberprüfungsschleuse geflogen war ging er auch von keinem daran hängenden Fluch aus. Und falls doch, würde der womöglich auch nicht auf ihn wirken. So öffnete er den Umschlag und fand darin den Ausschnitt einer Karte mit einem Gittermuster. am unteren Rand waren die Längen, am linken Rand die Breitengrade vermerkt. Rechts oben war eine gemalte Uhr, deren Zeiger auf ein Uhr standen, wobei rechts davon noch ein Mondsymbol verzeichnet war. Einer der Gitterknotenpunkte war rot markiert. Damit stand fest, dass er um ein Uhr nachts an den bezeichneten Ort reisen sollte. Auf der Rückseite des Kartenausschnitts war noch eine Zeichnung, die einen Mann mit Zaubererhut und ein gleichgroßes Menschenwesen mit rundem Babykopf darstellte. Darunter stand in Druckbuchstaben:

Nur unser Abgesandter und Sie. Jeder andere gilt als Verstoß gegen unser Vertrauen, dass Sie es ehrlich meinen.

Darunter war ein himmelblaues V, dessen Spitze zwischen den Schrägen eines sonnengelben Ms ruhte. Dime fand dieses Symbol schon sehr eindeutig zweideutig und darauf hinweisend, was der Hauptzweck dieser Vereinigung war, mit der er sich nun wohl oder übel einlassen musste. Anders als bei den Spinnenschwestern durfte er hier kein Scheitern riskieren. Ihm war klar, dass er sich dieser Gruppierung - wenn er "Bande" dachte ziepte es wieder in seinem Unterleib - auf Gnade oder Ungnade auslieferte. Das ging schon damit los, dass er ganz allein, ohne Schutzmannschaft zu diesem konspirativen Treffen reisen musste. Ja, seine Sicherheitsleute durften nicht einmal wissen, dass er zu diesem Treffen wollte, wann und wo es überhaupt stattfand. Wieder fühlte der von Phoebe Gildforks unabschüttelbarem Blutkettenzauber gebundene Zaubereiminister kalten Schweiß ausbrechen. Was, wenn die von Vita Magica die Gunst der Stunde nutzten und ihn ebenfalls in einen hilflosen Säugling zurückverwandelten, wie sie es mit Cartridge körperlich und mit der Angriffstruppe vollständig getan hatten? Würde Phoebes gnadenloser Zauberbann ihn auch davor beschützen? Dann erkannte er mit einer Mischung aus Erleichterung und Verdrossenheit, dass die von Vita Magica das mit Phoebe und ihm doch eingefädelt hatten, weil sie ihn an der langen Leine, besser einer unsichtbaren Kette, führen wollten. Ihn zurückzuverjüngen war also nicht geplant.

Dime schrieb sich schnell die Positionsangaben auf, ein Ort knapp zehn Kilometer nordwestlich der Grenze zwischen New Mexico und Texas auf der Hochebene Llano Estacado. Dazu würde er sich einen Portschlüssel machen, der ihn und einen Harvey-Besen der neuesten Generation in die Nähe des Treffpunktes bringen würde.

Den restlichen Arbeitstag brachte der Minister mit weiterführenden Anfragen wegen der Abstimmung bei der Suche nach möglichen Boten der Mondbruderschaft zu und lies sich von seinem Nachrücker in der Finanzabteilung die neuesten Kostenaufstellungen für den Neubau des Zaubereiministeriums vorlegen. Ja, da würde er wirklich noch mal mit Prinzipalin Wright reden müssen, ob das eine oder andere in Thorntails wirklich schon in den nächsten drei Jahren nötig war oder möglicherweise zwei Jahre vor der von VM angeregten Generation vieler neuer Schüler angegangen werden konnte.

"Nichts für ungut, Honey, möchtest du überhaupt noch mal vor Weihnachten nach Hause kommen?" fragte Dimes Frau, als er ihr am Abend per Kontaktfeuer mitteilte, die Nacht im New Yorker Außenposten des Zaubereiministeriums bleiben zu müssen.

"Ich erwarte wegen einiger Entwicklungen Eulen aus Europa, Darling. Die möchte ich gerne sofort beantworten, wenn sie eintreffen", log Dime, ohne rot zu werden.

"Unbedingt sofort?" fragte Argentea misstrauisch. "Sonst hast du früher alle Anfragen oder Mitteilungen aus der alten Welt bis zum nächsten Morgen im Briefeingang liegen lassen, wenn sie nachts ankamen."

"Da war ich auch nur Abteilungsleiter. Als Zaubereiminister, wenn auch erst mal nur kommissarisch, muss ich in der Hinsicht schneller reagieren. Es gibt noch zu viel, was noch in Ordnung zu bringen ist. Vor allem sind viele Unterlagen mit Sandhearst und dem alten Ministeriumsgebäude in die Luft geflogen. Deshalb musste ich viele Kopien von früherer Korrespondenz erbitten, um auf dem gegenwärtigen Stand der Dinge zu kommen und um unser Archiv ein wenig zu reparieren. Die anderen machen auch Extraschichten, um an anderswo gelagerte Unterlagen zu kommen", führte Dime seinen Schwindel fort. Seine Frau sah ihn nur verbittert an.

"Dabei habe ich gehofft, wir können die Abende vor Weihnachten genießen, bevor unsere ganzen Kinder und Enkel bei uns anlanden", grummelte Argentea Dime.

"Du kennst mich. Wenn ich mich in eine Aufgabe vertiefe, dann führe ich sie so schnell aber auch gründlich wie möglich zu Ende", stieß Chroesus Dime aus. Er ärgerte sich selbst, seine geliebte Frau so anlügen zu müssen. Die hatte doch keine Ahnung davon, was ihr demnächst noch bevorstand.

"Dann vertiefe du dich in deine Pergamente! Hätte ich das gewusst wäre ich noch in diesem Jahr nach Frankreich gereist, weil Mr. Redclaw gerne noch europäische Kniesel aus der Queue-Dorée-Linie haben möchte, bevor die mit unserem Hochleistungskater Sternenstaub zusammengeführt wurde."

"Kannst du mir gerne erzählen, wenn ich mich aus den über meinem Kopf hängenden Pergamentstapeln wieder rausgegraben habe, Darling. Nacht!"

"Gute Nacht", fauchte Argentea. Dime zog seinen Kopf wieder in den Kamin seines Büros zurück. Das schlechte Gewissen, eine für einen Zaubereiminister unpraktische Eigenschaft, zwickte ihn, dass er Argentea derartig abservieren musste. Wie wollte er der dann irgendwann klarmachen, dass er sie verlassen würde oder es hinbiegen, dass sie ihn verließ?

Gegen elf Uhr, wo außer den Dienstelfen kein lebendes Wesen außer Dime im Gebäude war, disapparierte der Zaubereiminister aus dem dafür vorgesehenen Foyer. Etwa fünfhundert Kilometer weiter westlich reapparierte er in einer Grotte, die er als junger Zauberer gerne durchstreift hatte, bevor er sich mit Karriere und Familie befasst hatte. Hier richtete er mit magischen Runen aus silberner Zaubertinte eine für die Zeit, solange der Mond schien eine Unortbarkeit ein, die einen Portschlüssel verbarg. Dann bezauberte er einen alten Lappen, den er per Apportationszauber aus dem Haushaltsvorrat der Dienstelfen geholt hatte. Als der Portschlüssel fertig war wartete der Minister noch zehn Minuten. Die magischen Runen leuchteten mondlichtfarben von den Wänden, dem Boden und der niedrigen Decke.

Als die Zeit gekommen war wurde Chroesus Dime in jene farbige Unendlichkeit hineingezogen, in der Portschlüsselnutzer zwischen Start und Zielort befördert wurden. Als er wortwörtlich daraus zurück in die gewohnte Welt fiel fing er sich mit Armen und Knien ab. Dann zog er den Harvey-Flugbesen aus dem dafür gemachten Verbergefutteral, in dem von äußeren Abmessungen her gerade mal ein kurzer Zauberstab passen mochte. Unsichtbar und unhörbar sauste er dann über die immer trockenere Steppenlandschaft des Llano Estacado.

Dime erreichte den angegebenen Treffpunkt, den er mit einem für neue Harvey-Besen erfundenen Wegführungsring zielgenau ansteuerte, zwanzig Minuten vor der angegebenen Uhrzeit. Allerdings hätte er den Wegführungsring nicht gebraucht. Denn die bezeichnete Stelle war auf einer Kreisfläche von fünfhundert Metern Durchmesser von jedem Halm des hier wachsenden Steppengrases befreit worden. So würde sich kein sichtbar bleibender Mensch im hohen Gras verstecken können und kam nicht nahe genug heran, um einen gezielten Zauberangriff auszuführen, dachte Dime.

Es war schon vorausschauend gewesen, dass er seine Kleidung gleichwarm bezaubert hatte. Denn hier war es gerade kalt. Dafür war der Himmel sternenklar. Als er nach oben blickte dachte er leicht wehmütig daran zurück, dass er zunächst eine Laufbahn in der magischen Astronomie machen wollte. Aber er hatte auf seinen Vater gehört, dass ein sinnvolles Leben nur durch gute Verdienste erreicht wurde. Wahrscheinlich wäre er dann nicht zum lohnenden Angriffsziel für VM geworden. Als er das dachte ziepte es wieder in seinem Unterleib. Er durfte auch nicht abfällig von dieser Gruppe denken.

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19. Dezember 2002

Eine grüne Lichtspirale erschien aus dem Nichts heraus und wirbelte einige Male im Uhrzeigersinn. Dabei schälte sich eine Gestalt heraus. Dime dachte sofort an das Zauberlicht, dass alle Portschlüssel der Einsatzgruppe gegen Vita Magica blockiert hatte. Jetzt stand da eine hochgewachsene Person in einem einteiligen Hosenkostüm, nein, einem Strampelanzug. Zwischen den Schultern konnte Dime einen für erwachsene Menschen unnatürlich großen Kopf erkennen. Dann blitzte es blau-grün auf. Dime meinte, von der Faust eines eiskalten Riesens umschlossen und festgehalten zu werden. Doch so schnell diese Empfindung aufkam war sie auch schon wieder vorbei. Dann sah Dime, wie der Neuankömmling etwas kleines, rundes aus einer wohl auf dem Rücken mitgeführten Tasche fischte und damit auf Dime zuging. Der Zaubereiminister dachte einen kurzen Moment daran, zurückzuweichen. Doch dann besann er sich, dass dieser Abgesandte von VM ihm hier und heute nichts antun würde, solange er selbst nicht wagte, ihn oder sie anzugreifen. Allein der Gedanke bereitete ihm schon wieder Unterbauchschmerzen.

Als der Neuankömmling nur noch fünf Schritte von Dime entfernt war legte er den halbkugelförmigen Gegenstand auf den Boden und trat einen Schritt zurück, Ein silbrigblauer Strahl schnellte daraus hervor in den Himmel und verbreitete sich mehr als zwanzig Meter über ihnen beiden zu einer leuchtenden Kuppel, die in nicht mal einer halben Sekunde bis zum Boden reichte. Im Licht der magischen Kuppel konnte Dime nun sehen, dass sein Gesprächspartner eine Hexe war, die in einem hellen Strampelanzug steckte, der ihre Formen nur leicht verbarg. Dann sprach die Fremde mit der Stimme einer Zweijährigen, und ihre Worte hallten von allen Seiten wieder, als sei die magische Kuppel aus Bronze.

"Chroesus Dime, Sohn des Chrysomeles und der Iphigenie, sei frei zu sprechen und zu handeln!" Dieme fühlte, wie ein warmer Windstoß über seinen Körper hinwegfuhr. Dann sprach die Verkleidete weiter: "Leg alles ab, was du bei dir und am Körper trägst! Wenn du das nicht tust, bin ich wieder weg und damit jede Chance, mit meiner Gesellschaft einen Frieden zu schließen.""

Dime wollte schon protestieren, nicht so direkt angesprochen zu werden und sich gegen die Demütigende Aufforderung wehren. Doch allein zu denken, dass die andere dann unverrichteter Dinge wieder verschwand peinigte ihn seelisch und körperlich. Denn wenn sie verschwand gab es keinen Burgfrieden oder ein Zweckbündnis mit VM. Dann musste er sterben. Doch er wollte nicht sterben. So kam er mit großem Widerwillen der Aufforderung nach und fühlte die Röte in sein Gesicht steigen, weil er sich der anderen gegenüber völlig entblößte. Als er dann völlig nackt vor der Fremden stand dachte er erst, die kalte Nachtluft würde ihn jetzt frieren lassen. Doch merkwürdigerweise war es gerade so warm wie in einem Wohnzimmer mit einem kleinen Kaminfeuer.

Dime nahm es hin, wie die andere ihn mit ihren großen, blauen Babyaugen betrachtete. Hatte die noch nie einen nackten Mann gesehen? Vielleicht prüfte sie auch, ob er als neuer Befruchter in Frage kam. Doch dieser Gedanke rief wieder ein leichtes Zwicken im Unterleib hervor.

"Hast du noch was im Bauch oder Enddarm, was magisch wirksam ist?" fragte die andere immer noch die persönliche Anrede benutzend.

"Nein, ich habe alles abgelegt und habe mir nichts in den Enddarm geschoben", grummelte Dime.

"Dann ist es gut. So bleiben, während wir miteinander reden!" sagte die andere. Diese Kleinmädchenstimme war widerwärtig, weil sie nicht zu diesem Körper passte. Dime erkannte jedoch die Sprachfärbung. So redeten die Leute in Cloudy Canyon, wo auch seine Frau herstammte, und was die gemeinsamen Kinder von ihr gelernt hatten.

"Du hast uns diese nette Eulenwurfsendung zugeschickt, dass die ihre Mondheulerseuche als Waffe benutzenden Pelzwechsler wieder was anstellen und jetzt sogar was gebraut haben, dass ungeborene Kinder mit der Werwut anstecken soll. Das macht euch im Ministerium offenbar Angst. Deshalb bietest du unserer Gruppierung einen Frieden an, um vielleicht mit unseren Fachleuten zusammen diese neue Verseuchungsart wegzukriegen, richtig?"

"Ja, das ist richtig, Madam", sagte Dime. Er konnte zu allen Donnervögeln nicht einschätzen, wie alt diese Frau war. Er konnte eben nur sehen, dass es eine erwachsene Frau oder ein gerade aufgeblühtes Mädchen sein musste, falls die runden Ausprägungen am Brustkorb nicht auch nur Verkleidung waren.

"Nach all dem Zeug, dass ihr über uns verzapft und weil ihr zweimal versucht habt, unsere chilenische Residenz zu vernichten bettelt ihr jetzt um Frieden? Hast du das auch diesen angeblichen Vorkämpferinnen der Vorherrschaft der Hexen angeboten, die auch meinen, wir würden gegen die Ehre und Rechte aller Hexen handeln? Sag die Wahrheit oder flieg ohne was von uns mitzunehmen wieder nach Hause!""

"In meiner Eigenschaft als amtierender Zaubereiminister und damit für die leibliche und seelische Unversehrtheit aller magischen Menschen verantwortlich war ich gezwungen, jede wie auch immer zu uns stehende Organisation zu bitten, mit uns friedlich zusammenzuarbeiten."

"Mit anderen Worten, mit mir redest du auch nicht freiwillig, weil du einsiehst, dass es der Zaubererwelt nicht länger gut tut, einen völlig unnötigen Krieg mit anderen Hexen und Zauberern zu führen?"

"Ich wollte keinen Krieg führen. Das mit den Angriffen auf Ihre Residenz war die Idee von Sandhearst", versuchte Dime, die Schuld abzustreiten.

"Ja, aber du hast als Goldverwalter im Ministerium alle Ausgaben dafür genehmigt. Bei der Gelegenheit, noch mal vielen Dank für die ganzen Sonderausrüstungsgüter, vor allem die Incantivacuum-Kristalle und die Harvey-Flugbesen", ritt die Verkleidete auf der großen Niederlage des Zaubereiministeriums herum.

"Ich weiß, dass Sie das ablehnen, was wir denken und tun. Leider kann ich im Moment nur sagen, dass die Mehrheit im Ministerium mit meinem Entschluss nicht einverstanden ist, weil die auch denken, dass Sie gegen bestehende Gesetze verstoßen. Aber wenn wir alle in Gefahr sind ist es nicht besser, alle Streitigkeiten zumindest solange zu begraben, wie die Gefahr besteht?"

"Und danach dürfen deine Leute unsere Leute wieder jagen und festzunehmen versuchen? Nein, Chroesus Dime, wenn du wirklich Frieden mit uns machen willst oder musst, dann richtig. Dann möchten wir eine verbindliche, magisch besiegelte Übereinkunft, dass niemand mehr von uns auf dem Boden der vereinigten Staaten Angst vor Verfolgern haben muss, wenn er oder sie doch mal sagen muss, dass er oder sie zu uns gehört. Außerdem sollen deine Alchemieleute aufhören, unsere Fruchtbarkeitsanregungstränke und Lösungen zu entschlüsseln. Das gilt auch für die in den Staaten arbeitenden Heiler. Das darfst du dann gerne Madam Greensporn sagen, wenn du mir echt was vorlegen kannst, was sagt, dass wir mit dir und dem Zaubereiministerium Frieden machen sollten."

"Ich habe alle Protokolle von Verhören eines verdächtigen Lykanthropen und seiner Überwacher dabei. Falls Sie lesen können dürfen Sie die gerne überprüfen."

"Die nehme ich gerne mit in unseren Stammsitz, wenn ich weiß, dass da kein Aufspürzauber drinsteckt", sagte die Abgesandte. "Accio Mitschriften!" rief sie mit auf Dimes abgelegten Rucksack zielendem Zauberstab. Dieser sprang auf und die zu einer festen Rolle gedrehten Unterlagen schwirrten fanggerecht in die freie Hand der Abgesandten. Dann senkte sie den Zauberstab und sprach weiter: "Aber du willst ja hier und jetzt klarhaben, ob wir und ihr einen dauerhaften Frieden haben, kein zeitweiliges Zweckbündnis."

"Ich habe nach einem Stillhalteabkommen und eine mögliche Zusammenarbeit gefragt", berichtigte Dime.

"Ja, und die, die mich geschickt haben meinen, dass denen das nicht reicht. Weil ich das auch so sehe bin ich als Botin ausgewählt worden."

"Darf ich fragen, welchen Rang Sie in Ihrer Organisation bekleiden?" wagte sich Dime sehr weit vor.

"Hast du gerade gemacht, Chroesus Dime. Aber du kriegst keine Antwort drauf. Ich bin die Abgesandte der Gesellschaft für die Wahrung und Mehrung magischen Lebens. Das soll dir reichen. Also, willst du einen echten Frieden oder nur eine bröckelige Stillhalteerklärung, solange diese Pelzwechsler ihr mieses Spiel treiben oder die Vampire oder wer sonst noch?"

"Ich bitte darum, zu wissen, zu welchen Bedingungen Ihre Gruppierung einem dauerhaften Friedensabkommen zustimmen möchte, denn leider kann ich von unserer Seite aus keine Bedingungslose Zustimmung zu einem dauerhaften Friedensschluss geben."

"So, kannst du nicht? Verstehe, weil wir den ihre natürlichen Pflichten vergessenden, nur Karriere machen wollenden Hexen beibringen mussten, wofür sie leben und auch den Zauberern, die nur viel Geld haben wollten, wie dieser großmäulige Quod mit armen und Beinen Bluecastle?"

"Ich bedauere, dass wir unsere grundlegenden Meinungsunterschiede von anständigem und gesetzestreuem Leben nicht in dieser Nacht ausräumen können", seufzte der Minister. Die andere lachte. Mit ihrer Kleinmädchenstimme klang das richtig unheimlich.

"Aber das ist doch genau das, was zu einem Frieden nötig ist, mit allem Zank aufzuhören und klar anzusagen, dass es keinen Ärger mehr geben soll. Ich bin auch nicht hier, weil ich mir das anhören soll, was wir alles so böses gemacht haben. Wir wissen das selbst, was bei euch verboten ist oder zu dem Ihr "Das tut man nicht" sagt. Vielleicht geht da ja irgendwann was, dass Ihr mit Leuten von uns in Ruhe drüber reden könnt, warum wir das aber doch machen, ja auch machen müssen, weil die Muggel sich wie die Jackalopen vermehren und mit ihrem ganzen Zaubereiersatzmüll unsere Erde kaputtmachen. Da sind wir ja sogar mit den Sardonianerinnen einer Meinung, wenn die auch meinen, dass wir denen zu überlassen haben, wann und von wem die ihre Kinder kriegen. Die Biester werden sicher auch von dir haben wollen, dass du endlich was gegen diesen ganzen Muggelschrott machst, bevor der uns alle erstickt."

"Ich kann nur das machen, was ich Ihnen angeboten habe, einen zur Bekämpfung aller Gefahren notwendigen Stillhaltepakt unter Einhaltung gegenseitiger Bedingungen schließen."

"Gut, dann reden wir über die Bedingungen. Was wollt ihr von uns und was wollt ihr uns dafür geben?" kam die Abgesandte endlich auf den Grund dieses nächtlichen Treffens.

Dime zählte nun die von seinen Leuten klar zu benennenden Bedingungen für eine Zustimmung zu einem vorübergehenden Stillhalteabkommen auf. Dazu gehörte die Rücksendung aller in der Obhut von VM befindlichen Zaubererweltbürger aus den USA, sowie eine klare Bekundung, keine nordamerikanischen Hexen und Zauberer mehr gegen ihren Willen fortzuholen und festzuhalten, sowie eine Aufstellung darüber abzuliefern, wie viele durch Fruchtbarkeitsanregung erwirkten Kindszeugungen von welchem US-Bürger vollzogen wurden. Insbesondere, so Dime, wünschte er zu wissen, ob Arbolus Gildfork noch am leben sei. Als Gegenleistung bot er an, dass alle Anklagen gegen Unbekannt zurückgenommen würden, dass Mitglieder der Gruppierung ohne Angst vor neuerlicher Strafverfolgung auf dem Boden der vereinigten Staaten leben dürften, falls sie sich als Mitglieder der Gruppierung offenbaren wollten, um beispielsweise die von US-Bürgern gezeugten Kinder auf amerikanischem Hoheitsgebiet zu bekommen und somit zu Bürgern der vereinigten Staaten werden zu lassen. Ja, und er bot auch an, alle vom Ministerium angestellten Nachforschungen zu Herkunft und Wirkungsweise der Fruchtbarkeitsanregungselixiere einstellen zu lassen und die bisherigen Ergebnisse in ein nur für den Minister zugängliches Verlies von Gringotts New York einzuschließen.

"Jetzt habe ich gedacht, dass du auch gerne die ganzen Sachen wiederhaben möchtest, die wir von euch gekriegt haben", sagte die Abgesandte. "Aber das ist noch nicht genug. Zum einen wollen wir kein von diesen Mondheulern bestimmtes Stillhalteabkommen, sondern einen dauerhaften Koexistenzvertrag mit Nicht-Angriffsgarantie solange, wie du und alle von dir abstammenden Hexen und Zauberer leben auch für deine Amtsnachfolger verbindlich. Dann haben wir mitgekriegt, dass in Frankreich neue Dinger gemacht werden, die gegen Portschlüssel sind. Wenn wir mit euch Frieden haben sollen schafft ihr sowas bei euch nicht an und gebt das auch keinem anderen hier auf dem ganzen Kontinent Amerika. Aber hier, lies das selbst!" Wieder zog sie auf einer auf dem Rücken getragenen Tasche was hervor, eine Pergamentrolle. Dime nahm sie mit zitternder Hand entgegen und entrollte sie.

Das außergewöhnlich dicke Pergament war ein vorformulierter Vertrag und prickelte in seinen Händen. Also war der wohl magisch imprägniert. Wer den unterschrieb löste wohl einen bindenden Zauber aus. Dime las, dass Vita Magica bereit war, für eine friedliche Koexistenz mit den Hexen und Zauberern Nordamerikas alle erwachsenen Zaubererweltbürger, die gerade bei ihnen waren, bis zum Tag vor Weihnachten zurückzusenden, sofern diese all die gerade auferlegten Aufgaben erfüllt hatten, sowie keine weiteren Hexen und Zauberer aus den Staaten in die Residenzen der Gesellschaft zu befördern und alle noch anstehenden Verpflichtungsaufforderungen zu widerrufen. Im Gegenzug wollte die Gesellschaft die Generalerlaubnis, die Mora-Vingate-Partys veranstalten zu dürfen, zu der Hexen und Zauberer ganz freiwillig hinkommen konnten, die bisher niemanden gefunden hatten, von dem sie Kinder haben wollten. Außerdem sollten die bisherigen Forschungsergebnisse über die Zusammensetzung aller Fruchtbarkeitsanregungstränke der Gesellschaft übergeben werden und die an den Forschungen beteiligten Hexen und Zauberer vereidigt werden, ihre Kenntnisse nicht noch einmal niederzuschreiben oder an andere weiterzugeben. Auch sollte er versuchen, die Heilerzunft davon abzubringen, weiter zu forschen. Da der Gesellschaft jedoch bekannt sei, dass er keinen Einfluss auf die Entscheidungen der Heilerzunft hatte sollte er es nur bei einer des Friedens willen vorgebrachten Bitte belassen. Allerdings verlangte der Vertrag, dass alle Väter in den Residenzen der Gesellschaft gezeugter Kinder jeden Anspruch aufgaben, über die Entwicklung dieser Kinder unterrichtet zu werden. Alle bereits angestoßenen Verfahren sollten eingestellt werden. Zudem sollte er allen Ministeriumsmitarbeitern unter Androhung der fristlosen Entlassung ohne Pensionsanspruch befehlen, jede feindliche Äußerung zu widerrufen und alle schriftlichen Äußerungen in welcher form auch immer zu vernichten. Was er jedoch am schwersten empfand war der Abschnitt, dass das Zaubereiministerium für jedes unter Ausnutzung der Fruchtbarkeitsfördernden Mittel der Gesellschaft auf dem Boden der vereinigten Staaten geborene oder noch zu gebärende Kind eine Summe von siebzehntausend Galleonen in einem Verlies von Gringotts New York zu hinterlegen, um diese Kinder bis zur Volljährigkeit finanziell abzusichern. Welche Kinder davon profitieren sollten würde die Gesellschaft nach Unterzeichnung des Vertrages an die Familienstandsabteilung und die Abteilung für Handel und Finanzen senden. Außerdem sollte das Ministerium ein Guthaben von zwei Millionen Galleonen in das Verlies von Thorntails überweisen, damit dort alle nötigen Um- und Ausbaumaßnahmen abgeschlossen werden konnten, wenn die neuen Zaubererweltbürger dort eingeschult werden sollten und die nötigen Personalaufstockungen bezahlt werden konnten. Dime fiel fast zu Boden. Wenn er alleine an die ganzen Mehrlingsgeburten dachte, die in diesem Jahr passiert waren und im nächsten Jahr noch passieren würden, einschließlich der von ihm unter Einfluss dieser Gruppierung gezeugten Zwillinge ergab das schon bald die Summe, die Thorntails erhalten sollte. Wenn die dann auch noch ihre Verpaarungspartys weiterfeiern konnten stiegen die Ausgaben weiter. So sagte er: "Wenn Sie das Ministerium derartig ausbluten lassen können wir die öffentliche Ordnung und die Sicherheit für die Zaubererweltbürger, sowie die Infrastruktur nicht mehr aufrechterhalten."

"Krämerseele, ihr habt bei euch im Ministerium nach den letzten Bilanzen ein Vermögen von zweihundert Millionen Galleonen, weshalb ihr ja im letzten Jahr so gnädig sein konntet, die Gewerbesteuern für größere Firmen wie Bronco oder Madam Beaulieus Schönheitsparadies um zwanzig Prozent zu senken. Also komm mir ja nicht damit, dass ihr nichts mehr machen könnt, wenn ihr diese bescheidene Summe ausgebt", sagte die Abgesandte. "Unsere derzeitige Wegführerin im hohen Rat des Lebens wollte für jedes bei euch geborene oder noch zu gebärende Kind eine halbe Million Galleonen mündelsicher anlegen lassen. Aber wir anderen konnten ihr sagen, dass das Ministerium dann nichts mehr machen kann und dann von Subjekten wie die Anthelianerinnen oder anderen unsere Verärgerung herausfordernde Hexen und Zauberer überrannt wird. Also hör zu meckern auf, oder ich bin mit dem Vertrag weg und damit auch die Möglichkeit, dein Friedensabkommen zu kriegen."

"Ich habe schon einen Fond für Thorntails genehmigt. Der reicht für die Umbauarbeiten."

"Hörst du bitte auf, mir was vorzulügen, Chroesus Dime!" knurrte die Abgesandte. wir wissen, dass du gerade mit Prinzipalin Wright darum feilschen willst, ob sie nicht auf diesen oder jenen Umbau verzichtet, wo sie ja auch nicht weiß, wer in welches Haus eingeteilt wird. Wir wissen, dass Thorntails Gold braucht, damit die neuen Hexen und Zauberer richtig ut zaubern lernen können. Weil wir dafür aber das Gold nicht zahlen können, da die Spitzohren von Gringotts außerhalb von Liechtenstein und der Schweiz immer eine namentliche Herkunftserwähnung brauchen zahlt ihr das halt. So. Aber wenn du das nicht machen willst, dann verschwinde ich eben wieder und sage meinen Bundesgenossen, dass du doch keine Lust auf einen echten Frieden mit uns hast. Dann finden Sie deine Tochter Eartha und Madam Greensporns Enkelsohn eben morgen als Wickelkinder vor dem HPK. Allerdings werden die dann mit allem neu aufwachsen müssen, was sie bisher erlebt haben."

"Verdammt!" stieß Dime aus, der bei diesen Worten wieder panische Angst aufsteigen fühlte. Diese Hexe da erpresste ihn offen. Doch er konnte und durfte ihr das nicht an den Kopf werfen. Wenn die verschwand fiel er vielleicht gleich tot um, aber spätestens, wenn Vita Magica das öffentlich machte, dass kein Frieden erzielt werden konnte. Er zitterte heftig, keuchte und schwitzte. Doch ihm fiel nichts ein, um diese Bedingungen auszuhebeln. Diese Abgesandte wusste offenbar, dass er gezwungen war, ein für Vita Magica annehmbares Abkommen zu schließen. Am Ende wusste die da auch, warum ... warum er ... Sein Herz übersprang einen Schlag. Sein Atem stockte für eine Sekunde. Dann fing er sich wieder. Er wollte nicht sterben. Wenn die ihm da nicht auf den Kopf zusagte, was mit ihm los war und er sich nicht verplapperte, dann würde er leben. Ja, er würde weiterleben.

"Also gut", stöhnte er. "Ich unterschreibe das. Wird zwar vielen nicht gefallen. Aber ich kann sonst nicht frei gegen die Lykanthropen vorgehen", sagte Dime dann. In Gedanken verwünschte er den Umstand, dass er die ganze Angelegenheit angezettelt hatte. Jetzt fühlte er erst recht, dass er kein eigenständig handlungsfähiger Mann mehr war. Er war nur noch eine Marionette, ein Golem oder Automaton aus Fleisch und Blut. Doch er wollte, er musste weiterleben.

Als er zu seinen Sachen wollte, um Feder und Tintenfass zu nehmen fischte die Abgesandte eine Rabenfeder mit goldenem Kiel aus ihrer Rückentasche. "Du brauchst keine unbeseelte Tinte. Du unterschreibst mit deinem Blut, wie die Mitglieder des hohen Rates auch mit ihrem Blut unterschreiben werden, sobald ich ihnen das Pergament bringe."

"Und ich kann nicht wegen einzelner Punkte nachverhandeln?" fragte Dime. "Steht drin, dass der Vertrag von beiden Seiten in seiner Form anerkannt wird und keine weiteren Verhandlungen nötig sind. Also machst du das oder soll ich verschwinden?"

"Geben Sie mir die Feder ... bitte!" erwiderte Chroesus Dime schon fast flehend. Da stach ihm die Abgesandte mit dem Federkiel in die Hand und ließ genug Blut darauf tropfen. Er nahm die Feder und unterschrieb den Vertrag. Einen Moment lang dachte er daran, dass die Wirkung ihn eh nicht betreffen würde, weil ja Phoebes Zauber auf ihm lag. So konnte er seinen vollständigen Namen im Feld "Amtierender Zaubereiminister im Namen aller Nachfolger" aufschreiben. Die Buchstaben glühten kurz blutrot auf, um dann zu einem vollkommen eingetrockneten rotbraunen Schriftzug zu verdunkeln. Die Abgesandte nahm ihm das Pergament und die Feder wieder fort. Dann zog sie behutsam an einer Ecke des Pergamentes und zupfte behutsam eine Schicht davon ab. Da hatte sie unversehens zwei Pergamentbögen in den Händen. "Damit du eine Ausgabe hast und wir. Die magische Verbindung wirkt durch die beiden Fassungen. Wenn du siehst, dass der hohe Rat des Lebens unterschrieben hat, gilt der Vertrag."

"Ja, und wenn ich nicht innerhalb eines Monats alle Verpflichtungen erfülle passiert dann was?" fragte er.

"Das haben die Leute vom hohen Rat mir nicht gesagt. Könnte sein, dass du zum Baby wirst, aber auch nur zu Stein erstarrst oder in Flammen aufgehst. Das weiß ich eben nicht. Soll jedenfalls ziemlich heftig sein, hat Mater Vicesima mir gesagt. Ach ja, du möchtest bitte Bluecastle grüßen, sie denkt immer noch gerne an die zwei Stunden mit ihm", sagte die Abgesandte mit unverhohlenem Spott in der Stimme. "Achso, weil die sehr umfangreiche Dame namens Phoebe Gildfork ja wissen will, ob ihr Mann noch nach Hause kommt: Meine Bundesgenossen fanden heraus, dass er sich absichtlich hat unfruchtbar machen lassen. Da er aber einer wertvollen Familie angehörte und wir nicht warten konnten, bis er nach Genesungsverjüngung wieder aufgewachsen ist wurde aus Arbolus eine voll und ganz fruchtbare Hexe. Wie sie heißt muss Phoebe Gildfork nicht interessieren, weil sie bei uns ihren Nachwuchs bekommen und großziehen wird. Also er kann und wird nicht mehr wiederkommen. So, und bevor du noch erfrierst verschwinde ich besser", sagte sie noch. Dann bückte sie sich blitzschnell und ergriff den halbkugelförmigen Stein auf dem Boden. Mit einem lauten Piff erlosch die silbrigblaue Lichtkuppel. Schlagartig brach die kalte Nachtluft über den nackten Chroesus Dime herein. "Heiazeit!" rief sie. Dime bibberte vor Kälte und konnte nichts mehr machen, als die Abgesandte in einer grünen Lichtspirale verschwand.

Dime wfiel fast hin, als er hastig nach seinem Zauberstab tauchte. Als er ihn vom Boden aufgelesen hatte wirkte er den Schnellankleidezauber, um wieder in seine gleichwarmbezauberten Sachen zu schlüpfen. Dann hob er auch seinen Besen und den Rucksack mit dem Portschlüssel auf. Er keuchte. Er hatte gerade seine Seele verkauft. Sein Leib war bereits nicht mehr sein Eigentum, wusste er. Er dachte erst, Phoebe anzumentiloquieren und ihr mitzuteilen, dass Arbolus Gildfork nicht mehr wiederkommen würde. Doch sicher schlief sie gerade tief und fest. Da sie wegen der beiden Kinder ihren Schlaf brauchte durfte er sie nicht wecken. Er würde es ihr morgen in der Pause zumentiloquieren. Zumindest musste er einen Mord weniger begehen, dachte er. Jetzt musste er nur noch seine Frau loswerden, ohne sie zu töten. Das lag jetzt so schwer wie alles Gold der Welt auf seiner nicht mehr ihm gehörenden Seele.

Erst mit dem Besen und dann mit dem Portschlüssel kehrte er nach New York zurück, wo er eine Tasse Träumguttee trank. Danach legte er sich hin und schaffte es wirklich, schnell einzuschlafen.

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Als Minister Dime in der Frühstückspause mit Phoebe Gildfork mentiloquierte nahm sie es irgendwie ruhig hin, dass Arbolus nicht mehr wiederkommen würde und offiziell für tot erklärt werden konnte. "Soso, der wollte also nicht, dass ich seine Kinder bekomme. Das hat er nun davon, besser sie. Dann sieh zu, dass Argentea von dir geschieden wird und komm ganz zu mir!" befahl sie dann noch. Dime versprach ihr, die auferlegte Frist auszunutzen. Aber das Weihnachtsfest mit der Familie wollte er doch noch feiern.

"Ja, genieße deinen Weihnachtsfrieden, mein kleiner süßer Goldhamster. Bald hast du eine andere Familie", schickte sie ihm zurück.

Um elf Uhr fühlte er, wie etwas über seine rechte Hand und seinen Arm glitt und dabei vibrierte. Dann ruckelte es an seinem Körper. Sofort prüfte er, ob das in einem mit zwei Körperspeicherschlössern verschlossene Geheimfach aufbewahrte Pergament sich verändert hatte. Ja, da waren zwölf blutige Namenszüge über seiner eigenen Unterschrift aufgetaucht. Allerdings hatten die mit merkwürdigen Namen unterschrieben. Pater Decimus Octavus Orientalis, Mater Decima Quarta Americana Borealis .. bis hin zu Mater Vicesima MMII. Offenbar reichte das aus, mit Decknamen zu unterschreiben, wenn dabei eigenes Blut benutzt wurde, erkannte Dime mit gewisser Enttäuschung. Denn zumindest hätte er gerne gewusst, mit wem er da gerade einen schier unbrechbaren Pakt geschlossen hatte.

Wie er befürchtet hatte nahmen die um viertel nach Elf zusammengerufenen Abteilungsleiter das von ihm alleine getroffene Abkommen nicht so glücklich auf. Nancy Gordon stieß aus, dass er wohl vom wilden Wichtel gebissen worden sei oder von dieser Fremden unter den Imperius-Fluch genommen worden sein musste. Dime gestand ein, dass er sich auch erpresst gefühlt hatte. Aber die Aussicht, dass die Gruppierung dann erst recht Jagd auf US-Zaubererweltbürger machen würde konnte er nicht leugnen.

"Ja, und dass die Finanzabteilung Zwei Millionen für Thorny zurücklegen und für jedes VM-Kind siebzehntausend Galleonen anlegen soll ist garantiert ein persönlicher Angriff auf Sie, Sir. Jemand hat wohl mal mit Ihnen drachenstarken Ärger wegen was zu bezahlendem gekriegt", sagte der Leiter der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe. "Bei der guten Nancy hier wären das ja schon mal vierunddreißig Goldriesen, die da in ihrem Bauch heranwachsen."

"Sei froh, dass die von VM dich nicht in ihr Paarungskarussell oder auf eine wilde Party geschickt haben, Nigel", knurrte Nancy. "Außerdem sind es dann wohl einundfünfzig Goldriesen, die wegen meiner Kinder angelegt werden müssen. Ich war nämlich gestern noch mal bei meiner erwählten Heilerin. Die hat noch mal nachgeguckt und schließlich drei Embryonen gesehen. Offenbar fand Vita Magica, dass Nans noch ungenutzte Gebärmutter geräumig genug für drei Kinder ist." Dime verzog das Gesicht. Also trug Nancy drei Kinder aus. Da die meisten ungewollten Schwangerschaften Mehrlingsschwangerschaften waren sah er schon im Ministerium einen Gutteil der Galleonen davonrollen. Dann sagte er: "Da der Vertrag bindend ist komme ich leider nicht darum herum, Sie, Ms. Gordon, sowie alle anderen hier aufzufordern, jede öffentlich geäußerte Anfeindung oder Anklage gegen Vita Magica zu widerrufen und alle schriftlichen Aussagen dieser Art zu löschen. Sonst muss ich Sie fristlos entlassen."

"Ach, und wenn ich das nicht mache, Sir? Explodieren Sie dann?" fragte Nancy sichtlich gereizt.

"Das weiß ich nicht. Möglich ist auch, dass ich zum Überträger eines Erfüllungsfluches geworden bin, der jeden trifft, der nicht in dem von mir verlangten Sinn handelt."

"Mit anderen Worten, Sir, Sie sind ein Golem dieser Leute geworden und zugleich das, was die Magielosen eine tickende Zeitbombe nennen. Sollten Sie da besser nicht Ihren Rücktritt einreichen?" fragte der Leiter der Personenverkehrsabteilung.

"Dafür ist es jetzt ein bisschen zu spät, fürchte ich", erwiderte Dimes Untersekretär. "Warum auch immer hat Minister Dime im Namen des gesamten Zaubereiministeriums diesen Vertrag unterschrieben, und zwar nicht nur für seine Amtszeit geltend. Will sagen, wir alle hocken jetzt im selben Kessel voller brodelndem Drachenpipi und können nur hoffen, dass wir vorher ersticken, anstatt bei lebendigem Leib zerkocht zu werden."

"Das heißt im Klartext, liebe Kollegen, dass das Zaubereiministerium jetzt Vita Magica gehört", schnaubte Nancy. Dime erbleichte. Ja, im Klartext hieß es genau das. "Toller Weihnachtsfrieden. Da haben uns die Werwölfe aber was nettes eingebrockt. Die werden sich köstlich amüsieren, wenn die das mitkriegen. Vor allem dann, wenn die uns da nur einen vom Pferd oder dem grünen Einhorn erzählt haben", wetterte Nancy.

"Das einzig gute daran ist, dass das auf S9 gestuft ist, Leute", warf der Strafverfolgungsleiter ein. "Dann können wir das so drehen, dass Vita Magica vor Weihnachten keinen weiterführenden Krach mehr mit uns haben wollte. Denn wenn das da alles Leute von denen unterschrieben haben müssen die bald alle US-Zaubererweltbürger zurückschicken."

"Erwachsen gebliebene Bürger", sagte Nancy Gordon. Dann stand sie auf, straffte sich und verkündete: "Auch wenn ich die drei in mir heranwachsenden Kinder gesund zur Welt bringen und großbekommen will nehme ich nichts von dem zurück, was ich öffentlich gegen diese Babymacherbande gesagt oder geschrieben habe. Sie haben mir die fristlose Entlassung angedroht, Sir?" stieß sie aus und blickte Chroesus Dime an. Dieser nickte. "Ich komme Ihnen entgegen und quittiere hiermit den Dienst für das US-amerikanische Zaubereiministerium. Mit meinen Fähigkeiten und Kenntnissen komme ich auch anderswo unter. Sie alle sind meine Zeugen, dass ich um meine Entlassung gebeten habe." Alle nickten. Dime erstarrte einen Moment. Dann fragte er in die Runde: "Denkt noch jemand, dass er oder sie nicht mit der geltenden Vereinbarung leben kann und deshalb vorzeitig aus dem Ministerium ausscheidet?"

"Bevor ich mir einen Erfüllungsfluch einhandel, weil ich einen für die Babymacher zu übel stinkenden Furz ablasse werde ich wohl auch meinen Ausschluss aus dem Mitarbeiterstab des Zaubereiministeriums einreichen, Mr. Dime", knurrte Nigel McDuffy, der Leiter der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe. Seine Mitarbeiterin Gloria Puddyfoot vom Zauberwesenbüro sah ihn verstört an. Doch sie sagte nichts.

"Sie alle sind freie Menschen und können jederzeit Ihren Beruf wechseln. Ich muss Sie alle aber auch daran erinnern, dass alle vertraulichen oder gar geheimen Entscheidungen und Vorgänge, deren Zeugen Sie wurden, weiterhin nicht dazu berechtigten gegenüber zu verschweigen sind. Ich erwarte also von jeder und jedem, der oder die mit der Übereinkunft nicht einverstanden ist, eine schriftliche Rücktrittsbestätigung. Da unser Besoldungsrecht nur im Falle einer ordentlich vollzogenen Pensionierung das erarbeitete Ruhestandsgold im vollen Umfang gewährt müssen sie damit leben, dass jeder Anspruch auf eine ministerielle Altersruhestandszahlung bei Wirksamkeit Ihres Ausscheidens auf die Hälfte dessen, was Sie in den Jahren hier erarbeitet haben beschränkt wird."

"Das mussten Sie noch anbringen, Mr. Dime", sagte McDuffy verbittert. "Tut mir leid, dass ich Sie nicht mehr als Zaubereiminister anspreche. Aber mit dieser Unterschrift, noch dazu mit eigenem Blut, haben Sie Ihr Amt an irgendwen von denen übertragen. Wer genau das ist kriegen wir dann ja mit, wenn VM eine Liste aller in den Staaten lebenden Mitglieder veröffentlicht. Da Sie ja so großzügig waren, jede Strafverfolgung auszuschließen, können die jetzt alle aus ihren Löchern krabbeln. Am Ende gehört da noch wer von Ihrer eigenen Familie zu, Mr. Dime."

"Mr. McDuffy, noch sind sie Mitarbeiter. Ich kann Sie wegen Respektlosigkeit dem obersten Dienstherren gegenüber noch mit einem Bußgeld belangen, sowie zeitgleich die fristlose Entlassung und damit einhergehenden Ausfall der erarbeiteten Ruhestandsgalleonen aussprechen", sagte Dime. Doch innerlich wühlten ihn die offen ausgebrochenen Anfeindungen sichtlich auf. Denn die alle hatten ja zum feuerroten Donnervogel noch mal recht.

"Meine Rücktrittserklärung kriegen Sie gleich noch", sagte Nancy. Gehen Sie aber nicht davon aus, dass mein Nachfolger besser mit diesem Teufelspakt zurechtkommt. Leider hindert mich die Geheimhaltungsstufe, meine Mitarbeiter zu fragen, ob diese nicht auch vorzeitig hinschmeißen sollen, gerade wo sich erwiesen hat, dass wir die Kenntnisse über die magielose Welt dringender brauchen als vor zehn Jahren noch."

"Zur Kenntnis genommen, Ms. Gordon", sagte Chroesus Dime. Einen winzigen Moment beneidete er Janus Didier in Frankreich, der damals alle wichtigen Mitarbeiter mit dem Imperius-Fluch auf seine Linie gebracht hatte. Dann fragte er sich, was Cartridge oder Wishbone in diesem Fall getan hätten. Die Antwort war klar: Sie hätten darauf achtgegeben, Phoebe Gildfork nicht zu schwängern.

Als Dime die geheime Konferenz beendet hatte aß er erst einmal was. Diese Debatte hatte ihn an den Rand eines Nervenzusammenbruchs getrieben. Er hatte immer gefürchtet, dass Nancy oder sonst wer ihm offen an den Kopf warf, dass er wohl unter einem mächtigen Fluch stehen müsse, diese eindeutig untragbaren Bedingungen für das Ministerium akzeptiert zu haben. Spätestens dann wäre er wohl tot umgefallen.

Weil er es heute noch alles zu Ende bringen wollte reiste er nach dem Mittagessen in das Honestus-Powell-Krankenhaus für magische Krankheiten und Verletzungen. Er tat so, als habe er einen Siegfrieden mit Vita Magica ausgehandelt und dass die Gruppierung sämtliche US-Zaubererweltbürger in den nächsten Tagen zurückschicken musste. Eileithyia Greensporn schien über diese Wendung sichtlich verwundert zu sein. Dann sah sie Dime ganz genau an. Dieser okklumentierte unverzüglich. "Wirklich alle US-Zaubererweltbürger, Sir, also auch die, die von diesen Kriminellen in Neugeborene zurückverwandelt wurden?"

"Das wird Gegenstand weiterführender Verhandlungen nach Weihnachten sein", log der Minister. Er ruckelte kurz auf dem Besucherstuhl im Büro der Heilzunftsprecherin und immer noch tätigen Leiterin der Mutter-Kind-Station des HPK. Irgendwie schien dieser Stuhl immer wärmer zu werden. Aber das war wohl Einbildung, weil er die Hexe, die seine eigene Großmutter sein konnte, derartig dreist belog.

"Ach, und das nennen Sie einen Siegfrieden, Sir?" stichelte die oberste Hebamme des HPK und wohl auch der ganzen nordamerikanischen Zaubererwelt. "Bei einem Siegfrieden diktiert der Sieger alle Bedingungen, ohne nachzuverhandeln oder solche Nachverhandlungen überhaupt zu erlauben. Mit welcher Begründung haben diese Kriminellen die Rückkgabe unserer wiederverjüngten Mitbürger verweigert? Dass die schon zu viel von deren Ammemnilch im Körper haben? Dass man ihnen ja eh alle Erinnerungen geraubt hat und somit auch ihre Identität? Oder haben die Ihnen angedroht, für jedes von ihnen umsorgte Baby nachträglich eine Million Galleonen zu verlangen, wenn sie diese Kinder nicht in ihrem Sinne großziehen dürfen?"

"Bei allem Respekt, Madam Greensporn", setzte Dime an. "Was sollten wir bitte schön mit vielen elternlosen Babys anfangen?"

"Höre ich richtig oder zollen meine Ohren schon dem Alter Tribut?" erwiderte Eileithyia Greensporn. "Diese von denen zurückverjüngten Hexen und Zauberer haben hier noch Verwandte und vor allem, wenn die bei denen neu aufwachsen denken und handeln die in deren Sinne. Deshalb wäre es bei einem Siegfrieden unbedingt zu oberst anzusetzen gewesen, denen nicht noch mehr Mitläufer und Beihelfer zu überlassen. Abgesehen davon will mir nicht in meinen schon mehr als hundertzwanzig Jahre alten Schädel, wie genau Sie Vita Magica so gründlich besiegt haben, dass die nur noch einen Friedensschluss eingehen konnten. Nichts für ungut, Sir, aber ich bin zu alt, um meine Zeit mit Lügen zu vertun. Also was genau haben Sie mit diesen Leuten ausgehandelt?"

"Dass wir unsere erwachsenen Mitbürger wiederbekommen und die ihre sogenannten Verpflichtungsansprüche gegenüber ledigen oder lange kinderlos gebliebenen Hexen und Zauberern aufgeben, wenn wir dafür jede Nachforschung nach ihren Mitgliedern oder Wirkstoffen einstellen."

"Ach, dann sind Sie zu mir gekommen, um mir anzutragen, ich möge meine Kollegen bitten oder gar ersuchen, die sichergestellten Proben dieser Mixturen nicht weiter zu erforschen, um wirksame Gegenmittel zu finden? Falls ja, dann haben Sie Ihren Weg leider umsonst gemacht, Herr kommissarischer Zaubereiminister", sagte sie entschlossen.

"Noch ist Ihr Enkelsohn nicht wieder da. Vielleicht überlegen Sie sich das noch mal, ob Sie da nicht umdenken möchten", sagte Dime.

"Moment, Sie möchten mich doch nicht etwa bedrohen, Sir?! Wahrscheinlich werden Sie selbst erpresst, mit dem Leben Ihrer Kinder womöglich, oder damit, dass sie demnächst in dieses ominöse Karussell gesteckt werden?"

"Die haben mir klargemacht, dass ich nur dann einen Frieden und die Rückkehr der erwachsenen Mitbürger zugestanden bekomme, wenn ich auf die zu Neugeborenen verjüngten Einsatztruppler verzichte. Zu denen könnten dann nämlich noch Ihr Enkelsohn und meine Tochter gehören", stieß Dime aus.

"Ich schlage Ihnen vor, dass Sie möglichst bald um die Ernennung eines Amtsnachfolgers ersuchen, Mr. Dime. Als Goldverwalter waren oder sind Sie offenbar besser geeignet als als Politiker. Haben Sie etwa noch was unterschrieben, was die Ihnen hingehalten haben?" Dime fühlte, wie sein Herz immer schneller schlug. Auch meinte er, dass der Stuhl unter ihm leicht vibrierte. Dann sprang er auf und stieß aus: "Ich habe Ihnen eine glückliche Rückkehr Ihres Enkels Chhrysostomos angekündigt. Aber Sie schlagen diese Möglichkeit aus. Dann vertue ich hier wirklich meine Zeit. Und was meine Nachfolge angeht, darüber bestimmen die Bürger, wenn die nächsten Wahlen sind. Solange bin und bleibe ich der oberste Zauberer der vereinigten Staaten von Amerika und könnte Sie sogar wegen Beamtenbeleidigung belangen, Madam."

"Mein Anwalt würde sich sicher freuen, Sie im Zeugenstand zu vernehmen, weil ich sicher keinen Strafbefehl hinnehmen werde, der von einem Erpressungsopfer ausgestellt wurde. Ich bin schon zu alt, um mich noch von jemandem wie Sie einschüchtern zu lassen. Außerdem höre ich fast jeden Tag Beschimpfungen und Androhungen von Hexen in den Wehen. Aber Sie haben recht, unsere Zeit ist zu kostbar. Haben Sie noch einen schönen Tag, Sir!"

"Sie mich auch", knurrte Dime und verließ das Sprechzimmer.

Als feststand, dass der Minister das Krankenhaus über den Flohnetzanschluss verlassen hatte tippte Eileithyia Greensporn alle fünf Füße des Besucherstuhls an, auf dem Dime gesessen hatte. Darauf klappte das Polster der Rückenlehne auf und enthüllte einen winzigen Mechanismus, der leise surrend einen daumenbreiten Papierstreifen ausspuckte. Eileithyia wartete, bis der Streifen von einer im Gerät verbauten Abtrennvorrichtung losgelöst worden war und las den Streifen dann. Er wies die Pulsrate, Körpertemperatur und Verdauungstätigkeit von Chroesus Dime aus. Dann kam ein Abschnitt:

Tests auf bösartige Bezauberung:
Catena Sanguinis positiv, Wirkungsstärke 5,625

Eileithyia Greensporn, die so leicht nichts mehr aus der Bahn werfen konnte, nickte verdrossen und rollte den Streifen behutsam zusammen. Die Rückenlehne des Besucherstuhls schloss sich wieder.

"Theia meine liebe, ich habe da was erfahren, dass alle Schwestern wissen müssen. Bin gleich bei Lady Roberta. Komm bitte, wenn ich dich rufe: Wir haben ein sehr sehr ernstes Problem", mentiloquierte sie erst Theia Hemlock an, danach Leda Greensporn. Dann schrieb sie eine Versammlungsanfrage auf einen Notizzettel, den sie mit einem Teleportationszauber an eine bestimmte Adresse beförderte. Danach fand sie Zeit, über alles nachzudenken, was sich aus dem Ergebnis der heimlichen Untersuchung ergab. Für sie stand fest, dass der Frieden vor Weihnachten ein trügerischer Frieden war. Auch rechnete sie damit, dass ihre ehrenwerte Schwesternschaft bald wohl ebenfalls mit einer unerwünschten Konkurrenz unterhandeln musste, wenn es galt, die Staaten vor dem bedingungslosen Zugriff einer ihr kriminell erscheinenden Vereinigung zu schützen.

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Wieder zurück in seinem Büro fand Minister Dime nicht nur Nancy Gordons Bitte um fristlose Kündigung vor, sondern auch die von Nigel McDuffy. Die anderen hingen wohl doch zu sehr an ihren Jobs, dachte Dime verbittert. Aber das gerade Nancy es riskierte, ohne sicheres Einkommen dazustehen, wo dieser Trank, der ihr drei Kinder auf einmal eingebrockt hatte, doch von der Mutter verlangte, das Leben der empfangenen Kinder um jeden Preis zu beschützen wunderte ihn doch. Na ja, vielleicht sollte er Martha Merryweather fragen, ob sie Nancys Nachfolgerin wurde. Immerhin sollte sie ja ab Januar offiziell für das US-Zaubereiministerium arbeiten. Aber ob es mit der leichter wurde als mit Nancy Gordon?

Es klopfte an die Tür. Hereinkam seine Tochter Eartha. Sie erwähnte, dass sie gerade noch bei Nancy Gordon gewesen war und da erfahren habe, dass diese wohl nach Weihnachten nicht mehr da sei und trotz der drei Kinder in Aussicht zusehen wollte, anderswo Gold zu erarbeiten. Ihr Vater fragte sie, ob sie bald wieder frei verfügbar sei. Eartha erwähnte, dass sie noch bis zum Ende der Wintersaison bei den beiden angeblichen Zauberschwestern mitarbeitete. Dann fragte sie, was er Nancy getan hatte.

"Ich habe der nichts getan, außer klargestellt, dass wir gerade jetzt, wo wir immer noch von Werwölfen und Vampiren bedroht werden, keine Feindseligkeiten gegen andere Hexen und Zauberer haben möchten. Du weißt doch, dass sie laut und heftig über Vita Magica hergezogen hat, weshalb sie wohl von denen als Brutmutter ausgesucht wurde. Sie meinte dann sowas, dass sie zwar diszipiniert mitarbeiten wollte, aber im Rahmen ihrer Tätigkeit nicht den Mund halten wolle, was von ihr aus kriminelle Hexen und Zauberer angeht."

"Und da hat sie hingeworfen, Dad."

"Öhm, in den Räumen bitte Mr. Dime oder Herr Zaubereiminister", berichtigte Dime die Anrede seiner Tochter. "Und ja, sie fühlte sich auf beide Füße getreten. Muss die Schwangerschaft sein. Ich habe ihr angeboten, sich das noch mal zu überlegen. Aber du hast ja gehört, dass sie da offenbar fest entschlossen ist."

"Deshalb hast du gefragt, ob ich bald wieder hier zur Verfügung stehe. Aber ich kann Nancy nicht beerben, weil da noch zwei andere vor mir dran sind. Oder willst du Worthington zurückholen?"

"Keine schlechte Idee. Aber ich denke, wir beschränken die Abteilung nur noch auf diese Computersachen, damit wir da nicht den Anschluss verlieren. Deshalb werde ich wohl Leute fragen, die sich damit auskennen. Tust du das?"

"Derzeit nicht. Aber nach dem Gespräch mit Mrs. Martha Merryweather schließe ich das nicht aus, zumal Sunny ja auch sowas wie ein intelligenter Computer ist."

"Ach, darfst du ihn noch fahren?" fragte der Minister. Eartha grinste. "Ich komme mit dem wunderbar klar. Ich bin dann mal wieder in Vegas. Wir sehen uns dann ja Weihnachten mit den zwei Großen und den vier kleinen", erwiderte sie. Dime nickte.

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"Nancy geht freiwillig? Offenbar ist sie sich sicher, die kleinen gut durchbringen zu können", sagte Mater Vicesima zu Eartha Dime, als diese auf ihrer Reise nach Las Vegas einen kurzen Umweg über die chilenische Niederlassung machte.

"Ja, muss sie wohl, Mater Vicesima", sagte Eartha.

"Du hast das gestern gut gemacht, Eartha. Minister Dime wird alles tun, um nur Leute um sich zu halten, die seine Entscheidungen hinnehmen. Du wirst sehen, deinem Land wird es mit diesem Abkommen besser gehen."

"Ja, wenn die Heiler nicht querschießen. Öhm, hättest du mich echt wieder zum Baby gemacht, wenn er den Vertrag nicht unterschrieben hätte?"

"Tja, wäre ich wohl nicht drum herumgekommen", seufzte Mater Vicesima. "Oder möchtest du jetzt schon bekanntgeben, dass du auch bei uns bist?" Eartha schüttelte den Kopf. Dann fragte sie, ob Chrysostomos auch mit den anderen Erwachsenen zurückgelassen wurde."

"Wenn ich bis zum vierundzwanzigsten nicht verbindlich weiß, dass seine rüstige Großmutter nicht auf die Aufforderung eingeht, kriegt sie ihn als Wickelkind unter Beibehaltung seiner Erinnerungen zurück, wie wir das mit diesem uneinsichtigen Burschen aus Frankreich gemacht haben", sagte Mater Vicesima. Eartha nickte. Dann sah sie auf den Bauch der wichtigen Ratshexe: "Und, weißt du schon ob einer oder zwei bei dir eingezogen sind?"

"Es sind zwei kleine runde neue Zaubererweltbürger", strahlte Mater Vicesima.

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Selene Hemlock vertrieb sich die Zeit mit Malen. Zwar hätte sie gerne noch mal in einem Buch für Erwachsene gelesen. Doch Ihre Mutter hatte bestimmt, dass sie zu sehr damit auffiel, wenn sie in der Bibliothek die Bücher ansah. Deshalb hatte sie vor die Bibliothek einen unsichtbaren Absperrzauber hingesetzt, der nur Hexen mit voll erblühten Brüsten durchließ. Das fand Selene zwar gemein, wusste aber auch, dass sie dagegen nicht ankämpfen konnte. Immerhin war sie froh, dass sie noch alles wissen und kennen durfte, was Austère Tourrecandide gewusst und gekannt hatte.

Wann kamen die endlich zurück? Selene platzte fast vor Neugier. Die von ihr gemalten Schmetterlinge, Marienkäfer und Blumen schienen ihre Verärgerung abbekommen zu haben. Denn viele von den gemalten Naturschönheiten standen schief oder hingen kopfüber nach unten. Theia war wieder mal zu einer Sitzung der anderen Hexenschwestern gerufen worden. Sie hatte dabei sehr besorgt dreingeschaut. Irgendwas war passiert oder würde bald passieren. Hatte das was mit diesem Werwutgas zu tun, von dem angeblich die Sondergruppe gegen böse Werwölfe was mitbekommen hatte? Eileithyia Greensporn hatte dazu gesagt, dass es bisher keine Art der vorgeburtlichen Ansteckung geben konnte, solange die Mutter nicht selbst zum Wirt für bösartige Keime geworden sei. Ob ein solches Gift dann nur ungeborenes Leben vergiften konnte war also fraglich. Selene hatte es gewagt, der altgedienten Heilerin in einem Punkt zu widersprechen. Immerhin war es möglich, den stofflichen Träger eines Fluches so abzustimmen, dass bis auf die gewünschte Zielperson niemand davon zu Schaden kam. Ob sowas auch in Pulver- oder Tröpfchenform ging hatte sie jedoch nicht gewusst. Sie dachte an das Vampyrogen, dass wie ein unmagischer Krankheitskeim in lebende Menschen eindringen und sich darin vermehren konnte, bis die betroffenen selbst zu Vampiren wurden, ohne mit einem existierenden Vampir Blut auszutauschen. Wenn die Lykanthropen doch sowas herstellen konnten, um ihre Verseuchung ohne wen zu beißen weiterzugeben -? Nicht auszudenken!

Da, endlich! Es rauschte im Kamin. Selenes Mutter kam zurück.

"Na, hast du uns den Sommer wiedergebracht, kleines?" fragte Theia Hemlock, als sie ihre Tochter in die Arme genommen hatte. Dann rauschte auch Eileithyia Greensporn aus dem Kamin heraus. Sie wirkte sichtlich betrübt.

Als Selene erfuhr, dass der amtierende Zaubereiminister wohl Opfer des Catena-Sanguinis-Zaubers geworden war seufzte Selene. Dass eine Beauxbatons-Schülerin genau den Zauber auf den Gastschüler Cyrill Southerland gelegt hatte war ihr kurz nach ihrer Geburt erzählt worden, als sie wissen wollte, wie es in Beauxbatons weitergegangen sei.

"Ihr habt das in der Hauptversammlung aller Schwestern besprochen?" wollte Selene wissen.

"Nein, nur denen mit Heilerzulassung. Je weniger zuerst davon wissen, desto mehr Zeit haben wir, dem Minister zu helfen, ihn aus dieser Zwangslage herauszuholen", sagte Eileithyia. Selene nickte und merkte an, dass es ja dann auch gleich zu den Anthelianerinnen hätte durchdringen können. Die würden Dime dann womöglich sagen, dass er verflucht war und ihn damit töten. Genau deshalb, so Eileithyia, dürfe Anthelias Schwesternschaft das nicht wissen. Denn für jeden Heiler galt, einem magisch beeinträchtigten Menschen so gut es ging zu helfen, ohne ihn an Leib und Leben zu gefährden. "Wenn wir heraushaben, wer die Mutter der Kinder ist, deren Leben als Fokus dieses verwerflichen Zaubers missbraucht wird, besteht die Möglichkeit, ihr diese Kinder wegzunehmen und von einer anderen Hexe austragen und gebären zu lassen. Damit wäre die Kette dann zerbrochen", sagte die altehrwürdige Heilerin noch, die Selene damals auf die Welt geholfen hatte. Dann wechselten sie das Gesprächsthema.

"Ich darf davon ausgehen, Chrys nicht mehr als erwachsenen Zauberer wiederzukriegen. Wenn die ihm das letzte Bisschen Keimflüssigkeit aus dem Leib getrieben haben werden sie ihn entweder vollständig verjüngt vor dem HPK aussetzen oder als einen weiteren in ihrem Sinne aufwachsenden Getreuen behalten", seufzte Eileithyia.

"Will sagen, dass du nicht auf die Bedingungen eingehst, die Dimes Blutkettenhalterin ihm auferlegt hat?" fragte Selene.

"Wenn ich das täte könnte ich dieser Verbrecherbande auch gleich den Schlüssel zum HPK in die Hand drücken und denen mein Amt als Sprecherin der nordamerikanischen Heiler überlassen. Will ich nicht wirklich, auch wenn ich Alkmene und Rodney dann erklären müsste, dass ich ihren Sohn geopfert habe."

"Ihr wisst doch, wo der ist oder zumindest sein könnte", sagte Selene. "Könnt ihr den dann nicht mit Translokalisationszauber zurückholen, oder ist da eine Barriere gegen errichtet worden?"

"Ja, ist es. Deine Tante Alkmene hat's probiert, deine Tante Leda und ich auch", sagte Eileithyia. "Trotz vorbehandelter Austauschkörper gelang es nicht. Die haben wohl einen wirksamen Abwehrzauber dagegen aufgebaut."

"Portamurus, Oma Thyia. ein Zauber, der gegen bis zu fünf zeitgleich stattfindenden Versetzungszaubern abschirmt und sich aus der Anwesenheit von magisch begabten Menschen im Umkreis von hundert Metern speist. Nur aus sich selbst die Versetzung einleitende Körper und Wesen können durch ihn hindurch. Aber gegen die gibt es dann eben andere Abwehrzauber."

"Kleines, jetzt bin ich aber sehr erstaunt, dass du einen Zauber kennst, der mir noch nicht unterkam", sagte Eileithyia.

"Tja, weil der nur englischen und französischen Zauberern und Hexen mit Ministerialanstellung oder Lehramt bekannt wurde. Ein gewisser Perdix Diggle hat den nämlich erfunden, weil er es satt hatte, dass sein älterer Bruder Daedalus ihm andauernd seine Zeichnungen und Pläne aus magisch verriegelten Schränken stiebitzt hat. Einmal gewirkt kann er nur von der Person aufgehoben werden, die ihn errichtet hat und bleibt eben solange in Kraft, wie mindestens ein magisches Lebewesen im Wirkungsbereich lebt. Je mehr es sind, desto weniger zehrt der Zauber die einzelnen Kräfte der Betroffenen auf. Aber vielleicht geht da was", sagte Selene und sah die beiden körperlich viel älteren Hexen an. Dann fragte sie: "Öhm, habt ihr oder eure Schwestern schon mal was von Gogols Matrioschka-Zauber gehört?"

"Matrioschka, wie die ineinandergesteckten Puppen?" fragte Theia. Eileithyia sah sie nun sehr genau an. Das nahm Selene als Erlaubnis, den von einem Ilja Gogol im Jahre 1879 in einem Buch über die Stärken und Schwächen den Raum überwindender Zauber zu erklären. Sie wusste, dass es von dem Buch nicht nur russische, sondern auch deutsche Übersetzungen gab. Allerdings hatte sie den Zauber auch gelernt und konnte ihn beschreiben, weil Austère Tourrecandide damals mit Hilfe des Gedächtnistrankes von Bicranius das ganze Buch auswendig gelernt hatte, dass ein russischer Mitkämpfer in der Liga gegen dunkle Künste ausgeborgt hatte, bevor die Bewahrer in Durmstrang es vermissen würden. So beschrieb sie die Vorbereitung und Durchführung des Zaubers. Als sie alle nötigen Angaben gemacht hatte wurde sie von Eileithyia Greensporn umarmt und geküsst. "Wenn der geht, Kleines, kriegst du zum nächsten Geburtstag richtige Bücher für große Leute", sagte sie.

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Anthony Summerhill wusste nicht, ob er sich auf Weihnachten freuen sollte. Zwar gefiel es ihm sehr gut, noch mal ganz neu zu leben. Aber immer wieder fragte er sich, ob er nicht ein wenig zu unvorsichtig gewesen war, als er als Lucas Wishbone seine angebliche Ermordung inszeniert hatte. Aber jetzt konnte er nichts mehr daran ändern.

Als Tracy Summerhill ihm vorlas, dass die Stelle des Büroleiters für die friedliche Koexistenz von Menschen mit und ohne Zauberkräfte frei würde hatte er nur gelacht und gesagt, dass das ganze Zaubereiministerium sich wohl langsam in einen einzigen Haufen Drachenmist auflöste. Nancy Gordon hatte es dem Kristallherold und der Stimme des Westwinds gegenüber so begründet, dass sie das wegen dieser ihr auferlegten Verpflichtung getan hatte und dass es zwischen ihr und Minister Dime zu unausräumbaren Meinungsunterschieden gekommen sei.

"Offenbar kehrt der werte Mr. Dime jetzt noch mehr mit eisernem Besen durch", vermutete Tonys Mutter.

"Oder er hat sein Amt aufs Spiel gesetzt um zu klären, wer mit ihm oder wer gegen ihn arbeitet", vermutete Tony Summerhill. Sowas ähnliches hatte er in seinem ersten Leben ja auch gemacht.

"Vielleicht schafft Dime dieses Büro auch ganz ab", vermutete Tracy Summerhill.

"Nöh, wird der nicht, wo das mit den Computersachen bei den Muggeln immer wilder wird", erwiderte Tony Summerhill. Seine Mutter nickte zustimmend.

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20. Dezember 2002

Der Glashutturm erstrahlte im vorweihnachtlichen Glanz. Auf der ihm den Namen gebenden Konstruktion, die wie ein riesenhafter Zaubererhut aus purem Glas mit hoher Spitze und breiter Krempe aussah, rotierte eine leuchtende Kugel, von der aus ein sich auffächernder, regenbogenfarbiger Schweif wehte, der bei den langsamen Eigenumdrehungen leuchtende Spuren auf dem Boden zeichnete.

Julius und Millie begrüßten Gloria Porter, die mit ihren Eltern aus England herübergekommen war, sowie Melanies frühere Schulkameraden. Brittany war mit dem kleinen Leonidas zusammen mit den Latierres mit einem Bus der Blauer-Vogel-Linie herübergekommen, ebenso die Cottons. Julius erkannte mal wieder, dass an neuen Kindern die Zeit verdammt gut abzulesen war. Denn neben Ginger hatte nun auch Sharon einen Ehemann von ebenholzfarbener Erscheinung und eine kleine, ebenso dunkelhäutige Tochter namens Sheila.

Als wenn das mit den beiden Latierre-Kindern und dem kleinen Leonidas nicht schon genug Kinder waren, wurden die Ankömmlinge im Turm von einem ganzen Schwarm von Kindern zwischen vier und zehn Jahren begrüßt. Die dazu gehörigen Elternpaare saßen alle oben im gläsernen Hut und beobachteten die Ankunft ihrer Gäste. Marcellus Redlief, der offizielle Hausherr und Brautvater, begrüßte die weiblichen Gäste, während seine Frau Geraldine die männlichen Gäste willkommenhieß. Dann traf Julius auch noch Patricia Redlief, Melanies und Myrnas Großmutter väterlicherseits. "Ich hörte davon, dass deine Frau und du schon das dritte Kind erwarten", sagte Mrs. Redlief die ältere. "Dabei ging ich immer davon aus, dass eine stillende Mutter bis zur endgültigen Entwöhnung nicht empfangen kann."

"Liegt wohl daran, dass die Latierres an sich sehr fruchtbar sind", sagte Julius. "Ihr werdet gleich wohl auch noch Grace Craft antreffen. Sie konnte leider nicht mit Dione, Plinius und Glo herüberkommen." Julius nickte.

Als er auch Mels Vater begrüßen durfte meinte dieser: "Du hältst dich aber gut in Form, Burschi. Kein Wunder, dass deine Frau schon das dritte in Aussicht hat. Hoffentlich kriegt ihr da kein Problem mit dem Satthalten."

"Ich kriege im Januar, sofern da nichts zwischenkommt, eine besser bezahlte Anstellung als Vermittler zwischen magielosen Menschen, Zaubererweltbürgern und humanoiden Zauberwesen wie Zwergen, Riesen, Veelas und Waldfrauen."

"Sabberhexen wie Aubartia? Hoffentlich reichen die dann auch genug Galleonen rüber, wenn du mit sowas zu tun kriegst. Aber Riesen? Habt ihr in Frankreich Riesen? Ich dachte, die wären alle irgendwo in Osteuropa in den Bergen."

"Bei uns in Frankreich lebt eine reinrassige Riesin mit ihrem Sohn und wird im nächsten Jahr noch zwei Kinder bekommen. Sie ist eine überlebende der Schlacht von Hogwarts und konnte nach Frankreich übersetzen", sagte Julius.

Als dann noch Victor und Greta Craft und Victors Mutter Grace Craft, die in der Zaubererschule Hogwarts Verwandlung unterrichtete aus dem Flohpulverkamin kamen konnte Julius erkennen, dass auch Greta Craft bald Mutter sein würde. Deshalb wunderte es ihn nicht, das Glorias Oma mütterlicherseits mit der Festbeleuchtung um die Wette strahlte.

"Noch mal vielen Dank für die ganzen Unterlagen über die nicht geheimen Verwandlungsstücke, die du in deinem Beruf so brauchst, Julius", sagte Mrs. Grace Craft. "Es hat doch einige ZAG-Kandidaten überzeugt, Verwandlung bis zu den UTZs zu behalten. Und immer noch mehr Spaß als Verdruss mit den beiden kleinen?"

"Also, ob meine Frau immer nur Spaß mit ihnen hat weiß ich nicht. Ob meine Kronprinzessin das immer so toll findet, eine kleine Schwester zu haben weiß ich auch nicht, und ob wir alle zusammen mit dem dritten Kind gut auskommen werden weiß ich auch nicht. Aber ich habe bisher doch mehr Spaß als Verdruss mit den beiden schon geborenen."

"Dione hat das erwähnt, dass deine Frau schon am dritten Kind trägt. Wenn das so weitergeht habt ihr bis zu eurer Sickelhochzeit zwei eigene Quidditchmannschaften hervorgebracht."

"Ob die dann alle in das Haus passen weiß ich aber nicht", sagte Julius. Doch er bemerkte das hintergründige Lächeln der älteren Hexe. Ihr Sohn war in der Hinsicht ein Spätstarter.

Als dann die Angehörigen und Freunde des Bräutigams eintrafen stellte Julius fest, dass es in Thorntails wirklich alle Farben gab, in denen Menschen auftreten konnten. Da waren zwei Asiatinnen, eindeutig Zwillingsschwestern, drei weitere Zauberer afrikanischer Abstammung und ein dunkelbrauner kleiner Zauberer, dessen Eltern womöglich aus dem Orient stammten. Titonus Chimer war ein hochgewachsener Bursche mit milchkaffeefarbener Haut und schwarzen, bis auf die Schulter fallenden Kräuselhaaren. Seine schwarzbraunen Augen verrieten Willensstärke und Lebensfreude. Julius dachte einen Moment, dass Melanie wohl viel Konkurrenz gehabt haben mochte. Als wenn sein Gedanke noch wen herbeigerufen hatte tauchte eine weitere afroamerikanische Hexe auf, die er schon kannte, Gloria Lexington zusammen mit ihrem Angetrauten und einem wohl gerade erst zwei Monate alten kleinen Burschen, den sie auf dem Rücken trug.

Melanie übernahm es, Julius den Neuankömmlingen vorzustellen. Als er Gloria Lexington traf lächelten sich beide an. Er fragte sie, ob ihre Tante sich gut in Australien eingelebt hatte. Sie erwähnte, dass sie auch die Kinder bekommen habe, die sie auf der Überfahrt noch unter ihrem Herzen getragen hatte.

Insgesamt waren es nun hundert Gäste, die sich auf alle Etagen des Glashutturmes verteilten. Die aus dem Ausland gekommenen Verwandten würden sich auf die fünf bereitgemachten Gästezimmer verteilen. Gloria würde mit Pina im Morgenrotzimmer wohnen. Ihre Eltern und die Crafts würden im Salon in mitgebrachten Schlafsäcken übernachten.

"Und, ist es in der Handelsabteilung noch auszuhalten?" fragte Julius Gloria.

"Diggerson ist ein Knutumdreher. Wunder mich, dass er Pinas Zeit hier bezahlen will", sagte Gloria. "Ich habe jetzt bis zum Neujahr frei und werde alle freunde und Verwandten besuchen. Die meisten von denen sind ja schon hier. Und bei euch: Ich hörte sowas, dass irgendwer versucht hat, dir und Mademoiselle Ventvit zu unterstellen, eine Halbriesenzucht aufzulegen. Hat Oma Grace nicht so gefallen, als der Tagesprophet damit aufgemacht hat."

"Mir auch nicht und Mademoiselle Maxime auch nicht, Gloria. Das war sicher ein Manöver von Louvois, der unbedingt Zaubereiminister werden wollte. Aber seitdem meine frühere direkte Vorgesetzte bis nach ganz oben auf der Leiter durchgestiegen ist hören wir von Louvois auch nichts mehr", erwiderte Julius.

"Hmm, kann sein, dass der sich auch mit anderen Leuten überworfen hat und die das nicht so spaßig fanden. Aber wie das mit diesem Vengor ausging hast du schon mitbekommen?"

"Dass die von Vita Magica den einkassiert haben habe ich mitbekommen, und dass drei Kinder Ashtarias den Zugang zu der Höhle, in die er unbedingt hineinwollte, mit einer weißmagischen Barriere verschlossen haben. Ob damit der Ofen aus ist, den dieser Vengor anfeuern wollte weiß ich nicht."

"Nachdem, was ich mir vorstellen kann wirst du das wohl früh genug mitbekommen."

"Millie und ich sind ja noch einen Tag in VDS und besuchen von da aus noch mal meine Mutter und ihhre neue Familie. Eigentlich wollten wir da auch Weihnachten feiern. Aber wegen der Einladungen habe ich von meinem Bürovorsteher gerade mal bis zum fünfundzwanzigsten freigekriegt. Am sechsundzwanzigsten soll ich dann wieder im Büro sein und da Bereitschaft machen, während er selbst anderswo zu tun hat."

"Wie, das Ministerium macht nicht zwischen Weihnachten und Neujahr Pause?" fragte Gloria. "Shacklebolt hat aber allen freigegeben, die nicht in der Unfallumkehrtruppe oder dem Aurorenkorps sind, und die Auroren sollen nur dann aus dem Urlaub zurückgerufen werden, wenn wieder was akutes wie dieser Vengor anstehen", sagte Gloria.

"Ich habe gesagt, ich mach dass, weil ich in diesem Jahr schon mehr urlaub hatte als mir eigentlich zustand. Aber ich gehe auch davon aus, dass nichts ansteht", sagte Julius.

"Ich werde auf jeden Fall noch mal nach New Orleans reisen. Ich habe die Hoffnung immer noch nicht aufgegeben", sagte Gloria leise. Julius wusste natürlich, was sie damit meinte und wünschte ihr, dass sie das fand, was ihr den richtigen Halt im Leben gab.

"Schön hast du das gesagt, Julius", erwiderte Gloria. Julius ertappte sich dabei, wie er einen Moment länger als nötig auf Glorias hochgewachsenen, nun voll erblühten Körper blickte. Er hatte sie noch als flachbrüstiges Mädchen mit hellblonden Locken in Erinnerung, als er sie zum ersten Mal im Hogwarts-Express getroffen hatte. Ja, jetzt konnte er sich vorstellen, dass wenn nicht Claire und später Millie, es tatsächlich zwischen Pina und Gloria entschieden worden wäre. Die beiden waren immer noch alleinstehend, während er schon zweifacher Familienvater war und im Juli das dritte Kind kam. was wäre alles anders gelaufen, wenn sein Vater es einfach hingenommen hätte, dass er in Hogwarts zum Zauberer ausgebildet wurde? Doch hier war jetzt nicht der Ort, sich wieder in Vorstellungen zu verlieren, was alles passiert wäre. Er war hier, um mit Melanie und ihrem ebenfalls sehr attraktiv aussehenden Bräutigam zu feiern.

"Wie die zwei sich kennengelernt hatten erfuhren alle Gäste, als Titonus' Vater Euphemius beim Abendessen eine kurze Ansprache hielt und berichtete, dass sein Sohn auf der Suche nach einer perfekten Haarpflegemischung in Melanies Laden gewesen war und nach dreimaligem Kauf von Dione Porters Vitalisierelixier für gelocktes oder naturkrauses Haar auch eine sehr anziehende Hexendame angetroffen hatte. Tja, und im Juni wwürden die beiden dann nicht nur in einem Laden für Pflegemittel zusammentreffen, sondern Tisch und Bett teilen.

Melanies Vater konnte dem nicht nachstehen und erwähnte, ddass er schon überrascht gewesen sei, dass er ausgerechnet die Schokoladenseite des Southerlandclans in die eigene Familie hineinbekommen würde.

Nach einem üppigen Abendessen, bei dem es auch rein vegane Speisen für Brittany und jeden der wollte und alkoholfreie Getränke für alle, die keine Rauschmittel zu sich nehmen durften oder wollten gab, wurde zum Tanz aufgespielt. Hierfür trafen sich alle draußen vor dem Turm. Die vielen Kinder, die mitgekommen waren, wuselten in einem Bereich herum, beaufsichtigt von Melanies künftiger Schwägerin Tessa, die Titonus älteste Schwester war. Auch Aurore Latierre durfte mit den ganzen Kindern zusammen spielen. Mittlerweile konnte sie zumindest genug Englisch verstehen, um einfache Anweisungen zu befolgen. Die Kinder im Wickelalter wurden von Titonus' jüngerer Schwester Tracy beaufsichtigt, die ja selbst seit gerade erst vier Monaten Mutter der Zwillingstöchter Rita und Ora war, die nach Titonus' Großmüttern benannt waren, die ebenfalls bei der Feier dabei waren. So hatten Julius und Millie den nötigen Freiraum, viele Tänze miteinander zu erleben, aber auch mit verschiedenen Partnern zu tanzen. So geriet Julius auch mal an Titonus' zweitjüngste Schwester Thelma, die gerade erst ein Jahr mit Thorntails fertig war. Sie fragte ihn, ob er bei so vielen Hexen keine Angst hätte, dass irgendwer ihm eine zulosen konnte, die dann seine Kinder kriegen würde.

"Abgesehen davon, dass deine Tante Daphne sicher aufpasst, dass ich dich heute nacht nicht in mein Bett hole oder mich von dir wohin schleppen lasse, wo du von mir was Kleines unter den Umhang bekommst passt da meine Frau schon auf, dass ich den zwischen ihr und mir geschlossenen Exklusivvertrag nicht missachte", sagte Julius. Dann wollte er wissen, wieso Thelma darauf kam.

"Na ja, weil in diesem Jahr gerade bei uns in den Staaten ziemlich viele Hexen was kleines bekommen haben und da meistens mehrere auf einen Wurf", erwiderte Thelma.

"Ich weiß, eine von denen hat mich auch mal im Bauch gehabt", erwiderte Julius so locker er konnte. Thelma sah ihn erst an und musste dann grinsen, als sie Martha Merryweather sah, die als eine der wenigen Hexen nicht tanzte, sondern bei Tracy Hazelwood saß und wohl auf ihre eigenen drei Kinder aufpasste.

"Ups! Na klar, war ja auch in den Zeitungen, dass der früher so eiserne Jungeselle Lucky Merryweather dreifacher Vater wurde."

"Und was hast du nach Thorntails angefangen? Oder suchst du noch was?" fragte Julius.

"Ich bin beim Kristallherold als Voluntärin, also mache das, was deine Frau Mildrid bei eurer Temps de Liberté macht. Neben Englisch kann ich noch Spanisch, Deutsch und Japanisch, was bei den zwei Kirschgblüten da hinten sicher auch gut angebracht ist."

"Japanisch. Wie bist du auf die Sprache gekommen?" fragte Julius.

"Weil mich deren Magie interessiert. Wenn ich überlege, dass die Sachen machen können, die wir Westzauberer so nicht bringen können. Mal sehen, ob mich der Boss vom Herold irgendwann mal zu denen rüberschickt."

"Dann wünsche ich dir viel erfolg", sagte Julius und wiederholte diesen Wunsch auf Japanisch. Sie sah ihn an und fragte, woher er die Sprache könne. Er räumte ein, nicht die ganze Sprache zu können, eben nur wenige wichtige Sätze, weil er von einem Karatemeister die waffenlose Kampfkunst erlernt hatte.

"Lustig, ich mache Judo, den sanften Weg", sagte Thelma. Julius nickte.

Mit einer der erwähnten japanischstämmigen Zwillingsschwestern durfte Julius auch tanzen. Keiko Kamitori war die Enkeltochter eines japanischen Schwertmagiers und einer chinesischen Heilssängerin. Sie hatten sich in San Francisco kennen und einander lieben gelernt.

"Schwertmagier? Wird ein solcher im heutigen Japan denn noch gebraucht?" fragte Julius, der an bezauberte oder gar beseelte Samuraischwerter dachte.

"Die Hände Amaterasus, wie die Bekämpfer böser Zauberer in Japan heißen, tragen alle Katanas, die extragehärtet sind und ihrem Träger auch im Kampf gegen böse Wesen wie Dämonen beistehen können, die nicht mit Zauberformeln besiegt werden können. Vor allem wo auch in Japan mächtige Bluträuber - Ihr sagt Vampire dazu - aufgetaucht sind brauchten die Hände Amaterasus viele neue Schwerter, die das Feuer der Sonne in sich bündeln können. Ein besonders mächtiges Schwert soll noch im Besitz einer Zauberkriegerin sein, die damit auch gegen eines der spukenden Bilder gekämpft hat."

"Stimmt, habe ich von gehört. Die hat dieses Bild mit den sieben Drachen zerstört, bevor die zu groß wurden", sagte Julius. Keiko nnickte.

Weil ihr der Tanz mit ihm so gut gefallen hatte bat sie ihn darum, auch ihrer Schwester Naomi einen Tanz zu gewähren. Das tat er dann auch und erfuhr, dass Naomi als jüngste Besenzureiterin bei den Bronco-Werken arbeitete. Sie durfte sogar auch schon den Parsec 3 fliegen. Julius zeigte sich begeistert, dass dieser neue Besen um die ganze Welt fliegen konnte und bedauerte, dass der Besen nicht vor den nächsten zwanzig Jahren in allen Ländern zu kaufen sein würde.

Einen gewissen Stich im Herzen fühlte er, als er mit Titonus' zweitältester Schwester Claire tanzte. Weil sie das merkte, dass er wohl was hatte sagte er nur, dass seine erste richtige Freundin denselben Vornamen gehabt hatte und das Opfer eines feigen Racheaktes von Leuten geworden sei, die fast ihre ganze Familie ausgelöscht hätten. Ansonsten hatte Claire Verdant nichts mit Julius' erster großen Liebe gemeinsam. Ihre Augen waren zwar dunkelbraun, aber dann doch eher in Richtung schwarz. Auch trug sie ihr nachtschwarzes Kräuselhaar in zwanzig dünnen Zöpfen, was Claire Dusoleil niemals in den Sinn gekommen wäre. Tja, und wegen der mittlerweile dritten Mutterschaft hatte sie auch schon etwas mehr Polster auf den Hüften. Aber Tanzen konnte sie zumindest gut genug, dass Julius mit ihr einige schöne Minuten erlebte.

"Morgen habe ich keine Füße mehr", meinte Julius, als er für eine Trinkpause kurz zu seiner Frau in den Glashutturm ging. Sie hatte sich wegen der frühen Schwangerschaft eine gewisse Schonzeit verordnet und wiegte die kleine Chrysope auf den Knien.

"Warum musst du auch jeder Hexe zwischen zwölf und hundert zeigen, dass du gut tanzen kannst?" frotzelte ihn Millie.

"Die Frage sollte ich mir vielleicht mal bis zum nächsten Sommerball stellen", meinte Julius. "Wie ich deine Tante kenne bist du da nämlich wohl im Wochenbett."

"Achso, und ich muss dann alle Heuler aushalten, die mir die ganzen Hexen schicken, die meinetwegen nicht mit dir tanzen durften, weil du lieber bei mir am Wochenbett sitzen möchtest. Neh, meine Ohren möchte ich gerne noch einige Jahrzehnte lang benutzen können", erwiderte Millie.

"Da der Glashutturm nicht in einem besiedelten Gebiet stand mussten die Feiernden keine Lautstärkenbeschränkung einhalten. So dauerte es bis um drei Uhr, bis alle müde genug waren, um zu Bett zu gehen. Julius verabschiedete sich von Pina und Gloria und wünschte Pina eine erfolgreiche Weiterbildung. Sie wünschte ihm weiterhin Erfolg und Durchhaltevermögen.

Mit dem blauen Vogel Nummer 12 fuhren die Latierres zusammen mit den Merryweathers zurück in den Westen der Staaten. Sie schliefen im Haus Zwei Mühlen, wo Julius' Mutter ihr Schlafzimmer zum Klangkerker machte, damit ihre Gäste nicht vom dreifachen Weckruf ihrer Kinder aus dem verdienten Schlaf gerissen werden konnten.

Am späten Morgen kalifornischer Zeit ging es mit dem langsameren Luftschiff zurück nach Viento del Sol und von da aus mit dem Überschallzeppelin zurück nach Frankreich.

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21. Dezember 2002

"Und diese Versammlung hat nur die Heilerinnen betroffen, Schwester Beth?" fragte Anthelia ihre Mitschwester Beth McGuire, die zeitgleich offiziell Sprecherin der entschlossenen Schwestern aus den Reihen der Schweigsamen war.

"Dass Lady Roberta eine Versammlung von heilkundigen Mitschwestern einberufen hat bekam ich leider auch erst einen Tag nach dieser Sitzung mit. Die wissen schließlich, dass ich auch an dich weiterberichte", grummelte Beth. "Vielleicht geht es gegen Vita Magica."

"Auch wenn Sie dich nicht einbeziehen wollten haben Sie mir doch mehr verraten, als sie wollten", grinste Anthelia. "Denn sie wissen nicht, dass meine kleine Botin herausbekommen hat, dass Minister Dime unter einem fremden Zauber steht, der so stark ist, dass er sogar andere Flüche zurückprellen kann. Da gibt es nur sehr wenige."

"Deine Botin hat was?" wollte Beth wissen. Anthelia erwähnte, was sie vor sechs Tagen gemacht hatte. Dann schlug sie sich vor den Kopf. "Natürlich, eine Hexe hat Dime dazu getrieben, sie zu schwängern und dann in seiner Anwesenheit den Catena-Sanguinis-Fluch über ihn ausgesprochen, der sein Leben an die Unversehrtheit des ungeborenen Kindes und an bis zu vier Bedingungen der Kindsmutter bindet. Der ist an sich besser als Imperius, allerdings zum Nachteil der ihn ausführenden Hexe, dass bei Enthüllung des Fluches ihr ungeborenes Kind im Mutterleib stirbt und sie womöglich eine schmerzhafte, ja auch für sie selbst tödlich verlaufende Fehlgeburt erleidet."

"Will sagen, wenn eine von uns dem Minister das sagt, dass er wohl an diesem Fluch hängt fällt er tot um und aus dem Bauch der anderen Hexe fällt ein toter Fötus und bringt sie gleich mit um. Kein Wunder, dass die Heilerinnen uns von deiner Schwesternschaft das bloß nicht erzählen wollen."

"Deshalb sagte ich ja, dass deine anderen Mitschwestern mir mit der Beschränkung auf die Heilerinnen mehr verraten haben als sie wollten", erwiderte Anthelia mit überlegenem Lächeln.

"Und, was machen wir mit dieser Vermutung?" wollte Beth wissen. "Diese andere Hexe hängt doch sicher mit Vita Magica zusammen."

"Es gibt nur drei Möglichkeiten", sagte Anthelia. "Allerdings weiß ich nicht, ob die dritte Möglichkeit bei der Fluchabstoßung von Catena Sanguinis gelingt. Dann beschrieb sie Beth die drei Möglichkeiten. Womöglich gingen die Heilerinnen davon aus, dass sie Möglichkeit zwei anwenden konnten, weil sie das Leben aller in den Zauber einbezogenen bewahren mochte.

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22. Dezember 2002

Ein scharfer Knall gefolgt von einem schrillen Wimmern durchbrach die nächtliche Stille in der Residenz von Vita Magica in den chilenischen Anden. Sofort brach eine wilde Hektik aus. Der diensthabende Überwacher lies mit überall zugleich klingender Stimme wissen, dass eine kurzzeitige Überlastung der Barriere gegen Teleportationszauber vorgefallen war. Mater Vicesima und ihr uralter Freund Perdy, der vor kurzem erst wieder körperliche zehn Jahre erreicht hatte, eilten in den Überwachungsraum, wo große Uhren, Glaskolben mit darin tanzenden Schwimmern auf verschiedenfarbigen Flüssigkeiten und andere tickende, blinkende und rasselnde Gerätschaften enthalten waren. "Ich hab's gleich. Ui, Wonnenest zweiundzwanzig wurde unangemeldet freigemacht. Wer war da drin?"

"Greensporn, Chrysostomos. Der sollte heute noch mal drei Zwischenstops machen", knurrte Mater Vicesima. "Da in der Kabine hat es eine massive Translokalisationsmagiefreisetzung gegeben. Danach war er nicht mehr da."

"Perdy, sage mir bitte, dass der Abwehrzauber gegen Translokalisation nicht durchschlagen werden kann", sagte Vicesima.

"Üblicherweise geht das nicht, Mater Vicesima. Der Abwehrzauber kann bis zu fünf Versuche gleichzeitig abwehren, weil die nie genau zum selben Zeitpunkt stattfinden können. Darf ich noch mal sehen?"

"Hier, halbe Hose", knurrte der Überwachungstechniker. Perdy hatte für diese Abwertende Äußerung nur ein müdes Grinsen übrig. Doch als er an den Anzeigen ablas, dass wirklich ein sehr massiver Translokalisationszauber in der Kabine entfesselt worden war, als wenn mindestens zwölf Anwender absolut zeitgleich ihn ausgeführt hätten musste er doch mit sehr betrübter Miene eingestehen, dass es doch stimmte. "Die Incantimeter für diesen Zauber können nur bis zu zwölf Versuche in derselben Sekunde anzeigen. Aber von der Streuung und den Nachschwingungen der anderen Schutzzauber her muss ich von mehr als fünfzehn ausgehen. Irgendwer hat da einen genialen TL-Verstärker benutzt und ..."

"Greensporn mal eben aus dem Karussell geholt", schnaubte Mater Vicesima. "Aber dafür müsste dann was anderes in der Kabine gelandet sein", sagte sie. Sie dachte daran, dass Madeleine L'eauvite mit diesem Zauber einmal Martha damals noch Andrews und sich selbst aus dem französischen Zaubereiministerium geschafft hatte.

Eine Minute später kam Perdy mit einem grauen, an den Rändern ausgefransten Scheuerlappen wieder. "Das Ding war drin. Incantimetrisch summt der wie ein Hornissennest. Also war der wohl vorbehandelt worden. Hui, hier steht was mit grüner Tinte drauf: "Unterschätzt niemals die Macht um ihre Lieben bangender und kämpfender Hexen! Fröhliche Weihnachtstage!""

"Wie hat die das gemacht, zum Urweltdrachen noch eins?" fragte Mater Vicesima. "Perdy, die Barriere gegen Translokalisation, mach da bitte noch fünf Stück von, alle leicht zeitversetzt zu einander schwingend. Das darf nicht noch mal passieren."

"Stimmt, hast recht", sagte Perdy.

Zur selben zeit verstofflichte sich aus einer blutroten Lichtwolke heraus der nackte Körper eines Zauberers in einem aus goldener Tinte gezeichneten Sechseck. Da ließen vier Hexen die zu vorderst stehende los. Alle fünf waren unbekleidet. Die vorderste war die älteste. Ihr Zauberstab glühte tiefrot. Dann sprangen sie alle vor und umarmten den soeben auf magische Weise erschienenen. "Das hat wirklich geklappt, Chrysostomos, mein Junge", freute sich die kleine Hexe mit den silbergrauen Haaren. Dann durfte ihre Schwiegertochter zu dem Wiedererhaltenen hin. "Ich dachte schon, der Gegenzauber wirft uns alle um. Aber du bist da."

"Hui, wie bin ich denn hergekommen, Oma Thyia, Mom?" fragte der sichtlich erschöpft wirkende Ankömmling.

"Das lass dir von Theia erklären, der Tochter deiner Cousine Daianira", sagte Alkmene Greensporn und half ihrem Sohn auf die Füße. Er wandte sich Theia Hemlock zu und sah sie fragend an. Diese erklärte ihm darauf, dass sie erst vor wenigen Tagen was gefunden hatte, das als Matrioschka-Verstärkung verzeichnet worden war. Dabei mussten mindestens eine Hexe oder ein Zauberer aus drei folgenden Generationen zusammenwirken. Der Zauber durfte nur von einer gleichgeschlechtlichen Gruppe gewirkt werden, also Großvater, Vater, Sohn oder wie hier Großmutter, Mutter und Tante, sowie eine Enkeltochter und in Theias Fall auch eine Urenkelin. Hierbei musste Eileithyia als vorderste wirken, weil sie den entscheidenden Zauber ausführen wollte. Die anderen lieferten ihr magische Kraft, die sich in Eileithyias Zauberstab bündelte. Da die Anzahl der Beteiligten die Stärke des entscheidenden Zaubers zum Quadrat ihrer selbst verstärkte konnte Eileithyia den Translokalisationszauber mit dem fünfundzwanzigfachen Wert ausführen, was fast ihren Zauberstab zersprengt hätte, wenn der nicht durch die Barriere gedrungen wäre.

"Könnt ihr das auch mit anderen machen?" fragte Chrysostomos. Die Hexen verneinten es. Zum einen ging das nur, wenn ein anderer Blutsverwandter von dem Zauber erreicht werden sollte und zum anderen musste sich Eileithias Zauberstab wohl einige Zeit von der durch ihn hindurchgeschickten Kraft erholen. Deshalb waren sie ja hier bei ihr zu Hause.

"O Mann, das darf ich euch nicht erzählen, was mir passiert ist", sagte er und lief rot an.

"Chrys, wir wissen, was die mit dir und vielen anderen Zauberern machen. Dich trifft keine Schuld", erteilte ihm seine Mutter Absolution. Seine Tante Jokasta zwinkerte ihm verwegen zu. Immerhin war sie die Hexe, die ihm das berühmte erste Mal geboten hatte, damit nicht jede kleine, abenteuerlustige Hexe ihn zu voreiligen Sachen verführen konnte. Nur durften das ihre Schwägerin und die anderen hier versammelten Hexen nicht wissen.

"Und jetzt?" fragte Chrysostomos, erleichtert, nicht erzählen zu müssen, was in den letzten Wochen mit ihm passiert war.

"Bleibst du erst mal hier bei mir. Unsere Schutzzauber verbergen dich vor Nachverfolgung. Kannst du dich noch an alles und jede erinnern?" fragte Eileithyia. Chrys Greensporn nickte schwerfällig. "Dann lagern wir das alles aus. Wenn wir mal welche von denen ohne ihre unseligen Babykopfattrappen erwischen können wir diesen Drachendung, den Dime gerade verzapft, vielleicht noch beenden." Chrys wollte wissen, was seine Großmutter damit meinte. Als er es erfuhr schlug er die Hände vor die Stirn. "Heftig. Und du hast raus, von wem der Zauber kommt?"

"Leider noch nicht. Aber wenn die betreffende Hexe eine meiner Kolleginnen aufsucht und das rauskommt gibt es donnervogeldusteren Ärger für die, das darfst du sehr gerne glauben, mein Junge. So, und jetzt ziehen wir uns alle wieder was an und essen was anständiges. Keine Sorge, du musst niemandem hier Rechenschaft ablegen, was dir passiert ist. Ist sowieso gut, wenn das nicht rumgeht, dass wir einen vor der üblichen Gedächtnisverfremdung aus diesem Karussell geholt haben."

"Geh davon aus, Oma Thyia, dass sie die Barriere jetzt verstärken oder weitere räumlich und zeitlich versetzte Barrieren einrichten", sagte Theia Hemlock. Leda nickte beipflichtend.

"Ja, diesen Schlag können andere vielleicht nicht landen. Aber die Nachwuchserzwinger sollen ruhig wissen, dass auch sie nicht allmächtig sind und damit über allem anderen stehen."

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23. Dezember 2002

Julius nutzte die ihm von seiner Frau erlaubte Stunde am Laptop, um die Fortschritte im Fall Superior zu prüfen, falls es welche gab. Dabei fand er heraus, dass seit dem 17. Dezember schlagartig mehrere merkwürdige Vorkommnisse verzeichnet worden waren. Männer und Frauen verschwanden, die bereits im Verdacht standen, zu Superiors Leuten zu gehören. Immer wurde vorher die Polizei gerufen, immer waren es kleine Kinder, die die Notfallnummern gewählt hatten und immer über Mobiltelefone. Wenn dann die Beamten die bezeichneten Orte aufsuchten hatten sie immer einen Zettel vorgefunden auf dem stand:

Die Propheten des Sonnensturmes dienen nun der Zukunft der einzig superioren Menschenrasse. Nun genießt euren Weihnachtsfrieden!

V. M.

Julius erfuhr auch, dass dreizehn elternlose Säuglinge beinahe zeitgleich vor zwölf Waisenhäusern von Nordamerika und Europa ausgesetzt worden waren. Jeder einzelne Fall schien für sich bedeutungslos. Aber im direkten Vergleich ergab sich daraus ein klares Bild: Superior oder seine Leute waren auf irgendeine Weise mit den Hexen und Zauberern von Vita Magica aneinandergeraten. Und VM hatte dann sehr drastische Gegenmaßnahmen ergriffen. Was hatte er von seiner Mutter gehört? Der US-Zaubereiminister Dime wollte einen Friedenspakt mit Vita Magica aushandeln, weil angeblich die Mondbruderschaft ein heimtückisches Gas erfunden haben sollte, das ungeborene Menschenkinder zu Werwölfen machte. Davon hatte er auch im Büro was gehört, weil die Sondergruppe Quentin Bullhorn bei ihren französischen Kampfgefährten angefragt hatte, ob derartige Anzeichen auch schon in Frankreich erkannt worden waren.

"Jetzt müsste ich doch glatt mal wen von Vita Magica antexten, ob die Akte Superior damit geschlossen werden kann", dachte Julius. Da er keine Adresse und auch keine E-Mail-Adresse von Vita Magica hatte konnte er sie nicht direkt fragen. Zumindest wollte er das den Brickstons vorlegen, was seine Mutter und andere mit dem Arkanet arbeitende zusammengetragen hatten.

"Bin mal eben bei den Brickstons, Millie. Offenbar hat VM Superior den Krieg erklärt. Will wissen, wie Catherine und Joe das aufnehmen", sagte Julius.

"In einer Viertelstunde gibt's Mittagessen, Monju. Wenn du nicht kommst kriegt Clarimonde Amélie oder Cygnus Albericus deine Portion", mentiloquierte Millie zurück. Julius bestätigte das und nahm die ausgedrucktenTexte und Vergleichstabellen mit. Außerhalb der Grundstücksgrenze disapparierte er.

Mit Madame Faucons Haus verband ihn immer noch sehr viel. Das fiel ihm immer wieder ein, wenn er hier auf einem Besen landete oder apparierte.

"Willst du etwa behaupten, die Leute, die mich dazu genötigt haben, deren Gift zu fressen, würden jetzt von diesen Leuten gejagt, denen deine Mutter die drei Kinder auf einen Wurf verdanken musste?" fragte Joe Brickston, als Julius ihm und seiner Frau die Unterlagen zeigte. Claudine war gerade nicht in der gemütlichen Wohnküche.

"Ich will das nicht sagen. Ich möchte das ja von euch wissen, was ihr davon haltet", sagte Julius.

"Welchen Grund sollte diese Bande haben, gegen eine aus der magielosen Welt stammenden Verbrecherbande Krieg zu führen?" fragte Catherine. Joe nickte. Julius konnte nur auf die ganzen Texte und Vergleiche tippen.

"Vielleicht sind Superiors Leute bei ihren Aktionen mit denen von VM aneinandergeraten. Da die ja nur magisches Leben gedeihen lassen wollen haben die von VM gleich mit voller Härte zugelangt. Wen sie kriegten haben sie erst mal wie Gérard ausgelesen, dabei rausgekriegt, wen die selbst kannten und dann die kassiert und immer so weiter. Am Ende haben die noch Superior selbst aufgestöbert", kam Julius jetzt doch mit einer Vermutung herüber.

"Ja, hmm, aber das hätte doch gereicht, den betreffenden ein neues Gedächtnis zu verpassen", meinte Catherine. "Warum so auffällig, dass jeder mit der Nase darauf gestoßen wird?"

"Es heißt, Dime in den Staaten will mit denen einen Friedenspakt machen oder hat das schon. Dann könnten die denken, sie hätten überall freie Bahn. Aber natürlich erklärt das nicht, warum sie so überdeutlich zeigen, dass sie dahinterstehen. Es sei denn, da ist ein Trittbrettfahrer am Werk", sagte Julius. "Nur der kann sich dann ganz warm anziehen, weil VM ihm oder ihr sowas nicht lange durchgehen ließe. Deshalb denke ich auch nicht, dass Anthelia das angeleiert hat."

"Anthelia, diese Hexenlady, der du schon zweimal begegnet bist?" fragte Joe. Julius hätte fast gesagt, dass er ihr sogar schon dreimal begegnet war. Aber das war ein Geheimnis, in das auch Catherine verwickelt war.

"Haben die Computerrecherchen ergeben, wo Superior überall Geheimverstecke haben kann?" fragte Catherine. Julius schüttelte den Kopf. "Dann könnte es auch sein, dass er sich da versteckt hat, wo andauernd VM-Leute ein- und ausgegangen sind. Die haben das gemerkt und ihn ausgehorcht."

"Leute, das erklärt auch nicht, warum die so offen rausposaunen sollten, dass sie dahinterstecken, dass seine Leute verschwunden sind", sagte Joe.

"Eine weitere Möglichkeit wäre noch, dass jemand von VM irgendwas zu persönlich genommen hat, was Superior gemacht hat und ... Natürlich, wenn sie ihn selbst oder wen, der mit seinen Machenschaften zu tun hatte kassiert haben wussten die, dass er euch bedroht hat und wohl verhindern wollte, dass ihr zwei, Joe und Catherine, weiter zusammen leben könnt. Immerhin hast du ja von Joe schon zwei zauberfähige Kinder bekommen", sagte Julius Catherine zugewandt.

"Achso, und die nahmen das persönlich, dass ein Mann, der einer Hexe zu weiteren kleinen Hexen verholfen hat, fast von diesem Schweinepriester umgebracht worden wäre?" fragte Joe. Catherine sah ihn und dann Julius an und sagte mit einer leisen Stimme:

"Ich denke, Julius, du hast recht. Irgendwer von VM hat das wohl persönlich genommen, als wenn jemand seine oder ihre eigene Familie angegriffen hätte."

"Moment mal, Catherine, willst du etwa andeuten, dass jemand aus deiner Verwandtschaft mit diesen VM-Leuten zu tun hat?" fragte Joe Brickston. Catherine atmete tief durch. Dann antwortete sie:

"Ich halte das zumindest nicht für unmöglich, wenngleich ich nicht weiß, wer das sein soll. Um das gleich zu klären, Tante Madeleine, ihr Mann oder Maman sind es garantiert nicht."

"Schon gruselig, sich vorzustellen, dass wer eine ganze Gangsterbande auf einen Schlag eliminiert, die weltweit unterwegs ist", sagte Joe. Julius warf ein, dass Vita Magica auch weltweit organisiert war.

"Ja, müssen wir uns dann bei diesen Leuten auch noch bedanken?" fragte Joe verstimmt. Julius wollte schon sagen, dass er denen ja schon damit gedankt hatte, dass Catherine sein drittes Kind trug. Aber Catherine kam ihm zuvor:

"sieh es mal so, Joe. Weil du noch dein Leben führen darfst erkennt Vita Magica dich als Mann an meiner Seite an."

"Superantwort", grummelte Joe Brickston.

"Ich kann das als Auftrag ans Ministerium weitergeben oder selbst bearbeiten, rauszufinden, ob Joe jetzt außer Gefahr ist", sagte Julius.

In dem Moment betrat Laurentine das Haus und grüßte laut. Claudine wieselte aus ihrem Spielzimmer zu ihr hin. "Klär das bitte", sagte Catherine. "Obwohl, vielleicht kann ich das auch klären", sagte sie, stand auf und verließ die Wohnküche. Julius sah Joe an und blickte sich dann im urgemütlichen Raum um. Hier hatte er seine ersten Ferien in Millemerveilles immer wieder mit Madame Faucon gegessen und sich über Millemerveilles und die Zaubererwelt unterhalten. Er kannte alle Bilder, die in dem Raum hingen. Dabei fiel ihm auf, dass offenbar eines fehlte. Denn die Stelle an der Wand war etwas heller als der Rest der freien Wandpartien. War das nicht das Bild von einer Frau mit meergrünen Augen, die Madame Faucon so ähnlich sah?

"Da hat mal das Bild von Catherines Urgroßmutter gehangen. Vielleicht hat es meine Schwiegermutter mit nach Beauxbatons genommen, weil es mit wem anderen Kontakt halten kann. Ihr könnt das ja über die Bilder", erklärte Joe, als er mitbekam, wo Julius hinsah.

"Genau das können wir", raunte Julius, dem gerade ein riesengroßes Licht aufging. Da hörte er auch schon Catherines Stimme sagen:

"Ich weiß nicht, mit wem von Vita Magica dein Bild-Ich noch Kontakt haben könnte. Ich will dir auch nichts unterstellen. Aber falls da jemand ist, dem du meine Nachricht weitergeben kannst bitte frage: "Ist mein Mann Joseph jetzt außer Gefahr oder muss er sich vor dem Rest der Welt versteckt halten?"

Es kam keine Antwort. Eine Minute lang hörte Julius nur das Lachen von Claudine und Laurentine, die offenbar froh war, sich an der bald nicht mehr ganz kleinen Brickston abreagieren zu können. Dann kam Catherine zurück. Sie wirkte leicht erschüttert, aber auch irgendwie erleichtert.

"Uroma Claudine, von der unsere zweite Tochter den Vornamen hat, hält tatsächlich Kontakt zu einem Gegenstück bei Vita Magica. Sie hat mir nur erzählt, dass wir nach Weihnachten wieder nach Paris zurückkehren dürfen, da die Gefahr vorbei sei. Allerdings möchte sie für diese Information eine Gegenleistung."

"Zwei neue Kinder?" fragte Joe. Catherine errötete. Dann nickte sie halbherzig und tätschelte sich verlegen den unteren Bauch. "Davon dürfte dann ja eins schon unterwegs sein, Joe. Ich wollte dir das erst zu Weihnachten sagen, dir, Babette und Claudine. Aber ich denke, es ist doch fair, wenn du es auch jetzt schon weißt. Als du damals meintest, mir was gutes tun zu müssen, na ja ... Du weißt schon, wovon ich rede", sagte Catherine.

"Öhm, warum hast du mir das nicht erzählt?" fragte Joe. Catherine bat Julius, sie mit ihm alleine zu lassen. Er nickte und suchte die zwei gerade wild tobenden Hexen auf, die in Claudines Spielzimmer waren. Unvermittelt wurde er in Claudines Tobestunde mit einbezogen, bis Catherine in anmentiloquierte:

"Joe wird mich und das Kleine nicht erwürgen. Er versteht, warum ich das ihm noch nicht sagen konnte."

"Und huiiii!" rief Claudine und ließ sich von Laurentine zu Julius hinüberwerfen, der gerade mal außer Armreichweite stand.

"Und jetzt?" fragte er. "Soll ich dich jetzt unter den Arm klemmen und mit ins Apfelhaus nehmen."

"Au ja, zu Rorie gehen", quiekte Claudine. "Ich rede mit Millie. Wenn die sagt, dass Rorie brav genug war darfst du zu ihr hin. Abgemacht?"

"Au ja!" quiekte Claudine und ließ sich von Julius wieder auf ihre Füße stellen.

"War das nur ein Freundschaftsbesuch, oder ist was neues in der Sache mit dieser Sonnensturmapostelgruppe rausgekommen?" fragte Laurentine.

"Weiß ich noch nicht, ob Belle da nicht den Stempel mit S9 oder höher draufknallt. Aber so wie es sich andeutet wurde der Chef der Sonnensturmprediger kassiert. Näheres entnehmen Mademoiselle bitte den Nachrichten im Arkanet."

"Noch mal danke an deine Mum, dass ich da jetzt auch mit drinschreiben darf", sagte Laurentine.

"Da nicht für, wie Waltraud da immer gesagt hat", erwiderte Julius.

Wieder zu Hause mentiloquierte er Millie nur: "Vita Magica hat Superiors Bande hochgenommen, und Catherines Uroma Claudine hat offenbar ein Gegenstück bei denen von VM."

"Na toll, dann hätte die manche Sitzung vom stillen Dienst mithören können."

"Nicht nur das. Die hat wohl auch mitbekommen, wie wir damals alle bei Madame Faucon ein- und ausgingen, damit ich euch das beibringen konnte, was ihr gelernt habt. Ui, gut, dass wir das immer im klangkerker-Arbeitszimmer gemacht haben", seufzte Julius. Millie verstand. Dann legte sie ihre Finger auf die Lippen und deutete auf Aurore, die gerade mit vorgestreckten Händen hereinkam. "Alle Erde runter. Hände ganz sauber", beteuerte Aurore. Millie prüfte das nach, nickte lächelnd und ließ sie auf ihrem erhöhten Stuhl sitzen.

Am Nachmittag kamen Laurentine und Claudine herüber. Claudine durfte mit Aurore im Garten spielen, wo Julius mehrere fallsichere Schaukeln und eine Kinderrutsche aufgebaut hatte, die aber auch gerne von Goldschweif und Sternenstaub benutzt wurden.

"Was war da jetzt genau?" fragte Laurentine. Julius zeigte ihr die entsprechenden Einträge auf dem Rechner. "Offenbar hat wer aus Catherines fernerer Verwandtschaft Beziehungen zu Vita Magica. Dieser Verwandte hat das dann sehr persönlich genommen, dass man den Vater von Babette und Claudine und irgendwelchen weiteren Brickston-Kindern derartig fertiggemacht hat", sagte Julius.

"Ja, aber die konnten doch nicht wissen, wen sie suchen müssen, oder doch?" fragte Laurentine.

"Ich fürchte, dass werden die von VM geheimhalten, allein schon, um uns im Glauben zu halten, dass sie auch mit Computern umgehen können und deshalb die den Kurzkrimi, der von Joes Tod erzählt, mit der Realität verglichen haben. Ich vermute aber auch, dass Superiors Leute per Zufall über ein Versteck oder einen Trupp von VM-Leuten gestolpert sind. Die haben dann rausgefunden, was Superior gemacht hat und dann gleich voll zugelangt, um den Ofen ganz auszumachen. Schon sehr unheimlich, wie drastisch die sein können."

"Das wissen wir doch schon", sagte Laurentine. "Deshalb habe ich mir von eurer Dorfheilerin so'n Verhütungsstöpsel besorgt, der einen vollen Monat lang getragen werden kann und auch die Regelblutung auffängt. Den habe ich dann diebstahlsicher bezaubert und dahingesteckt, wo er wirken soll."

"Hat Millie mir schon erzählt, dass Hera und Béatrice damit um die Ecke kommen und die vor allem jungfräulichen Hexen anempfehlen."

"Catherine sagt, wir bleiben noch bis Neujahr in Millemerveilles. Sollte sich bis dahin ergeben, dass Joe wieder unter seinem Namen arbeiten darf sucht er sich was neues, weniger brisantes."

"Ich gönne ihm, dass er das hinkriegt, was er hinkriegen will", sagte Julius.

Weil Claudine nicht um sieben nach hause wollte und Babette bei Denise und Melanie essen wollte erlaubten die Brickstons es, dass Claudine auch bei den Latierres aß.

Um elf Uhr brachte Julius Claudine ins Haus von Blanche Faucon, wo er zu seiner Überraschung die Hausherrin persönlich antraf.

"Du wurdest darüber informiert, dass es offenbar eine Bilderverbindung zu dieser obskuren Gruppe gibt, die deiner Mutter zu drei Kindern auf einmal verhalf?" fragte Blanche Faucon, nachdem Julius Claudine in ihr derzeitiges Zimmer gebracht hatte.

"Ich habe schon befürchtet, deine Großmutter hätte alles von uns mitbekommen, was im dunklen Jahr und danach gelaufen ist", wisperte Julius.

"Wir sollten damit rechnen, dass sie zumindest wissen, dass wir da was auf die Beine gestellt haben, Julius", erwiderte Blanche Faucon leise, bevor sie Julius in ihr Dauerklangkerker-Büro bugsiert hatte. Dort erzählte sie ihm dann, wie sie darauf gekommen war, dass ihre verstorbene Großmutter väterlicherseits mit Vita Magica in Beziehung gestanden haben mochte. Dann sagte sie: "Tja, und zum Dank für die ungebetene aber nichts desto trotz geleistete Hilfe musste Catherine dem Bild-Ich von Mémé Claudine zusagen, dass es das Aufwachsen ihrer Nachfahren mitbekommen darf. Sie wird es also mit in die Rue de Liberation 13 nehmen und im Wohnzimmer offen aushängen. In der Zaubererwelt ist eine gewährte Hilfe gleichbedeutend mit einer einforderbaren Gegenleistung. Das ist leider ein uraltes, ungeschriebenes Gesetz, an das wir alle gebunden sind, auch du und ich. Das dürfte einer der Gründe sein, warum Vita Magica dich zur Persona intangible erklärt hat. Ob ich diese fragwürdige Ehre genieße weiß ich nicht. Ich möchte es auch zum jetzigen Zeitpunkt nicht darauf anlegen, es herauszufinden", seufzte Blanche Faucon.

"Ich sage besser nichts dazu, Blanche. Du würdest zurecht darüber verärgert sein."

"Wenn du es mir nicht sagen willst, will ich da auch nicht drauf beharren, es zu wissen", grummelte Blanche Faucon.

Als Julius wieder im Apfelhaus war erzählte er Millie im Schutz der Schnarchfängervorhänge, was Blanche Faucon ihm offenbart hatte. "Die amüsieren sich köstlich, dass wir zwei hübschen schon das dritte Kind auf den Weg gebracht haben. Klar, dass die dich dann nicht behelligen. Aber sympathisch finden muss ich die deshalb nicht wirklich."

"Rat mal, wer noch, Mamille", erwiderte Julius.

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24. Dezember 2002

Millie Latierre entzündete eine große Kerze an der von Dorfrätin Delamontagne entzündeten Kerze. Alle Teilnehmer an der alljährlichen Weihnachtsfeier, die eher dem Licht und der Wärme der Erneuerung und Hoffnung gewidmet war, sahen die junge Hexe mit der großen Kerze auf Jeanne zugehen, die bereits eine etwas kleinere Kerze in der Hand hielt und an Millies Kerze den Docht entzündete. Das war die Tradition, dass die jüngste, gerade selbst ein Kind erwartende Hexe das erste tragbare Licht des neuen Jahres an alle anderen weitergab, wobei die werdenden Mütter zuerst bedacht wurden. Deshalb war auch Barbara van Heldern mit ihrem Mann aus Brüssel angereist, damit auch sie in die erhabene Weitergabeprozedur einbezogen werden konnte. Nach und nach gaben die Hexen in hoffnungsvoller Erwartung von dem Licht weiter, dass sie vor sich hertrugen. Als dann jeder und jede eine brennende Kerze in der Hand trug sagte Roseanne Lumière: "So tragen wir das Licht neuer Hoffnung und die Wärme eines weiteren Miteinanders in unsere Häuser und entfachen damit Feuer und Herd unserer Häuser."

Julius geleitete seine Frau, die die ganz große Kerze trug, zusammen mit Aurore, die eine kleine Laterne bekommen hatte, um nicht mit einer offenen Flamme in Berührung zu kommen zum Apfelhaus. Auch Laurentine trug eine Kerze in ihren Händen und begleitete Catherine, die wie Jeanne und Barbara zu den ersten Lichtträgerinnen dieses Jahres geworden war.

Im Apfelhaus entzündete Julius zunächst den Weihnachtsbaum, den Camille Dusoleil zwei Tage zuvor gestiftet hatte. Dann wurden sämtliche Kamine im Haus entzündet, sowie auch beide Herdstellen, die im Erdgeschoss und die auf der dritten Etage.

"Können wir froh sein, dass wir noch friedlich feiern können", sagte Millie. "Anderswo wissen Leute vielleicht nicht mal, wozu dieses Weihnachtsfest überhaupt gut sein soll."

"Ja, oder sie benutzen es, um anderen Leuten möglichst viel Geld aus den Taschen zu ziehen", sagte Julius.

Als er dann mit seiner Frau die zwei schlafenden Kinder sah wusste er es wieder ganz genau, für wen und für was er zu leben hatte. Morgen würde er seiner Mutter und allen im Arkanet frohe Festtage wünschen, auch den Bewohnern der Sonneninsel. Ob sich Pandora und Phoenix gut damit zurechtfanden, hilfsbedürftige Säuglinge zu sein? Ob er das gekonnt hätte? Ja, er hatte das gekonnt. Denn in ihm drin wohnte immer noch Madrashainorian, Madrashmirondas und sein im geistigen Verbund gezeugter Sohn, dessen Leben er geführt hatte und dessen Leben er immer dann würde führen müssen, wenn er in die Halle der Altmeister eintrat. Wann würde er das wieder tun müssen?

Er dachte aber auch an Catherine und ihre Mutter. Wie heftig musste es die zwei mit dunklen Geheimnissen und bösartigen Widersachern aneinandergeratenden Hexen erwischt haben, dass sie über Jahre hinweg eine heimliche Kundschafterin einer immer noch sehr fragwürdigen Gruppe bei sich beherbergt hatten?

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25. Dezember 2002

Minister Dime tat so, als genieße er das Weihnachtsfest, den Truthan mit raffinierter Füllung, wie sie nur seine Frau hinbekam, die Freude der kleinen Kinder, das drollige zaghafte Erkunden der großen weiten Welt von Plutonius' Zwillingen. Doch er musste immer wieder daran denken, dass er spätestens im Februar alles von sich abstoßen musste. Sonst war er im März mausetot. Auch betrübte ihn die offene Ablehnung, die die Ministeriumsabteilungsleiter ihm nun entgegenbrachten, obwohl sie ihm anfangs zugestimmt hatten, dieses verflixte Abkommen zu schließen. Aber dabei waren sie ja auch von einem kurzzeitigen Friedenspakt ausgegangen, eben einem Weihnachtsfrieden. Zumindest hatten die Spinnenschwestern nichts neues angestellt. Aber ebenso hielten sich die Werwölfe zurück. Nicht, dass die am Ende wirklich einen brandgefährlichen Anschlag vorbereiteten.

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Patricia Straton alias Gwendartammaya las ihren beiden gerade ihr Mittagessen zu sich nehmenden Töchtern die Weihnachtsbotschaft von Julius Latierre vor.

"... Auch wenn ich weiß, dass im alten Reich kein Weihnachten gefeiert wurde weiß ich doch, dass der Tag der Wintersonnenwende ein hoher Feiertag war. Außerdem wurde der fünfundzwanzigste Dezember von einem römischen Kaiser zum Geburtstag von Jesus erklärt, weil der auch der Geburtstag des in Rom verehrten Sonnengottes war. Deshalb hoffe ich, dass ihr und ich diesen Tag als Fest des neuen Lichtes, der wiedererstarkenden Sonne und der Hoffnung, die durch jede Geburt eines Menschen erneuert wird, genauso ehren könnt, wie es die an die Göttlichkeit des Friedenspredigers Jesus glaubenden eigentlich auch tun sollten. In diesem Sinne wünsche ich euch allen mehr Frieden in der Welt und eine Hoffnung, die so lange lebt, wie die Sonne die Erde erhellt."

"Schön hat der das geschrieben", gedankensprach Pandora alias Geranammaya. Ihre Zwillingsschwester Phoenix alias Olarammaya erwiederte auf gleiche Weise:

"Wollte Faidaria den nicht mal zu uns einladen? Jetztt, wo alle auf der Welt sind?"

"Ich denke, das wird sie, wenn es wieder einen Anlass gibt, dass wir mit ihm direkt zusammentreffen", schickte Gwendartammaya zurück, während sie es genoss, wie ihre beiden Kinder von ihr tranken.

Faidarias Gedankenstimme klang gleichzeitig in den Bewusstseinen der drei Verwandten: "Die Bedrohung durch Iaxathans Knecht mag erst einmal verschwunden sein. Doch Iaxathans Brut ist immer noch lebendig. Ich bedauere es, dass wir im Moment nur über dieses seelenlose Wissenswerkzeug mit ihm in Verbindung stehen. Das muss und wird sich ändern, bevor die Gefahr durch die bleichen Nachtkinder zu groß werden kann."

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31. Dezember 2002

Eartha Dime schwebte in der von unsichtbarer Kraft in der Luft gehaltenen Glaskugel, die in allen Regenbogenfarben schillerte, wie eine riesige Seifenblase. Beata Clarimonti dirigierte den Schwebeflug der Riesenblase mit ihrem Zauberstab und tanzte darunter einen schon sehr anregenden Tanz in ihrem weißen Kleid mit den goldenen Verzierungen. Ihr goldblond gefärbtes Haar floss um ihren Kopf und ihren Rücken, und eine zu diesem Akt passende Sphärenmusik auf Glasharfen und Kontrabässen untermalte die Szene. Eine große Standuhr zeigte eine Minute vor elf Uhr. Das von vorne wie von hinten lesbare Jahr dauerte nur noch eine Stunde. Eartha streckte sich in der zwei Meter großen Kugelschale und spiegelte die Bewegungen ihrer Partnerin. Sie trug mal wieder nur ihren goldenen Badeanzug. Dann schlug die Uhr laut hörbar elf Uhr abends.

Ein vierfarbiger Blitz zuckte auf, ein scharfer Knall rüttelte an den Ohren der aufmerksam auf jede Bewegung achtenden Zuschauer. Als die grellbunte Lichtentladung erloschen war konnten alle im nun blutroten Scheinwerferlicht sehen, dass Beatas Kleid, Schuhe und Strümpfe auf dem Boden lagen, ebenso der goldene Badeanzug. In der schwebenden Riesenkugel standen die beiden Artistinnen in natürlichster Aufmachung einander gegenüber. Sie um armten sich und begannen, innerhalb der Riesenkugel zu tanzen. Vor allem die Männer glotzten gierig, als hätten sie lange keine tanzenden Frauen mehr gesehen.

Die Kugel stieg höher, fast hinauf zur Beleuchterempore, wo nun im kurzen Reflex der farbigen Riesenblase die schwarzgekleidete Benedetta Clarimonti mit einer blutrot leuchtenden 2002 auf dem Brustteil dastand und auf das Publikum herabblickte. Dann glitt die Kugel sanft wippend von der Bühne herunter und über die Reihen der Zuschauer hinweg. So konnten alle, die zusehen wollten, die zwei in der Kugel tanzenden noch einmal ganz nahe betrachten. Im dämmerigen Widerschein des Bühnenlichtes war nicht zu sehen, wie sehr es die Männer erregte und die Frauen vor Neid erblassen ließ, wie geschmeidig und koordiniert die zwei Tänzerinnen ihren anderswo als höchst anstößig empfundenen Tanz aufführten. Als die Kugel einmal über allen Zuschauerreihen gekreist war schwebte sie in Richtung Bühne zurück, wo sie ganz sachte herabsank und einfach im Boden verschwand, als sei dieser nur Nebel. Da ploppte es laut, und weiter hinten im Publikum erschienen Eartha und Beata, nur dass Beata jetzt Earthas goldenen Bikini trug und Eartha Beatas blütenweißes Kleid und ihre Schuhe anhatte. Als auch der letzte Zuschauer die plötzliche Erscheinung bemerkt hatte brandete tosender Applaus durch den Zuschauerraum. Ein Tusch ertönte, und Benedetta tauchte wie aus dem Boden gewachsen in der Bühnenmitte auf. Ihren schwarzgekleideten Körper umfloss eine regenbogenfarbige Aura wie ein aus dem Inneren erleuchteter Dunstschleier. Dann rief sie mit überall gleichlaut erklingender Stimme: "Heh, Schwester, Pattys Bikini passt dir aber nicht so richtig."

"Stimmt!" rief Beata ohne Stimmverstärkung zurück. Da ploppte es wieder, und die drei Zauberfrauen standen zusammen auf der Bühne, nur dass jetzt Benedetta Earthas Bikini trug und Eartha Beatas weißes Kleid. Beata trug Benedettas schwarzes Kleid. Die drei grinsten verwegen. Dann ploppte es noch mal, und die drei waren wieder so bekleidet wie zu Beginn dieser Schaueinlage.

Es erfolgten noch mehrere solcher Standort- und Bekleidungswechsel, sowie ein weiterer Schwebetanz, diesmal von Benedetta, die in einer himmelblauen Riesenblase schwebte, während Eartha unter ihr im grünen Kleid tanzte.

"Das geht nur mit echter Magie", dachte der junge, schwarzhaarige Mann, der in einem dunkelgrünen Anzug im Publikum saß. Er bedauerte, das nicht weitermentiloquieren zu können, weil er gerade eine sogenannte Antisonde trug, die seine eigene Zauberkraftausstrahlung abschirmte und damit auch jede von ihm aus nach außen wirkbare Magie schluckte. Er zog ein kleines Mobiltelefon hervor und klappte es auf, als er sicher war, dass keiner ihn beobachtete. Doch er bekam kein Netz. Das konnte ein rein technischer Fehler sein aber auch absichtlich so eingerichtet worden sein. So musste er das Gerät ungenutzt wieder zuklappen und schnell verstauen. Denn gerade vollzog sich jene scheinbare oder auch echte Riesenvergrößerung, von der er über Umwege schon gehört hatte. Earthas Körper wuchs und dehnte sich, als blase jemand sie von innen her auf. Sie blieb dabei aber auf den Füßen stehen. Als sie bis zur sechs Meter hohen Decke des Varietés hinaufreichte rief sie mit tiefer, in jedem Bauch nachschwingenden Stimme: "Na, wer von Ihnen glaubt, dass das nur ein guter Trick ist?" Viele hoben die Hände. Da sah sie sich um und deutete auf den jungen Mann im grünen Anzug. "Hi, du hast nicht aufgezeigt. Glaubst du also, dass ich echt bin?" fragte die zur Überriesengröße aufgequollene Eartha.

"Nur wenn das mit echter Magie geht und nicht mit Bühneneffekten!" rief der schwarzhaarige Mann. Er ärgerte sich jetzt, nicht mit denen gestimmt zu haben, die an einen besonderen Lichttrick glaubten. Alle im Publikum lachten. Eartha sagte mit einem erheiterten Grinsen: "Natürlich ist das hier alles echte Magie, mein Freund. Aber bevor ich noch vor Hunger das ganze Buffet da draußen niedermache ... Laut fauchend schrumpfte Eartha wieder auf ihre Normalgröße zusammen. "Ja, das ist doch die richtige Größe", sagte sie nun mit ihrer Normalen Stimme.

Als dann kurz vor Mitternacht das übliche schottische Lied zum Jahreswechsel gesungen wurde traten noch mal alle Darsteller und ihre technischen Assistenten auf die Bühne. Dann, als die Standuhr mit lauten Schlägen das Jahr 2002 aus- und das neue Jahr 2003 einläutete, zersprühten die drei Zauberfrauen in bunten Funkenwirbeln, aus denen kleine Leuchtkugeln wurden, die bis knapp unter die Decke stiegen und den bunt leuchtenden Schriftzug: "Willkommen 2003!" bildeten. Fünf Sekunden lang blieb dieser aus Leuchtkugeln gebildete Begrüßungssatz in der Luft. Dann pfiff und knallte es, und die Leuchtkugeln zerfielen zu schillernden Funken und bunten Rauchwölkchen. Als diese sich verflüchtigt hatten waren nur noch die Techniker auf der Bühne. Die Zuschauer suchten nach den drei magischen Damen. Doch die blieben verschwunden. Der Geschäftsführer des Varietés trat in seinem roten Smoking und der nachtschwarzen Fliege auf die Bühne und bedankte sich bei den Zuschauern. Er wünschte ihnen allen ein erfolgreiches, friedliches und glückliches neues Jahr und lud dazu ein, noch am aufgebauten Buffet in das gerade begonnene Jahr hineinzufeiern.

Der junge Mann im grünen Anzug wollte erst hinaus, um doch noch ein funktionierendes Mobilfunknetz zu erreichen. Er musste das weitergeben, was er erlebt hatte. Doch als er vor dem Zuschauerraum die gerade in einem taubenblauen Abendkleid steckende Eartha sah änderte er seine Absicht. Er steuerte auf sie zu und begrüßte sie. Er stellte sich als Donovan Grimes, Mitarbeiter eines Internet-Nachrichtendienstes namens Schau plus Ultra vor, welcher über besonders ausgefallene Zirkus- oder Varietévorstellungen berichtete. Sie winkte natürlich sofort ab, dass sie keinen Trick verraten durfte. Er akzeptierte das, wollte aber gerne wissen, wie lange die drei für diesen so wortwörtlich Riesenauftritt gebraucht hatten. Bei einem Glas Sekt meinte der junge Mann, Eartha genauer darauf abklopfen zu können, warum sie sich für diesen Effekt des auf Riesengröße aufgeblasen werdens bereiterklärt hatte, ja und warum sie auch den Freikörpertanz mit der anderen Frau ausführte, wo sie doch sicher wusste, dass außerhalb von Vegas jeder Pfarrer und viele Strafrichter "Schmutz und Verwerflichkeit!" rufen würden. Darauf kam die erwartbare Antwort: "Genau deshalb machen wir das eben exklusiv in Vegas. Sie kennen ja den Werbespruch dieser Stadt: Was in Vegas passiert bleibt auch in Vegas."

"Das ist wohl all zu wahr", erwiderte der junge Mann und nahm noch einen Schluck Sekt. Er war so sehr in das Gespräch mit Eartha Dime vertieft, dass er nicht mitbekam, wie mehrere Männer und Frauen dicht hinter ihm vorbeigingen. Er fühlte auch nicht, wie ihm dabei mit einer unsichtbaren schere ganz geräuschlos ein großes Haarbüschel abgetrennt wurde.

Als er eine der angebotenen Lachsschnitten nahm und genüsslich darauf kaute fragte Eartha ihn noch mal: "Ich habe von ihrem Internetdienst noch nichts gehört. Wie heißen Sie noch mal?"

"Dustin Maywood", sagte der andere nun unvermittelt leicht entrückt klingend. "Maywood? Dann arbeitet einer ihrer Verwandten für das Büro von Nancy Gordon in New York?"

"Nein, das bin ich selbst", sagte er leise. Er erkannte, dass er das eigentlich nicht sagen wollte. Aber ihm fehlte die nötige Willenskraft, sich dagegen zu wehren oder die Flucht zu ergreifen. Denn mehr war ihm nicht möglich.

"Oh, dann hat Ihnen die gute Nancy das besondere Unterzeug ausgeliehen, mit dem besondere Ausstrahlungen versteckt werden?" fragte Eartha.

"Das war ich selbst. Wir hatten ja noch vier von den Antisonden aus Frankreich in Los Angeles vorrätig."

"Ist die gute Nancy noch im Büro?" fragte Eartha.

"Die hatte heute ihren Abschied. Die wollte wegen der Babymacher nicht mehr für Dime arbeiten", sagte Dustin Maywood. Eartha nickte wissend.

"Gut, hier sollten wir nicht weiter drüber reden, weil zu viele Ohren hier herumlaufen", sagte Eartha. "Ich hoffe mal, die Schau hat Ihnen gefallen."

"Ja, das hat sie", sagte er. Dann trank er seinen Sekt schnell aus. Denn irgendwie rumorte es in seinen Eingeweiden. "Okay, wir sehen uns dann bald wieder", sagte Eartha. "Ich will jetzt mit den zwei Schwestern unseren Erfolg begießen. Ciao!" Sagte sie und schlüpfte von ihrem Stuhl und ging beinahe schwebend davon. Dustin fühlte, dass er eigentlich hinter ihr herlaufen musste. Er musste sie doch festnehmen. Aber er durfte nicht auffallen, weil er keinen Zauberstab dabei hatte. Schnell aß er die Lachsschnitte zu Ende. Da kam eine schon angejahrte, sehr füllige Frau mit blondgefärbten Locken auf ihn zu und fragte:

"Junger Mann, haben Sie noch Lust, einer weitgereisten Lady einen netten Abend zu bereiten?" "Nein, habe ich nicht", sagte Dustin leicht entrückt klingend. "Oh, finden Sie mich nicht attraktiv genug?" fragte die ältere Frau, der eine deutliche Champagnerfahne vorauswehte.

"Nein, sie sind mir zu alt, zu fett und zu besoffen", erwiderte Dustin ohne verärgert oder abschätzig zu klingen. Da verpasste ihm die ältere Frau eine schallende Ohrfeige. "Ich bin vollschlank, frecher Bursche, nicht fett", knurrte sie und zog ab. Dustin, den die Backpfeife fast vom Stuhl geworfen hatte, stierte ihr nach, wie sie leicht schwankend davonging. Dann merkte er, wie das Grummeln in seinen Eingeweiden stärker wurde. Er stand auf. Wenn er nicht bald zur Toilette fand würde er sich in die Hose machen. Denn er musste erst die einteilige Antisondenunterkleidung ausziehen. So lief er selbst leicht schwankend in Richtung der Toilettenräume, sprang fast durch die Tür mit der Aufschrift "FÜR HERREN" und enterte eine freie Kabine. Das Blähen und Grummeln in seinem Bauch wurde immer schlimmer. Er warf seinen Anzug ab, schälte sich wie ein aus dem Kokon schlüpfender Schmetterling aus dem blauen Einteiler, der Arme und Beine vollständig bedeckte. Er hätte vielleicht eine dünne Zauberwindel drunter anziehen sollen, dachte er. Doch man hatte ihn gewarnt, dass im direkten Körperkontakt mit einer Antisonde keinerlei Magie wirkte. Völlig nackt stand er nun vor der Toilettenschüssel. Er setzte sich schnell, um seiner Verdauung nachzugeben.

Ein anderer Besucher, der ebenfalls die Toiletten aufsuchte, stand nun an einen Urinal und ließ Wasser ab. Da hörte er erst einen eher blubbernden, und dann lauten Knall. Der Mann am Urinal vermeinte, einen rubinroten Lichtschein unter der Tür durchschimmern zu sehen. Doch dann war alles wieder ruhig. Da überstrich ihn etwas, dass seine Gedanken verwirbelte und neu ordnete. Als er wieder klar denken konnte dachte er nur, dass wohl wer zu viele Zwiebelringe gegessen hatte. Dann ploppte es laut. Die Spülung in der Kabine rauschte, und die Tür ging wieder auf. Heraus trat ein sehr erleichtert dreinschauender junger Mann im grünen Anzug. Wortlos ging dieser zu den Waschbecken.

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Dustin Maywood erfasste zu spät, dass er Eartha und den beiden anderen eindeutigen Hexen in eine weitere Falle getreten war. Erst hatten die ihm Veritaserum untergejubelt und dann wohl noch was, dass seine Gedärme derartig aufwühlte, dass er unbedingt eine Toilette aufsuchen musste. Doch da war noch was, etwas, das in ihm wie ein Schwall heißen Wassers explodierte und dann einen rubinroten Funkenwirbel um ihn schuf. Dann blitzte es rot auf, und er fiel in eine farbige Unendlichkeit. Er meinte, von einem Haken im Bauchnabel vorangezogen zu werden, bis er aus einem weiteren roten Lichtblitz heraus auf eine weiche Unterlage plumpste. Und da wartete schon jemand auf ihn, Eartha Dime, so pur, wie sie die Natur geschaffen hatte. Erst wollte er gegen sie angehen. Doch dann überkam ihn der dringende Wunsch, mit dieser Hexe, eigentlich seiner Kollegin, eine wilde Nacht zu verbringen. Sein anfänglicher Widerstand verflog mit jedem Atemzug. Dann gab er der ihm aufgepfropften Begierde nach.

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"Hi, Max, ich habe mir die Schau noch mal angesehen. Ich gehe davon aus, dass die das nicht mitkriegen konnten, weil ich die Antisonde trug und Dimes Tochter mich noch nicht kannte. Die haben mit farbigen Illusionen gearbeitet und mit viel Bühnenfeuerwerk herumgezaubert. Dabei haben die immer wieder ihre Kleider getauscht oder so getan, als tanzten die in einer schwebenden Seifenblase. Eartha hat sich dabei ganz hüllenlos dargeboten", sprach jener, der wie Dustin Maywood aussah, in das Mobiltelefon hinein. Eine Männerstimme antwortete: "O, ob ihr Daddy das genehmigt hat? Nancy hat sowas auf jeden Fall nicht genehmigt."

"Das hat die dem sicher nicht erzählt. Aber offenbar hat ihr das gefallen, sich den glotzenden Muggels so anzubieten."

"Das heißt Menschen ohne eigene Zauberkraft, Dusty", maßregelte die Stimme aus dem Telefon.

"Weiß ich doch. Aber ich stehe gerade in einem Foyer voller solcher leute und kann das deshalb nicht so sagen, wie es korrekt sein soll", erwiderte Dustin.

"Okay, ich kriege dann übermorgen deinen Bericht. Viel Spaß bei der Familie. Kommst ja bestimmt noch rechtzeitig hin."

"Stimmt, war der einzige Grund, warum ich den Job hier gemacht habe. Dann mal Aloa!" sagte der Mann, der wie Dustin Maywood aussah und klang. Erleichtert steckte er das Mobiltelefon wieder fort. Gut dass Eartha die Jahrgangsfotos von Thorntails auswendig gelernt hatte und so Dustin Maywood erkannt hatte, dachte die als er herumlaufende Benedetta. Dann ritt sie der kleine rote Frechheitswichtel, das auszunutzen, dass sie zwei Stunden lang ein junger Mann war. Vielleicht hatte ihre Schwester Beata mal Lust auf eine ganz abgedrehte Art, ins neue Jahr zu rutschen.

Beata, die aber noch als vollschlanke ältere Muggelfrau herumlaufen musste, lachte aber nur. "Schwesterherz, ich liebe dich sehr. Aber ein Baby oder zwei will ich von dir garantiert nicht kriegen", sagte sie.

"Wann kriegen wir die Erinnerungen von Dustin, damit ich ihn noch einen Tag vertreten kann?" fragte Benedetta.

"Wenn Eartha das richtig mit ihm hinkriegt ist er morgen schon wieder frei."

"Sein Pech, dass er meinte, mit einer alten Antisonde zu uns zu kommen. Jetzt darf er Earthas Initiationsvollender sein", meinte Benedetta darauf.

"So'n Pech aber auch. Oder doch Glück?" musste Beata dazu loswerden. Benedetta grinste darüber nur und meinte, dass das Jahr für sie drei ja doch schon gut angefangen hatte.

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Julius hatte heute wieder einen Freien Tag, nachdem er zwischen Weihnachten und dem letzten Tag des Jahres Bereitschaftsdienst geleistet hatte. Langweilig war es ihm dabei nicht geworden. Denn Mademoiselle Maxime war aus den Pyrrenäen herübergekommen, um ihm zu berichten, wie es ihrer Tante und den im nächsten Jahr dazukommenden zwei Basen ging. Der kleine Riese Ragnar war nun in dem sogenannten kritischen Alter, wo er all zu gerne seine Körperkraft ausprobierte und dabei keine Rücksicht nahm, ob er damit jemandem weh tat oder ihn gleich umbrachte. Schrammen im Gesicht der ehemaligen Schulleiterin von Beauxbatons bestätigten, dass sie mit ihrem kleinen Vetter nicht wirklich viel Spaß hatte.

Léto war auch einmal herübergekommen, um Julius ein friedliches neues Jahr zu wünschen. Zwar ärgerte es sie immer noch, was Euphrosyne angerichtet hatte, hoffte aber, dass das kommende Jahr mehr Freude als Finsternis bringen mochte. Das erwähnte er auch Nathalie Grandchapeau gegenüber, die einen Tag vor Silvester zu ihm kam und sich die Zusammenfassungen der letzten Ereignisse berichten ließ. Dabei hatte sie ihm einen silbernen Ohrring an das linke Ohr gehängt, und er hatte ihren Herzschlag und Atem gehört, bevor die Stimme eines Jungen weit vor dem Stimmbruch sagte: "Ich habe mich zwar dran gewöhnt, dass ich noch etliche Jahre von Nathalie umgeben sein werde. Aber meinetwegen könnte diese Viertelveela schon morgen Oma werden."

"Ich hoffe, dir geht es trotz der platzarmen Unterbringung noch gut", sagte Julius, der das mit dem Ohrring bewunderte.

"Wenn meine künftige Mutter nicht andauernd dieses Zwiebelgemüse essen würde wäre das hier echt wie ein gemütlicher Schlafsack mit direkter Nahrungsversorgung. Mich ärgert nur, dass ich keine Freunde zum Spielen einladen kann."

"Den musste er mal wieder bringen", hatte Nathalie darauf geantwortet, die einen anderen silbernen Ohrring trug. Julius fragte sie, seit wann das Cogison entsprechend umgebaut werden konnte. "Das hat Ministerin Ventvit herausbekommen, dass es neuerdings Cogison-Ohrringe gibt. Schon praktisch, wenn nicht gleich jeder mithören musss, was der da bei mir unten drin so von sich gibt, wenn ich ihn lasse."

"Ich hoffe, dass Sie trotz dieser Lage bald wieder aus dem Verborgenen herauskommen können", hatte Julius gesagt.

Die letzte Amtshandlung im Jahr 2002 war die Beantwortung eines Briefes aus Deutschland gewesen. Das dortige Zauberwesenbüro hatte von ihm noch einmal eine Einschätzung bekommen, für wie gefährlich er die wiedererwachten Abgrundstöchter hielt. Wenn er daran dachte, dass drei von denen in diesem Jahr wiedererwacht waren und seine Tante Alison zum neuen Körper für die von Errithalaia losgelöste Seele Lahilliotas geworden war ...

Wie bereits die letzten Male durfte er am morgentlichen Besenflug zur Vertreibung der bösen Geister des nächsten Jahres teilnehmen. Zwar hatte das seiner Meinung nach im letzten Jahr nur begrenzt geklappt. Aber da Vengors Plan nicht aufgegangen war lohnte es sich eben doch, diese Tradition beizubehalten. So war er mit scheppernden und mit Glocken behängtem Besen mehrmals über seine Heimatsiedlung Millemerveilles hinweggebraust und hatte sich mit den anderen Mitfliegern wilde Kunstflugwettbewerbe geliefert.

Am letzten Abend des Jahres saßen sie wieder an den Tischen im Musikpark. Das von vorne wie von hinten lesbare Jahr würde nur noch zwei Minuten dauern. Es hatte eine Menge neues gebracht, leider mehr dunkles als helles. Zu den hellen Sachen zählte Julius die Geburt seiner Tochter Chrysope, sowie die Geburten von Rosey Dawn und Leonidas Brocklehurst. Ebenso empfand er es als sehr erfreuliche Tatsache, dass er Kontakt mit den Sonnenkindern bekommen hatte und dass er mithelfen durfte, dass viele Hexen und Zauberer friedlich mit Zauberwesen leben konnten. Seine drei Halbgeschwister stufte er als erzwungene Neuerung ein. Zu den dunklen Sachen zählte er die wiedererwachten Abgrundstöchter und deren Urmutter, die jetzt im Körper seiner Tante Alison herumlaufen durfte, sowie die vielen hundert Toten, die auf das Konto von Lord Vengor, seinen Handlanger Pickman und den Schattenträumer Kanoras gingen. Am Ende waren diese ganzen Menschen für nichts und wieder nichts gestorben. Das musste dann auch noch als Glücksfall angesehen werden, weil Vengor ja auch seine Welteroberungspläne hätte durchziehen können. Beinahe hätten sie einen skrupellos dünkelhaften neuen Zaubereiminister bekommen, und das nur, weil Armand Grandchapeau es sich mit einer wütenden Viertelveela verdorben hatte. Julius dachte dabei daran, dass dieses hinterlistige Frauenzimmer auch ihn auf diese Weise hätte "segnen" können. Was sein Verhältnis zu Vita Magica anging hatte er Probleme, sie als gefärhliche Kriminelle einzuordnen, auch wenn sie vor seinen Augen mehrere erwachsene Kollegen in hilflose Säuglinge zurückverwandelt hatten. Mit ihnen sympathisieren wollte er aber auch nicht. Dafür war ihm das zu gegenwärtig, was sie mit Gérard Dumas angestellt hatten und wie respektlos sie mit allen Hexen und Zauberern umsprangen, die sie zu Eltern neuer Zaubererweltkinder machen wollten. Insofern betraf es ihn in vieler Hinsicht, was diese Gruppierung plante oder schon ausführte.

Die letzten sechzig Sekunden des Jahres vergingen. Zehn Sekunden vor der Sekunde null verstofflichten sich gefüllte Sektgläser frei in der Luft. Dabei hatte wer auch immer diesen Zauber wirkte daran gedacht, dass es wieder einige schwangere Hexen gab, die keinen Alkohol trinken durften.

Als dann mit lautem Getöse das Feuerwerk losging, wie üblich die Zuständigkeit von Florymont Dusoleil, freute sich Julius darüber, mit denen zusammen zu sein, mit denen er glücklich und friedlich leben konnte. Hier in Millemerveilles war er zu Hause. Hatte er das schon gewusst, als er das allererste Mal hergekommen war?

"Prosit Neujahr, mein Angetrauter und geliebter Gatte", sagte Millie, stieß mit ihrem Traubensaftglas mit seinem Sektglas an und küsste ihn auf beide Wangen. Dem schloss sich gleich darauf Sandrine Dumas an, die sich noch mal dafür bedankte, dass er sie auf dem laufenden hielt, was den kleinen Stephen Moonriver anging. Dann durften Jeanne und ihre Schwester Denise ihm ein frohes neues Jahr wünschen. Anschließend konnte er einigen der Nachbarn ein schönes 2003 wünschen. Die neue Jahreszahl flammte bereits in Form von vielen hundert Leuchtkugeln golden am Himmel.

"Es war doch eine nette Idee von Catherine, dass ich das hier unbedingt mal mitfeiern sollte", sagte Laurentine Hellersdorf. Julius wollte sie nicht fragen, wie sie sich im Bezug auf ihre Zukunft entschieden habe, ob sie im nächsten Schuljahr nach Beauxbatons zurückkehren würde oder weiterhin die Grundschüler in Millemerveilles in Lesen, Rechnen und magielosen alltagsdingen unterrichtete.

Als Julius und Millie gegen zwei Uhr wieder in ihrem Haus waren erzitterte das von ihm getragene Orichalkarmband, und vor ihnen beiden schwebte die räumliche Nachbildung von Aurora Dawn. "Wir hatten ja schon unseren Jahreswechsel. Aber ich wollte solange warten, bis ihr auch soweit seid", sagte Aurora und präsentierte dann ein kleines Bündel Menschenleben. "Falls ihr möchtet und dürft, laden Rosey und ich euch für das zweite Januarwochenende in meine Niederlassung in Sydney ein. Auch wenn sie hier als Pflegekind eingestuft wurde möchte ich ihre Ankunft doch traditionsgemäß feiern. Na, den großen und die andere große lernst du dann auch kennen", sang sie. Das kleine Mädchen, in dem durch uralte Magie der Geist von Heather Springs eingebettet war, sah Millie und Julius sehr aufmerksam an. Ja, mit bald acht Lebenswochen war das mit dem Sehen schon besser als gerade erst geboren.

"Ich darf demnächst nicht mehr flohpulvern, sagt meine Vertrauensheilerin", sagte Millie. Dann werden wir wohl wieder mit dem Schiff rüberkommen."

"Oh, das du mich drauf bringst, Millie. Sage deiner Tante Béatrice bitte, sie sei auch eingeladen. Laura Morehead möchte gerne mit ihr über ihre Theorie reden, die sie im Heilerherold veröffentlicht hat."

"Die Theorie, dass die Wirkung von Alraunensaft durch das Öl von Riesensonnenblumenkernen verzehnfacht wird und damit die Dosierung bei Verwandlungsflüchen entsprechend klein gehalten werden kann?"

"Genau, Julius. Du liest also doch noch den Heilerheroldd?" fragte Aurora Dawn. Julius nickte.

"Sage das der guten Laura nicht. Die weiß übrigens, dass ihr das wisst, wessen Eltern die kleine Rosey waren, bevor ich sie in jeder Hinsicht bei mir untergebracht bekam. Aber macht da bitte kein Gerede drum, wenn die anderen kommen!"

"Versprochen", sagte Julius. Millie schloss sich dem an.

ENDE

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