PFADE ZUR MACHT

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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P R O L O G

Die magische Welt steht vor einer grundlegenden Neuordnung. Zum einen trachten verschiedene außergesetzliche Gruppierungen danach, die Welt in ihrem Sinne umzuformen, zum anderen hat der verhängnisvolle Alleingang von frankreichs Zaubereiminister Grandchapeau eine Neuwahl um sein Amt erforderlich gemacht. Des weiteren erfährt die magische Menschheit, dass die jüngste sogenannte Abgrundstochter aus jahrtausendelangem Zauberschlaf erwacht ist und sowohl in Gestalt einer überragend schönen Frau, wie auch in Gestalt eines ungeheuergroßen Käfers Angst und Schrecken verbreitet. Sie trachtet danach, die Herrin aller Abgrundsschwestern zu werden, ja diese körperlich zu töten, um deren Seelen in sich aufzunehmen und wie die Seele ihrer eigenen Mutter in sich einzuschließen. Ihre wachen Schwestern versuchen, sie davon abzubringen. Dabei greift Itoluhila, die auch als schwarzer Engel in der magielosen Welt Macht ausübt, zu einem drastischen Mittel. Sie lockt Julius Latierre in das Haus seiner Tante Alison. Diese hat Itoluhila bereits seelisch unterworfen. Auch Errithalaia, die wiedererwachte jüngste Abgrundsschwester, fliegt zu diesem Haus. Es kommt zu einem Kampf zwischen ihr und Itoluhila. Nach diesem stellt sie sich Julius Latierre, der sie nur Dank des Felix-Felicis-Trankes und dem von Camille Dusoleil entliehenen Heilsstern Ashtarias zurückdrängen kann. Dass dabei die in Errithalaias Körper eingeschlossene Präsenz ihrer Mutter Lahilliota freigesetzt wird bekommt er nicht mit. Außerdem ist für ihn im Moment auch wichtig, wer von den vier Kandidaten das Rennen um das Amt als neuer Zaubereiminister macht. Der Wahlkampf tritt in seine entscheidende Phase.

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auf der Segelyacht "Golden Mermaid", knappe 30 Seemeilen südöstlich der Hudsonmündung


23. August 2002, 23:00 Uhr Bordzeit

"Bubbley, hol ihn ab!" befahl der Mann, der gerade mit einem Zauberstabwink den Anker ausgeworfen hatte. Hier war das kleine Segelschiff richtig, um den nächtlichen Besucher an Bord zu holen. Ein Wesen, kaum so hoch wie die Beine des Befehlenden lang waren, nickte heftig und verbeugte sich. Seine fledermausartigen Riesenohren flatterten dabei im Licht von Mond und Sternen. Ohne eine gesprochene Antwort verschwand das Wesen mit leisem Plopp im Nichts. Darauf war der in wasserabweisende Kleidung gehüllte Mann stolz. Er hatte einen von nur zehn Hauselfen weltweit, die gerade mal so laut wie das dezente Entkorken einer Weinflasche diesapparieren und apparieren konnten. Er hatte schon die richtige Frau geheiratet, stellte er einmal mehr fest. Denn die Greendales hatten es hinbekommen, solche Elfen zu züchten. Allerdings vergaben sie sie nur an direkte Anverwandte oder besonders großzügige Gönner. Sogesehen war er beides.

Mit einem Geräusch wie zwei zeitgleich entkorkte Magnum-Champagnerflaschen reapparierte Bubbley keine zwanzig Sekunden später wieder. Und er war nicht allein. An der linken hand hielt er krampfhaft einen großen, fülligen Mann im dunklen Umhang.

"Bubbley, zurück ins Haus, bis ich dich wieder rufe!" befahl der Herr des Hauselfen. Dieser nickte erneut und verschwand wieder, diesmal wesentlich leiser ploppend.

"Ui, so einen Leisespringer hätte ich auch gerne. Öhm, verzeihung, bitte um Erlaubnis, an Bord kommen zu dürfen!" sprach der von Bubbley herbeigeholte im Flüsterton, um mögliche Mithörer nicht zu leicht auf seine Stimmlage schließen zu lassen.

"Wenn Sie nicht an Bord kommen dürften hätte ich meinem Hauselfen sicher nicht befohlen, Sie herzuholen", erwiderte der Bootsbesitzer. Dann sprach er doch noch die übliche Antwort aus: "Erlaubnis erteilt." Danach begrüßte er den Besucher mit Handschlag und musste sich sehr beherrschen, nicht aufzustöhnen, als der Besucher seine Hand fast in der eigenen großen Hand zerdrückte. "Wir landen gleich in der Bucht von unserem eigentlichen Ziel. Da sind wir unabhörbar und unortbar." sagte Bubbleys Herr und Meister. Ab jetzt galt es. Er würde sich auf diesen windigen, schmalen Grad begeben und hoffen, dass der Gewinn wirklich weit über dem einzugehenden Risiko lag.

Der Anker wurde wieder eingeholt, und das kleine Segelschiff glitt nahezu geräuschlos weitere zwei Seemeilen Richtung Ostsüdost. Der besucher, der selbst ein verdammt hohes Risiko einging, indem er sich in dieser Nacht auf dieses Schiff begeben hatte, schwieg. Seine Augen suchten krampfhaft nach einem Flecken Land. Doch da war nichts. Der Besitzer der Yacht grinste feist im fahlen Mondlicht. Dann klopfte er dreimal aufs Ruder. Da flimmerte die Luft vor dem Bug, und wie appariert lag ein kleines Eiland vor ihnen. Silberweiß schimmerte die Brandung im Mondlicht. Und jetzt konnten sie die an- und abrollenden Wassermassen auch hören.

Die Insel war eindeutig ein gerade nicht tätiger Vulkan. Das konnte der lange Zeit auf einer Vulkaninsel arbeitende Besucher sofort erkennen. Allerdings vermisste er einen sichtbaren Schlot. Dafür Bestand der Saum der beinahe kreisrunden Insel aus Sandstrand. Zur Mitte hin konnte er Gewächse sehen, aber bei der Dunkelheit nicht klar erkennen, ob es Bäume oder Palmen waren. Dann glitt die Segelyacht noch näher. Bubbleys Meister winkte einer im Mondlicht glitzernden Kugel auf dem Bug zu. Diese löste sich aus ihrer Halterung, schwebte einige Zentimeter aufwärts und erstrahlte dann in der selben silberweißen Pracht wie der Mond, nur ohne dunkle Stellen und auch fünfmal so hell wie dieser. Nun konnte der Besucher erkennen, dass die hohen Gewächse hinter der weißen Sandstrandzone wahrhaftig Palmen waren, die in vier konzentrischen Kreisen den Hang des Kegels umstanden. Im nun weiter aufs Land reichendem Zauberlicht der künstlichen Mondkugel sah der heimlich an Bord gelangte Fahrgast, dass auf dem Gipfel des Vulkankegels ein von einer quadratischen Mauer umfriedetes Anwesen lag. Mittelpunkt des mit Bäumen bepflanzten Grundstückes war ein Bauwerk wie ein kleines Schloss. An jeder der vier Ecken ragte ein kleiner, runder Turm in den Himmel. In der Mitte des Rückgratartigen Daches erhob sich sogar ein schlanker Turm in den Himmel, der die hinter dem Strand stehenden Palmen um das doppelte überragte. Als die Yacht noch näher an die aus dem Unsichtbaren gelöste Insel heranglitt spiegelte sich das künstliche Licht in den Fenstern und der wohl aus poliertem Metall bestehenden Turmspitze.

"Oh, sowas sieht man außerhalb Europas höchst selten. Privatbesitz oder geheime Zuflucht für verdiente Staatsbeamte?" wollte der Besucher wissen.

"Privateigentum. Schon praktisch, so einen Zufluchtsort zu haben. Vor allem kann mich und die, die dauerhaft bleibeberechtigt sind niemand dort stören oder gar angreifen. Denn nur wen ich selbst durch Körperkontakt und Namensnennung ankündige, kann mit mir zusammen Roderics Ruhesitz betreten. Zu wissen, wie die Insel heißt wird Ihnen nichts nützen. Denn sobald sie die Sichtbarkeitsgrenze seewärts durchfahren oder durchschwommen haben ist die Insel für Sie nicht mehr auffindbar."

"Zutrittsbeschränkungszauber? Alle Achtung!" lobte der an Bord geholte Besucher. Dann landete das an der Unterseite flache Segelschiffchen leise knirschend in einer kleinen, etwa fünfzig Meter in die sonstige Strandlandschaft einschneidenden Bucht.

"Ich zuerst", legte der Eigner fest und ließ mit einem Zauberstabwink eine gerade mannsbreite Laufplanke auslegen, die genau am Fuß einer sich serpentinenartig den Vulkankegel hinaufwindenden Treppe zu liegen kam.

"Geht der Kapitän nicht immer als letzter von Bord?" fragte der Besucher immer noch eher flüsternd. Der Schiffseigner lachte darüber nur und verließ die Yacht über die Planke. Als er den Boden der Insel betrat winkte er dem anderen zu, ihm zu folgen. Das passierte auch. Allerdings durfte der andere erst von der Planke heruntertreten, als der Besitzer des kleinen Schiffes ihm die Hand gab und laut vermeldete, wen er nun an Land bringen wolle. Dann erst konnte sein Besucher die Insel betreten.

"Was würde passieren, wenn ich ohne Ihre direkte Berührung und ohne klare Ankündigung hier von Bord gegangen wäre?" fragte der Besucher nun mit lauter Stimme. An ihm war ein Opernbass verloren gegangen, dachte der Eigner der "Golden Mermaid". Doch er beantwortete die Frage: "Das wollen Sie nicht wirklich wissen. Insofern ist es auch gut, dass ich Ihnen das nicht verraten will. Aber wie gesagt, Sie wollen das nicht wissen und erst recht nicht ausprobieren. Wichtig ist nur, dass Sie nur solange auf dieser Insel bleiben können, bis das Hauptgestirn, dass beim Betreten am Himmel stand, unter den Horizont versinkt. Da dies in Ihrem Fall der Mond ist haben wir also gerade noch bis zu seinem Untergang Zeit. Also folgen Sie mir bitte in die Villa Vista del Mar!"

Über die Serpentinentreppen ging es den steilen Kegelhinauf. Dass hier Palmen wuchsen faszinierte den Besucher. Er dachte aber daran, dass er gerade auf einem Vulkan herumlief. Hoffentlich kam der nicht auf die Idee, heute Nacht wieder auszubrechen. Doch sie hatten Glück. Der Vulkan schlief friedlich weiter, grummelte noch nicht mal oder ließ Dampf ab.

Die letzte Hürde war das zweiflügelige Eisentor in der Mauer. Es tat sich erst auf, als der Gastgeber mit dem Zauberstab schnell hintereinander mehrere Steine im Rahmen beklopfte. "Ohne die gedachten Passwörter oder Gedankenbilder kriegt keiner dieses Tor auf. Seine Stahlelemente sind in Drachenfeuer entstanden. Darüber hinwegzufliegen gelingt auch nicht, weil Sharidans Netz ausgespannt ist. Das dürfte Ihnen sicher bekannt sein, wo Ihre Landsleute es ja auch bei der Quidditch-Weltmeisterschaft eingesetzt haben, um den Verkauf von Eintrittskarten abzusichern. Apparieren geht hier übrigens auch schief. Das gilt sogar für Hauselfen. Denen würde nämlich das passieren, was allen unangemeldeten und nicht durch Körperkontakt zutrittsberechtigt erklärten passiert."

"Ja, dass sie von einem Feuerball direkt aus dem Vulkan eingeäschert werden", sagte der Besucher.

"Ja, das oder eben das, was üblicherweise passiert. Bitte unterlassen Sie solche Versuche, wenn Sie und ich weiterhin sehr gut miteinander zurechtkommen wollen! Ich darf Sie schließlich daran erinnern, dass Sie mich um Unterstützung gebeten haben."

"Wofür ich Ihnen durchaus auch etwas sehr gutes anbiete, werter Sir", knurrte der Besucher.

Als sie die herrschaftliche Villa im Zentrum eines mit Tropenbäumen, Springbrunnen und Teichen ausgestalteten Gartens betraten, wusste der Besucher, dass sein Gastgeber tatsächlich auch ohne seine gegenwärtige Anstellung auftrumpfen konnte. Er entsann sich, dass sein Gastgeber die Tochter von Flavius und Izadora Sweetwater geheiratet hatte und dass Izadora eine geborene Greendale war und die weiblichen Mitglieder der Greendales allesamt sehr wohlhabende aber auch dominante Hexen waren. Womöglich musste sein Gastgeber auf eine Menge Freiheiten verzichten, um diesen Prunk und diese Raumgrößen benutzen zu dürfen.

"Kommen Sie bitte! Im Fürstensaal ist der richtige Ort, um uns zu besprechen", drängte der Gastgeber seinen Besucher zur Eile.

Der Fürstensaal hieß nur so. Hier hatte im Leben kein Fürst Hof gehalten, dachte der Besucher. Doch die an den Wänden hängenden Gemälde, die hinter bis zum Boden reichenden Samtvorhängen halbverdeckten Spiegel und die an jeder Wand je zehn blitzblank polierten Ritterrüstungen beschworen schon einen Hauch von royaler Selbstdarstellung, wie der Besucher sie in Versailles und den Schlössern an der Loire ausgiebig studiert hatte.

Sie nahmen an einem ovalen Tisch an der der großen Haupttür gegenüberliegenden Wand platz. Durch die auf halber Saalhöhe angebrachten Panoramafenster fiel das Mondlicht herein. Doch als der Gastgeber saß flammten die Kerzen in den fünf an der vier Meter hohen Decke hängenden Kronleuchtern auf.

Nun, wo die Beleuchtung fast so hell wie ein schöner Frühlingstag war, konnten sich die beiden Männer genauer betrachten. Der Gastgeber trug einen wasserblauen Umhang und um den Hals ein saphirblaues Tuch. Der gast trug einen violetten Umhang, der sich aber sehr um den prallen Bauch des Mannes spannte.

"Nun", begann der Gastgeber das eigentliche Gespräch, "Sie haben mich gefragt, ob ich ihnen helfen kann, meinen Einfluss in Mittel- und Südamerika zu nutzen, um Ihren Landsleuten bessere Zugangsmöglichkeiten zu gewähren. Im Gegenzug bieten Sie mir an, die leidige Personalie zwischen dem französischen und amerikanischen Zaubereiministerium zu beenden und außerdem diverse bei Ihnen hergestellte Artefakte kostengünstig an das amerikanische Zaubereiministerium zu übersenden, wie die Rückschaubrillen, die Duotectus-Anzüge, die Blitzerwalzen zur Abwehr angriffsbereiter Raubfische und noch so das eine oder andere, wo von wir bisher nicht gesprochen haben, richtig?" Der Besucher schluckte, nickte dabei aber bestätigend. Dann sagte der Besucher:

"Nun, das kann und werde ich natürlich erst und nur dann, wenn ich Erfolg haben werde, Sir." sagte er mit leicht heiserer Stimme. Der Gastgeber erkannte, dass es seinem Besucher die Spucke verschlagen und den Hals ausgedörrt haben musste, so direkt auf seine Anliegen und Angebote angesprochen worden zu sein. Mit einer Mischung aus leichtem Mitleid und Verachtung dachte er daran, ob sein nächtlicher Gast überhaupt fähig war, das angestrebte Amt zu versehen. Doch für ihn stand einiges in Aussicht, und so verbarg er seine abschätzige Haltung hinter einem freundlichen Lächeln. "Ich vergaß meine Pflicht." Mit diesen Worten zielte er mit dem Zauberstab auf die Tischmitte. Mit leisem Plopp entstanden zwei goldene Kelche und eine bis zum Rand gefüllte Kristallkaraffe mit Rotwein. "Ich habe heute Abend einen unserer besten Weine aus dem Nappa-Tal in Kalifornien dekantiert. Ich weiß, dass Sie ihn mögen, obwohl Sie das Ihren Landsleuten gegenüber tunlichst verschweigen."

"Dann wissen Sie eigentlich schon mehr, als mir lieb sein kann", grummelte der heimliche Besucher. Doch dann nahm er das Angebot an und ließ sich von seinem Gastgeber einschenken. Als beide Wein in den Kelchen hatten tranken sie einander zu. Dann wartete der Gastgeber, bis sein Besucher genug getrunken hatte, um wieder mit klarer Stimme sprechen zu können.

"Ihnen ist klar, dass ich selbst ein hohes Risiko eingehen muss, wenn ich Ihnen helfe?" fragte der Zutrittsberechtigte der Villa Vista del Mar. Sein Gast nickte. Natürlich war ihm klar, worauf sich sein Gesprächspartner einlassen musste. "Gut, dann erörtern wir die Einzelheiten. Wie erwähnt haben wir gerade die Zeit, die der Mond am Himmel zu sehen ist. Im Sommer ist das natürlich kürzer als im tiefsten Winter", scherzte der Gastgeber. Dann kam er aber sogleich auf die wesentlichen Punkte dieser geheimen Unterredung.

Eine breite Pergamentrolle erschien auf einen erneuten ungesagten Zauber in der Luft schwebend. Daneben trudelten ein Tintenfass, ein elfenbeinerner Federhalter mit zwei goldenen Falkenfedern, sowie eine himmelblaue Flotte-Schreibefeder. Als sich die Pergamentrolle zu einem siebzig Zentimeter breiten und an die zwei Meter langen Pergamentbogen ausgerollt hatte stierte der Besucher auf die in smaragdgrüner Tinte auf dem ihm zugewandten Rand prangende mehrzeilige Überschrift. Er erbleichte erst. Doch nach fünf Sekunden erkannte er, dass der andere sich nicht unabgesichert auf irgendwas einlassen würde. Er hätte wohl genauso gehandelt. Doch er musste daran denken, dass dieses Pergamentstück da vor ihm nicht wesentlich ungefährlicher als der unbrechbare Eid war, aber genauso bindend war, wenn es einmal die Unterschriften der in seiner Sichtweite sprechenden Personen trug. Außer der für den Gast so viel Unbehagen enthaltenden Überschrift stand jedoch nichts weiteres auf dem Pergamentstück.

Nun erörterten die beiden heimlichen Gesprächsteilnehmer, was sie voneinander erwarteten und wie der eine dem anderen Beistehen und zuarbeiten sollte. Die flotte Feder schrieb nicht alles sofort auf, wie es ihre Artverwandten sonst taten, sondern flitzte nur dann über das Pergamentstück, wenn sie von beiden Sprechenden mit einem "Ich bin damit Einverstanden" die klare Genehmigung erhielt. Es waren auf jeder seite zehn Punkte, die aufgeschrieben wurden.

Als sie nach knapp zwei Stunden besprochen hatten, wie der eine dem anderen Helfen sollte las der Besucher noch einmal die genehmigten Passagen. Ja, er war schon damit einverstanden, dass Martha Merryweather gemäß dem Status ihrer Ehe und der gerade von ihr getragenen Kinder eine vollwertige US-Bürgerin war und dass im französischen Zaubereiministerium nur Ffranzösische Staatsangehörige arbeiten durften. Ebenso ging für ihn völlig in Ordnung, dass er bei erfolgreichem Abschluss seines Vorhabens hundert Duotectus-Anzüge, zweihundert Rückschaubrillen und fünfzig Blitzerwalzen an das US-Zaubereiministerium aushändigen sollte. Hinzu kam noch eine Summe von 10000 Galleonen für das von Vita Magica erbeutete Wissen um Herstellung und Arbeitsweise des Lykanthroskops. Das, so der Besucher, würde wohl nicht mit dem bisherigen Leiter der Handels- und Finanzabteilung zu machen sein. Ebenso musste er zusagen, dass der bisher noch nutzbare Ausgangskreis für magische Reisespähren bei New Orleans dauerhaft stillgelegt wurde, so dass Besucher aus Europa nur noch über die Schifffahrtslinie des Fliegenden Holländers oder das internationale Flohnetz Zutritt zum Hoheitsgebiet der vereinigten Staaten erhielten. Dafür sollte der Besucher die uralten Pläne zur Einrichtung und Verknüpfung solcher Reisesphärenverbindungen mit dem US-amerikanischen Zaubereiministerium teilen, obwohl hierbei zu klären war, wie an die Pläne heranzukommen war, da diese in Beauxbatons aufbewahrt und dort unter Sicherheitsverschluss gehalten wurden. Doch dafür bekam er tarnflugfähige Harvey-Besen, dreißig Cogisons und, wenn das gesetzliche Wartejahr um war und der bisherige Eigentümer der Firma Blauer Vogel offiziell für tot erklärt werden konnte, , mindestens zwei Busse der Art, wie sie in den Staaten unter dem Firmennamen Blauer Vogel herumfuhren. Dazu würde er auch ein schneller als der Schall durch die Luft gleitendes Luftschiff zur alleinigen Verfügung erhalten. Außerdem wollte der Gastgeber seinem Besucher helfen, den Einfluss in Südamerika auszudehnen, um die immer mal wieder aufkommenden Schwierigkeiten mit den Zaubereiministerien Brasiliens und Argentiniens zu lösen. Dann gab es noch ein paar Punkte von eher untergeordneter Wichtigkeit, die beide auch ohne dieses vorbehandelte Pergament gut erfüllen konnten. Der wichtigste Punkt war, dass der Besucher garantierte, zum neuen Zaubereiminister Frankreichs gewählt zu werden. Der Gastgeber versprach, die von ihm genehmigten Punkte zu erfüllen, sobald sein Gast der neue französische Zaubereiminister geworden sei. Dann unterschrieben beide mit den goldenen Federn und der smaragdgrünen Tinte. Kaum, dass die beiden Männer ihre vollständigen Namen unter den letzten von der Feder gezogenen Strich gesetzt hatten, flammte die Überschrift auf dem oberen Pergamentrand grün auf:

Ein Tag an Zeit sei eingeräumt
für den, der seinen Teil versäumt.
Doch dann sein Leben sei verwirkt,
wenn nicht getan was er verbürgt

Die beiden Männer starrten auf die lodernden Lettern, die fünfmal so groß wie die von der Feder notierten Buchstaben waren. Ihr Blick konnte sich nicht von den smaragdgrünen Schriftzeichen lösen. Das Pergament selbst brannte nicht. Doch es glomm gespenstisch im Widerschein der brennenden Buchstaben. Aus den brennenden Buchstaben entstigen nun Rauchwölkchen, die sich über dem Pergament zu einer großen Wolke zusammenfügten. Die beiden Gesprächspartner blickten immer noch auf die brennende Überschrift. Dann erlosch diese übergangslos. Zeitgleich entfiel der Wolke eine haargenaue Nachbildung des beschriebenen pergamentes.

"Sie mögen wohl denken, ich trüge ein größeres Risiko als Sie, werter Minister Cartridge. Aber wenn Sie nicht liefern, was Sie mir zugesagt haben, überleben Sie genausowenig einen vollen Tag wie ich, wenn ich meine Zusage nicht einhalte."

"Nun, ich kann von bereits sicheren Grundlagen ausgehen. Sie müssen Ihre Grundlage erst schaffen, Monsieur", erwiderte der Gastgeber unbekümmert dreinschauend. Vergessen Sie nicht, dass Sie es garantieren, dass Sie der neue Zaubereiminister werden."

"Meine Strategie ist nun so wasserdicht und gegen jede Abweichung sicher. Die nötige Mehrheit ist mir jetzt schon sicher", sagte der Besucher verdrossen, als wolle er den anderen dafür tadeln, ihm das nicht zuzutrauen. Doch Cartridge hörte sehr wohl das gewisse Unbehagen heraus. Denn wenn sein heimlicher Vertragspartner nicht zum Zaubereiminister wurde, war das schon ein Verstoß gegen den Vertrag. Der Preis dafür war sein Leben, dass nach einem Tag nach der Vertragsverletzung enden würde. Der eine Tag war deshalb von Cartridge eingeräumt, weil der vertragsbrüchig zu werden drohende noch eine Möglichkeit zur Einlösung seiner Verpflichtung haben sollte. Bei einer gescheiterten Wahl war das jedoch höchst fraglich, ob der andere da noch was gegen tun konnte. Doch für Cartridge stand zu viel auf dem Spiel. Er wollte mehr Einfluss auf die europäische Handelspolitik. Wenn das in Frankreich ging, wo noch eine Kolonie vor der südamerikanischen Atlantikküste bestand, so gelang ihm das eventuell mit dem künftigen Nachfolger Shacklebolts. Shacklebolt selbst so einen Vertrag unterschreiben zu lassen erschien Cartridge zu diesem Zeitpunkt sehr unwahrscheinlich. Der ehemalige Kämpfer gegen dunkle Magier würde niemals ein derartig vorbehandeltes Pergament unterschreiben.

"So, Monsieur, da Sie und ich nun Vertragspartner auf Lebenszeit sind dschlage ich vor, dass wir dieses Geschäft noch einmal richtig begießen. Dann bringe ich Sie mit meiner Yacht wieder auf die offene See hinaus und lasse Sie von meinem verschwiegenen Elfen in ihren derzeitigen Wohnsitz zurückbringen. Ich hoffe, Sie wurden in der Zeit nicht vermisst."

"Ich habe dafür gesorgt, dass mich keiner in den zwölf Stunden sucht, die ich für unser Treffen eingeräumt habe", schnarrte der Besucher.

Wie erwähnt brachte Cartridge seinen heimlichen Gast wieder von der Insel fort, noch bevor der Mond unter den Horizont sank. Bubbley, der "Leisespringer", beförderte den Gast mit seiner Kopie des magischen Vertrages zurück an dessen Ausgangsort. Kaum war der andere weg schickte Cartridge eine Gedankenbotschaft an seine Frau:

"Goddy, Schätzchen, er ist sich seiner Sache sicher. Er hat den Vertrag unterschrieben, den ich ihm unter die lange Nase gehalten habe. Ich fahre jetzt wieder zurück."

"Und wenn er den Vertrag nicht erfüllen kann, Milton?"

"Fällt er einen Tag nach der Nichterfüllung da um, wo er gerade steht", mentiloquierte Cartridge seiner Frau. Diese goldenen Herzanhänger waren ihr Geld wert. So konnte er mit ihr sogar vom Mond aus Gedankensprechen, falls er den Muggeln nachahmen und ein eigenes Mondschiff zum Erdtrabanten schicken wollte.

"Dann komm wieder zurück. Die Kinder warten schon auf dich, und wenn ich richtig gehört habe will Prinzipalin Wright morgen Früh noch mal mit dir wegen der bevorstehenden Anbauten bei Thorntails reden."

"Die sind doch erst in elf Jahren nötig", erwiderte Cartridge rein gedanklich.

"Ja, aber die Schulhäuser müssen so früh wie möglich erweitert werden. Du weißt, wie aufwendig es sein kann, jeden einzelnen Raum oder Gang mit Rauminhaltsveränderungszaubern, Zugangsänderungszaubern und was noch alles zu belegen. Du hast mir doch gesagt, wie sehr Prinzipalin Wright darauf besteht, dass die äußeren Abmessungen der Häuser nicht vergrößert werden dürfen."

"Es hat sieben Jahre gedauert, Thorntails mit allen Schutz- und Hilfszaubern zu errichten", erwiderte Cartridge rechtschaffen aufgebracht.

"Genau deshalb könnte die weißhaarige Lady darauf bestehen, den gleichen Zeitraum vor Bedarfseintritt mit dem Umbau anzufangen, zumal die Umgestaltungen ja nur in den Schulferien stattfinden dürfen."

"Natürlich", gedankenknurrte Cartridge. Seine Frau hatte die Bauzaubererfähigkeiten ihres Vaters geerbt und das Gespür für ineinander verflochtene Zauber von ihrer Mutter. Sie hatte zum Donnervogel noch mal recht. Das gestand er ihr auch ein.

Während der Rückfahrt dachte er daran, worauf er sich eingelassen hatte. Wenn Godiva ihm nicht zugeredet hätte, so zu formulieren, dass er nur dann alle Zusagen einhalten musste, wenn der andere Zaubereiminister war, dann hätte er sich nicht auf dieses heikle Manöver eingelassen. Allerdings durfte es auch nicht bekannt werden. Das würde erst seinen politischen und bei einem Wahlerfolg seines nächtlichen Gastes nur einen Tag später auch seinen körperlichen Tod bedeuten. Er war froh, dass er einen solchen Vertrag nicht mit der Führerin der Spinnenschwestern geschlossen hatte und diese bisher auch nicht auf eine Erneuerung dieses fragwürdigen Burgfriedens bestand. Aber das konnte noch mal wichtig werden, wenn sich die Lage weiter so entwickelte. Jetzt war auch noch dieser schwarze Riesenkäfer aufgetaucht und damit eine unberechenbare, mächtige Gegnerin, von der er nicht wusste, wie er sie finden und erledigen konnte. Am Ende brauchte er ein internationales Netzwerk skrupelloser Hexen und Zauberer, um diese Gefahr von seiner geliebten Heimat fernzuhalten, falls dafür überhaupt noch Zeit war.

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Im Hauptquartier des Spinnenordens in der alten Daggers-Villa bei Dropout, Mississippi


24. August 2002, 11:00 Uhr Ortszeit

Sie standen einander gegenüber, die überaus attraktive Hexe mit blaßgoldener Hautfarbe, grünblauen Augen und dunkelblondem Haar und die kleine, leicht verknöchert wirkende Hexe mit flachsblonder Kurzhaarfrisur und graublauen Augen. Sie sahen sich gegenseitig an. Die Oberste der Spinnenschwestern versuchte, in die tieferliegenden Erinnerungen der anderen vorzustoßen. Doch ein enervierendes Kribbeln in ihren Augen brachte sie dauernd aus der Konzentration. Die andere grinste verwegen und ließ das linke Auge kurz wild herumwirbeln, dass die pechschwarze Pupille beinahe einen geschlossenen schwarzen Kreis zeichnete. Dabei hörte Anthelia die worthaften Gedanken der anderen: "So, das klappt also auch bei ihr."

"Legilimentieren kann ich dich offenbar nicht, Schwester Albertine. Aber was du denkst höre ich wohl immer noch."

"Wäre auch zu schön gewesen", dachte Albertine Steinbeißer und richtete ihr linkes Auge wieder normal aus, zumal ihr bei diesem Versuch fast schwindelig geworden war. "Immerhin hat dein Bergesteinchen mich davor bewahrt, dich und uns anderen zu verraten."

"Der Verschlussstein der großen Mutter Erde ist schon was wert. Offenbar gibt es gewisse Abwandlungen davon. Aber das war das Original", sagte Anthelia. Dann begrüßte sie Albertine Steinbeißer mit einer kurzen Umarmung und Wangenküssen. Sie wusste, dass Albertine gerne wesentlich mehr von ihr haben wollte. Doch das kam für die zwar freizügige, aber geschlechtlich eindeutig auf männliche Gespielen ausgelegte Hexe nicht in Frage.

"War schon eine sehr brauchbare Sache, dich in der Wurzelmannklinik zu besuchen, als du deine neuen Augen erhalten hast. Die Alarmzauber sind nur auf direkten magischen Zutritt oder Zugangsversuche durch Fenster und Türen ausgelegt", erwiderte Anthelia überlegen lächelnd. Dass jemand tief unter der Erde heranrasen und dann wie ein Taucher durch die Oberfläche an die Luft kommen konnte war den Betreibern des deutschsprachigen Zauberkrankenhauses noch nicht in den Sinn gekommen. Das hätten denen nur die Werwölfe der Mondbruderschaft verraten können. Kannst du mit deinen neuen Augen nun vollständig umgehen, Schwester Albertine?"

"Ja, höchste Schwester. Ich habe gelernt, damit so zu sehen wie mit gewöhnlichen Augen, aber eben auch die Fern- oder Vergrößerungswirkung, das Sehen von Wärmequellen oder durch stoffliche oder magische verhüllungen versteckter Dinge und Wesen. Ich kann sogar die meisten Geheimschriften lesen und, was relativ neu ist, die Spuren von Lebensauren erkennen, wenn ich an ein bestimmtes Wort denke, das ich jedoch in weiser Voraussicht durch den Divitiae-Mentis-Zauber in meinem inneren verborgen halte. Ich kann ohne Angst vor Schmerzen und Erblindung über Stunden in die gleißende Sonne sehen und in stockfinsterer Nacht alles erkennen, wobei mir da ganz von allein das Wärmesehen dazukommt. Der Heiler, der meine Augen angepasst hat sagte was von selektiver Pentachromatie, was wohl heißt, dass ich auch unsichtbare Lichtanteile sehen kann, wenn ich ein anderes dafür nötiges Passwort denke."

"Es gilt der Grundsatz, dass Menschen nur drei Grundfarben mit den Augen aufnehmen, die dann im Gehirn zu den vielen Millionen Farben zusammengemischt werden. Pentachromatie heißt Fünffarbsehen und wurde eigentlich nur bei Insekten und Greifvögeln erforscht. Auf jeden Fall kannst du damit unsichtbare Anteile des Lichtes sehen. Das kann ich in meiner Zweitgestalt auch", erläuterte Anthelia. Albertine seufzte, als Anthelia das mit der Zweitgestalt erwähnte. Anthelia hörte in den Gedanken der anderen, dass die neuen Augen neben dem Umstand, dass sie keine Tränen vergießen konnten, noch den gravierenden Nachteil hatten, dass ihre Trägerin sich nicht mehr vollständig verwandeln konnte, sondern nur ihre Nase, die Haare und die Hautfarbe ändern konnte. Sie konnte zwar fremdverwandelt werden, wäre dann aber völlig blind, weil die Kunstaugen dann verschwanden und nicht wie üblich in die Verwandlung mit einbezogen und somit als unsichtbare Sehorgane erhalten blieben.

"Empfindet dein Dienstherr es als große Beeinträchtigung, dass du dich nicht mehr vollständig verwandeln kannst?" wollte Anthelia wissen. Albertine grummelte erst. Doch dann sagte sie kühl: "Er hat gesagt, dass er eine Frontkämpferin gegen eine überragende Späherin eingetauscht hat. Wofür ich Verwandlungszauber sonst noch brauche muss er nicht wissen."

"Moment, Die Hände, Füße und die Länge von Armen und Beinen kannst du doch noch ändern, ebenso Umfang von Hüfte und Brüsten", sagte Anthelia aufmunternd. Albertine sah sie erst perplex an. Doch dann kapierte sie, was die Spinnenführerin meinte. Sie probierte das dann sofort aus. Sie ließ ihre flachsblonde Kurzhaarfrisur zu einer feuerroten Mähne werden und bekam unter leisem Keuchen ein breiteres Becken. Anschließend ließ sie ihre kleinen, aber strammen Brüste zu weit ausladenden Exemplaren anwachsen. Zum Schluss ließ sie ihre hellrosa Hautfarbe tiefbraun anlaufen. Dann bezauberte sie ihre Stimme noch mit dem Varivox-Zauber. Anschließend sagte sie mit einer leicht angerauhten, sehr tiefen Stimme: "Gefalle ich dir so, höchste Schwester?"

"Ist das der Inbegriff deiner erotischen Wunschvorstellungen, Schwester Albertine?" stellte Anthelia eine Gegenfrage.

"Nicht meiner, aber der von Armin Weizengold. Die Dame heißt Lore Rosenblatt. Das weiß ich nur, weil sie selbst auf beiden Ufern des großen Flusses zurechtkommt."

"Eine Wonnefee?" fragte Anthelia.

"Eher eine Freischaffende, die sehr unersättlich ist aber sich die aussucht, mit denen sie ihre Gelüste auslebt. Oha, ich glaube, ich werde wieder wie sonst. Außerdem hat die werte Lore grasgrüne Augen. Er würde mich also trotzdem noch erkennen." Nach diesen Worten deutete sie mit dem Zauberstab auf sich und nahm innerhalb einer Sekunde wieder ihre angeborene Gestalt an.

"Vielleicht helfen diese Kontaktlinsen, die die Unfähigen sich in die Augenhöhlen einsetzen, um besser sehen zu können oder ihre Augenfarbe zu verändern", sagte Anthelia.

"Habe ich auch schon überlegt. Aber die würden die freie Beweglichkeit meiner Augen blockieren. Wenn ich schon künstliche Augen benutzen muss, dann mit allem, was sie leisten können", erwiderte Albertine. Anthelia sah das ein. Sie beneidete die andere heimlich, dass diese doch noch einen Gutteil der Verwandlungsfähigkeiten behalten hatte und obendrein nun über ein erheblich besseres Sehvermögen verfügte, ja auch unsichtbare Wesen entdecken konnte, was Anthelia nur durch gezielte Zauber möglich war.

Nachdem die beiden Hexen sich berichtet hatten, wie für sie die vergangenen vier Wochen verlaufen waren kam Anthelia auf die Meldung, die Albertine ihr zugeschickt hatte.

"Wenn dieser nur unter besonderen Vorkehrungen sichtbar gemachte Riesenkäfer wahrhaftig die jüngste der Abgrundstöchter ist, die ich weder im ersten noch im neuen Leben angetroffen habe, so steht zu befürchten, dass sie wie die anderen auch auf Beute ausgeht. Wenn ich mich richtig erinnere, dann beherrscht dieses Unwesen den Ablauf der Zeit. Das ist eine höchst gefährliche Begabung, weil gegen Zeitzauber nur sehr wenig auszurichten ist."

"Das ist auch Herrn Weizengolds Meinung. Er hofft, dass wir bis auf weiteres keinen neuerlichen Zwischenfall mit diesem Wesen erleben müssen, weil es sonst sehr schwer wird, die Geheimhaltung der magischen Welt aufrechtzuerhalten."

"Der Zeitpunkt, wann wir diese ohnehin beenden, um unsere Vorstellungen von einer lebenswerten Zivilisation durchzusetzen, könnte näher liegen, als dein Dienstherr das fürchtet. Am Ende liegt es bei uns, diesem Wildwuchs die Umwelt zerstörender Maschinen und Fahrzeuge Einhalt zu gebieten. Doch ich weiß, dass die Menschen nicht auf ihre Bequemlichkeiten verzichten wollen. Sie zu zwingen ist zwar möglich, aber leider nicht von Dauer, wie meine werte Tante Sardonia es bedauerlicherweise und ganz unbeabsichtigt bewiesen hat und es dieser irre Waisenknabe Riddle auch noch einmal bestätigt hat."

"Am Ende nehmen uns die Vampire oder die Abgrundstöchter die Entscheidung ab, oder gar die Werwölfe. Es ist mir um die Mondheuler in letzter Zeit zu ruhig geworden."

"Kann daran liegen, dass die Anführerin dieser Mondbruderschaft ein Balg zu tragen hatte, als wir das letzte Mal mit ihrer Art zusammenstießen. Sicher wollte sie dieses Wolfskind erst mal in Sicherheit ausbrüten und schlüpfen lassen. Könnte sein, dass wir wieder was von denen hören, wenn ihr Kind entwöhnt ist, damit sie es auch mal im sicheren Versteck zurücklassen kann. Aber nein, sie könnte es auch ihrer Mitschwester geben, die ja auch was kleines auszubrüten hatte", erwiderte Anthelia mit unüberhörbarer Verachtung in der Stimme. Zwar war sie selbst in gewisser Weise eine Wergestaltige, doch weil ihr die Werwölfe im früheren Leben schon gewisses Unbehagen bereitet hatten und jederzeit eine ihrer treuen Mitschwestern anfallen und mit ihrem Keim infizieren konnten war nichts von der aus Unbehagen erwachsenen Abscheu verschwunden.

"Vielleicht müssen die auch überlegen, wie sie diesem Werwolftötungsvirus entgegenwirken können, dass diese Babymacherbande auf die Welt losgelassen hat", erwiderte Albertine.

"Das kann sein, sofern die die Natur des Überträgers noch nicht kennen. In dem Moment, wo sie es wissen, stellt dieser Erreger für sie keine Gefahr mehr dar, weil sie den Überträger wirksam von sich fernhalten können. Ich muss davon ausgehen, dass deren mit der Zaubererwelt vertraute Anhänger schon wissen, was diese - wie nanntest du sie? - Babymacherbande gegen sie ins Feld geführt hat."

"Auch wieder wahr", grummelte Albertine. Dann kam sie wieder auf die Kreatur, die als schwarzer Riesenkäfer mit goldenen Punkten aufgetaucht war.

"Ich hatte gehofft, du wüsstest den Weg, sie zu bekämpfen, höchste Schwester. Immerhin kennst du dich mit diesen Abgrundshuren doch noch von uns allen am besten aus."

"Ich musste lernen, dass selbst ich nicht alles über diese Irrsinnsbrut wusste, als Hallitti als halber Dibbuk auf die Erde zurückgekommen ist und nur deshalb nicht zur alten Kraft zurückgefunden hat, weil wir damals in weiser Voraussicht ihren letzten Abhängigen nicht getötet, sondern nur zu einem geschlechtlich unempfänglichen Jungen zurückverjüngt haben, der ihren Geist in der Welt hielt."

"Stimmt, das wussten wir alle nicht, dass diese Biester von ihren noch lebenden Schwestern wiedergeboren werden können", schnaubte Albertine. "Damit sind die irgendwie unbesiegbar."

"Man kann sie so zumindest einige Monate oder gar Jahre schwächen und die, die sie zu Tragen bekommt gleich mit. Im Zweifelsfall würde ein Seelenschlingstein helfen, wie er auch von Geistern gefürchtet wird. Aber der ist zu gefährlich, weil er denkfähige Lebewesen dazu treibt, sich gegenseitig umzubringen, um an die dabei freigesetzten Seelen zu kommen. Also auch nichts für uns", stellte Anthelia klar. Albertine wusste von dem Versuch, einen solchen Seelenschlingstein zu erobern, um damit die Anführerin Nocturnias zu besiegen. Das war in einer Mordorgie zwischen ägyptischen Zauberern ausgeufert. So einen Stein zu finden war also die allerletzte Möglichkeit, wenn sonst nichts ging. Was blieb dann noch? Die beiden wussten es nicht.

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im Büro des geschäftsführenden französischen Zaubereiministers Dexamenus Montpelier


25. August 2002, 09:20 Uhr Ortszeit

"Das kann nicht ihr Ernst sein, Monsieur Renard", blaffte der derzeitig amtierende Zaubereiminister Frankreichs, als sein Besucher im schnieken jägergrünen Umhang sich auf dem Besucherstuhl niedergelassen hatte. Er klatschte ihm die druckfrische Ausgabe des Miroir Magique auf den Tisch.

Der Besucher besaß brünettes, links gescheiteltes Haar und trug einen verwegen wirkenden Schnurrbart im ansonsten glattrasierten Gesicht und einen kleinen, fuchsroten Aktenkoffer. "Ich habe mir gedacht, dass Sie genau das zu mir sagen, sobald ich bei Ihnen im Büro bin, Monsieur Montpelier", erwiderte der Angesprochene mit einer Lässigkeit, die dem geschäftsführenden Zaubereiminister sichtlich missfiel. "Aber wir sind nach Didiers unrühmlichem Betreiben, unsere Berichterstattung auf seine Linie zu zwingen, nicht mehr die handzahmen Hofberichterstatter des Zaubereiministeriums. Insofern muss die Frage schon erörtert werden, ob Ihre Gegenkandidaten nicht doch recht haben, dass Sie in ihrem früheren Amt einige Vorrechte erhalten haben, die sich auf rein verwandtschaftliche Beziehungen stützen und nicht auf geleistete Arbeit."

"Dass ich nicht lache, Monsieur Renard. Sie haben zu bereitwillig gefressen, was Ihnen Lesfeux und vor allem der Auswärtige Monsieur Louvois hingeworfen haben. Anders kann ich den Kommentar Ihres Mitarbeiters Beaurivage nicht auffassen, dass ich nur deshalb eine hohe Rangstellung im Ministerium erreichen konnte, weil einer meiner Onkel in der Verkaufsabteilung der Ganymed-Manufaktur tätig ist. Wie Sie wissen habe ich immer schon in der Abteilung zur Einhaltung der Zaubereigesetze gearbeitet. Was hätte mir da eine Verbindung zu einem der führenden Flugbesenhersteller genützt?"

"Wie Sie sagten, die Verwandtschaft. Immerhin haben Sie Ihren einträglichen Arbeitsplatz ja von ihrem Vetter Jean-Paul Dubois übernommen, als dieser dem Ruf seines Vaters folgte und in die Rechtsabteilung von Ganymed überwechselte, weil er dort erheblich mehr Galleonen verdienen konnte, als als Leiter der Behörde für magische Strafverfolgung", hielt Louis Renard seinem hochrangigen Gesprächspartner entgegen und zitierte völlig gelassen einige Absätze aus früheren Ausgaben des Miroir aus dem Jahr 1990. Dann legte er doch glatt noch eine Schippe Unverfrorenheit drauf und behauptete: "Ja, und die Frau Ihres Vetters, Yvette Dubois geborene Didier, ist eine Schwippschwägerin Ihres direkten Vorgängers und früheren Gönners. Es sollte die Öffentlichkeit schon interessieren, welche Zugeständnisse sie Ganymed gemacht haben, dass diese Manufaktur eine schnellere Zulassung für die Besen des Typs 9 und 10 erhielt, obwohl der Lebenswandel der Zureiter Tibaud und Larochelle einige strafrechtliche Fragen aufgeworfen hat."

"Was damals schon von Ihrer Zeitung in die Welt gesetzt wurde und von mir und allen, die Sie mit diesem Unrat übergossen haben eindeutig als haltlose, böswillige Unterstellung entlarvt wurde. Offenbar hat die Androhung einer Schadensersatzklage von den Ganymedwerken über eine Million Galleonen nicht so lange nachgewirkt, wie anzunehmen war", grummelte Montpelier.

"Nun, damals ging es nur um fragwürdige Umstände bei der Zulassung des Neuners und Zehners, und mein Vorgänger hat sich damit arrangiert, dass der Besen an sich tadellos und für seine Benutzer ungefährlich ist. Doch jetzt stehen Sie als geschäftsführender Zaubereiminister an der Spitze der magischen Administration. Da darf und muss es erlaubt sein, zu hinterfragen, wer von einer dauerhaften Amtsführung am meisten profitiert und ob dabei das öffentliche Wohl oder gar die Untadeligkeit der Zaubereiverwaltung an sich zu Schaden kommen könnte", erwiderte Renard.

"Unterstellen Sie mir gerade Bestechlichkeit und Günstlingswirtschaft, Monsieur Renard?" stellte Montpelier eine rhetorische Frage, von der er wusste, dass er damit durchaus einen schlafenden Drachen kitzelte. Doch hier und jetzt wollte er nicht gegenüber diesem von Didiers unrühmlichem Ende profitierenden Chefschreiberling zurückstecken. So sagte er noch schnell, bevor Renard die Frage beantwortete: "Dann sind Sie doch ein kleiner, handzahmer Berichterstatter geworden. Ob Ihnen Monsieur Lesfeux oder Monsieur Louvois dies hoch anrechnen oder gar danken werden weiß ich nicht."

"Ich bin kein Richter, Herr kommissarischer Zaubereiminister", sagte Renard nach einigen Sekunden Bedenkzeit. "Ich muss nur die für die Öffentlichkeit wichtigen Informationen zusammentragen und für alle verständlich wiedergeben. Insofern überlasse ich es der Öffentlichkeit, also den Wählern, ob und wie sie Ihre Frage beantworten. Abgesehen davon: Sie haben Mademoiselle Ventvit nicht als meine angebliche Anstifterin aufgeführt. Räumen Sie ihr keinerlei Chancen ein?"

"Was den ersten Punkt angeht, Monsieur Renard, so behalte ich mir vor, gerichtlich zu überprüfen, welche Quellen Sie ausschöpfen und ob hier nicht ein erneuter Versuch unternommen wird, nicht nur mich, sondern hochanständige Hexen und Zauberer in den Ganymedwerken zu erpressen. Dass Sie sich nicht schämen, sich für ein derartiges Manöver herzugeben enttäuscht mich. Und was den zweiten Punkt Ihrer Antwort angeht, Monsieur Renard, so halte ich die Kollegin Ventvit für anständig genug, nicht auf derartige schmutzige Tricks zurückzugreifen, zumal sie wohl nur deshalb kandidiert, weil sich sonst keine im Ministerium tätige Hexe um den Stuhl bewirbt, auf dem ich unfreiwillig Platz genommen habe. Aber Sie scheinen mir keine Probleme damit zu haben, Ihre aus einer Verkettung unrühmlicher Ereignisse und ihrer Beendigung resultierende Beförderung auszukosten, dass Sie längst für beendet angesehene Themen neu aufwärmen wollen, nur um als achso vom Ministerium unabhängiger, kritischer Zeitzeuge zu glänzen. Aber ich sage Ihnen was: Wer Öl ins Feuer gießt, glänzt nicht, sondern verbrennt darin. Das dürfen Sie getrost als eine Drohung auffassen. Prüfen Sie tunlichst, für wen und wie Sie Öl ins Feuer gießen, damit Sie nicht verbrennen, Louis."

"Darf ich diesen Standpunkt von Ihnen zitieren, dass wer meint, sie wegen ihrer Beziehungen zu Ganymed und diversen anderen Persönlichkeiten hinterfragt seines Lebens nicht mehr froh sein darf?" griff Renard die Drohung Montpeliers auf. Dieser überlegte, ob er nicht jetzt doch den Drachen zu sehr gekitzelt hatte. Doch sein Wille, sich hier nicht von einem Schreiberling einschüchtern zu lassen, war zu stark, als dass er jetzt noch hätte zurückrudern können. So sagte er: "Wenn Sie neutral weiterberichten wird Ihnen niemand daraus einen Vorwurf machen, Louis. Aber wenn Sie jetzt Partei für jemanden ergreifen, der dafür berühmt und berüchtigt ist, seine Widersacher zu verleumden, dann haben Sie nur noch zwei Zukunftsaussichten: Die erste ist, ich bleibe Minister, trotz oder vielleicht auch wegen der von Ihnen verbreiteten Behauptungen. Dann werde ich mein Verhältnis zu Ihrer Zeitung neu bewerten und entsprechende Verhaltensvorschläge an die anderen Abteilungen übermitteln. Sollten Sie damit Erfolg haben, mich für das Amt des Zaubereiministers unwürdig erklären zu lassen, stehen Sie in lebenslänglicher Abhängigkeit des Kandidaten, der aus meiner Niederlage Profit schlägt. Und der wird sich ebenfalls genau überlegen, wie der Miroir weiterhin aus dem Zaubereiministerium berichten wird. Dann werden Sie ganz offiziell ein handzahmer Hofberichterstatter sein oder zum Zeitungseulenpfleger degradiert. Wenn Sie mit dieser Aussicht glücklich werden können stoßen Sie ruhig weiter in das Drachenhorn von Lesfeux und Louvois."

"Sagen Sie das auch meinem ehemaligen Kollegen und auf seine achso glorreiche Selbstständigkeit vertrauenden Konkurrenten Latierre?"

"Der wird demnächst noch ein Interview mit mir führen. Ob er es veröffentlichen darf entscheide ich dann. Für mich war jetzt nur wichtig, dass Sie darüber nachdenken, wessen Lied Sie singen. Dessen Brot müssen Sie nämlich dann auch essen, weil Sie sonst nichts anderes mehr zu essen bekommen werden. Des weiteren bleibt mir nur noch, Ihnen einen schönen Tag zu wünschen. Mein Terminplan ist, wie Sie sicher wissen, sehr dicht gedrängt."

"Meiner auch, Monsieur Montpelier. Meiner auch", erwiderte Renard, klaubte seinen fuchsroten Aktenkoffer auf und winkte dem kommissarischen Zaubereiminister zum Abschied, bevor er sich der von selbst aufschwingenden Tür zuwandte.

Als der Chefredakteur vom Miroir Magique das Büro verlassen hatte wandte sich Montpelier seinem Kontaktfeuerkamin zu. Er warf eine kleine Prise Flohpulver in das kleingehaltene Feuer. Dieses loderte sogleich zu einer smaragdgrünen Feuerwand auf. Montpelier kniete sich hin und steckte seinen Kopf in die grünen Flammen, die sich für ihn nur wie eine warme Sommerbrise anfühlten. Er rief: "Colline des Vents!" Dann schloss er die Augen. Er vertrug die herumwirbelei im Flohnetz nicht so gut, wenn er sehen musste, an wie vielen Kaminen er vorbeiraste. Erst als das seinen Kopf herumschraubende und wirbelnde gefühl vorbei war öffnete er die Augen wieder.

Sein Kopf befand sich nun in einem großen Marmorkamin, der in einem ländlich eingerichteten Wohnzimmer verbaut war. Außer den Möbeln sah Montpelier nichts und niemanden. So rief er: "Guillaume, bist du da?!"

"Dex, bist du das?" kam eine Frauenstimme aus einem hinter mehreren geschlossenen Türen liegenden Raum zurück. Dann sah er die grazile, goldblonde Hexe mit den apfelgrünen Augen, die in ein ebenso apfelgrünes Kurzkleid gehüllt war. Dexamenus Montpelier sah überdeutlich, dass die Hexe nichts außer dem Kleid und mintgrünen Seidenpantoffeln am Körper trug.

"Guillaume ist wegen der Verhandlungen mit den Algeriern unterwegs. Was ist los, Louis. Hat einer deiner Gegenkandidaten dein geheimes Tagebuch geklaut, um dich damit fertig zu machen?"

"Ruf den großen Drachen nicht, Yvette. Ich hatte gerade Louis bei mir im Büro. Der spielt sich jetzt als Enthüllungsjournalist und unbestechlicher Ritter des öffentlichen Rechtes auf und hat die Sache von vor neunzehn Jahren wieder aus dem Giftschrank seines Blattes geholt. Ich habe inständig gehofft, dass dein Bruder im Haus ist, damit er seitens der Ganymedwerke noch mal daran erinnert, was eine mögliche Verleumdung mit einhergehender Geschäftsschädigung bedeuten würde. Öhm, wieso bist du eigentlich hier?"

"Weil ich Guillaumes Kniesel pflegen soll. Die Herzogin und ihre Schwester Gänseblümchen sind wieder trächtig. Guillaume hat sie mit Rubinkringel zusammengelassen, natürlich nacheinander. Aber das interessiert dich wohl gerade nur sehr wenig, oder?"

"Yvette, wenn Lesfeux und/oder Louvois sich an dieser Sache von damals festbeißen kann ich meine Kandidatur vergessen und mir womöglich selbst den Todesfluch in den Leib jagen. Der soll bei seinem Partner von den Ganniwerken die Sturmglocke läuten, damit wir nicht alle in diesem Sumpf ersaufen, den Renard uns um die Füße klatscht."

"Ich kriege das hin, Dex. Allein schon deshalb, damit ich nicht doch noch Krach mit Estelle und Callisto kriege. Wie geht's der eigentlich?"

"Callisto ist bei eurer Konkrurrenz gelandet und testet die neuen Cyrano-Besen. Du wirst wohl in der nächsten Ausgabe des Quidditchkuriers davon lesen, dass der Goldpfeil im September auf den Markt kommt, sinnigerweise einen Tag nach der Ministerwahl. Ansonsten geht es ihr gut. Der, den sie sich eigentlich ausgeguckt hat ist bei dieser Kreolin gelandet, von der ich euch erzählt habe."

"Soso", grinste die Hexe. Hinter ihr öffnete sich eine kleine Klappe in der Wand, und eine bereits deutlich gerundete Knieselkätzin mit rubinrotem Fell und weißem Schwanz kam heran. Ihr Gang war so grazil, als habe das Tier jeden Schritt geprobt. Deshalb hieß sie wohl Duchesse, die Herzogin. Als sie den Kopf im Kamin sah verfiel sie in eine schnellere Gangart. Dabei streckte sie ihren Schwanz waagerecht nach hinten, um beim Laufen das Gleichgewicht zu halten. "Hallo, kleine. Ich kann dich heute nicht streicheln und knuddeln. Aber du wirst ja demnächst eine Maman", säuselte Montpelier, als die Knieselkätzin sich vor dem Kamin in Positur stellte. Dann sagte er: "Ich muss dann wieder. In einer Minute habe ich Arion Vendredi bei mir. Louvois hat schon mit ihm geredet, welche Möglichkeiten er nach dessen Wahl haben könnte. Jetzt will der natürlich ausloten, was bei mir zu holen ist. Hätte nicht gedacht, wie viele Opportunisten im Ministerium herumlaufen. Wie hat Armand das hingekriegt, solange unbehelligt zu regieren?"

"Das Geheimnis hat er wohl mit ins Grab genommen", sagte Yvette und bückte sich zu Duchesse hinunter. Montpelier verabschiedete sich noch und bedauerte, den biegsamen Körper im apfelgrünen Kleid nicht anständig umarmen zu können. Dann zog er seinen Kopf aus dem Kamin zurück, um ihn nach einer neuen Wirbelei wieder auf den eigenen Schultern zu haben.

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Zur selben Zeit in einer altrömischen Villa keine fünfhundert Meter von der französischen Atlantikküste entfernt

Égisthe Louvois wusste, dass er gerade ein sehr gewagtes Spiel spielte. Die Informationen, die sein Günstling bei den Ganymedwerken ihm beschafft hatte, waren sehr brisant. Aber wenn sie halfen, seine Chancen zu vergrößern. Aber anders würde er mit Montpelier, der immer noch gewisse Sympathien genoss, nicht fertig werden. Das Vorhaben, ihn als Nutznießer des Didier-Regimes hinzustellen, war schon im Ansatz gescheitert, weil es zu viele Zeugen gab, die davon berichteten, dass er unter dem Imperius-Fluch Pétains gestanden hatte. Also blieb nur die alte Geschichte, dass er angeblich durch gewisse, ja höchst anrüchige Tätigkeiten in der Strafverfolgungsbehörde so schnell hatte aufsteigen können. Doch wenn der Sohn seines Schulfreundes Claude das in die Zeitung brachte, dann musste es drachenfeuerfest sein, um ihm nicht selbst den Boden unter den Füßen zu Feuer werden zu lassen. Dass er damit auch Grandchapeaus Ansehen beschädigte war ihm zwar bewusst, aber für seine Ziele auch sehr nützlich. Denn er ärgerte sich immer noch darüber, dass dieser in sich zu ruhige Typ mit seinem Hang zu Zylinderhüten mit seiner heilen Familienidylle und Geradlinigkeit jahrelang Zaubereiminister sein konnte, wo er, Égisthe Louvois, eigentlich damit gerechnet hatte, von Grandchapeaus Vorgänger noch in den inneren Kreis berufen zu werden, um selbst die Chance auf das Ministeramt zu wahren. Grandchapeau hatte ihn statt dessen in Aussicht gestellt, dass er mit seinem "sehr hohen Enthusiasmus" sicher in einem Unternehmen der freien Wirtschaft mehr Möglichkeiten hätte. Doch Louvois wollte kein Handlanger irgendwelcher Goldfresser sein. Er wollte lenken und vorgeben, wer wie was zu tun hatte. Dafür hatte er lieber um die Versetzung auf Martinique gebeten, wo er nach dem Ausscheiden von Monsieur Deroubin zum Stellvertreter des Zaubereiministers dieser Überseebesitzung geworden war. Zumindest konnte er auf diesem Posten schalten und walten, wie er es für richtig hielt, bis ihm das Ministerium diese rechthaberische Hexe Ventvit und ihren mit zu vielen Vorschusslorbeeren überhäuften Untergebenen Julius Latierre geschickt hatte, um den aufgekommenen Streit mit der Meerleutekolonie zu lösen, als wenn er das nicht auch so geschafft hätte. Als Grandchapeau unverhofft von Feinden des Zaubereiministeriums getötet worden war hatte Louvois gewusst, dass er nur noch diese eine Gelegenheit haben würde, an die oberste Spitze der französischen Zaubereiverwaltung zu kommen. Allerdings erkannte er jetzt, dass er dafür einen sehr hohen Preis zahlen musste. Denn selbst wenn ihm alles gelang, was er gegen seine Mitbewerber aufbieten wollte, so würde er ein Minister sein, dem mehr Feindseligkeit als Anerkennung entgegengebracht würde. Er würde sozusagen als das kleinere Übel oder der einzig noch tragbare Kandidat akzeptiert sein. Er wusste auch, dass er es sich zu leicht mit den alteingesessenen Zaubererfamilien verscherzen konnte, wenn er die notwendigen Umbaumaßnahmen umsetzen würde. Doch er wusste, dass es jetzt keinen Weg mehr zurück gab. Dafür hatte er sich auf zu viel eingelassen.

"Habt ihr das auf den Wahrheitsgehalt überprüft, Jean?" fragte er seinen treuen Mitarbeiter Jean Legris, der für ihn das Netz aus guten Freunden und unterwürfigen Hauselfen überwachte.

"Also, Monsieur Louvois, das mit Montpelier ist jetzt beim Miroir wieder aus dem Schrank geholt worden. Louis Renard wird morgen damit aufmachen, dass Montpelier nur durch verwandtschaft seinen Posten bekommen hat. Das Erumpenthorn, wie er damals mit der Frau seines Vetters die langen Winternächte, wo dieser auf Guayana war, um Tropenhölzer für die Besen zu Luxusbesen der goldenen Siebener zu kaufen, kann Louis dann raushauen, wenn wir die Sache mit Lesfeux überprüft haben."

"Da werde ich wohl auch noch mal mit jemandem kontakt aufnehmen, der ein sehr berechtigtes Interesse daran hat, dass wir gewinnen, Jean. Schon lustig, was sich so für Abgründe hinter einer so biederen Fassade auftun."

"Um Lesfeux damit zu erledigen muss das amtlich nachweisbar sein, Monsieur Louvois. Nur zu behaupten, dass da eine Registrierung in Thorntails erfolgt ist reicht nicht."

"Genau da kommt mein neuer Bündnispartner ins Spiel. Der hat weitreichenden Zugriff auf alle Akten im US-Zaubereiministerium. Der kann auch die endgültige Verifizierung anleiern."

"Öhm, für den Fall, dass dieser Kontakt Sie nicht direkt erreicht, Monsieur Louvois, wollen Sie mir nicht doch verraten, wer es ist?" versuchte Jean Legris es zum wiederholten mal, näheres über Louvois neue Verbindungen zu erfahren.

"Meine Kontaktperson legt sehr viel Wert darauf, dass nur ich ihre Identität kenne", sagte Louvois, der mit gewissem Schauder daran dachte, dass er das sogar magisch beurkundet hatte, keinem zu verraten, dass er mit ihm in Verbindung stand. "Sie werden dann höchstens von einem Mittelsmann aufgesucht, der selbst nicht weiß, in wessen Auftrag er handelt."

"Nun, ich ging davon aus, Ihnen noch dienlicher zu sein, wenn ich alle Kontakte von Ihnen kenne", erwiderte Legris mit scheinheiligem Lächeln. Louvois schluckte das Wort "Heuchler" hinunter, das ihm schon auf der Zunge lag. Aber nur mit solchen Speichelleckern wie Legris, die sich auch noch einbildeten, die wahren Macher hinter einer politischen Entscheidung zu sein, konnte jemand wie Louvois überhaupt an das Ministeramt denken. Aber er musste auch aufpassen, dass ihm solche Kriecher und Katzbuckler nicht von hinten was überbrieten, wenn sie nicht genug von ihrer Schleimerei und Kriecherei profitieren konnten. Im Grunde war er Jean Legris ausgeliefert. Der könnte jederzeit finden, bei Lesfeux oder Montpelier besser aufgehoben zu sein. Also würde er ihn wohl zum Leiter der Abteilung für magischen Handel und Finanzen machen, falls Colbert nicht auf seine Vorschläge eingehen wollte.

"Ihnen ist bekannt, dass Estelle Montpelier zum fraglichen Zeitpunkt mit der gemeinsamen Tochter Callisto schwanger war? Ich meine, nur, damit Sie wissen, welche Lawine mit der völligen Enthüllung ausgelöst wird."

"Hmm, damals? Oh, nicht gerade nett vom guten Dexamenus, seine hoffnungsvolle Gattin derartig zu betrügen", grinste Louvois. Jean Legris erkannte, dass seine Frage keine Abschreckung, sondern eine noch größere Verlockung war, Montpelier öffentlich zu demontieren, um nicht zu sagen, zu vernichten. Aber der durfte dann noch froh sein, als freier Mann herumlaufen zu dürfen, sofern seine Gattin nicht der Zauberstab ausrutschte. Was den anderen Kandidaten anging, so sah dessen Zukunft nicht so rosig aus, wenn stimmte, was Louvois und er gerade über ihn erfahren hatten.

Eine Posteule klopfte ans unzerbrechlich gezauberte Fenster im Salon, der zum dauerhaften Klankerker bezaubert war. Louvois ließ den Steinkauz herein, als er ihn erkannte.

"Hier haben wir noch was, womit ich Ventvits Ambitionen wegfegen kann wie mit einem fünf meter breiten Eisenbesen", grinste Louvois jungenhaft, als er den nur von ihm zu öffnenden Umschlag aufbekommen und den durch einen freiwillig gelassenen Blutstropfen sichtbar gewordenen Text gelesen hatte. Anbei waren durch den Mimicrius-Zauber getarnte Vervielfältigungen mit S5 gekennzeichneter Akten.

"Öhm, Sie wissen, dass die Geheimhaltungsstufe auch uns nicht bekommt, wenn wir diese Akten öffentlich machen, Monsieur Louvois?" fragte Jean, der mitlesen durfte.

"Uns nicht, weil wir ja nicht zum Kreis der Geheimnisträger gehören, die hier aufgeführt sind. Könnte höchstens diesem Möchtegernwunderknaben und Fortpflanzungsgehilfen der Latierres und Vendredis Untergebenen zusetzen, abgesehen von denen, die sich für dieses sehr dreiste Manöver zur Verfügung gestellt haben. Vielleicht wälze ich das auch auf Florymont Dusoleil ab, der ja tatkräftig mitgeholfen hat, dass dieser Streich überhaupt gelingen konnte. Insofern gehe ich damit noch nicht zu unserem dressierten Zeitungsfuchs hin. Das hier sind zehn hocherhitzte Erumpenthörner auf einmal. Die werde ich nur explodieren lassen, wenn Ventvit nicht durch die anderen Vorwürfe zurückgeworfen werden kann. Übrigens treffe ich Vendredi und Colbert am achtundzwanzigsten im blauen Phönix im Hinterzimmer. Je danach, was die zu meinen Vorschlägen sagen und was die anderen Abteilungsleiter außer Grandchapeaus Kronprinzessin mir zu sagen haben, kann ich dann immer noch mit diesen Akten argumentieren."

"Und was würde der Absender dieser Eule sagen, wenn mit seinen Unterlagen gearbeitet wird?"

"Er konnte nicht anders, als alles zu schicken, was Ornelle Ventvit in Frage stellt. Dafür weiß ich zu gut, mit wem er verkehrt, beziehungsweise, das er den Regenbogencocktail erfunden hat."

"Öhm, diese Leute, von denen Sie da reden, Monsieur Louvois, werden das erfahren, dass jemand diese Person erpresst. Wenn wir die Unterlagen veröffentlichen wissen die das und werden entsprechend Vergeltung üben", warnte Legris.

"Ja, und zwar an Ihrem Konkurrenten Montpelier. Unser Bote wurde schließlich mit den Erinnerungen versehen, für Montpelier zu arbeiten. Falls der Hersteller des Cocktails also seinen Kumpanen berichten muss, und die den Boten erwischen, ist Montpelier der entsprechende Gegner", erwiderte Legris überlegen lächelnd.

"Wir beide werden wohl viele Jahre gut zusammenarbeiten", sagte Jean mit einer wohl doch ehrlichen Anerkennung. Louvois musste darüber nur lächeln. Jede sonstige Antwort war überflüssig.

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Britisches Büro für die friedliche Koexistenz von Menschen mit und ohne Magie


26. August 2002, 11:00 Uhr Ortszeit

"Wäre schön gewesen, wenn Sie das schon ein wenig früher gewusst hätten, dass Alison Andrews vom sogenannten schwarzen Engel bedroht wurde, John. Dann hätten wir ihr womöglich noch helfen können", sagte Tim Abrahams mit unüberhörbarem Selbstvorwurf in der Stimme. Sein Gegenüber, der dunkelhaarige Yardbeamte John Hunter, setzte an, zu erwähnen, dass er ja nicht mit den Kollegen von der Sitte oder räuberischer Erpressung zu tun habe, wenn die ihn nicht wegen okkultistischer Zusammenhänge ansprachen.

"Gut, dann kriegen Sie das bitte hin, dass die Kollegen Sie sofort informieren, wenn wieder was mit diesem obskuren Beschützer freischaffender Huren zu tun hat, John. Wie auch immer Sie das hinkriegen, ich hoffe, dass wir demnächst vor den Franzosen wissen, was in unserem Land los ist", sagte Tim Abrahams. Dann fragte er seinen Gesprächspartner:

"Und Sie sind sicher, dass es Julius Latierre war?"

"Eindeutig. Ich war ja auch beim Prozess gegen Dolores Umbridge, wo Sie und er unfreiwillige Auftritte hatten, Sir. Immerhin wollte ich wissen, was mir erspart geblieben ist, weil jemand vorsorglich meinen halbblütigkeitsstatus bestätigte."

"Gut, dann muss ich noch wissen, ob es zutrifft, dass Julius Latierre Sie mit dem Schockzauber anzugreifen versucht hat, bevor er sich absetzte", sagte Tim Abrahams.

"So verhielt es sich, Sir. Der Bursche hatte gerade einen besonders starken Lichtzauber gemacht, in dem ich gerade so noch erkennen konnte, wie eine Frau im schwarzen Kleid oder Gewand verschwunden ist. Ich wollte ihn gerade ansprechen, da hat er sich umgedreht, mich gesehen und den Zauberstab angehoben. Er rief noch "Stupor!". Ich konnte mich gerade mit einer Fallrolle unter dem Zauber wegducken und meinen Zauberstab hochreißen. Doch da verschwand er auch schon, bevor ich ihn mit einem Antidisapparierfluch binden konnte. Wir müssen davon ausgehen, dass Latierre auf eigene Faust gehandelt hat, ohne offiziellen Auftrag seines Arbeitgebers."

"Womit wir bei einem Punkt sind, der mir schleierhaft ist: Wenn Julius Latierre wirklich auf eigene Faust gehandelt hat und deshalb sicher darauf ausging, nicht errkannt oder ergriffen zu werden, wieso hat er sich dann nicht getarnt oder teilweise verwandelt?"

"Das müssen Sie ihn fragen, Sir. Ich weiß nur, dass er mich anzugreifen versucht hat und dann geflohen ist", sagte der Scotland-Yard-Beamte.

"Das werde ich demnächst klären. Gegebenenfalls werde ich den Jungen hierher einladen oder, was wohl eher der Fall ist, in eigener Person nach Paris reisen, um mit ihm und seinen Vorgesetzten zu reden. Im Moment gilt, dass die Angelegenheit Stufe S8 ist, womit nur die Abteilungsleiter der unmittelbar betroffenen Ministerialabteilungen was davon wissen dürfen, sowie Sie selbst und die Eingreiftruppe, die das Haus durchsucht und dann gezielt in die Luft gejagt hat, um den tödlichen Gasunfall darzustellen."

"Die werden den selbst inhaftieren, wenn er ohne Erlaubnis unterwegs war."

"Eben, das muss noch geklärt werden", erwiderte Tim abrahams. Dann bedankte er sich noch einmal für den schnellen Bericht und wünschte John Hunter noch einen schönen Tag.

Irgendwas gefiel Tim an der Aussage des Verbindungsmannes in den Yard nicht. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Julius Latierre von sich aus jemanden angreifen würde, oder dass er bei einer heimlichen Aktion klar erkennbar auftrat, wo sein Bild doch vielen bekannt war und er in mindestens vier Zaubereiministerien wegen seiner letzten Begegnung mit einer der sogenannten Abgrundstöchter aktenkundig war. Da Tim Abrahams eine der wenigen aus Frankreich zugestandenen Rückschaubrillen besaß wollte er die Lage selbst prüfen. John Hunter wusste nicht, dass auch das Büro zur friedlichen Koexistenz von Menschen mit und ohne Magie dieses praktische Hilfsmittel besaß. So beschloss er, in höchst eigener Person den genauen Ablauf nachzubetrachten.

Tim Abrahams postierte sich erst vor dem Haus und regelte die Rückschaubrille so ein, dass sie zwei Stunden vor den Ereignissen wiedergab. Als dann mit einem mal schwarzer Dunst das Bild aus der Vergangenheit überlagerte erkannte er, dass hier etwas mit einer starken Unortbarkeit gewesen sein musste. Er wusste von Veelas und von mächtigen Hexen und Zauberern, dass sie ihren Aufenthaltsort verhüllen konnten, Veelas und deren Nachfahren sogar von ganz allein, sozusagen wie ihre optische Erscheinung. Das sprach irgendwie für ein mächtiges Zauberwesen, das diesen Ort heimgesucht hatte. das gab der Vermutung, Alison Andrews könnte mit dem sogenannten schwarzen Engel aneinandergeraten sein, eine beinahe sichere Bestätigung. Um zu prüfen, wie lange die Überlagerung andauerte ließ er die Zeit schneller vorwärtslaufen. Dabei sah er violette Schlieren, die wie etwas dunklere Blitze eines Gewitters durch die Rückschau zuckten. Wo immer er sich hindrehte oder hinging herrschte nur dieses Spiel aus Schwärze und violetten Lichtblitzen. Besonders am Ende der Unortbarkeit flirrte es nur noch violett. Er ließ nun die Zeit so langsam ablaufen, dass er jeden Einzelblitz als Anordnung violetter Wolken und Spiralen erkennen konnte, die am Ende der überlagerten Ereignisse zu einer einzigen violetten, mit weißgoldenen Schlieren durchzogenen Leuchterscheinung verschmolzen, bevor die Überlagerung übergangslos verschwand. Tim sah nun Julius Latierre, wie er einen silbernen Gegenstand von einer Schwenkdüse des hier aufgestellten Rasensprengers pflückte und sich umhängte. Er erkannte ihn sofort wieder. Das war jener fünfzackige Stern, mit dem Camille Dusoleil in den Atlantik vor Martinique abgetaucht war und der eine so starke magische Aura verströmte, dass er damit die Bordelektronik eines modernen Schlauchbootes zerlegt hatte. Also hatte sich Julius dieses Artefakt wohl von ihr oder einem anderen Träger ausgeborgt, um die darin steckende Magie zu nutzen. Dann sah er noch John Hunter, der offenbar bis zu diesem Moment gewartet hatte, wie er den Zauberstab hob und Julius anrief. Lippenlesen konnte er nicht. Das war eigentlich schon längst fällig, dass Ministeriumsleute das lernten, wo diese Rückschaubrille schon einige Jahre eingesetzt wurde. In den Staaten hatten die schon solche Spezialisten. Was er aber auf jeden Fall sah war, dass Julius Latierre keine offensive Zauberei ansetzte, sondern John Hunter zuerst einen Beeinträchtigungszauber versuchte. In der Verlangsamten Darstellung war es noch deutlicher, dass Julius den Zauberstab nicht auf den ihn anrufenden Inspektor hielt, sondern erst, als er das Auslösewort für den Schockzauber hörte, zur Seite wegsprang, genau in die Richtung, in die John den Stab nicht rechtzeitig nachführen konnte. Beinahe im selben Moment, wo der rote Zauberblitz für Tim gerade mit gerade einem halben Zentimeter pro Sekunde aus dem Stab kroch flirrte um Julius jener nur in dieser starken Zeitdehnung erkennbare schwarze Dunst, der sich zu einer selbst in dieser Verzögerung sehr schnell drehenden Spirale verdichtete, in der Julius dann regelrecht eingeschnürt wurde, bevor sich Dunst und Zauberer übergangslos auflösten. Es war schon faszinierend, was bei einer ganz starken Verzögerung zu erkennen war, dachte Tim. Dann stellte er die Hergangswiedergabe wieder von einem Tausendstel auf hundertfache Geschwindigkeit um. Er musste die Augen zukneifen, um von den nun um ihn herum dahinrasenden Ereignissen nicht wirr im Kopf zu werden. Erst als die Brille die Gegenwart eingeholt hatte, was erst durch einen blauen Nebel mit Sichtweite null und dann durch das gerade sichtbare um ihn herum bestätigt wurde, nahm er sie ab. Gerade interviewte ein Reporter vom globalen Internet-Nachrichtenservice GIN zwei zwölfjährige Jungen, die in kurzem Sportzeug unterwegs waren. Die würden aber nur erzählen, was die Ministeriumszauberer ihnen als Erinnerungen eingepflanzt hatten.

"Hat der mich doch kackfrech angeschwindelt", dachte Tim. Dann fiel ihm ein, dass Julius den Angriff genau vorausgesehen hatte, also eine sehr gute Intuition haben musste. Mit der hätte er John Hunter spielend leicht kampfunfähig machen und ihm das Gedächtnis verändern können. Offenbar war ihm wichtig, schnellstmöglich aus der Reichweite des britischen Zaubereiministeriums zu gelangen. Bei dem tollen Schmuckstück, dass er benutzt hatte kein Wunder. Auf jeden Fall durfte das von den übrigen Einsatztruppen keiner wissen.

Es galt also nun, zu klären, was genau im Andrews-Haus passiert war und ob Julius mitbekommen hatte, woher der Riesenkäfer gekommen und wohin wieder verschwunden war. Das Problem war, dass Hunter ihn in einem wesentlichen Punkt belogen hatte. So konnte auch die Erwähnung einer Frau im schwarzen Kleid oder Gewand ein Schwindel sein. Dann kapierte er, warum John Hunter diese Lüge erzählt hatte: Der wolte selbst wissen, was es mit dem Fünfzackstern auf sich hatte und nicht das halbe Ministerium mit der Nase darauf stoßen, dass dieses Ding eine starke Magie entfesseln konnte, wenn wer wusste, wie. Aber er durfte ihm den Schwindel nicht durchgehen lassen, zumindest nicht dauerhaft. Erst mal wollte er Julius' Seite der Geschichte hören. Also war es an ihm, nach Paris zu reisen.

Wieder in seinem Büro verfasste er eine entsprechende Anmeldung und schickte sie mit einer Eule direkt durch das Flohnetz, zu Händen Mademoiselle Ventvit und Belle Grandchapeau.

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Im Büro für Zauberwesen größer als Hauselfen und Zwerge des französischen Zaubereiministeriums


26. August 2002, 13:20 Uhr

Julius hatte es hinter sich. Gleich nachdem er Camille ihren Heilsstern zurückgegeben hatte und seiner Frau kurz die Zusammenfassung seiner Erlebnisse geschildert hatte, war er im Stile des reuigen Sünders an seinen Arbeitsplatz geflohpulvert und hatte Ornelle Ventvit alles erzählt, auch dass er deshalb nicht zur üblichen Zeit zur Areit erschienen war. Diese hatte dann noch Belle Grandchapeau dazugeholt. Pygmalion Delacour hatte gerade Urlaub.

Als Julius seinen Bericht ohne Rechtfertigungen und übermäßige Gefühlsbeschreibungen beendet hatte fragte ihn Belle Grandchapeau:

"Sie sahen Gefahr im Verzug gegeben, dass Sie unverzüglich aufbrachen, um Ihre Tante vor möglichen Heimsuchungen durch diese erwähnte Abgrundstochter namens Itoluhila zu bewahren?"

"Ja, so war es, Madame Grandchapeau. Leider fand ich diese Vermutung voll und ganz bestätigt, als ich im Haus von Mrs. Andrews Zeuge wurde, wie Itoluhila meine Tante in einem schwarzen Eisblock eingefroren hat. Wäre ich zehn Minuten früher vor Ort gewesen hätte sich vielleicht eine Möglichkeit ergeben, ihr Leben zu retten."

"So gehen Sie davon aus, dass Ihre Tante tatsächlich tot ist?" fragte Ornelle Ventvit mit unüberhörbarer Beklemmung in der Stimme. Julius erwiderte:

"Ich muss davon ausgehen, dass dieses Wesen meine Tante entweder vollkommen tötete, als es während des Kampfes mit der eigenen Schwester verschwand, bei diesem Kampf selbst vernichtet beziehungsweise entkörpert wurde oder Mrs. Andrews nicht getötet aber dann für sich empfänglich gemacht hat. Diese Wesen können Menschen durch Beischlafhandlungen an sich binden, wobei das Geschlecht unwichtig ist, solange es für die betreffende Person empfänglich ist. Ich kann mir aber auch vorstellen, dass dieses Wesen ähnlich wie Sarja, die Veela jemanden gegen dessen ursprüngliche Ausrichtung zum Beischlaf verführen kann, also heterophile Frauen genauso beeinflussen kann wie heterophile Männer. Da mir Itoluhila offenbart hat, sie wolle meine Tante dazu bringen, für sie zu handeln, gilt das, was mir Monsieur Phoebus Delamontagne einmal im Bezug auf die Abgrundstöchter erzählt hat: Er sagte, dass jemand, der sich von diesen vereinnahmen und in Abhängigkeit bringen lässt tot ist, bevor er oder sie stirbt. Sollte meine Tante also körperlich noch leben, so muss ich befürchten, dass sie keine eigene freie Seele mehr hat."

"Das ist sehr starker Tobak", warf Ornelle ein. Doch Belle Grandchapeau nickte Julius zu und sagte, dass sie diese Vermutung teilen müsse, da die Ereignisse um Hallitti und eben auch die Sache mit dem um sein Erbe gebrachten jungen Mann namens Aldous Crowne und dem geheimen Vollstrecker des britischen Geheimdienstes zeigten, wie berechtigt diese Besorgnis sei.

"Am besten gehen wir in die Offensive. Julius, dass Sie sich dem Zugriff der britischen Kollegen durch die Flucht entzogen dürfte von deren Seite her als Störung des Landfriedens oder gar als Eingeständnis einer verübten Straftat ausgelegt werden. Immerhin haben Sie den Ministeriumszauberer nicht tätlich angegriffen, der Sie gestellt hat", sagte Ornelle Ventvit.

Noch während die zwei ranghohen Hexen mit Julius über seinen ungenehmigten Ausflug sprachen flog ein bunter Memoflieger durch die Klappe in der Wand in das Büro ein. Mademoiselle Ventvit nahm einen Briefumschlag aus dem bunten Papierflieger heraus und nickte Belle zu. "Da ist schon der Brief aus London, per Blitzeule zugestellt", sagte sie. Dann sah sie Julius an: "Zumindest kein Heuler, Monsieur Latierre. Öhm, da steht nur, dass Madame Grandchapeau und ich den Inhalt lesen dürfen. Falls sich daraus ein Gespräch ergeben sollte, so möchte ich dies zunächst mit Madame Grandchapeau führen. Ich werde zu dem Zweck mit ihr in ihr Büro überwechseln. Sie bleiben bitte hier und arbeiten die eingegangene Korrespondenz mit den Amerikanischen Kollegen ab. Ich erteile Ihnen hierfür die nötige Vollmacht. Bis dann gleich oder später", sagte Julius' Vorgesetzte und winkte Belle Grandchapeau zu, die Julius noch einmal fragend ansah, aber dann der älteren Hexe folgte.

Julius atmete hörbar auf, als Ornelle die Bürotür von außen zugedrückt hatte. Es hätte auch schlimmer für ihn kommen können. Aber am Ende konnte da immer noch was nachkommen. Also wollte er zusehen, besseres Wetter zu machen, solange er hier überhaupt noch arbeitete. So nahm er die erwähnten Briefe aus den Staaten. Er musste erst stutzen, als er las, dass eine Gloria Puddyfoot den Brief geschrieben hatte. Weil keiner da war erlaubte er sich, durch den Scriptorvista-Zauber ein über dem Brief schwebendes Abbild der Schreiberin heraufzubeschwören. Zum Vorschein kam eine Hexe mit grauen Locken und einer untersetzten Statur, die ein waldmeisterfarbenes Rüschenkleid und schneeweiße Stiefeletten trug. Auf der faltigen Nase ritt eine silberne Brille mit dicken Gläsern. Daraus schloss Julius, dass die Schreiberin mindestens schon siebzig Jahre alt sein mochte, wenn nicht noch älter. Schnell ließ er das heraufbeschworene Abbild verschwinden, um in der Zeit, die die zwei anderen Hexen nun über sein Schicksal verhandeln mochten, was wegzuarbeiten.

Was die altehrwürdige Hexe Gloria Puddyfoot schrieb war eher eine Antwort auf die Frage, ob gemischtrassige Hexen und Zauberer aus Frankreich ein besonderes Einreisevisum für die vereinigten Staaten benötigten oder nicht. Er musste einen Moment schlucken, als er las, dass Veelastämmige, sowie die von Riesen, Zwergen und Kobolden abstammenden, je nach Anteil der humanoiden Zauberwesenrasse und Größe derselben eine Visumsgebühr zwischen drei Sickeln für Achtelzwerge bis fünf Galleonen für Halbriesen pro Aufenthaltswoche entrichten sollten. Julius' Frau war eine Viertelzwergin, obwohl sie mit 1,95 m absolut nicht danach aussah. Das aber lag daran, dass in der mütterlichen Linie mehrere Generationen zurück eine Riesin vorkam. Seine Töchter wären insofern eindeutige Achtelzwerge und müssten für die angefangene Aufenthaltswoche jeweils drei Sickel bezahlen, seine Frau sogar sechs Sickel. Gloria Puddyfoot verhehlte nicht, dass sie diese Idee hatte und damit zum Zaubereiminister gehen würde, wenn aus anderen Ländern Zustimmung signalisiert wurde. Als Begründung für diese Maßnahme führte sie an, dass durch gemischtrassige Hexen und Zauberer Verstimmungen mit den Zaubererweltbürgern der USA aufkamen und wegen ihrer Teilabstammung auffällige Hexen und Zauberer einen größeren Aufwand an muggeltauglicher Informationsdarstellung erforderten.

"Da ist ein rassistischer Sausack weg, und schon kommen anderswo neue aus den Löchern", dachte Julius. Im Grunde wollten die Yankees genau das, was in Frankreich auch gerade hitzig diskutiert wurde, eine Besteuerung von gemischtrassigen Hexen und Zauberern. Er verstand aber jetzt, dass Ornelle ihm diesen Schrieb auf jeden Fall zur Bearbeitung gegeben hätte, eben weil er persönlich betroffen war. So atmete er mehrmals ein und aus, um die ihm zuerst durch den Kopf schwirrenden Begriffe für dieses Verhalten zu verdrängen. Dann setzte er sich ruhig hin und verfasste eine möglichst sachliche Antwort.

Sehr geehrte Madam Puddyfoot,

In Bevollmächtigung und im Auftrag von Melle. Ventvit erhalten Sie folgende Antwort auf Ihr Schreiben vom 18.08.2002.

Die Absicht, gemischtrassige Hexen und Zauberer mit einem kostenpflichtigen Einreisevisum zu bedenken, erregt sichtliche Verwunderung, weil Ihre Staatenunion bislang Vorreiter der uneingeschränkten Reisefreiheit für magische Bürgerinnen und Bürger aus anderen Ländern war. Es ist verständlich, dass der Aufenthalt ausländischer Bürger, vor allem Dauer und Zweck desselben, vorher angemeldet werden soll, um einen Überblick über Ferienreisende oder geschäftlich tätige Damen und Herren aus dem Ausland zu erhalten. Wenn jedoch jetzt noch ein Nachweis auf Abstammung von humanoiden Zauberwesenarten zu erbringen ist, so würde dies kurzfristige Reiseplanungen bis zur Unmöglichkeit erschweren und zudem noch einen personellen Mehraufwand erfordern, um die entsprechenden Nachweise zu erbringen oder deren Vollständigkeit und richtigkeit zu überprüfen. Damit würde der von Ihnen dargelegte Grund schon hinfällig, dass Besucher mit auffälligem Erscheinungsbild auf Grund andersrassiger Vorfahren einen personellen und finanziellen Mehraufwand erforderten. Ebenso sehe ich mit großer Besorgnis, dass hier der Grundstein für eine weiterführende Beschränkung von Besuchern gelegt werden könnte, wo es dann nicht nur bei der Abstammung von humanoiden Zauberwesen bliebe, sondern durchaus auch nachzuweisen sei, ob jemand ein sogenannter Reinblüter, Halbblüter oder von magielosen Eltern stammender Zaubererweltbürger ist. Da ich selbst von Eltern abstamme, die zum Zeitpunkt meiner Zeugung keine Magie erkennen oder anwenden konnten, komme ich nicht darum herum, hier eine gewisse Besorgnis zum Ausdruck zu bringen, dass Ihr Vorschlag erst auf Nachkommen von Kobolden, Riesen, Waldfrauen oder Zwergen abzielt und später auf dieselbe unrühmliche Einteilung zwischen sogenannten Reinblütern und Muggelgeborenen erweitert werden könnte. Aus der jüngeren Vergangenheit meines Geburtslandes und der daraus resultierenden Folgen für den europäischen Kontinent kann ich nur betonen, dass Sie sicher nicht dieselben schweren Verfehlungen gegen menschliches Miteinander begehen möchten, indem Sie bereits im Ansatz etwas rechtfertigen, dass nur in eine Spaltung innerhalb der Gesellschaft ausarten kann. Dieses Vorgehen, werte Madam Puddyfoot, würde neben der rein menschlichen auch eine wirtschaftliche Beschränkung nach sich ziehen, da viele Handelsgeschäfte seitens ausländischer Firmen innerhalb der USA erschwert bis völlig verhindert werden könnten. Welchen gutgemeinten Grund Sie bei der Erarbeitung Ihrer Idee haben mochten, so möchte ich höflichst darum bitten, meine Gegenargumente als schwerwiegend und Ihrer Begründung übergeordnet anzusehen und von einer Umsetzung in ministerielle Maßnahmen abstand zu nehmen. Es ist schon schlimm genug, dass in der magielosen Welt Ihres Landes bis heute eine Ungleichbehandlung zwischen Menschen unterschiedlicher Hautfarbe besteht, auch wenn dies in den Gesetzen Ihres Landes strickt untersagt wird. Falls Sie jetzt damit anfangen, Besucher Ihres Landes danach zu beurteilen, von wem er oder sie abstammt, vernichten Sie alle Errungenschaften der letzten hundert Jahre und führen den Anspruch auf Fortschrittlichkeit Ihres Landes ad absurdum. Daran kann und wird Ihnen und Ihrem obersten Dienstherren sicher nicht gelegen sein.

Mit großer Zuversicht, dass Sie meine Argumente beherzigen werden verbleibe ich

mit freundlichen Grüßen

I. V. und I. A. Julius Latierre

Nachdem er den Brief unterschrieben hatte legte er ihn auf Ornelles Schreibtisch. Sollte sie was daran auszusetzen haben sollte sie ihm das sagen, bevor er ihn losschickte. Er nahm den nächsten Brief, der aus Riat in Saudi-Arabien stammte und in Runenschrift verfasst war. Julius musste erst einige Minuten alle Übersetzungsmöglichkeiten durchdenken, bis er die eine klare Auslegung herausgearbeitet hatte. Er schrieb sich den Brief dann in gewöhnlichem Text ab. Der Arabische Zauberwesenbeauftragte Tarik ben Faruk iben Harun Al-Bagdadi teilte mit, ddass er bei der im Herbst anstehenden Konferenz von Zauberwesenbeauftragten in Algier anwesend sein würde und dabei über die grenzüberschreitende Bekämpfung bösartiger Zauberwesen wie Dschinnen, Vampiren und Beischlafdämoninnen sprechen wolle. Weiterhin stand in dem Brief, dass vor dieser Konferenz eine panarabische Konferenz zur Erarbeitung von Gesprächsthemen und Maßnahmenvorschlägen stattfinden würde, über deren Ausgang der Verfasser im September Kenntnis erhalten würde. Julius erkannte, dass auch dieser Brief ihn unmittelbar betraf. Hatten die Leute aus dem Morgenland doch erkannt, dass die bisherige Einteilung in Kulturkreise und Zuständigkeiten bei der Bekämpfung von Itoluhila und ihren Schwestern sehr hinderlich war. Offenbar war es auch bei den überwiegend männlichen Verantwortlichen aus dem Orient durchgedrungen, dass die neunte Abgrundstochter aufgewacht war. Sollte er jetzt schreiben, dass er gerade vor wenigen Stunden mit dieser zu tun gehabt hatte? Besser nicht! Doch er stellte sich jetzt die Frage, was genau aus Errithalaia geworden war. Hatte er sie nur vertrieben oder total geschwächt, dass sie wieder in den langen Schlaf gefallen war? Und was war mit seiner Tante wirklich passiert? Musste er damit rechnen, dass sie irgendwo wieder auftauchte? Was würde sein, wenn ausgerechnet er auf sie traf? Würde Itoluhila es genau darauf anlegen, dass er ihr wieder begegnete? Oder war seine Tante bei der Auseinandersetzung mit Itoluhila wahrhaftig gestorben, ja hatte Itoluhila diesen Kampf womöglich nicht überstanden?

Da auf das Schreiben nur eine kurze Bestätigungsantwort erbeten war schrieb er dies in Runenschrift nieder. Auch diesen Brief legte er zur abschließenden Genehmigung auf Ornelles Schreibtisch.

Er wollte gerade einen mehrseitigen Bericht der Gruppe Ostland durchlesen, als Ornelle und Belle in das Büro zurückkehrten. Ornelle sah die schon bearbeiteten Briefe auf ihrem Tisch an und dann den Bearbeiter. Sie sagte: "Monsieur Latierre, das Büro für Zauberwesen größer als Zwerge und Hauselfen erhielt zeitgleich mit dem Büro für die Friedliche Koexistenz von Menschen mit und ohne magische Begabungen eine direkte Anfrage seitens der britischen Behörde für friedliche Koexistenz von Menschen mit und ohne magische Begabungen, ob wir Ihnen, Monsieur Latierre, den Auftrag erteilt hätten, ohne vorherige Anmeldung bei den britischen Kollegen nach London zu reisen und dort einer Witwe namens Mrs. Alison Andrews einen Besuch abzustatten, bei dem es nicht um ein freundschaftliches oder verwandtschaftliches Zusammentreffen, sondern um magische Kamfhandlungen mit einem daselbst unerlaubt erschienenen Geschöpf kam, das zu den sogenannten Töchtern des Abgrundes gehört. Da Umstände und Auswirkungen dieses von Ihnen abgestatteten Besuches womöglich einer sehr hohen Geheimhaltungsstufe zuzuordnen sind möchte der Leiter erwähnter Behörde Großbritanniens in eigener Person Rechenschaft und Hergangsbeschreibung erfahren. Zu diesem Zweck wird er sich im Laufe des morgigen Vormittages im Amtszimmer von Madame Grandchapeau einfinden, sofern wir diesen Besuch genehmigen. Sie wurden ausdrücklich darum gebeten, dieser Unterredung als am Hergang im Hause Andrews beteiligter für Befragungen zur Verfügung zu stehen. Madame Grandchapeau und ich haben unverzüglich auf diese Anfrage und Ankündigung geantwortet. Sie wurden von uns im Zuge von Gefahr im Verzug unmittelbar und unter Umgehung der üblichen Anmeldevorschriften unter Berechtigung begründeten Notstandes beauftragt, eine uns zugegangene Warnung vor einem Angriff auf Mrs. Andrews zu überprüfen und bei Erfolgen eines solchen Angriffes mit Ihren besonderen Kenntnissen abwehrend einzugreifen. Dies zum Punkt Ihres Dortseins, Monsieur Latierre. Zum Punkt der erbetenen Unterredung haben wir Mr. Abrahams eingeladen, näheres über diesen Vorfall von Ihnen zu erfahren und deshalb zum von ihm erfragten Zeitpunkt in Madame Grandchapeaus Amtsräumen Ihre Beobachtungen und ergriffenen Maßnahmen zu erfahren, um für seine Behörde sachdienliche und rechtfertigende Argumente zusammenzutragen. Auf Grundlage dieser Tatsachen hoffen wir beide, Madame Grandchapeau und ich, auf ihre uneingeschränkte Mitarbeit."

Julius nahm diese formelle Ansage mit einem Nicken und einem kurzen "Verstanden" zur Kenntnis. Doch dann wandte er ein, dass er auch Mr. Abrahahms nichts von jenen Zaubern erzählen durfte, die ihm die Kinder Ashtarias beigebracht haben. Innerlich ärgerte er sich, dass er nicht daran gedacht hatte, Haarfarbe und Gesicht durch teilweise Selbstverwandlung zu verändern. Er wusste schließlich, dass in London mindestens drei Rückschaubrillen verwendet wurden. Dass Tim Abrahams ihn wegen des Tathergangs befragen wollte konnte jedoch nur bedeuten, dass damit nicht alles gesehen werden konnte, was im Haus seiner nun offiziell für tot anzusehenden Tante passiert war. Das hieß, dass auch die Abgrundsschwestern wie die Veela ihre Anwesenheit an einem Ort verbergen konnten, vielleicht sogar durch Anwendung ihrer Magie eine Rückbetrachtung total verfälschen konnten. Zumindest konnte er jetzt davon ausgehen.

"Ich hoffe inständig für Sie, Monsieur Latierre, dass Ihre bisherigen Angaben über die uns unbekannten Zauber zutreffen und dass Sie uns deshalb nichts darüber verraten dürfen, weil Ihnen wahrhaftig schwerwiegende Auswirkungen angedroht oder bereits auferlegt wurden", sagte Ornelle Ventvit. "Sie und ich wissen nicht, wie die Ministerwahl ausgehen wird. Der künftige Zaubereiminister oder die künftige Zaubereiministerin könnte geneigt sein, Ihre Angaben als verdeckte Illoyalität zu deuten. Sie sollten vielleicht doch in Erwägung ziehen, jenen, die eindeutig wohlwollende Ziele verfolgen, über Art und Umfang der zusätzlichen Ausbildung zu unterrichten."

"Dies zu entscheiden liegt wie häufig zu Protokoll gegeben nicht in meinem Ermessen. Außerdem wurde schon oft genug entsprechend auf die Frage geantwortet. Mir sind durch die Begegnungen mit zweien dieser Abgrundstöchter, jetzt also auch drei Begegnungen, gewisse Sachen zugestanden worden. Das ist aber kein Allgemeingut. Außerdem, Mademoiselle Ventvit, hat sich leider schon erwiesen, dass heute wohlwollend und mitmenschlich auftretende Personen morgen unter magischem Einfluss oder aus Angst vor üblen Auswirkungen oder aus gewisser Sympathie für den Unterdrücker die schlimmsten Taten verüben können. Insofern bin ich froh, dass mich niemand dazu zwingen kann, die mir beigebrachten Zauber und Kenntnisse gegen meinen Willen preiszugeben. Selbst wenn ich aus Angst vor Angriffen auf mich oder geliebte oder verehrte Mitmenschen bereit wäre, diese Geheimnisse zu verraten, würde mir der von den Kindern Ashtarias aufgeprägte Erfüllungszauber alle Erinnerungen daran nehmen, sobald ich sie in irgendeiner Form an Unbefugte weitergeben will. Daran kann und wird auch ein Minister Lesfeux oder Louvois nichts ändern."

"Öhm, Sie räumen mir also auch keine Wahlchancen ein?" fragte Ornelle Ventvit.

"Bei Chancengleichheit für jeden haben Sie gerade fünfundzwanzig Prozent der Wählerstimmen in Aussicht. Die restlichen fallen den drei übrigen Kandidaten zu."

"Das ist aber eine sehr schlaue Antwort", meinte Belle Grandchapeau, die sich in den letzten Minuten still verhalten hatte. Ornelle hakte da nicht weiter nach. Sie gab Julius nur noch einen mit Belle erarbeiteten Antwortbrief, wo er im Feld "Hergangsbeteiligter" unterschreiben musste, dass er mit dem Termin der Unterredung einverstanden war.

Nachdem Belle wieder in ihr Büro gegangen war las Ornelle die bereits bearbeiteten Briefe aus den Staaten und Saudi-Arabien. "Sie können sich sicher denken, dass ich so oder so diesen Vorgang aus den Staaten an Sie abgeben würde, Julius", sagte sie. Julius nickte bestätigend. "Ist schon ein starkes Stück, ausgerechnet uns damit zu kommen, dass bei denen da drüben eine Einreisesteuer für gemischtrassige Hexen und Zauberer eingeführt werden soll. Den Brief können Sie so rausschicken. Ich unterschreibe Ihnen den sogar, damit die werte Dame nicht auf die Idee kommt, Sie hätten ohne meine Erlaubnis gehandelt", sagte Ornelle Ventvit noch.

Julius nahm sich dann noch den Bericht der Riesenbeobachtungsgruppe Ostland vor, wobei hier im Wesentlichen die Fähigkeiten der grünen Gurgha Nal beschrieben wurden, die auf ihr kleines Volk angesetzten Detektionsdrachen zu überlisten oder im Flug zu zerstören, wenn sie all zu nahe herankamen. Die Fähigkeit der Hybridin zwischen grüner Waldfrau und Riese, Wirbeltiere ihrem Willen zu unterwerfen, half ihr dabei, die über ihr kreisenden Beobachtungsartefakte dann gezielt von Greifvögeln angreifen zu lassen, wenn sie das für richtig hielt. Die auf sie angesetzten vier Zauberer aus Deutschland, Russland, Frankreich und England hielten sich klugerweise mehr als fünf Kilometer von Nals Kolonie entfernt auf, auch wenn jeder dort zwitschernde Vogel ein feindlicher Spion sein konnte. Doch die Ostlandgruppe war weiterhin wichtig. Denn Nal hatte es hinbekommen, dass alle fruchtbaren Riesinnen gerade Nachwuchs erwarteten, sie eingeschlossen, wobei die Ostland-Beobachter nicht wussten, ob sie das Kind eines Riesens austrug oder das eines unter ihren Bann geratenen Menschen. Julius dachte mal wieder daran, dass diese grüne 6-Meter-Frau auch gerne Kinder von ihm haben wollte. Hoffentlich war sie davon abgekommen. Zumindest aber verhielt sie sich weitestgehend friedlich und hielt auch die reinrassigen Riesen unter Kontrolle. Die Ministerialzauberer der Ostlandgruppe wussten zu gut, wie schnell die sonst immer so berserkergleichen Geschöpfe zu hemmungslos brutalen Dreinschlägern und Zerstörungswütigen werden konnten und dass diese Eigenheiten bei Nals Tod sicher wieder voll durchschlagen würden. Immerhin war Hagrid mittlerweile wieder aus dem St.-Mungo-Krankenhaus entlassen. Er war jetzt frei von Nals Einfluss, soweit die Heiler. Wie weit er sich davon erholt hatte, dass er zeitweilig ihr willenloser Helfer gewesen war verrieten die Heiler nicht. Julius wusste mittlerweile von Tim Abrahams, dass er sehr lange nach der Entwöhnung von den Körperflüssigkeiten und Bezauberungen einer grünen Waldfrau darunter litt, derartig ausgenutzt worden zu sein.

Der restliche Arbeitstag verlief mit eher niederrangigen Anfragen von Urlaubsreisenden, die wissen wollten, was sie an ihren Reisezielen für Zauberwesen treffen würden. In der Hinsicht stach ein auf Englisch verfasster Brief aus Tokio hervor, wo es um eine Touristenfamilie aus Nantes ging, die sich mit einer Gruppe Kappas angelegt hatten. Das japanische Koboldkontrollamt wollte hierzu anfragen, inwieweit aus der ziemlich heftigen Begegnung Schadensersatzansprüche geltend gemacht werden könnten, da dabei der Zierteich eines wohlhabenden Muggels mit samt seinen wertvollen Koi-Karpfen zerstört worden war. Da dies durchaus auch das Büro von Belle Grandchapeau betraf wurde von dem Anschreiben eine Kopie für das Koboldverbindungsbüro und für das Büro für friedliche Koexistenz gemacht. Die Urlaubsreisenden sollten zu einer Anhörung geladen werden, um ihre Sicht der Ereignisse darzustellen. Julius schrieb nur als Vermerk, dass Kois so wertvoll waren, dass sie schon wie teure Autos oder große Häuser als Statussymbole anzusehen waren. Er ließ auch nicht aus, dass genau zu prüfen sei, ob die angegebene Zahl der Edelkarpfen überhaupt stimme und gab einen ungefähren Preis für so einen Fisch an, wie er ihn von seinem Karatelehrer Tanaka erfahren hatte, dessen Onkel eine Koifarm betrieben hatte.

"Und, haben sie dich doch noch am Leben gelassen?" fragte Millie, als Julius wieder ins Apfelhaus zurückgereist war. Er bejahte es und schilderte seinen Arbeitstag.

"Mein Chef hat eine Anfrage von Louvois erhalten, warum er bisher nicht auf die Vorwürfe eingegangen sei, dass Montpelier seine Verwandtschaft begünstigt haben soll."

"Und?" wollte Julius wissen.

"Gilbert Latierre hat ihm geschrieben, dass er seit der Ära Didier nur noch als aufmerksamer und auch kritischer Wahlkampfbeobachter tätig sei, aber nicht alles fressen würde, was einer der Kandidaten an Ködern für die Presse auslege. Das gelte auch für Montpelier oder Lesfeux", antwortete Julius' Frau. Dann ging es zu Julius' Erholung darum, dass Aurore heute bei den Kindern von Sandrine und Gérard gewesen sei und Chrysope es nun hinbekam, sich in eine andere Lage zu drehen, wann immer sie wollte. Dadurch, dass Millie sie aber meistens auf dem Rücken trug, wenn sie das Haus verließ, bekam sie eine Menge Eindrücke von der Umwelt mit und zeigte durch Arm- und Handbewegungen, was ihr gefiel oder missfiel.

"Ich habe noch mal ein Bild von uns zweien gemacht und es per Eule an Belisama geschickt. Damit die sieht, wie es ihrem Patenkind geht", sagte Millie noch. Julius nahm das mit einem erfreuten Lächeln zur Kenntnis. Dann wollte er noch wissen, wie es der kleinen Héméra ging. Millie sagte dazu, dass Martine und Alon schon überlegten, nach Martinique umzuziehen, falls Louvois Zaubereiminister würde. Denn das sei dann wohl der einzige Ort, an dem sie diesem Zauberer nicht mehr über den Weg laufen würden.

"Wieso, der hat doch da sicher Freunde und Verwandte", meinte Julius nicht ganz so ernst gemeint.

"Sein Hofstaat, sagt Tine, die es von der großen Héméra hat. Falls der echt dein neuer Chef wird holt er alle rüber, die ihm dieses Amt gegönnt haben und ihm auch weiterhin helfen wollen. Allerdings könnte es dann passieren, dass er gegen diese Meerleute Krieg anfangen will. Immerhin gibt's da ja noch ein paar trauernde Witwen und Halbwaisen, die es deiner direkten Vorgesetzten und Minister Grandchapeau übelnehmen, dass die Meerleute nicht ordentlich für die fünf toten Angehörigen bestraft wurden. Gemäß dem Grundsatz, dass Mord nicht verjährt und Meerleute ja jetzt den Status denk- und verhandlungsfähiger Zauberwesen innehaben sollte es eine Strafexpedition in diese Meermenschenkolonie geben."

"Noch ein Grund mehr, dass dieser Typ nicht auf Armand Grandchapeaus Stuhl landet", grummelte Julius. Seine Frau konnte ihm da nur beipflichten.

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In Itoluhilas Unterschlupf


zehn Stunden nach dem Kampf in Alison Andrews' Haus

Sie fühlte es, wie ihr immer mehr Lebenskraft verlorenging. Sie fühlte, dass sie bald nicht mehr frei und wach sein würde, wenn das so weiterging. Doch sie konnte nichts dagegen tun. Zwar hatte sie den Kampf gegen ihre jüngste Schwester überstanden, sich noch vor dem totalen Verlust ihres eigenen Körpers von ihr losreißen und in ihr Versteck überwechseln können. Doch es erschien ihr jetzt wie die Vernichtung einer Schlange durch einen Drachen, dass sie den in ihr wirkenden Anteil von Errithalaias eigener Kraft in den von ihr umgewandelten Körper von Alison Andrews ausgelagert hatte. Denn aus einem ihr nicht nachvollziehbaren Grund hatte Itoluhila dadurch etwas ausgelöst, dass ihr selbst noch ärger zusetzen mochte als die Gefahr, von Errithalaia überall außerhalb ihres Verstecks aufgespürt zu werden. Jetzt lag Alison Andrews' Körper, der die äußere Form von Itoluhilas und Errithalaias Mutter Lahilliota angenommen hatte, in Itoluhilas Lebenskraftkrug. Dieser hatte beim Eintauchen der Umgewandelten und Neubeseelten nicht mehr golden gestrahlt, sondern schimmerte nur noch in einem violetten Licht wie Wolken, die die letzten Sonnenstrahlen streuten. Sie wusste, dass sie nicht in diesen Krug hineinklettern konnte, solange sie dort drin ruhte und sich mit ausgelagerter Lebensenergie vollsog. Zu gerne hätte sie gewusst, wieso die Seele ihrer Mutter, die durch ihre letzte Niederkunft als untergeordneter Anteil in Errithalaias Seele eingeschlossen worden war, wieder freigesetzt wurde und über Itoluhila den Weg in einen neuen Körper gefunden hatte. Lag es daran, dass Errithalaia gegen Julius Latierre gekämpft hatte? Hatte der sich ernsthaft zum Kampf gestellt? Natürlich hatte er das, wo er einen dieser widerlichen Silbersterne bei sich hatte, der ihm auch noch die volle Schutzkraft bot.

Itoluhila hatte neun der zehn Stunden verschlafen, die ihre aus jahrtausende langer Gefangenschaft befreite Mutter in ihrem Krug zubrachte. Doch wenn sie jetzt nicht langsam erfuhr, ob diese nun endlich genug fremde Lebensenergie in sich aufgenommen hatte, dann würde für sie nichts mehr übrig bleiben, außer den fünf Leben, die sie in ihrem eigenen Körper eingelagert hatte. Wenn ihre Mutter, die jetzt in Alisons verjüngtem Körper neuen Halt gefunden hatte, auch diese fünf Leben einforderte, dann würde Itoluhila heute noch ihre körperliche Existenz verlieren. Würde sie dann sofort zur neuen Tochter Lahilliotas werden? Oder würde ihre entkörperte Seele in den Körper einer der anderen Schwestern überwechseln um sich dort zur vaterlos gezeugten Leibesfrucht zu verstofflichen? Keine angenehmen Vorstellungen. Was hatte sie nur angerichtet? Sie hatte anstatt Hallitti in sich aufzunehmen lieber ihrer Schwester Ilituhla diese Bürde aufgeladen. Doch diese war darauf aus, sich ein legendäres Artefakt zu sichern, mit dem sie ihre eigene Macht steigern konnte. Hätte sie damals den verjüngten Körper von Hallittis letztem Abhängigen getötet, um Hallitti von der letzten Verbindung zur stofflichen Welt zu lösen, damit sie sich neu entwickeln konnte? Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sie durch ihre Handlung indirekt mitgeholfen hatte, dass Errithalaia wiedererwacht war und jetzt nicht mehr niedergerungen werden konnte. Oder war die jetzt doch geschwächt, dadurch, dass sie den ihr untergeordneten Anteil der mütterlichen Seele verloren hatte? Besaß Errithalaia überhaupt noch einen lebenden Körper, oder irrte ihre Seele nun in der Welt umher, um in einer der wachen Schwestern neu empfangen zu werden? Itoluhila hoffte inständig, dass nicht sie diese neue Mutter werden musste. Aber selbst zur von einer ihrer Schwestern abhängigen und hilflosen zu werden gefiel ihr noch weniger.

Unvermittelt wechselte das Leuchten des Kruges von dunklem Violett zu Orangerot. Itoluhila fühlte, wie die an ihr saugende Kraft verebbte. Dann hob sich der Deckel an und überirdisch schön, gerade erst erblüht, stieg ein junges, schwarzhaariges Mädchen mit mittelbrauner Hautfarbe und dunkelbraunen Augen aus dem Krug heraus. So hatte ihre Mutter also ausgesehen, lange bevor sie sich darauf eingelassen hatte, neun vaterlos gezeugte Töchter zu gebären, erkannte Itoluhila.

"In deinem Geist sehe ich mein Spiegelbild, meine Tochter", sagte das junge Mädchen mit glockenreiner Stimme, die jedoch immer noch nach der von Alison Andrews klang. ""So kann ich nun den Prozess der eigenen Unsterblichkeit durchlaufen, auf dass mir nie wieder solches Ungemach widerfährt, wie es mich durch meine jüngste Tochter viel zu lange unterdrückte. Öffne die Höhle, damit ich den kurzen Weg nehmen kann!"

"Bitte verrate mir erst, was mit Errithalaia geschehen ist!" sagte Itoluhila.

"Sie wurde besinnungslos. Da ich erst wieder in meinem eigenen Reich sein muss, um die geistigen Fäden zu jeder anderen von euch zu knüpfen, kann ich dir im Moment nicht sagen, was aus ihr wurde. Womöglich hat sie den mit mir erlebten Teil ihres Lebens vergessen. Vielleicht wurde sie dadurch aber auch stärker, dass ich, ihre Kraft- und Hemmquelle, von ihr abgeschieden wurde. So, und jetzt öffne die Höhle, oder ich muss dir auch jene Kraft entreißen, die du in deinem eigenen Leib trägst, damit ich diese Zuflucht beherrsche."

Itoluhila erkannte, dass sie gegen dieses bildschöne, scheinbar gerade erst siebzehn oder achtzehn Sommer alte Wesen nichts ausrichten konnte. Denn sie fühlte den weit in den Raum atmenden Hauch der Macht, den die andere verströmte. Außerdem wirkte in ihr, Itoluhila, auch ein kleiner Anteil jener, der sie zu neuer Handlungsfreiheit verholfen hatte. Sie konnte den Befehl nicht verweigern.

Kaum hatte Itoluhila die geistigen Befehle an die mit ihrer Zauberkraft getränkten Wände ausgestoßen und die Höhle zur Außenwelt hin geöffnet, da verschwand die unbekleidete junge Jungfrau lautlos im Nichts. Itoluhila fühlte, dass die mächtige Ausstrahlung nur noch als sanfter Hauch zwischen den Wänden wehte und wusste, dass ihre befreite und wiederverkörperte Mutter den kurzen Weg genommen hatte. Itoluhila verschloss sogleich die Höhle wieder, damit niemand von außen ihre geheime Zuflucht betreten konnte. Ihr krug leuchtete nun wieder golden, das Zeichen, dass seine einzige Herrin anwesend war. Doch war sie das noch, die einzige Herrin ihres Lebenskruges?

"Ich muss neues Leben sammeln", dachte Itoluhila. Sie wusste, dass sie sonst zu leicht zu besiegen war. So nahm auch sie den kurzen Weg, um dorthin zu gehen, wo sie reiche Beute machen konnte. Der Krug glomm jetzt nur noch in einem blutroten Dämmerlicht.

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Im Zwei-Mühlen-Haus von Martha und Lucullus Merryweather bei Santa Barbara, Kalifornien


26. August 2002, 11:20 Uhr Westküstenstandardzeit

Martha Merryweather blickte mit sehr misstrauischen Augen auf die Hexe hinunter, die gerade mit diesem Einblickspiegel durch ihre Bauchdecke und die sichtlich angewachsene Wand ihrer Gebärmutter sehen konnte, wie es ihren drei Kindern ging. Wehe, diese Gesundbeterhexe kam darauf, dass sie die nicht alle drei austragen konnte. Sie dachte an einen Artikel im Westwind, wo eine mit vier Kindern schwangere Hexe zwei der Kinder hatte abgeben müssen, damit alle überleben konnten. Die war aber auch nicht durch den Genuss eines fragwürdigen Cocktails schwanger geworden, sondern durch einen anderen Empfängnisverstärkungstrank. Sie, Martha, würde die drei, die da in ihr heranwuchsen, auf keinen Fall hergeben. Das waren ihre Kinder. Die wuchsen in ihr und sollten nur von ihr geboren und gestillt werden.

"Der kleine Merryweather macht sich das echt bequem. Der liegt förmlich auf seinen zwei Schwestern und hört dem Pochen ihrer Plazenta zu, Martha. Von der Bewegungsfreiheit her wird es aber langsam eng. Ich teste mal, wie dehnbar Ihre Geschlechtsorgane sind. Kann jetzt ein wenig ziepen", sagte Chloe Palmer. Martha Merryweather grummelte nur was von wegen, bloß nichts kaputtzumachen. Da fühlte sie auch schon die wie von innen ihren Bauch und dann ihr Geschlecht ausdehnenden Kräfte, bis sie einen kurzen Aufschrei tat. "Autsch, sie Sadistin!"

"Wäre ich eine, die Lust am Leid anderer empfindet, dann hätte ich mit der drei- bis vierfachen Stärke gearbeitet", sagte Chloe Palmer ruhig. "Auf jeden Fall sollten Sie, wenn sie die drei ohne großes Risiko zur Welt bringen wollen, bei den nächsten Schwangerschaftsübungen auch mit der Denbarkeitslotion arbeiten, um zum Zeitpunkt der Niederkunft eine ausreichend schnelle Eröffnung hinzubekommen. Im Zweifelsffall werde ich oder meine Kollegin vom Dienst dann mit der konzentrierten Dehnbarkeitslotion den Geburtsweg weit genug eröffnen."

"Und Sie können immer noch nicht sagen, wann genau die drei ankommen wollen, Chloe?"

"Bei mehr als zwei Kindern bin ich da immer vorsichtig. Im Moment aber gehe ich von Mitte September bis Anfang Oktober aus. Das fällt dann aber genau in den Zeitraum, wo die anderen Mehrlingsschwangerschaften ausgetragen sein werden. Deshalb kann es dann sein, dass eine meiner nicht niedergelassenen Kolleginnen Ihnen beisteht."

"Dann kann ich ja gleich in ein Krankenhaus gehen und die drei von mir vertrauten Ärzten und Hebammen auf die Welt holen lassen", knurrte Martha Merryweather.

"Vielleicht nicht die schlechteste Idee. Aber das Krankenhaus sollte dann schon das Gratia-Matris-Haus oder das Honestus-Powell-Krankenhaus sein, wo kompetente Heilerinnen arbeiten. Ich habe im HPK zwanzig Belegbetten, wo ich besonders zu beachtende Schutzbefohlene unterbringen kann. Falls Sie das möchten, halte ich für Sie für den Zeitraum von September bis Mitte Oktober ein Bett frei. Mrs. Partridge hat auch schon darum gebeten."

"Und Mrs. Brocklehurst?" fragte Martha Merryweather.

"Die möchte ihr Kind auf jeden Fall im eigenen Haus bekommen, weil sie meinen Kolleginnen nicht über den Weg traut, was die Zubereitung der Tränke angeht."

"Gut, bitte reservieren Sie mir auch so ein Belegbett. Hauptsache, die drei kommen gesund zur Welt", sagte Martha.

"Ja, und damit sie auch gesund aufwachsen gebe ich Ihnen noch die Rezeptur für einen Trank, den sie jeder Speise beigeben können, um die Milchbildung zu fördern und einen Kaufschein für Stilleinlagen, wenn durch meinen Trank zu früh zu viel Vormilch austreten sollte."

"Das ist echt lange her, dass ich das alles mal durchgemacht habe", seufzte Martha Merryweather.

"Dafür haben Sie das bisher aber sehr souverän und ausdauernd durchgehalten", meinte Chloe Palmer, ein Kompliment anbringen zu müssen. Martha nahm es sogar mit einem Lächeln zur Kenntnis.

Nachdem Chloe Palmer die alle zwei Wochen angesetzte Untersuchung beendet und sich mit Flohpulver nach Viento del Sol zurückversetzt hatte holte Martha das ihr überlassene Kontaktarmband, mit dem sie kurz nach der Rückkehr gestern abend noch Julius über die mögliche Gefahr für ihre Schwippschwägerin Alison unterrichtet hatte. Hoffentlich hatte ihr Sohn noch rechtzeitig eingreifen können. Hoffentlich war er dabei nicht von einer dieser Abgrundsbiester gefangengenommen oder getötet worden. Sie brauchte jetzt Gewissheit. So schnürte sie sich das rosigfarbene Armband um und prüfte die Uhrzeit. Um die Zeit war Julius hoffentlich wieder zu Hause. Sie bekam jedoch nicht sofort Kontakt, wohl weil Julius das Armband nicht umhatte. So rief sie Camille, deren hochpotenten Silberstern er sich ausleihen wollte. Camille trug das Armband. Sie fragte Camille, ob Julius wohlbehalten wieder zurückgekehrt war. Camille bestätigte das und dass er leider einige Minuten zu spät gekommen war, um Alison noch vor einer dieser Kreaturen zu retten. Immerhin konnte er aber gegen die wohl mächtigste von denen, die in Gestalt eines Riesenkäfers herumfliegen konnte, bestehen und damit Alisons unschuldige Nachbarn vor der Wut dieser Kreatur schützen. Wie das jetzt im Ministerium gehandhabt wurde wisse sie aber nicht, könnte das aber schnell rauskriegen. Martha bedankte sich bei Camille für diese kurze Rückmeldung. Dann erfuhr sie, dass Camille im nächsten Mai wohl zum dritten besser vierten Mal Großmutter werde, womit Martha nicht die einzige schwangere Hexe in ihrem Bekanntenkreis sei.

"Die hat aber nur ein Kind in Aussicht, oder?" fragte Martha. Camille meinte, dass Hera nur einen Embryo gesehen habe. Martha fragte, ob Julius das schon wisse. Camille lief ein wenig rotbraun an und sagte, dass Jeanne das erst in fünf Wochen offiziell verkünden wolle, wenn die Mercurios ihr erstes Heimspiel bestritten. Martha nickte und verabschiedete sich von Camille.

Drei Minuten später erschien Julius' räumliches Abbild vor ihr in der Luft. "Camille hat mir zugemelot, dass du mich sprechen wolltest. Sie hat dir auch schon das erzählt, was ich ihr sozusagen im Schnelldurchlauf erzählen konnte. Meine zwei Chefinnen waren zwar nicht sonderlich begeistert davon, dass ich mal eben nach London rübergesprungen bin. Aber als ich dann erklären konnte, warum das so war hatten sie ein Einsehen. Als dann noch Tim Abrahams wegen Florymonts Rückschaubrille mitbekam, dass ich da war, aber diese Abgrundsschwestern da selbst nicht gesehen hatte haben sie im Nachhinein meinen Ausflug als durch gerechtfertigten Notstand genehmigt bestätigt. Jetzt will Tim morgen Vormittag unserer Zeit bei Belle Grandchapeau im Büro sein, um sich von mir die ganze Kiste noch mal erzählen zu lassen."

"Oha, hätte ich das gewusst, hätte ich wohl doch eher die vom Institut auf die Sache angesetzt. Dir ist klar, dass die beiden Damen aus dem Ministerium dich jetzt sehr gut am Haken haben, was mögliche Schuldabtragungen angeht, mein Sohn?"

"Du meinst, weil sie mir den Rücken gedeckt haben, Mum? Da habe ich auch schon dran gedacht. Aber das wird nichts an meinem Beschluss ändern, den ich gefasst habe, als Louvois und Lesfeux angefangen haben, sich und Montpelier mit Dreck zu bewerfen."

"Du willst aus dem Ministerium raus, wenn da wer einzieht, der dir nicht passt?" fragte Martha Merryweather besorgt. Julius' Abbild nickte. "Wenn du das jedesmal so machen würdest, wenn dir die Meinung des Chefs nicht passt ... Aber lassen wir das. Hast ja in gewisser Weise recht."

"Mum, auch wenn du mir jetzt den von hunderten von Vätern und Müttern schon gehaltenen Vortrag von der Duldungs- und Hinnahmebereitschaft von Arbeitnehmern gegenüber ihren Vorgesetzten herunterbeten möchtest, so sage ich dir zwei Sachen: Lesfeux und Louvois können mich nicht ausstehen. In der Atmosphäre kann niemand anständig arbeiten. Zweitens, falls einer der beiden gewählt wird, weil Ornelle Ventvit die gegen sie erhobenen Vorwürfe der Riesen- und Zwergebevorzugung nicht aus den Köpfen der Wähler rauskriegt, dann brauche ich nur die Hand auszustrecken, um am nächsten Tag wieder Geld zu verdienen. Mit einer dieser Geldquellen hast du gerade über das Armband geplaudert. Die andere Geldquelle ist Catherine Brickston. Die hat mir angeboten, ich könnte als Assistent für sie arbeiten, insbesondere bei der Suche nach Hinweisen über dunkle Hinterlassenschaften und Sachen aus dem alten Reich, die nur in der magielosen Welt auftauchen. Sie könnte mir da zwar keinen Beamtensold zahlen, sondern gerade mal die hälfte von dem, was ich jetzt gerade verdiene, aber da hätte ich zumindest die Gewissheit, dass meine Arbeit auch anerkannt wird. Bei Camille bekäme ich sogar ein Drittel mehr als jetzt, weil sie mich nicht als einfachen Gärtner, sondern Beauftragten für An- und Verkauf von Zauberpflanzen sieht, der ja durch die eigenen Kontakte schon eine gute Grundlage habe. Dann hat Catherines Mutter mir sogar schon angeboten, dass ich dann, wenn ich im Ministerium keinen guten Stand mehr haben sollte, den Job machen kann, den Cynthia Flowers in Hogwarts gemacht hat, bevor sie von der Todesserbande als Muggelkinder-Aufspürgerät missbraucht wurde und deshalb den Job an ihre kleine Schwester Nelly abgetreten hat. Ach ja, und dass Gilbert Latierre mich als sogenannten Muggelweltreporter einstellen würde hat Millie mir heute beim Abendessen erzählt. Das alles werde ich aber erst genauer klären, wenn ich sicher bin, wer das Rennen machen wird."

"Ich habe genug eigenes zu tragen und weiß auch, dass du schon erkennen kannst, was du zu tun oder nicht zu tun hast, Julius. Ich wollte lediglich meine berechtigte Sorge äußern, dass du wegen dieser zwei Schlammschleudern nicht deine Ziele verwerfen sollst. Du hast ja schließlich im Ministerium angefangen, um deine Kenntnisse und Fähigkeiten zum Schutz aller anderen einzusetzen. Sowas ginge dann gerade noch bei Catherine."

"Oder bei Camille, Mum. Immerhin weiß die ganz genau, was mir aufgeladen wurde", erwiderte Julius.

"Ja, aber das Arkanet würden sie dir wohl verbieten."

"Hallo, wo du das erfunden hast soll ich mich darauf verlassen, dass mir einer vom Ministerium erlaubt, es zu benutzen oder nicht?" konterte Julius auf diesen Einwand seiner Mutter. Diese seufzte. Offenbar vermurkste ihr Hormonhaushalt mal wieder ihr klares Denken. Natürlich hatte sie das Arkanetprogramm und alle Schnittstellenmodule erstellt. Wenn sie wollte, dass Julius damit arbeitete, dann bekam sie es hin, ohne dass wer von einem Zaubereiministerium das mitbekam oder gar unterband. Doch dann meinte Julius noch:

"Hmm, falls Louvois oder Lesfeux zum Zaubereiminister gewählt wird könnte dem Gewinner einfallen, dass du ein wenig zu weit von Paris wegwohnst, noch dazu auf anderem Hoheitsgebiet. Soweit ich von Melanie Redlief weiß hat Cartridge noch nicht aufgegeben, dich abzuwerben. Könnte Louvois ähnlich sehen, dich auch ohne konkrete Ablösesumme an seinen Verein abzutreten, nur um mir klarzumachen, dass er entscheidet, wer für ihn arbeitet oder nicht. Das nur so als kleine, ja auch gemeine Andeutung."

"Julius, sagen wir es so: Mir ist nicht wichtig, wie mein Vorgesetzter heißt, sondern dass das, was ich tue, meine ethischen Empfindungen nicht verletzt und mir und deinen drei künftigen Halbgeschwistern ein Dach über dem Kopf, ein warmes, weiches Bett, saubere Kleidung und später eine zukunftssichere Schulbildung ermöglicht. Wenn Cartridge echt meint, ich solle ausschließlich für ihn arbeiten und Louvois oder Lesfeux meine Dienste nicht mehr für nötig ansehen sollte, habe ich keine Probleme damit, zu wechseln. Nur so viel zu meinen Beweggründen, warum ich tue, was ich tue."

"Gut, ich kenne den US-Zaubereiminister Cartridge nicht so gut wie den aus der Welt gerissenen Minister Armand Grandchapeau", sagte Julius. "Wenn du mit ihm besser klarkommst als mit Grandchapeaus Nachfolger kein Problem."

"Das denke ich doch", sagte Martha Merryweather und musste schnell den Mund schließen, weil eines der drei Ungeborenen ihr so heftig in den Magen stieß, dass ihr fast das umfangreiche Frühstück zum Hals herausflog. Auch wenn ihr klar war, dass Julius an ihrem Gesicht sehen konnte, dass wer noch nicht sichtbares ihr gerade zugesetzt hatte, sagte sie nichts. Auch Julius sagte dazu nichts. Was zu besprechen war war eh geklärt. So konnten sich Mutter und Sohn voneinander verabschieden.

Sie hatte Julius nicht ganz die Wahrheit erzählt, was einen möglichen Anstellungswechsel anging. Sicher wollte sie weiter allen denen helfen, die zwischen Zauberer- und Muggelwelt vermitteln mussten. Doch sie hatte auch davon gehört, das Cartridge die Politik der leisen Stimme und des starken Knüppels verfolgte. Außerdem kannte sie verschiedene Behauptungen, Cartridge wolle zum gesamtamerikanischen Zaubereiminister werden, müsse aber noch Rücksicht auf die laufenden Verträge nehmen. Einige böswillige Zeitgenossen behaupteten sogar, Milton Cartridge sei nur der in der Öffentlichkeit auftretende Agent der Greendales, deren Enkeltochter Godiva er geheiratet habe. Doch was wirklich handfestes war bisher nicht bekannt geworden. So oder so legte sie es nicht darauf an, zur Erfüllungsgehilfin eines Ehrgeizlings zu werden. Anders als Julius, der an jedem Finger ein Angebot haben würde, musste sie nach neuen Möglichkeiten suchen, wenn sie nicht das tat, was sie Julius gerade eben fast geraten hätte, über den eigenen Schatten zu springen und duldsam und demütig für einen ungeliebten Vorgesetzten arbeiten. Zwar hatte Lucky mal behauptet, sie könne auch in Thorntails als Muggelkundelehrerin anfangen. Aber da würde sie jeden Tag ihrer Schwiegermutter über den Weg laufen. Außerdem hatte sie von allen, die in Thorntails waren gehört, wie standesbezogen die dortigen Lehrer waren und die Durecores, die ihren Stolz heraushängen ließen, dass sie nur reinblütige Zauberer und Hexen in der Ahnenlinie hatten, würden ihr das Leben schwer machen, auch wenn sie noch so geduldig war. Zur Zuchtmeisterin von pickierten Prinzen und Prinzessinnen wollte sie dann doch nicht degradiert werden. Doch irgendwas musste sie tun, damit die in ihr wachsenden Kinder eine sichere Zukunft hatten.

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Im Büro von Belle Grandchapeau im französischen Zaubereiministerium


27. August 2002, 10:00 Uhr mitteleuropäische Sommerzeit

Tim Abrahams war nicht allein gekommen. Soviel hatte Julius gleich mitbekommen, als er um zehn Uhr in Belles Büro gerufen wurde. Bei ihm war noch Melissa Whitesand, die für die britische Zaubertierbehörde arbeitete. Diese freute sich, Julius wiederzusehen. Zu gerne hätte sie mit ihm geplaudert, konnte er ihr anmerken. Doch sie war mit Tim herübergereist, weil sie sich mit Barbara Latierre über ein Abkommen über den Austausch von Aeton- und Abraxaner-Pferden austauschen sollte. Die franzosen wollten einige der normalpferdgroßn, fuchsfarbenen Tiere haben, weil sich rumgesprochen hatte, dass das sehr gute Ausdauerrenntiere waren. Die Briten, vor allem aber die Schotten, wollten eine Abraxanerherde in der Nähe von Glen McMahoon ansiedeln, zumal sie dort auch deren Hauptnahrungsmittel herstellten. Außerdem hatte Professor Hagrid nach seiner erfolgreichen Genesung von Nals Zauber beschlossen, im nächsten Schuljahr mit den Pferden im Unterricht zu arbeiten, die damals vor die Beauxbatons-Kutsche gespanntgewesen waren. So ging Melissa nach der Begrüßung von Madame Grandchapeau, der sie am Nachmittag in einer anderen Angelegenheit noch einen Besuch abstatten wollte, zu Madame Barbara Latierre, deren Büro sie ja auch schon kannte.

"So kommen wir gleich auf den Punkt", begann Tim Abrahams, nachdem das Büro zu einem zeitweiligen Klangkerker bezaubert war. "Woher hatten Sie den Hinweis, dass Ihre Tante von den Abgrundstöchtern bedroht wurde, wieso konnten Sie nicht den üblichen Dienstweg einhaltenund was genau haben sie vor oder in dem Haus ausgeführt, Monsieur Latierre?" Julius entspannte sich. Dann sah er den Besucher sehr ruhig an und schilderte diesem seine Erlebnisse. Dass er von der Bedrohung seiner Tante über die Bildverbindung über Viviane-Eauvive-Porträts erfahren hatte war zwar eine Lüge, konnte ihm aber so nicht nachgewiesen werden. Immerhin blieb er was den Rest anging fast bei der Wahrheit, wobei er nur wegließ, dass er sich einen Heilsstern Ashtarias ausgeborgt hatte. Dass Tim das doch wusste bekam Julius nach Beendigung seiner Geschichte von diesem serviert.

"Von wem haben Sie das hochpotente, sternförmige Artefakt entliehen, Madame Dusoleil oder Mr. Adrian Moonriver. Jetzt gucken Sie mich ja nicht so an, als dürfte ich das nicht wissen, dass die beiden solche Schmuckstücke haben. Wir sind hier unter uns."

"Das möchte ich zur Wahrung des Statusses der betroffenen Person und weil ich darauf einen magischen Eid abgelegt habe für mich behalten", erwiderte Julius, dem klar war, ab wann Tim seine Aktionen hatte beobachten können. Belle fragte Julius unverzüglich, was es mit diesen Sternen auf sich hatte. Julius erwähnte, dass dies eines der Geheimnisse der Kinder Ashtarias sei. Er habe nur gehofft, die Rückschaubrille könne von diesen Artefakten überlagert werden."

"Gut, da sie zu Beginn erwähnt haben, dass diese sich Kinder Ashtarias nennenden Damen und Herren Sie mit einem Verratsunterdrückungszauber belegt haben - was ich mir bei der Heftigkeit von deren Zaubern gut vorstellen kann -, nehme ich mal die naheliegenste Antwort auf meine Frage als gegeben hin. Ihnen ist aber sicher klar, dass ich durch meine sofortige Geheimhaltung dieser Vorgänge sehr stark unter Druck stehe. Ich muss was für die Akten haben, was mich berechtigt, Ihnen diesen unangemeldeten Ausritt nachträglich zu erlauben. Das sehen Sie doch sicher ein, Monsieur Latierre."

"Sie brauchen was für die Akten, dann schreiben Sie da bitte hinein, dass es schon damals zu einer Vereinnahmung von Alison Andrews gekommen ist und diese nur durch die Kinder Ashtarias beendet werden konnte, allerdings zu dem Preis, dass Claude Andrews von Itoluhila, einer der Abgrundstöchter, außer Landes geschafft und als ihr williger Lebenskraftspender und Erfüllungsgehilfe gehalten wurde, bis ihre Schwester Ilithula sich seiner bemächtigte und ihm seine Lebenskraft restlos entzog. Daher war es den Kindern Ashtarias wichtig, möglichst schnell zu reagieren, über Ländergrenzen und Instanzen hinweg, sollte sich so ein Vorfall noch einmal wiederholen. Sie bedauern, dass es keinen direkten Kontakt zu Alison Andrews gab und daher zu spät reagiert wurde. Anstatt ihnen andauernd wegen der ererbten Zauber und Artefakte nachzustellen, sollte ein Bündnis mit dieser kleinen Gruppe angestrebt werden, eben auch weil sie über Ländergrenzen hinweg tätig sind", sagte Julius völlig frei von Schuldgefühlen oder Einschüchterung. Belle und Ornelle stierten ihn nur mit großen Augen an. Sie hatten die Botschaft auch vernommen. Was Ornelle Ventvit anging, so konnte sie da vielleicht was mit anfangen, sobald sie als Zaubereiministerin bestätigt wurde. Was Belle anging, so wusste die ganz genau, woher Julius seine besonderen Zauber hatte und hatte ja als eine von wenigen die vier wichtigsten davon gelernt.

"Nun, über die Ausrichtung dieser kleinen Gruppe bin ich nur im groben unterrichtet, dass sie friedliche Zwecke verfolgt und daher nicht von sich aus tötet. Aber die magische Öffentlichkeit würde jeden Zaubereiminister, der mit ihnen eine Zusammenarbeit zu deren Bedingungen vereinbart in der Luft zerreißen. Der US-amerikanische Zaubereiminister hat das ja bei seinem Burgfrieden mit den Anthelianerinnen zu spüren gekriegt."

"Ja, und er ist immer noch Zaubereiminister", warf Ornelle Ventvit ein und nahm damit Julius die Worte von der Zunge.

"Dazu lasse ich mich mal besser nicht aus, weil ich morgen früh unserer Zeit bei dieser Gloria Puddyfoot vorsprechen muss, die diesen Mischrassenzoll einführen will. Da haben Sie sicher auch von gehört, die Damen und der Herr." Die Anwesenden nickten Tim Abrahams zu. dann sagte tim noch was, das Julius schon viel früher erwartet hatte:

"Immerhin haben Sie Felix Felicis verwendet, um sicherzustellen, dass Sie keinenunverzeihlichen Fehler machen. Haben Sie hierzu auf einen ministeriellen Vorrat zurückgreifen dürfen? Das stand in Mademoiselle Ventvits Erklärung nämlich nicht drin."

"Ich habe einen kleinen Privatvorrat zum Geschenk erhalten, den ich nur in solchen Fällen anrühren darf", sagte Julius. Warum Tim davon ausging, dass er den Felix Felicis getrunken hatte ergab sich wohl daraus, dass Julius den Kampf gegen Errithalaia gewonnen hatte und dass er wohl genau in dem Moment disapparierte, als dieser Ministeriumszauberer ihn mit einem Schockzauber belegen wollte. Tim Abrahams fragte dann noch:

"Besteht Ihrerseits Wunsch und Möglichkeit, eine Direktverbindung zwischen Ihrem Büro und meinem herzustellen, Madame Grandchapeau. Ich meine, solche Vorfälle sollten nicht durch herumfliegende Eulen übermittelt und beantwortet werden."

"Dann könnte ich gleich von jedem Zaubereiministerium der Welt eine Sende- und Empfangsmöglichkeit einrichten, sowas wie ein rotes Telefon oder was. Im Moment weiß ich auch nicht, mit welchem Zaubereiminister ihr traditionsreiches Land und unsere große Nation demnächst bedacht werden. Ich möchte daher Ihren Vorschlag als Vorschlag an den neuen Amtsinhaber zurücklegen."

"Gut, dann verfahre ich genauso", sagte Tim Abrahams. Ihren Vorschlag für die Akten nehme ich gerne auf, Monsieur Latierre. Das wird zwar meinen noch-Kollegen Weasley und meinen Noch-Vorgesetzten Minister Shacklebolt nicht erfreuen, dass da ausländische Stoßtrupps mal eben durch unser Land reiten wie die legendären Husaren. Aber ich müsste da den ersten Stein auf mich selbst werfen, weil ich ja auch damals mitgeholfen habe, dass Hexen und Zauberer ohne magische Eltern außer Landes verschwinden konnten. Und ohne diese Ritter des Lichts hätte ich heute keine mehrsprachige Assistentin. Also verbleibe ich damit, dass ich nun den Hergang kenne. Ich bedauere es, dass Sie Ihre Tante nicht rechtzeitig erreichen konnten. Die Ungewissheit ob sie tot ist oder nun eine Sklavin dieser Itoluhila ist bedauere ich ebenfalls. Zumindest kann ich meinen Verbindungsleuten bei der Polizei und dem Militär mitteilen, dass sie auf eine junge Frau zu achten haben, die wie Alison Andrews' Tochter aussehen mag."

"Vielleicht wird sie nicht mehr in England auftauchen, wo Sie ja meinten, ihr Haus niederbrennen zu müssen", musste Julius noch loswerden.

"Nachdem diese beiden Abgrundsschwestern es schon halb zerlegt haben, junger Mann. Das dürfen Sie gütigst nicht vergessen. Um einen so plötzlichen Zerstörungsakt gegen das Haus zu erklären mussten wir die Vernichtung vollenden. Aber wenn diese Itoluhila vorhaben sollte, Alison Andrews zu Ihnen zu schicken, dann kontaktieren Sie uns bitte so zeitnah wie möglich", bat Tim Abrahams noch.

"Gut, das kannich ohne Probleme akzeptieren", ging Julius auf diese Bitte ein. Oder war das schon eine Anweisung?

"Wo Sie schon einmal hier sind, Mr. Abrahams, könnten wir da nicht direkt über die Zuständigkeit für die im Kanaltunnel verlegten Spürsteine sprechen und die Registrierung aus Ihrem in unser Land einreisender Hexen und Zauberer feinabstimmen?" fragte Belle Grandchapeau.

"Wo Ihr zeitweiliger Mitarbeiter hier gerade die Registrierung ein-und ausreisender Hexen und Zauberer vollkommen ad absurdum geführt hat?" fragte Tim mit einem Anflug von Lächeln. Doch dann sagte er: "Stimmt, ich habe ja noch bis zwölf Uhr mitteleuropäische Sommerzeit Freiraum, Dann muss ich aber wieder bei mir im Büro sein, weil ich dort ein Treffen mit Mr. Diggory habe. Der war übrigens nicht so begeistert, dass da ein möglicherweise heftiger Kampf zwischen verschiedenen Zauberwesen stattgefunden hat. Er hat mir das aber überlassen, weil das eben hauptsächlich in meinen Zuständigkeitsbereich fiel."

"Benötigen Sie Monsieur Latierre noch, Madame Grandchapeau?" fragte Ornelle Ventvit. Belle schüttelte den Kopf. "Gut, dann gestatte ich mir, mit meinem Mitarbeiter in mein eigenes Amtszimmer zurückzukehren." Sie bekam die Erlaubnis.

Wieder zurück in ihrem Büro baute Ornelle einen zeitweiligen Klangkerker auf und fragte Julius dann, ob er nicht von sich aus den von ihm gemachten Vorschlag schriftlich festhalten und gleich nach der Ministerwahl an die ihm bekannten Kinder Ashtarias übergeben könne. Julius schluckte. Nach der Ministerwahl? Falls Lesfeux oder Louvois Minister wurde würde er keinen Tag länger in diesen Räumen zubringen. Doch das wollte er nach Möglichkeit noch nicht verraten, nicht wo Ornelle sich selbst um das Amt bewarb.

Mittags traf er Melissa Whitesand in der Ministeriumskantine. Sie strahlte ihn an: "Wir kriegen zwanzig von den Riesenpferden und eine Erweiterung des Geländes für die acht Latierrekühe, die deine Schwiegertante uns zur Verfügung stellt. Das darf ich schon verraten. Wie genau und wann genau ist aber vertraulich."

"Ich hatte nicht so erfreuliches zu besprechen. Es sieht ganz danach aus, als ob sich die sogenannten Abgrundstöchter in England hätten blicken lassen. Details darf ich dir auch nicht verraten."

"Dafür darf ich dir von Pinas Schwester einen schönen Gruß ausrichten, dass sie wohl im März den kleinen Fielding ausliefern darf. Pina ist davon nicht so begeistert, wie du dir vorstellen kannst."

"Ich weiß das doch schon von Pina selbst. Die haben ja wirklich nicht lange gefackelt."

"Wohl der goldene Schuss, gleich in der Hochzeitsnacht", vermutete Melissa und sprach extraleise, weil sie wusste, dass die Leute hier sehr auf Diskretion achteten, sofern sie nicht im roten oder blauen Saal von Beauxbatons gewohnt hatten.

"Immerhin eine sehr erfreuliche Nachricht", sagte Julius.

"Und deine Halbgeschwisterchen werden so Ende September ankommen?"

"So wie meine Mutter aussieht könnten die schon heute zur Welt kommen. Aber offiziell sollen die erst Ende September Anfang Oktober ankommen. Meine Mum hat das gestern noch von ihrer Hebamme erfahren."

"Schon krass, dass wir wen kennen, der beziehungsweise die von diesen Vita-Magica-Leuten manipuliert wurde", meinte Melissa dazu. Julius konnte dem nicht widersprechen.

Die weitere Plauderei drehte sich um Melissas Bruder und dessen Familie und auch darum, dass sie selbst noch ein Halbgeschwisterchen bekommen würde. Das letzte mentiloquierte sie ihm. Julius schickte zurück, dass er hoffte, dass ihre Mutter mit dieser Entscheidung glücklich sein konnte.

"Zumal ich sie nicht mehr Mum nennen darf. Das kotzt mich an der Sache an", schickte Melissa Whitesand, die vor der Schreckensparty bei den Sterlings Melanie Leeland geheißen hatte und da noch keine Ahnung von der Zaubererwelt gehabt hatte.

"Wenn du dich hier mal wieder loseisen kannst, bevor bei euch oder bei uns ein neuer Zaubereiminister ans Ruder kommt, schicke Pina oder mir eine Eule, wann ihr vier mal rüberkommen könnt", sagte sie mit körperlicher Stimme. Julius bestätigte das. Womöglich war er da dann kein Ministerialbeamter mehr.

Nachmittags ging es noch um den neuen Wohnsitz von Euphrosyne Lundi und eine Anfrage der anderen Veelastämmigen, inwieweit ihre Verwandte noch mit irgendwelchen Strafzahlungen oder sowas zu rechnen habe. Da Julius der Vermittler zwischen Veelas und Menschen war beanspruchte ihn dieses Thema bis zum Feierabend.

Zurück im Apfelhaus aß er reichlich zu Abend und verbrachte zwei anstrengende aber auch schöne Stunden damit, die kleine Chrysope nachtfertig zu kriegen und Aurore noch drei Geschichten aus einem Buch vorzulesen. Er hätte ihr auch Geschichten aus der Kindheit von Madrashainorian erzählen können. Für Aurore wäre das genauso wie für ihn damals die Geschichten um das erste und zweite Raumschiff Enterprise oder die Welten von Kerker und Drachen. Als Aurore friedlich schlief und er sie ansah wusste er wieder, wofür er lebte und dass er immer zusehen würde, aus jeder Schwierigkeit zurückzukommen, um dieses entspannte, friedliche Gesicht anzusehen. Sicher, in elf oder zwölf Jahren würde Aurore an der Schwelle zur Fraulichkeit stehen und da wohl keine Gutenachtgeschichten mehr von ihm hören wollen. Allerdings musste er dabei auch an seine Tante Alison denken, die in diesem Eisblock wie gerade erst erblüht ausgesehen hatte. War sie von Itoluhila am Leben gehalten oder getötet worden. Das war eigentlich wichtig für ihn, weil er nicht eines Tages komplett davon überrumpelt werden wollte, dass sie unvermittelt vor ihm stand und diesen Handel einforderte, den Itoluhila vorgeschlagen hatte, um Errithalaia zu besiegen. Vielleicht war das im Moment auch nicht mehr so wichtig für die Abgrundsschwester, falls diese überhaupt noch lebte. Immerhin hatte Errithalaia ja behauptet, die ganze Lebensessenz ihrer Schwester in sich aufgenommen zu haben. Da war zu viel, was ihn unmittelbar betraf, er aber nicht wusste. Gut war, dass seine Mutter wusste, was mit ihrer Schwippschwägerin passiert war. Das beruhigte den Vater der gerade friedlich und unschuldig schlummernden kleinen Hexe. Denn er wusste ja nicht, was tatsächlich passiert war.

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Im Hauptquartier des Spinnenordens in der alten Daggers-Villa bei Dropout, Mississippi


27. August 2002, 09:00 Uhr Ortszeit

Romina Hamton, die seit ihrer beinahen Verhaftung durch Lorne Vane in der magielosen Welt als Regina Hudson, Reporterin des Wochenmagazins "Heute ist Morgen" über Neuentwicklungen in Medizin und Informationstechnologie berichtete, hatte die höchste Schwester um diese unterredung gebeten. Anthelia war gerade gestern erst von einer kurzen Reise nach Australien zurückgekehrt, wo sie die Entwicklung ihres Netzwerkes vorantrieb. Da sie wegen ihrer körperlichen Umwandlung keinen Zaubertrank mehr benutzen konnte war ihr die Zeitverschiebung noch anzusehen. Deshalb vertat Romina keine unnötige Sekunde mit einer umschweifigen Begrüßung. Sie legte Anthelia die Papierausdrucke eines Internettextes und einen mehrseitigen Arkanet-Kommentar zum Thema auf den Tisch und sagte: "Offenbar hat jemand einen Anschlag auf Alison Andrews verübt, die Witwe von Claude Andrews. Dabei gab es wohl eine verheerende Gasexplosion. Ihr Haus ist total vernichtet. Von ihr selbst wurde nichts gefunden."

"Wer will noch was von dieser Frau? Claude Andrews ist tot, einverleibt von Sardonias Todfeindin Ilithula und sozusagen mit dieser wortwörtlich in der Versenkung verschwunden. Was soll also so ein Anschlag noch?"

"Das steht auf den Seiten mit den Arkanet-Kommentaren. Es ging wohl darum, dass Julius Latierre in das Haus seiner Tante gelockt werden sollte, um dort mit diesem Ungezifer zusammenzutreffen, dass vor einigen Tagen dieses Spionageschiff versenkt hat. Jedenfalls steht das hier im Protokoll von Tim Abrahams, der in England den Kontakt zur magielosen Welt hält. Auch der geheime Bericht eines Detektivinspektors John Hunter von Scotland Yard berichtet davon, dass Julius Latierre vor der vom Ministerium geplanten Vernichtung des Hauses gesehen wurde. Dieser Hunter wollte ihn festnehmen. Doch der Junge hat es vorgezogen, zu disapparieren. Natürlich steht das nicht im offiziellen Polizeibericht."

"Woher wusste der Käfer, dass Alison Andrews die Tante von Julius ist und wollte ihn dort hinlocken?" fragte Anthelia. Romina hielt diese Frage für rhetorisch, denn ihr war klar, dass die höchste Schwester schon die Antwort kannte.

"Es war nicht der Mistkäfer, der ihn hingelockt hat, sondern eine der schon wachen Abgrundsdirnen", sagte Romina. "Ich tippe auf die Wasserspielerin, weil die ja Claude Andrews unterworfen hat."

"Genau, und das Käferungetier hat ihre Witterung aufgenommen und ist hingeflogen. Womöglich kam es dabei zum Kampf. Danke für diese wichtige Information, Romina! Ich werde mich mit unseren britischen Mitschwestern darüber unterhalten und auch unsere französischen Mitschwestern benachrichtigen. Denn jetzt ist die Frage, wer diesen Kampf gewonnen hat. Julius Latierre ist offenbar entkommen. Das wird sicher noch ein Nachspiel für ihn haben, wenn er dort unerlaubt aufgetaucht ist."

"Ich bleibe da dran, höchste Schwester", versicherte Romina. Dann wollte sie wissen, worauf sie noch achten sollte.

"Das was bisher wichtig war: Unerklärliche Vorfälle auf Schiffen oder kleineren Inseln, was mit den Dementoren zu tun haben könnte, Sichtungen von grauhäutigen und unverwüstlichen Angreifern, die für diese Nachfolgegruppe von Nocturnia arbeiten, Massenentführungen oder Massenmorde, die auf das Treiben dieses gefährlichen Dummkopfes Vengor zurückzuführen sind. Bei der Gelegenheit achte auch auf neuerliche Auftritte der zwei mit magischen Kräften ausgestatteten Handlanger der kürzlich geweckten Abgrundsdirnen. Ich bin mir sicher, dass diese demnächst wieder von sich hören lassen, sollte die aufgewachte jüngste Abgrundstochter den Kampf bei Alison Andrews' Haus gewonnen haben", wiederholte Anthelia, was sie vordringlich wissen wollte.

"Gut, dann gehe ich jetzt wieder an meinen Rechner", sagte Romina Hamton. Anthelia nickte nur, womit ihre einzige von magielosen Eltern abstammende Mitschwester die Erlaubnis zum gehen erhielt.

Anthelia dachte daran, dass sie wegen ihres Paktes mit den Töchtern des grünen Mondes drei Dutzend Mondzyklen lang nicht in ein arabisches Land oder nach Persien oder Indien reisen durfte, wo die Töchter des grünen Mondes ihr magisches Netz unterhielten. Der halbmondförmige grüne Stein an einer Kette, die sie um den Hals trug, mahnte sie jeden Tag, wie hoch der Preis war, den sie für eine friedliche Zusammenarbeit mit den orientalischen Hexen zu zahlen hatte. Zu prüfen, was die selbsternannten Weltschützer von der Bruderschaft des blauen Morgensterns unternahmen oder herauszufinden, wo die jüngste Abgrundstochter ihren Schlafplatz hatte, waren ihr so leider nicht möglich. Doch sie hoffte darauf, dass die grüne Mutter, die Anführerin der orientalischen Mondschwestern, ähnliche Gedanken und Ziele verfolgte wie Anthelia. Zudem war es mal wieder Zeit, die in ihr glühende Lust auf leidenschaftliche Liebesakte wieder auszuleben. Wie lange konnte sie dieses manchmal lästige, manchmal all zu herrliche Verlangen noch aufschieben? Denn ihr war klar, dass sie in den nächsten Wochen wohl einige wichtige Entscheidungen treffen oder mitbekommen würde.

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Im inneren des Berges der ersten Empfängnis


dreißig Stunden nach dem Kampf zwischen Errithalaia, Itoluhila und Julius Latierre

Die Räume im großen Berg reagierten noch wie vor über viertausend Jahren, als sie ihren ersten Körper besessen hatte. Als sie dort vom kurzen Weg heruntertrat glommen die in der Decke verbauten Leuchtkristalle auf. So brauchte sie ihren magischen Stab nicht gleich jetzt. Sie musste nicht hier herumirren.

Zwei Dinge galt es nun zu tun: Zum einen musste sie diesen verjüngten Körper, der im Moment vor mehr als einer Lebensspanne Kraft strotzte, unsterblich machen. Zweitens wollte sie, wenn sie diese Unsterblichkeit erhalten hatte, alle gerade wachen Töchter zusammenrufen und verkünden, dass sie nun wieder da war und dass alle Streitigkeiten zwischen den einzelnen Schwestern zu enden hatten. Denn durch Alisons Wissen, dass in ihrer wiederverkörperten Seele aufgegangen war, wusste sie, dass die Jetztzeitigen auch ohne Magie ähnlich faszinierende wie verheerende Errungenschaften erlangt hatten, ja, sie waren sogar schon auf dem Mond gewesen, für ihre damalige Welt ein unmögliches Vorhaben. Aber was hatten diese kurzlebigen Würmer aus ihren Erfindungen und Ideen gemacht: Waffen und grenzenloses Gewinnstreben. Es wurde Zeit, dass da jemand eingriff und die kurzlebigen Menschen wieder auf das Maß zurückstutzte, dass ihnen vor viertausend Jahren angelegt worden war. Die sollten leben, ja auch glücklich sein, aber sie sollten die Erde in Ruhe lassen und sich damit abfinden, keine übernatürlichen Dinge tun zu können. Außerdem erinnerte sie sich an die kurzen, sehr schmerzvollen Momente, wo Ashtarias Hauch sie aus Errithalaias Körper herausgelöst hatte. Ashtaria hatte ihr in diesen wenigen Momenten angeboten, ihrem Dasein einen neuen, friedlicheren Zweck zu geben. Sie wollte sie, Lahilliota, in sich aufnehmen und als ein Seelenkind wiedergebären. Doch Lahilliota wollte die körperliche Existenz, den Rausch der Fleischeslust, wenngleich sie keinen Mann zum Vater ihrer Kinder machen wollte. So hatte sie sich von Ashtarias Kraft losgerissen, nur um durch Itoluhilas Körper in den ihr nun als neue Heimat dienenden Körper überzutreten. Ob ihr schmerzvolles Abscheiden von Errithalaia, mit der sie über viertausend Jahre verwoben gewesen war, der jüngsten Tochter mehr oder weniger Macht gelassen hatte wusste sie nicht. Im Moment hatte sie keine Verbindung mit ihr. Bevor sie nicht das Ritual der Unsterblichkeit vollzogen hatte durfte sie auch nicht mit Errithalaia sprechen.

"Du bist wirklich zurückgekehrt", freute sie sich, als sie in einem nur mit ihren Gedanken zu bewegenden Raum den alten Zauberstab fand, der in einer durchsichtigen Wolke schwebte, die den Zahn der Zeit von ihm ferngehalten hatte. Außer ihr durfte niemand in diese Wolke hineinfassen. Sie wusste, dass Errithalaia, als sie ausgewachsen war, versucht hatte, den Stab zu ergreifen. Doch auch mit ihr als Verstärkung hatte die Tochter der fliehenden Zeit es nicht geschafft.

"Sei wieder mein, dein und mein Sein", sprach Lahilliota mit der Stimme der jungen Alison Andrews. Doch außer der Stimme ähnelte nichts dieser verjüngten Kurzlebigen. Lahilliota griff durch die Wolke der Bewahrung und zog ihren Zauberstab an sich. Dieser erwärmte sich, vibrierte und schickte einen Strom aus Kraft in ihren Körper. An der Spitze des Stabes erglühte violett ein Gesicht, ihr eigenes.

Nun, wo sie den Stab wieder hatte, erstrahlte um sie für einige Sekunden ein dunkelvioletter Lichtkranz. Ansonsten war sie noch immer unbekleidet. "So werde ich nun trinken, was ich bisher nur in meine Lebensöffnung einflößte, um die darin aufkeimenden Töchter zu unsterblichen Wesen zu machen", sagte sie und zielte mit dem Stab auf eine Wand. "Weiche deiner Herrin, gib frei den Weg zu ihren Schätzen!" befahl sie in der alten Sprache. Die Wand gehorchte.

Hinter der Wand fand sie den Raum mit ihren Tontafeln, Papyrusrollen und den von ihr gesammelten Zaubergegenständen. Darunter war auch ein linsenförmiges Objekt, faustgroß, durchsichtig und fast so geschliffen wie ein menschliches Auge. "Die Priester der Vorzeit haben dich gefürchtet, du Kleinod. Außer dir gab es nur noch drei Geschwister. Eines ist wohl mit der Festung des letzten Dieners der verschlingenden Dunkelheit vergangen. Aber ich habe eines gefunden. So sei mir wieder Untertan", sprach sie und umfasste das durchsichtige Objekt. Es erwärmte sich. Lahilliota wusste, dass sie damit zur eigentlichen Quelle musste, dem Ort, wo Raum und Zeit zur Stofflichkeit verdichtet werden konnten. Dieser Ort lag genau hier, in diesem Berg, allerdings viele hundert Ellen unter der Landoberfläche. Dort konnte und musste sie das überlieferte Ritual vollziehen, um das Auge der Ewigkeit zu öffnen, und um ihm mindestens drei Tränen zu entlocken. Denn sie ging davon aus, dass sie nur zwei davon schlucken durfte, wollte sie nicht unrettbar in der Gestalt jenes Tieres gefangenbleiben, das ihrer innersten Natur entsprach. Lahilliota hatte sich früher gerne und leicht in eine goldene Eule verwandelt. Ob die Tränen der Ewigkeit das auch bei ihr bewirkten?

Sie beschritt mühelos den kurzen Weg und fand sich in einer eiförmigen Höhle wieder, in deren Mitte ein in den Boden eingelassenes Becken stand, das außen aus glattem Obsidiangestein bestand und innen mit jenem rosigfarbenen Metall ausgekleidet war, das aus dem Reich der Vorzeit stammte und Erz des Himmelsberges genannt wurde. Im Zentrum des Beckens, das knapp zwei Schritte durchmaß, ragte eine mit vielen hundert spiralförmig eingravierten Zeichen geschmückte Säule auf. Darauf war eine silberne Kugel befestigt, die an einer Stelle eine tiefschwarze Öffnung aufwies. Lahilliota winkte mit ihrem Zauberstab und holte dadurch ein tropfenförmiges Gefäß aus dem Nichts, dass bei ihrer Berührung rötlich schimmerte. Sie öffnete den Schraubverschluss und legte das Gefäß unter die silberne Kugel, dort, wo die öffnung zu sehen war. Dann ergriff sie erneut das durchsichtige Kristallauge und zielte damit auf die Kugel.

"Weite und nähe, Blinzeln und Ewigkeit, Raumestiefe und fließende Zeit, vereint euch auf meine Worte, hier an diesem Orte!" sprach sie die Einleitung einer mindestens drei Stunden andauernden Beschwörung, bei der sie nichts falschmachen durfte, wenn sie das richtige Ergebnis haben wollte.

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Zur selben Zeit im Unterschlupf von Errithalaia

Sie trieb dahin in fremden Gedanken, fremden Erinnerungen, zerflossen und vermengt in einem gewaltigen Gefäß. Immer noch fühlte sie starke Schmerzen, obwohl sie nicht wusste, ob sie überhaupt noch einen Körper hatte. Sie wusste nicht, wie sie dem wilden Meer zusammengeflossener Erinnerungen entgehen konnte. Diese wilden, an ihr zerrenden und nagenden Schmerzen störten ihre Konzentration. Wieder sah sie Bilder aus dem Leben eines anderen vor sich. Er war Schiffsführer jenes Metallschiffes gewesen, dass sie auf ihrer Suche nach Jetztzeitmenschen gefunden und heimgesucht hatte. Sie bekam mit, wie er geboren wurde, wie er seine Unterweisungen erhielt und wie er als junger Mann zur See gefahren war. Sie durchlebte das ganze Leben in einer Flut um sie herum vorbeirasender Bilder und Wortfetzen. Dann endete dieses Leben mit einem kurzen Aufschrei. Sofort glitt sie in eine andere Erinnerung. Doch diese war schon zu sehr mit anderen Lebensessenzen vermischt, so dass sie nicht ein, sondern gleich fünf Leben zeitgleich durcheilte. Doch immer endeten diese leben damit, dass sie der gerade mitte Zwanzig Jahre alten blonden Frau mit den smaragdgrünen Augen begegneten.

Nach Jahren oder Minuten hörte die Irrfahrt durch fremde Leben mit einem grellen Blitz und einem neuen, heftigen Schmerz auf. Sie schrie auf und hörte ihre Stimme von der runden Innenseite des großen Gefäßes widerhallen, in dem sie steckte. Sie lag auf dem harten Boden und hatte alle Glieder von sich gestreckt. Es war völlig dunkel hier. Als sie noch einmal tief Luft holte merkte sie, dass sie in einem verschlossenen Etwas steckte. Wo war sie? Sie fühlte im Moment keine Schmerzen. Nur die Umgebung machte ihr Unbehagen. Sie setzte sich vorsichtig auf und betastete ihren Körper. Er war noch in einem Stück und eindeutig der einer erwachsenen, auf einem jungen Alter verharrenden Frau mit ausgeprägten Geschlechtsmerkmalen und feinen Gliedern. Sie strich sich durch das Haar. Es war weich und fließend. Im Moment war sie unbekleidet. Doch sie erinnerte sich, dass sie vorhin doch noch im schwarzen Gewand unterwegs gewesen war. Dann kam ihr ein beunruhigender Gedanke. Sie stand auf und ging auf die vor ihr liegende Wand zu. Als sie mit den Händen dagegenstieß merkte sie, dass es eine nach außen gewölbte Wand war. Sie tastete sich daran entlang und erkannte, dass sie in einem kleinen, runden Raum stand. War das ihr Lebenskrug? Aber das konnte nicht sein. Zum einen war der gerade groß genug, dass sie mit einem Opfer oder Schützling in umschlungener Körperhaltung gerade so darin Platz hatte. Zum anderen fehlte das orangerote Licht der von ihr im Lebenskrug ausgelagerten Lebenskraft. Das konnte unmöglich ihr eigener Lebenskrug sein. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und streckte ihre Arme so weit nach oben wie sie konnte. Doch sie berührte keine Decke und auch keine Abdeckung. Sie stieß ein kurzes "Ha!" aus, um zu hören, ob sie in einem völlig verschlossenen Raum war und hörte ihre Stimme seltsam erhöht und metallisch zurückgeworfen. Sie sprang aus dem Stand nach oben. Da schaffte sie es gerade, mit den Fingerspitzen den Rand der über ihr liegenden Abdeckung zu berühren. Sie sprang noch einmal ab. Sie traf den Rand. Da wusste sie, dass sie in einem Gefäß steckte, das mindestens doppelt so groß wie ihr Lebenskrug sein musste. Der unangenehme Gedanke, den sie vorhin gehabt hatte, wurde zur grauenvollen Erkenntnis. Ja, das war ihr Lebenskrug. Er war völlig leer, außer das sie nun in ihm steckte. Sie selbst war jedoch nicht mehr so groß wie vorher. Sie war mindestens auf die Hälfte geschrumpft. Wie zum Urvater aller Dunkelheit war das geschehen? Dann merkte sie noch was. Die in ihr pulsierende, immer leise wispernde Anwesenheit ihrer Mutter, die sie bei ihrer Geburt in sich aufgenommen und eingeschlossen hatte, war weg. Das war der grelle, sie regelrecht auffressende Schmerz gewesen. Sie suchte sofort nach Erinnerungen von sich und atmete auf. Immerhin waren ihre eigenen Erlebnisse noch da. Ja, sie konnte sich auch an die Erlebnisse von ihr aufgezehrter Seelen erinnern. Doch das Gefühl der Stärke und Überlegenheit, dass sie bis vor den Kampf gegen ihre Schwester Itoluhila und diesen Kurzlebigen, der Ashtarias Schutz um sich hatte, empfunden hatte, war verschwunden. Im Moment herrschte ein Gedanke vor: Ich wurde verkleinert und entmachtet. So heftig hatte man sie noch nie zurückgeschlagen. Selbst als ihre acht schwestern sich zu einer magischen Dunstwolke um ihren Lebenskrug zusammengeballt und ihr alle Ausdauer entrissen hatten, dass sie nur noch in den tiefen Schlaf fallen konnte, war sie nicht so dermaßen niedergeschlagen und verängstigt gewesen. Jetzt stand sie in einem für sie selbst viel zu großen Lebenskrug und wusste nicht, ob sie den Deckel anheben konnte. Der konnte nur durch ihre Berührung gelöst und angehoben werden. Doch in dieser Größe kam sie nicht lange genug dafür an ihn heran.

"Itoluhila, du hinterhältiges Stück Kamelmist! Du hast Mutters inneres Selbst aus mir rausgesaugt, wo ich mich nicht wehren konnte. Verrecken sollst du und nie mehr wiedergeboren werden!" Sie hörte ihre Gedanken mit hoher, schriller Stimme widerhallen. Hatte sie die Schwester erreicht?

Sie überkam ein drängendes Gefühl von Platzangst. So schlimm hatte sie sich nur damals gefühlt, als sie wenige Mondphasen vor ihrer Geburt aufgewacht war und so schnell wie möglich aus der weichen Umschließung freikommen wollte. Sie wollte jetzt einfach nur raus. Die Platzangst verlieh ihr weitere Kraft. Sie warf sich gegen die runde Innenseite und sprang nach oben. Sie versuchte, sich an der glatten Wand zu halten. Gleichzeitig schoss eine Hand nach oben und traf den Deckelrand. "Geh auf!" befahl sie immer wieder. Doch auch wenn sie den Deckel mit der Faust traf, er wich nicht. Kunststück, er musste mit der flachen Handinnenseite berührt werden, damit der Krug die Verbindung mit ihr, seiner rechtmäßigen Eigentümerin, bekam und sich öffnen ließ. In ihrer jetzigen Kleinheit ging das nicht. Sollte das ihr Ende sein? Würde sie hier in ihrem eigenen Lebenskraftbehälter sterben? Was geschah dann mit ihrer eigenen Seele? Würde diese aus dem Krug hinausfinden und den Regeln der neun Schwestern nach von einer der wachen Schwestern empfangen werden? Da fiel ihr ein, dass der Lebenskrug genau dafür gemacht war, Seelenkraft in sich einzulagern und festzuhalten. Wenn der Deckel verschlossen war konnte sie nur noch mit ihren Schwestern in Gedankenkontakt treten. Doch was, wenn die Verbindung zu diesen durch die Abspaltung ihrer Mutter Lahilliota auch abgerissen war? Dann steckte sie jetzt in ihrem Lebenskrug und konnte nur warten, bis eine von einem lebenden, denkenden Wesen verströmte Kraft den Krug berührte und er von selbst aufging. Sie selbst würde an der verbrauchten Luft nicht ersticken, aber immer müder werden, um dann in einen todesnahen Schlaf verfallen. Man hatte sie ernsthaft besiegt! Nein! Das durfte nicht sein. Sie wollte frei sein, wollte leben und ihre Macht wieder stärken. Sie musste wissen, was mit ihrer Mutter passiert war, steckte deren innere Kraft jetzt in Itoluhila? War diese dadurch jetzt die mächtigste der wachen Schwestern? Niemals wollte Errithalaia das zulassen. Sie musste hier raus, einfach nur raus!

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Zur selben Zeit irgendwo unter dem Golfstrom und in der Nimmertagshöhle im Himalaya-Gebirge

Gooriaimiria hatte die starken Erschütterungen gespürt. Erst war da eine schlagartige Abschwächung einer wie ein gewisser Druck wirkenden Grundkraft gewesen. Dann hatte sie gefühlt, wie etwas erwachte, dass sie jedoch nicht klar orten konnte. Dann war da sowas wie ein Blitzschlag durch ihre Wahrnehmung gefahren. Jetzt fühlte sie wieder jenes Erwachen, diesmal stärker als vorher. Sie benutzte ihre Abgesandten in aller Welt als Verstärker ihrer übersinnlichen Wahrnehmungen, um den räumlichen Punkt und die Art jener Kraft zu ergründen. Irgendwie dachte die im Mitternachtsstein eingeschlossene Kollektivseele aus mehr als 900 entkörperten Vampiren, dass es mit den ihr im körperlichen Leben so verhassten weil gefürchteten Töchtern der Lilith zu tun hatte. Sie fühlte, dass es eine Ausstrahlung war, die einen teil des magischen Gewebes zum vibrieren brachte. Als sie sich stärker darauf konzentrierte nahm sie einen von Verachtung getragenen Gedanken wahr:

"Du spürst es auch, dass diese Narren sich gegenseitig umbringen, die meinen, gegen mich ankämpfen zu können, wie, Blutgötzin?"

"Ich fühle vor allem, wie jemand mächtiges erwacht und stärker wird, Flaschengeist. Vielleicht haben sich zwei von den Abgrundstöchtern zu einer einzigen zusammengefügt oder alle wurden zu einem Wesen, um mich und auch dich endgültig besiegen zu können."

"Fühlst du, wo das ist?" fragte die Geistesstimme ihres großen Erzfeindes, der wie sie nicht aus einem selbsterwählten Kerker herausgelangen konnte.

"Ich fühle das. Und ich werde meine Truppen hinschicken, um zu klären, was da ist und es aufzuhalten, wenn es mir missfällt."

"Prahlerin! Du weißt es nicht, wo das ist. Aber ich gebe dir recht, es stinkt nach einem weiteren anmaßenden Weibsbild, das meint, die hohen Kräfte in sich bündeln und gegen andere einsetzen zu dürfen. Dem wird mein Knecht Einhalt gebieten, wenn er endlich meinen ganzen Segen erfahren kann."

"Segen? Du meinst wohl, wenn du ihm aus Gnade, dass er dein ewiger Sklave sein darf, einen Winzteil deines Wissens und deiner Macht übermittelst, wie?"

"Vergiss nicht, dass du eingesperrt bist. Wenn mein Knecht deine niederen Diener und auch die mit dem Kristall der tausend Tode bestärkten Mordwerkzeuge von dir erledigt haben wird, dann wird er den Stein finden und dich endgültig vernichten."

"Da bei dir immer Nacht herrscht träumst du immer. Das kann ich dir nicht austreiben", erwiderte Gooriaimiria. "Hoffe aber nicht zu sehr auf deinen Knecht. Du hast ihm einen Unlichtkristall in den Körper gesetzt, damit er viel stärker wird als andere. Doch am Ende wird er von meiner Armee, die ich im Gegensatz zu dir habe, in Stücke gerissen, bevor er seine Seele von dir aufffressen lassen wird. Dann finden meine Leute dein Spigelchen. Da sie alle unter meinem Schutz und meinem innersten Befehl stehen werden sie dir nicht verfallen wie die Normalsterblichen Sonnenanbeter."

"In den nächsten Tagen wird mein Knecht weitere seiner Blutsverwandten töten, um sich gegen die Barriere zu schützen, die mein letzter Gegner vor den Eingang zu meinem Reich errichtet hat. Dann beginnt das Zeitalter der alles endenden Finsternis."

"Wie gesagt, bei dir ist immer Nacht und deshalb träumst du eben immer, Flaschengeist", schickte Gooriaimiria zurück. Dann horchte sie weiter auf die sich immer deutlicher äußernde Kraftquelle. Ja, es war ein weibliches Wesen und es war eine, die sich sehr mächtig fühlen konnte. Ja, sie hatte was mit den Abgrundsschwestern zu tun, aber war diesen irgendwie überlegen. Überlegen? Diesen Furien war nur eine einzige überlegen, die eigene Mutter! Nein! Das durfte nicht sein, dass die irgendwie zurückkehrte.

Sie musste sofort ergründen, wo dieses Wiedererwachen stattfand. Hierzu schickte sie erst einen Ruf an ihre treue Hohepriesterin Nyctodora los, die gerade mit fünf Kristallstaubvampiren und zwanzig unbehandelten Kindern der Nacht die erste Weltkonferenz der Verehrer der schlafenden Göttin abhielt. Hierzu flog sie in ihrer eigenen Boeing 747 mit lichtdicht verklebten fenstern. Sie sollte die Maschine, die über eine Radarschluclackierung verfügte, auf einem freien Feld landen. Gooriaimiria wollte dann die Kristallstaubvampire so verteilen, dass sie den Punkt einkreisten, an dem das Wiedererwachen stattfand. Wenn sie genau wusste, wo das war, dann würde sie die Kristallstaubträger direkt an diesen Ort versetzen. Wenn da jemand aufwachte, dann musste der beziehungsweise die unverzüglich getötet werden. Vielleicht gelang es, das Blut dieser Feindin zu trinken und damit ihre Kraft einzuverleiben.

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In der Höhle unter dem Berg der ersten Empfängnis

"Schwester, lass ab von deinem Streben", hörte Lahilliota die Stimme ihrer leiblichen Schwester Ashtaria wie aus weiter Ferne. "Ich habe dich deinem schrecklichen Kerker entrissen und dir erlaubt, dich für einen anderen Weg zu entscheiden. Setz nicht den Weg der totalen Unterwerfung fort! Er führt in die Vernichtung."

"Gib Ruhe", knurrte Lahilliota und sah auf das Kristallauge, dass sie in der Hand hielt. Von ihm ging nach wie vor ein blau-grün flirrender Strahl aus, der das tropfenförmige Gefäß im Becken genau an dessen Öffnung berührte. Sie hatte jetzt noch wenige Beschwörungsformeln zu sprechen, um den Prozess zu vollenden. Brach sie jetzt ab, so würde die gerade zusammengeballte Magie aus Raum und Zeit unbeherrschbar entladen. Dabei konnten Veränderungen des Raumes oder der Zeit geschehen.

Lahilliota bündelte ihre ganze Geisteskraft in diesen letzten Beschwörungsfolgen. Sie verdrängte die mahnende Stimme ihrer Schwester. Wieso konnte die eigentlich mit ihr so in Verbindung treten? Völlig gleich! Sie musste jetzt den entscheidenden Schritt tun.

Nach genau neun weiteren Anrufungsgesängen glühte der Lichtstrahl ihres Kristallauges sonnenhell auf und brachte das von ihm getroffene Gefäß zum glühen. Genau im selben Moment wallte aus dem Becken schwarz-blauer Nebel auf, in dem Schlieren in unterschiedlich hellen Rottönen wie etwas verlangsamte Blitze hin und herzuckten. Die Nebelwolke blähte sich auf. Sie füllte das Becken aus und wurde immer höher. Dann traf sie den auf das Gefäß gerichteten Strahl. Jetzt geriet der magische Nebel in immer schnellere Drehbewegungen, während Lahilliota die letzte Beschwörung immer und immer wieder sang, sie dabei von Anrufung zu Anrufung ein wenig Schneller und stoßweiser ausrief. Jetzt formte sich um den Lichtstrahl ein Strudel aus schwarz-blauem Dunst, der trichterförmig auf den Behälter über der Beckenmitte zulief und den Strahl umkreisend darin eingesaugt wurde. Immer weiterer Nebel kroch aus dem Beckenboden und wirbelte nach oben. Der tropfenförmige Behälter glühte immer noch. Dann erfolgte die letzte Verwandlung.

Der sich immer mehr mit schwarz-blauem Nebel vollsaugende Behälter dehnte sich aus, wurde dabei durchsichtig wie hauchzartes Glas. In seinem inneren saLahilliota nun den zusammengeballten, schwarzblauen Nebel hin und herwogen. Das von einem überirdischen Lichtstrahl weiter angeleuchtete Gebilde nahm immer mehr die Form eines anderen, kugelförmigen Gebildes an. Mehr und mehr ähnelte das den Nebel einsaugende Gefäß einem riesenhaften Auge von schwarz-blauer Farbe. Im Zentrum dieses Gebildes war eine vom sonnenhellen Lichtstrahl umrandete, tiefschwarze Öffnung, wie jene, durch die Licht in ein lebendes Auge einfallen konnte. Lahilliota fühlte, wie der Kristallkörper, den sie in der linken Hand hielt, immer wärmer wurde. Sie wusste, dass sie schnell den innen versilberten Steinkrug nehmen musste, der am Beckenrand stand. Sie tat es. Dann war der letzte Rest des dunklen Nebels aus dem Becken herausgesogen worden und hatte das augenförmige Gebilde auf dreifache Kopfgröße anschwellen lassen. Lahilliota sah es ehrfürchtig und mit gewissem Unbehagen an, das Auge der Ewigkeit. Diese uralte, magische Errungenschaft, die die Kräfte der Sterne und der verrinnenden Zeit in sich einsaugen und als einen Sonnenkreis lang haltbare Flüssigkeit verdichten konnte, war das größte Geheimnis der Menschen von Atlantis. Es barg Tücken in sich, weil es den, der seine Macht nutzte auch zu dessen eigenem Unwillen verändern konnte. Doch in jedem Fall schenkte es dem, der die aus ihm fallenden Tränen in kleiner Menge trank, die beinahe vollständige Unsterblichkeit. Es gab dann nur noch wenige Kräfte, die den Trinkenden töten konnten. Leben und Tod, Augenblick und Ewigkeit in flüssiger Form verdichtet, verhießen Macht oder Ohnmacht, Sieg oder ewige Pein.

Jetzt war der Augenblick gekommen, wusste Lahilliota. Jetzt, wo der im Auge der Ewigkeit pulsierende Nebel zur Ruhe kam und der von ihrem Kristallgegenstand ausgehende Lichtstrahl immer dunkler wurde, musste sie handeln. Sie schwang erst das linke und dann das rechte Bein über den Rand des Beckens. Der Boden war eiskalt, weil die ewige Kälte des Weltraums ihren tödlichen Hauch dort ausgeatmet hatte. Doch mit der von Itoluhila geschenkten Lebenskraft ihrer früheren Opfer besaß sie auch die Widerstandskraft gegen ewiges Eis. So ging sie zielstrebig auf die Mitte des Beckens zu und hielt den steinernen Krug genau auf die kreisrunde, weit aufklaffende Öffnung des schwebenden Auges. Dann geschah, was sie erhofft hatte.

Kaum dass der im riesigen Auge enthaltene Nebel zur Ruhe gekommen war, schlug er an der Innenseite nieder. Ein winziger Tropfen einer glasklaren Flüssigkeit fiel heraus und landete leise im Krug. Dann fiel ein zweiter Tropfen in den Krug, dann ein dritter, ein vierter und so weiter. Lahilliota wusste, dass sie nur zwei oder drei dieser Tropfen brauchte. Doch um ihre volle Wirkung zu erhalten musste sie alle im Auge der Ewigkeit angestauten "Tränen" auffangen. Davon flossen jetzt in immer kürzeren Abständen immer größere in den Krug. Mit jeder wurde das beschworene Auge kleiner. Der Lichtstrahl glomm nur noch schwach. Wenn sie jetzt die Linse fortzog, würde der Rest der zusammengeballten Kräfte unbeherrschbar in alle Richtungen auseinanderstreben und sie und vielleicht den ganzen Berg in einem gierigen Schlund entschwinden, aus dem es keine Wiederkehr mehr gab. So lauteten die Warnungen der wenigen Magier, die das Auge der Ewigkeit verwendet hatten.

Fünfzig Tropfen, dann sechzig, hatten schon einen beachtlichen Füllstand im Krug erzeugt. Weitere hundert Tropfen fielen noch, bevor das Auge der Ewigkeit mit einem Ruck auf die Ausgangsgröße des magischen Metallbehälters zusammenschrumpfte und dabei den letzten Schwall von magischer Flüssigkeit ausschied. In dem Moment, wo die letzten Tränen der Ewigkeit geflossen waren, erlosch der Lichtstrahl aus dem Kristallauge, das Lahilliota bis dahin sicher in der Hand gehalten hatte. Jetzt merkte sie, wie schwer der Krug war. Schnell klappte sie den an zwei goldenen Scharnieren befestigten Deckel zu, um von dem kostbaren Nass nichts zu verschütten. Fiel hier im mit mächtiger Zauberkraft aufgeladenem Becken was davon nieder, so konnte die gesamte Flüssigkeit ihre Kraft in einer blitzschlagartigen Lichtentladung freisetzen. Auch diese Freisetzung würde jeden im Umkreis von mehreren hundert Schritten töten.

"Schwester, höre meine letzte Warnung. Lass ab von deinem Vorhaben oder werde das Opfer deiner eigenen Gier und Rachsucht!" hörte sie erneut Ashtarias Stimme im Geist. Doch wie früher schon verdrängte sie die warnenden Worte der all zu gutherzigen, nachgiebigen und duldsamen Schwester. Was sollte sie sich von einer, die meinte, sich einem Mann unterordnen und dessen Kinder gebären zu müssen und die nicht nach ewigem Verbleib in der Welt getrachtet hatte, überhaupt noch sagen lassen?

"Ich habe meinen Weg der Unsterblichkeit gefunden, durch meine Kinder und deren Taten in der Welt. Ja, und dafür habe ich meinen eigenen Leib hergegeben, um diese Kinder zu gebären und habe ihn auch verlassen, um meinen Kindern die Kraft zu geben, ihr Wirken in der Welt frei von meiner ständigen Anwesenheit zu ersinnenund zu vollziehen", hörte sie Ashtarias Stimme schon wieder.

"Wieso bist du von den göttlichen Vorfahren zu verfluchendes Geschöpf dann in meinen Gedanken?" wollte Lahilliota wissen.

"Weil ein kleinner Teil von mir in dich hineingelegt wurde, um dich aus dem Kerker deiner wahnwitzig gewordenen Tochter zu befreien. Mit Hilfe deiner anderen Tochter barg ich dich in diesen Körper, damit er machtvoll werde und das Ungefüge beheben kann, dass durch den dunklen König der Endzeit errichtet werden soll. Wenn du aber jetzt die Tränen der Ewigkeit kostest und ihre Macht erlangen willst, so wirst du den Pfad zu deiner eigenen Vernichtung betreten. Kehre ab von diesem Vorhaben und wirke auf deine wachen Töchter ein, sie sollen ihren Weg der Gier und Unterdrückung verlassen und mit ihren und deinen Kräften zusammen allen Menschen von heute, morgen und übermorgen dienen, die Gefahr der vollkommenen Zerstörung von Körpern und Seelen abzuwenden."

"So, ein winziger Teil von deinem Sein steckt in mir? Dann will ich zusehen, den wieder loszuwerden. Denn ich trage schon genug fremdes Sein in mir und um mich herum", schnarrte Lahilliota. Und mit diesen Worten verließ sie das Becken.

Ungefähr drei Schritt davon entfernt öffnete sie den Krug wieder und beroch den Inhalt. Sie konnte keinen Duft wahrnehmen, nur ein leichtes Kribbelnin der Nase, dass in ihr Gesicht und in ihren Körper eindrang. Um nicht ungewollt in den Krug zu niesen hzog sie ihre Nase wieder zurück. Doch der befürchtete Niesreiz blieb aus. So nahm sie den Krug in beide Hände, setzte den Rand an die Lippen und kippte ihn behutsam an. Als sie die ersten Tropfen der magischen Flüssigkeit auf der Zunge fühlte loderte in ihrem Körper große Leidenschaft. Ja, sie vollendete, was sie eigentlich schon in ihrem ersten körperlichen Leben hätte tun wollen. Doch hatte es geheißen, dass wer die Tränen der Ewigkeit trank, auch gegen jede andere Form der magischen Beeinflussung gefeit war und magische Wirkstoffe ihre Kraft verloren, wenn sie durch den Mund oder eine andere Körperöffnung in den von den Tränen veränderten Leib gelangten. Die Frage war, ob eine Frau, die von den Tränen der Ewigkeit trank durch das übliche, unterwürfige Treiben mit einem Mann ein Kind empfangen, es gesund in sich herantragen und gebären konnte. Doch jetzt war ihr das erst egal. Sie schmeckte die Unsterblichkeit. Gleich würde sie wissen, welche innere Tiergestalt sie annehmen würde. Sie dachte an ein fliegendes Tier. Sie ließ noch ein wenig von der Flüssigkeit in ihren Mund kullern. Es prickelte verheißungsvoll. Dann stellte sie den Krug auf den kleinendreibeinigen Tisch ab. Dann erst schluckte sie hinunter, was sie heraufbeschworen hatte.

Sie dachte daran, ein mächtiges, fliegendes Tier oder Mischwesen zu werden. Bei ihren Töchtern hatte sie entsprechende Bestandteile in die Tränen der Ewigkeit gegeben, mit denen sie ihren Unterleib beträufelt hatte. Doch sie würde ganz aus ihrem innersten heraus ein mächtiges Wesen werden, das unangreifbar, stark und flugfähig war. Dabei dachte sie auch daran, ein großes Gebiet zu beherrschen, ein ganzes Volk williger Diener aus sich selbst heraus entstehen zu lassen. Sie fühlte, wie die von ihr geschluckte Flüssigkeit in ihrem Körper aufging, sich darin verteilte und ihre volle Wirkung entfaltete. Sie fühlte starke Schmerzen, als ihr ganzer Leib von dieser Kraft durchgerüttelt wurde. Sie fühlte Angst, aber vor allem auch Freude, endlich mächtig, groß, stark und vorherrschend zu werden, aus sich heraus ein neues Volk williger Diener zu erschaffen, viele, starke willige Nachkommen, nur ihr zugetan. Einen winzigen Moment lang stutzte sie über diese Gedanken. wollte sie nicht nur stark und flugfähig sein? Doch die Gedanken, stark, flugfähig, unangreifbar und vieltausendfach fruchtbar zu sein überwanden diese Unsicherheit und überwältigten ihr Bewusstsein in der Weise, wie ihr Körper unter der Wirkung der Tränen der Ewigkeit verändert wurde.

Um sie herum sah sie Lichtfunken fliegen, fühlte, wie Kopf, Körper und Glieder verformt wurden und sah durch ein immer wilderes Funkenmeer ihre Umgebung schrumpfen. Dann war es, als schlüge ein greller Blitz in sie ein. Sie stieß einen gedanklichen Schrei aus. Einen Mund im eigentlichen Sinne oder eine Zunge fühlte sie nicht mehr. Dann fiel sie nach vorne über, fühlte noch das letzte Auflodern der freigemachten Kraft und merkte, wie die Welt um sie herum schwankte.

Als die letzten Wallungen verebbt waren erkannte Lahilliota, dass sie nun völlig anders beschaffen war. Sie fühlte mehr als vier Glieder. Anstatt Ohren hatte sie etwas am Kopf, das sich bewegen und in alle Richtungen ausrichten ließ. Auch nahm sie alle Gerüche hundertfach stärker war als vorher, ja sie witterte, dass ihre anderen Töchter vor wenigen Tagen schon einmal hier waren, obwohl sie nicht in diesem Raum gewesen waren. Die Umgebung schien verwischt oder in einzelne Bestandteile aufgelöst zu sein. Sie fühlte um ihre Mundöffnung herum Gebilde, die ihrem Willen gehorchten und sich öffnen und schließen ließen. Die fremdartigste Empfindung war jedoch, dass sie nicht nur Arme und Beine, sondern zwei weitere mit dem Boden verbundene Gliedmaßen hatte, die sie jedoch mit ihrem Willen bewegen konnte. Außerdem fühlte sie, dass da, wo früher ihr Rücken war, vier weitere Gliedmaßen waren, die sich entfalteten und dann mit wildem Zittern in Bewegung gerieten. Unvermittelt verlor sie den Bodenunter den Endenihrer neuen Gliedmaßen und schwebte nach oben und nach vorne. auf das wie in Einzelstücke zerlegt und wieder zusammengesetzt aussehende Becken zu. Sie fühlte die davon ausgehende Kraft und wünschte sich, nicht in das Becken zu geraten. Die wild schwirrenden Gliedmaßen auf ihrem Rücken gehorchten ihr und verlagerten sich so, dass sie wieder vom Becken forttrieb, dabei jedoch weiter nach oben stieg. als sie fast an die Decke stieß dachte sie daran, wieder zu landen. Mehr fallend als beherrscht niedersinkend kehrte sie auf den Boden zurück und prallte mit allen sechs Laufgliedern auf den Boden. Doch sie brach sich nichts. Sie federte den Aufprall durch und stand wieder sicher. Sie strengte sich an, die schwirrenden Flügel auf ihrem Rücken zur Ruhe zu bringen. Endlich falteten sie sich zusammen und blieben ruhig.

Lahilliota fühlte Hunger aber auch den Wunsch, neue Nachkommen hervorzubringen. Doch wo war was zu essen, wo ein Partner, der ihr diese Nachkommen machte? Jetzt erst kehrte ihr menschliches Denken wieder zurück. Sie hatte die Tränen der Ewigkeit getrunken und hatte sich deshalb in etwas flugfähiges verwandelt. Doch das war kein Vogel. Sie war zu einem Kerbtier geworden. Doch wieso war alles um sie herum kleiner geworden und nicht viel größer? Hatte sie ihre Menschengröße behalten oder war sie etwa noch gewachsen? Hunger! Das Verlangen nach essbarem drängte ihre Gedanken wieder zurück. Auch das Verlangen nach Fortpflanzung und eigene Nachkommen wurde wieder stärker. Das waren doch dieselben Wünsche, die sie beim Trinken der Tränen der Ewigkeit gefühlt hatte. Das konnte nicht sein! Wieso war sie zu einem vermehrungswütigen Kerbtier geworden? War sie etwa eine dieser lästigen Bettwanzen geworden? Nein, die konnten nicht fliegen. Von einigen Schaben wusste sie, dass die kurze Wege fliegen konnten. Nein, sie konnte jetzt nichts essen. Nein, sie wollte jetzt keine Kinder kriegen. Sie musste dagegen ankämpfen. Sie musste wissen, was mit ihr geschehen war und vor allem, wie sie wieder sie selbst werden konnte. Sie musste in den Saal der tausend Ebenbilder, den sie vor über viertausend Jahren, wo sie Hallitti in sich trug, errichtet hatte, weil sie wissen wollte, ob die vaterlos entstandenen Kinder ihr Aussehen verschlechterten. Merkwürdigerweise fühlte sie im Kopf auch etwas, dass wie eine Kraft in eine bestimmte Richtung wies. Drehte sie sich, verlagerte sich diese Empfindung. Da wurde ihr klar, dass sie die unsichbare Kraft der Eisenweisung fühlte, die stabförmig auf einer Drehachse aufgehängte Eisenstücke, die mit Eisenanhaftkraft erfüllt waren, immer in Mitternachtsrichtung ausrichtete. Doch wo war Mitternachts- und wo Mittagsrichtung. Das konnte sie nur herausfinden, wenn sie die sonne sehen konnte. Sie musste aus dem Berg hinaus. Sie versuchte, sich auf den kurzen Weg zu konzentrieren. Doch es gelang nicht. Denn ihr neuer Körper war zu ungewohnt, um jetzt schon damit über größere Strecken zeitlos zu verreisen. Sooft sie es versuchte, sie kam nicht von hier fort. Jetzt überkam sie zu den nur mit großer Anstrengung unterdrückten Trieben nach Nahrung und Nachkommenschaft auch noch die Furcht, in ihrem eigenen Reich eingesperrt zu sein. Einige Türen ließen sich nur mit Händen oder magischen Kräften öffnen. Sie musste wieder sie selbst werden. Sie musste wieder benutzbare Hände haben.

Jedes mal, wo sie versuche, sich ihre eigentliche Gestalt zurückzuwünschen, überkam sie das Verlangen, was zu essen zu suchenund sich fortzupflanzen. Sie musste ein Volk hervorbringen. Das war ihr Lebenszweck. Ein schwächliches Menschenweib zu sein half dabei nicht. Sie war doch jetzt stärker und besser gestaltet als vorher mit einem Kopf und nur vier Bewegungsgliedern. Fast verlor sie die letzte Macht über ihr Denken. Doch ein Umstand, der nicht von ihr selbst hervorgerufen worden war, brachte sie zur Besinnung darauf, was sie war.

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Zur selben Zeit in Errithalaias Unterschlupf

Sie wollte nicht in ihrem eigenen Lebenskrug gefangenbleiben. Sie war nicht aufgewacht, um jetzt wieder und diesmal endgültig einzuschlafen. Hinzu kam noch, dass sie vielleicht wahrhaftig sterben konnte, weil um sie herum keine ausgelagerte Lebenskraft floss. Wenn sie starb konnte es sein, dass sie auch als freigesetztes Sein in ihrem Krug gefangenblieb und nicht wieder körperlich werden konnte. Dann fiel ihr was ein. Vielleicht ging das ja.

Zu ihren besonderen Fähigkeiten gehörte nicht nur, den Lauf der Zeit an lebenden Wesen und von deren Lebenskraft gespeist an toten Dingen zu verändern, sondern auch die Gestalt jedes Menschen anzunehmen, dessen Lebensenergie sie durch die erzwungene Schnellverjüngung freisetzte und wie frische Luft einatmen konnte. Sie stellte sich den größten Menschen vor, dessen Lebensenergie sie noch in sich trug. Sie hoffte, dass diese nicht durch Ashtarias und Itoluhilas gemeinen Angriff aus ihr herausgerissen worden war. Dann konzentrierte sie sich. Ja, sie hörte den ersten Schrei eines Neugeborenen, dann den Ausruf des Erstaunens eines erwachsenen Mannes, als seine Sportmannschaft ein wichtiges Spiel gewann und fühlte, wie es in ihr brodelte. Dann, mit einem einzigen Ruck, zogen sich die Wände um sie herum zusammen. Sie stieß mit dem Kopf gegen den Deckel des nun zu engen Lebenskruges. Sie riss ihre rechte, starke Hand hoch und klatschte die Handinnenfläche gegen den Deckel. "Geh auf, lass mich raus!" befahl sie rein geistig. Der Deckel drehte sich knirschend und hob sich dann von selbst. Sie konnte sich hinstellen und über den Rand des Kruges hinaussehen. Sie befühlte ihren Körper und fand, was sie erhofft hatte, einen muskelbeladenen, am Oberkörper flachen aber haarigen Körper und die für einen Mann so wichtigen Anhängsel zwischen den Beinen. Sie grinste überlegen. So ging es also. Sie beugte sich über den ihr nächsten Henkel und ergriff ihn, um sich ohne jede Anstrengung hinausbefördern zu können. Doch als sie sich abstieß meinte sie, jemand reiße ihr mit brutaler Gewalt die Eingeweide heraus. Sie fühlte, wie es heiß und prickelnd zwischen ihren Beinen herausschoss und fühlte, wie sie blitzartig wieder einschrumpfte. Nur weil sie sich da schon am Henkel hielt fiel sie nicht in den Krug zurück. Nur musste sie den Henkel mit den Armen umschlingen, um ihren Halt nicht zu verlieren. Sie erschrak zwar über diese schmerzhafte und schlagartige Rückverwandlung. Doch sie freute sich, ihrem eigenen Lebenskrug entkommen zu können. Sie zog sich mit sichtlicher Anstrengung ganz aus dem Krug heraus und hangelte sich an dem für sie nun mächtig großen Henkel hinunter. Die letzte halbe Körperlänge musste sie frei fallen. Doch mit ihrer Kraft konnte sie den Aufprall gut abfedern.

Sie blickte ihren für sie nun riesenhaften Krug an. Sie vermisste das goldene Leuchten, dass immer dann zu sehen war, wenn sie in ihrer Höhle war. Statt dessen glühte der Krug in jenem roten Licht, dass er bei ihrer Abwesenheit ausstrahlte. War der Krug jetzt nur noch halb so stark? Nein, sie war jetzt nur noch halb so anwesend wie sonst. Diese Erkenntnis verärgerte sie sehr. Sie schwor sich, dass Itoluhila und dieser von Ashtaria geschützte Bursche dafür büßen würden. Itoluhila würde sie irgendwie in sich einverleiben und ihre ganze Kraft in sich zerfließen lassen. Und den Jungen, den würde sie so alt werden lassen, dass er um seinen Tod bitten würde. Oder sie ließ seinen Körper verjüngen und sog dann seine Seele in sich ein, um ihn dort auf ewig gefangenzuhalten, ihn stets miterleben zu lassen, wie sie sich die Herrschaft über die anderen Schwesternund dann über die kurzlebigen Menschen zurückholte.

Doch als sie erkannte, dass alles in ihrer Höhle doppelt so groß wie sie selbst war, da wusste sie, dass das ein sehr schweres Unterfangen war.

Sie schaffte es, sich zu verwandeln. Doch wie zu befürchten war geriet ihre Zweitgestalt nur halb so groß wie üblich. Musste sie ab heute immer in anderer Gestalt als der eigenen, erhabenen Gestalt ausgehen? Das gefiel ihr ganz und gar nicht. Denn um zu einem Käfer zu werden musste sie erst in ihre angeborene Gestalt zurückwechseln. Als gerade mal einen Arm lange Frau war das irgendwie lachhaft, und ihre Käferform war nun nur noch halb so erschreckend. Blieb ihr am Ende nur der Tod und die Hoffnung, in einer ihrer wachen Schwestern neu heranzuwachsen? Nein, sie wollte nicht das Balg einer der anderen werden, zehn Mondwechsel in ihrem Leib eingesperrt sein und dann, wenn sie unter Schmerzen dort heraus war, ein Jahr oder Mehr neu aufwachsen zu müssen. Nein, sie musste ihren alten Körper anderswie wiederkriegen. Oder sie zwang Itoluhila, mit ihr zu einem Körper zu verschmelzen. Dazu musste sie aber wissen, wo Itoluhila ihre Schlafhöhle hatte. Außerdem war sie jetzt gerade noch mit drei ausgelagerten Leben erfüllt, weil sie das, das ihr die Flucht aus dem Lebenskrug ermöglicht hatte, offenbar in diesen zurückgestoßen hatte. Sie musste irgendwie neue Lebenskraft erbeuten. So wurde sie zu einem drahtigen Mann mit dunkler Hautfarbe. Als solcher würde sie jetzt auf Jagd nach neuer Lebenskraft gehen. Sie konnte in Männergestalt Frauen genauso Lebenskraft entziehen wie in Frauengestalt einem Mann. Das würde ihr helfen.

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Im Berg der ersten Empfängnis

Es fiel ihr immer schwerer, ihr eiggenes Denken zusammenzuhalten. Das Tier, das sie nun war, gewann immer mehr Raum in ihrem Sein. Die Warnungen vor den Tränen der Ewigkeit hatten sich einmal mehr als vollkommen gerechtfertigt erwiesen. Doch davon wusste Lahilliota, vielmehr das Wesen, das ihre Seele immer mehr erfüllte, nicht. Lahilliota drohte zu unterliegen, in dieser von ihr angenommenen Körperform für immer und ewig gefangen zu sein und damit einen schlimmeren lebenden Kerker um sich herum zu erleiden als im Leib ihrer Jüngsten Tochter. Da erschütterte etwas die sie umfließenden Ströme der hohen Kraft. Das riss sie aus dem Strudel der Urtriebe heraus. Jemand war in der Nähe des Berges angekommen, und zwar durch eine Welle dunkler Kraft. Sofort fühlte sie mit ihren neuen Kopfanhängseln, woher diese Kraft kam und erspürte so die Art des Eindringlings. Dann war da noch einer und noch einer. Lahilliotas Bedürfnisse, Nahrung oder einen Fortpflanzungspartner zu suchen, wichen einer augenblicklichen Verteidigungsbereitschaft. Sie ließ ihre Flügel schwirrenund glitt durch die Halle mit dem Becken auf die Wand zu, die sich magisch öffnen ließ. Hindurchfliegen konnte sie nicht. Den kurzen Weg konnte sie auch nicht gehen. Jetzt fühlte sie, dass sie unbedingt wieder eine mächtige Magierin sein musste. Sie drängte den letzten Rest tierhafter Regungen zurück und setzte vor der Wand auf. Sie nahm weitere um den Berg herum erscheinende Geschöpfe wahr. "Ich bin Lahilliota, eine mächtige Trägerin der hohen Kräfte. Ich bin die große Mutter der neun Unverwüstlichen, die Herrin des Lebendigen", sprach sie sich in Gedanken vor und stellte sich ihren früheren Körper vor.

Erst kribbelte es in ihrem Leib. Dann war es ein wildes Beben. Jedesmal, wenn sie dachte, wer sie wirklich war und was sie war, wurde dieses Beben stärker. Dann, mit einem mal, gerieten starke Kräfte in ihr in Aufruhr, walkten in ihr, jagten wie Feuerzungen über sie hinweg. Die Umgebung verschwamm in einem Meer aus Lichtern und huschenden Schatten. Kopf und Glieder taten ihr weh. Sie meinte, etwas drücke ihr alles in den Leib, was herausragte. Dann, mit einem heftigen Ruck, erstarb der Aufruhr. Sie lag keuchend am Boden, fühlte, dass sie auf dem Bauch lag. Sie fühlte auch, dass sie wieder eine Menschenfrau war. Sie erhob sich auf ihre beiden Füße und sah sich um. Das Bild der Umgebung war nun wieder ein nahtlos zusammengefügtes Bild. Einen Moment trauerte sie der Fähigkeit zu fliegen nach. Doch dafür sah sie ihren Zauberstab auf dem Tisch neben dem Krug, in dem immer noch genug Tränen der Ewigkeit enthalten waren. Sie lief zu dem Tisch, ergriff ihren Stab und vollführte damit einen Einstimmungszauber, der ihre ohnehin schon geübte Wahrnehmung für Ströme der Kraft vervielfachte. Ja, sie erkannte jetzt mit klarem, menschlichen Verstand, dass um ihren Berg mindestens hundert von der Blutsaugerseuche verunstaltete Geschöpfe zusammengetroffen waren und zehn von denen sogar wagten, auf dem Gipfel zu landen. Sie dachte daran, dass diese Wesen nicht in diesen Berg eindringen konnten. Denn sie hatte mit ihren damals vier Töchtern zusammen wirksame Fallenzauber entwickelt, um solches Geschmeiß aus den für sie heiligen Höhlen und Gängen herauszuhalten oder gnadenlos in Rauch, Dampf und Asche aufgehen zu lassen. Woher wussten diese Langzähne von dem Berg? Das musste sie herausfinden. Zunächst einmal wollte sie sich bekleiden. Denn sie wollte den Blutsaugern nicht ihren neuen, schönen Körper wie ein Stück Fleisch darbringen. So holte sie mit einem Zauber der zeitlosen Beschaffung ihr grobes Unterzeug und eine violette Tunica herbei, schlüpfte in Sandalen und band ihr fließendes, schwarzes Haar mit einem Lederband hoch. Danach beschritt sie den kurzen Weg zu ihrer Schatzkammer. Dort nahm sie noch was an sich, dass sie gegen dieses Gelichter verwenden konnte, eine goldene Scheibe mit Sonnensymbolen. Diese tippte sie mit ihrem Herrscherstab in Laufrichtung der Sonne an und wechselte dann auf den Gipfel des Berges.

Sie hatte mit zehn Blutsaugern in Flugtierform gerechnet. Doch sie sah nur einen. Da spürte sie dessen Ausstrahlung. Sie war so gebündelt und stark, als hätte jemand zehn von seiner Art in diesen einen Körper zusammengebacken. Auch seine Hautfarbe war anders, nicht wachsweiß wie bei anderen Blutsaugern, sondern grau wie Felsgestein.

"Ergib dich, Abgrundstochter! Unsere Herrin, die schlafende Göttin, große Mutter aller Nachtkinder, befiehlt es", sagte der vor ihr stehende, nur mit einem Lendenschurz bekleidete Langzahn.

"So, weil du wohl das Erzeugnis aus zehn zusammengetriebenen Blutschlürfern bist soll ich, Lahilliota, die wahre große Mutter des Lebendigen, mich ergeben? Geh ein in das Nachreich der Verfluchten", schnaubte sie und ließ aus ihrem Zauberstab einen lodernden, orangeroten Feuerball herausschießen. Die Flammenkugel traf den Feind voll von vorne und hüllte ihn ein. Doch an statt in einem einzigen Augenblick zu Asche zu zerfallen badete der Feind in den Flammen wie in warmem Wasser. Lahilliota sah schwarze Schlieren, die durch das lodernde Feuer brachen. Dann fielen die Feuerzungen in sich zusammen. Der Gegner stand unversehrt da und grinste, dass seine langen, silbern glänzenden Fangzähne überdeutlich zu sehen waren.

Als der Feind auf sie zusprang, um sie zu packen umfloss ihn ein grünes Licht, dass zu einer pulsierenden, schleimig-zähen Masse wurde und ihn immer mehr einschnürte. "Sei der Fraß für mein grünes Verhängnis", knurrte die Herrin dieses Berges. Der Feind stemmte sich gegen die ihn immer enger einschnürende Masse. Doch genau das bestärkte sie. Die grüne Schleimkugel wurde größer und dicker. "Sie saugt die Kräfte des Todes in sich auf, mit denen du offenbar gegen das Feuer der Sonne geschützt wurdest. Bevor ich meiner Schöpfung befehle, dich ganz zu vertilgen, Blutschlürfer, wer hat dir gesagt, wo ich bin?"

"Verrecke, Schlampe", hörte sie aus der grünen Schleimblase die um Atem und Bewegungsfreiheit ringende Stimme des Gefangenen. Lahilliota fühlte, dass sie diesmal die richtige Waffe eingesetzt hatte. Todessaugschwamm, eine von ihr gemachte Züchtung, ernährte sich von tödlichen oder schwächenden Zauberkräften.

"Lass ihn sofort wieder raus, du Nutte!" brüllte ein anderer Blutsauger. Doch Lahilliota dachte nicht daran. "Vertilgen!" befahl sie rein gedanklich. Dann warf sie sich herum und sah drei weitere Blutsauger mit grauer Haut. Da sie nur zwei weitere Todesssaugschwämme hatte musste sie anders vorgehen. Irgendwie ahnte sie, dass sie mit schädigenden oder tödlichen Zaubern nicht weiterkommen würde. Da fiel ihr was ein, dass helfen konnte.

Als die beiden ersten nahe genug an sie herangetreten waren wallte unvermittelt rot-grüner Nebel vor ihr auf, der so schnell ineinanderfloss, dass braune Wolken und Schlieren entstanden. Die beiden Gegner liefen voll in den Nebel hinein und schrien laut auf. Schwarze Blitze zuckten aus ihren Körpern. Sie schrien beinahe wie unter Nahrungsmangel leidende Säuglinge, dachte Lahilliota. So ging es also, dachte sie weiter. Denn der Hauch des neuen Lebens, den sie in Verbindung mit anderen aus der Erde gewonnenen Kräften erfunden hatte, heilte alle in ihm badenden von Wunden, Knochenbrüchen, Seuchen oder Sinnesschädigungen. Allerdings mussten sie danach erst einmal vier Tage hintereinander schlafen.

"Verdammt, diese Dreckdose hat ... Aarg!"

"Wer ist eure Herrin, diese schlafende Göttin? Wenn Sie mich beeindrucken oder mir was sagen will soll sie herkommen."

"Stirb, Hure!" rief ein weiterer Blutschlürfer. Er stürzte sich von oben herab. Da ließ Lahilliota die goldene Scheibe fallen, die sie in der Hand gehalten hatte und kniff die Augen zu. Unvermittelt erglühte der Berg um sie herum. Die nicht vom Kristallstaub bestärkten Blutsauger, die als Beobachter über dem Berg flogen, verloren vor Schmerzen die Beherrschung und stürzten ab. Doch je näher sie dem Boden kamen, desto stärker wirkte sich die heraufbeschworene Magie aus. Sie verbrannten noch im Flug. Lahilliota sprang noch rechtzeitig zur Seite, um den sie angreifenden Langzahnträger voll auf den Boden schlagen zu lassen.

"Das büßt du uns!" brüllte der nun auf für ihn wohl heißem Boden liegende.

"Vergehe du auch!" knurrte Lahilliota und befahl mit einem Zauberstabwink einen weiteren Todessaugschwamm herbei, der sich gierig um den sich gerade aufrichtenden Feind wickelte und ihn gnadenlos zerdrückte. Alle Todeskraft in ihm wurde zum Teil des grünen Todes.

Fünf weitere dieser veränderten Blutsauger erschienen unvermittelt aus einer kurzen Wallung dunkler Kraft über Lahilliota. Der Sonnenspiegel, der außer dem Anwender allen anderen gnadenlose Hitze und Helligkeit der Sonne entgegenschleuderte, machte denen nichts aus. Das wussten sie zu gut. Sie griffen aus fünf Richtungen zugleich an. Lahilliota fühlte deren Gier und Tötungslust. Das holte ihre eigenen, mühevoll zurückgedrängten Urtriebe wieder an die Oberfläche. Auch die unvermittelte Todesangst im Angesicht einer gnadenlosen Übermacht trieb die von ihr unterdrückten Gefühle und Verhaltensweisen der mit ihr verschmolzenen Daseinsform hervor. Sie fühlte, wie sich ihr Körper innerhalb weniger Augenblicke verwandelte. Kaum dass sie wieder jene andere Daseinsform spürte flog sie auf und ließ drei der fünf Blutsauger ins Leere stoßen. die zwei anderen prallten noch auf sie. Doch sie besaß einen harten Panzer. "Zerreißt sie. Die ist auch eine wie diese Spinnenhexe", hörte sie aus dem Geist der sie bedrängenden heraus. Sie schnappte mit ihren Beißwerkzeugen um sich, doch die Blutsauger waren zu fest, um davon verstümmelt zu werden. Doch sie war nun um ein vielfaches stärker und vermochte es, die Angreifer wegzuschleudern oder so kräftig auf den Boden zu werfen, dass sie mehrere Fingerbreit darin eingedrückt wurden. Als sie sich der Angreifer entledigt hatte flog sie auf und jagte über den Berg hinweg. Da erlosch das grelle Licht und die Hitze. Vier Fledermauswesen jagten ihr hinterher. Sie schlug Haken und ließ sich in die Tiefe fallen. Sie schaffte es jedoch nicht, die Feinde abzuschütteln. Denn von irgendwoher kamen weitere dieser Veränderten Blutsauger.

"Jetzt zerreißen wir diese Kampfameise, auch wenn da kein leckeres Blut drin ist", hörte sie einen ihr entgegenrasenden denken. Sie musste landen, wieder sie selbst werden. Doch die Zeit, die dazu nötig war würde zu lange sein. So sprang sie förmlich über den ihr entgegenfliegenden hinweg und flog genau auf einen Einschnitt im Berg zu. Der erschien ihr aber zu klein. Doch um erst einmal von oben, links und rechts geschützt zu sein reichte es. Sie klappte die langen Tastorgane zurück, zog ihre Beine an und gab sich noch einmal Schwung. Dann stieß sie in den Felsspalt hinein. Sie fühlte, wie es sie einzwengte. Jetzt steckte sie fest. Gröhlendes Johlen der nicht zu Fledermäusen gewordenen Feinde drang über ihre Tastorgane zu ihr durch. Doch sie gab nicht auf. Wenn sie diese Brut nicht mit ihren neuen Kräften aufzehren konnte, dann eben mit ihren Zaubern. Da fiel ihr was ein. Diese Blutsauger waren von einer Kraft erfüllt, die aus dem Tod vieler Wesen geschöpft worden war. Das konnten nur die legendären Unlichtkristalle aus grauer Vorzeit sein, die nur dort entstanden, wo an einem Tag mehr als dreihundert fühlende Wesen starben. Kristalle waren schon was faszinierendes, dachte sie, bevor sie sich mit einem einzigen Gedanken in ihre menschliche Gestalt zurückverwandelte. Jetzt hatte sie das nötige Gleichgewicht raus, um ihre Gestalt zu wechseln, dachte sie.

"Sie ist da noch drin. Los, bevor sie im Nichts verschwindet!" hörte sie eine Frauenstimme im Geist gleich mehrerer dieser Geschöpfe. Das konnte diese schlafende Göttin sein, von der der eine gesprochen hatte.

"Dich kriege ich noch", knurrte Lahilliota, bevor sie den Zauberstab vor sich auf den Boden richtete. "Ton des Todes klinge auf, vernichte meine Feinde zu Hauf!" dachte sie. Da hob sie vom Boden ab und fand sich in einer hellroten Lichtblase schwebend. Gleichzeitig erbebte der Berg um sie herum, er begann einen tiefen Ton von sich zu geben. Dieser Ton, weil auch Magie in ihm mitschwang, konnte lebendes Gewebe zerstören. Doch bei diesen Blutsaugern ging das nicht sofort. Doch Lahilliota war noch nicht fertig. Sie dachte sich einen in der Höhe und Lautstärke ansteigenden Ton. Die Rückprellkraft der Blutsauger erzeugte eine Art Widerhall um sie herum. Sie legte ihre ganze Gedankenkraft darauf, den Ton immer höher zu machen. Die Angreifer versuchten, sie anzufliegen. Doch irgendwie verloren Sie an Beweglichkeit. Dann hatte Lahilliota das, was sie haben wollte. Die Blutsauger begannen unvermittelt auf der gerade liegenden Tonhöhe mitzuschwingen, ja erbebten immer heftiger.

"Sauge dunklen atem Fort, alles fort von diesem Ort", beschwor Lahilliota einen weiteren Zauber, weil sie merkte, wie um die Blutsauger eine weitere Kraft wirkte. Einer von ihnen verschwand gerade noch in einem Wirbel dieser dunklen Kraft. Doch die übrigen fielen zu boden und erbebten noch heftiger. Lahilliota erhöhte die Lautstärke und schaffte es noch, die ganz genaue Eigenschwingungszahl der Feinde zu finden, die nun erstarrt wie gewöhnliches Glas auf dem Boden lagen. Dadurch jedoch wurde ihre Eigenschwingung schlagartig stärker, bis sie mit kurzen aber unüberhörbaren Knällen zerbarsten wie ein Stück Glas unter einem mächtigen Hammer. Innerhalb von nur zwanzig Atemzügen waren alle feindlichen Wesen vom nun laut schrillenden Berg entfernt.

"Damit habt ihr nicht gerechnet, wie?!" rief Lahilliota im Schutz ihrer freischwebenden Lichtblase. Dann gebot sie dem Zauber Einhalt. Der Berg kam wieder zur Ruhe. "Erhol dich und stärke dich!" befahl sie dem Berg. Dadurch löste sie ein über zwei Stunden dauerndes Massensterben in einem Umkreis von zwanzig Tausendschritten aus. Doch weil hier größtenteils Wüste war würde das keinem wirklich auffallen.

"Der Berg ist mein Reich. Hier gebiete nur ich", schnarrte sie in Gedanken, aber nicht wissend, ob die Hauptfeindin sie auch hören konnte.

Bevor sie wieder die Urtriebe ihrer neuen Tiergestalt überkamen eilte sie auf dem zeitlosen Weg in den Berg zurück und suchte den Saal der tausend Ebenbilder auf. Dieser war im Wesentlichen ein Saal mit altertümlichen Silberplatten, die damals als Spiegel verwendet worden waren. Viele von ihnen waren hinter bis zum Boden reichenden Vorhängen verborgen. Seitdem sie zum letzten Mal diesen Raum betreten hatte, damals noch mit Errithalaia schwanger, hatte sich nichts verändert. Durch einen Zeitflussverzögerungszauber, der nur dann wirkte, wenn keiner im Raum war, hatte der Lauf der Zeit diesem Saal nichts anhaben können.

"Ich will ein Volk gründen, ich bin stark, ich bin flugfähig", dachte Lahilliota immer wieder, um sich zu verwandeln. Dann passierte es auch. Diesmal dauerte es länger, bis sie fühlte, dass sie die neue Tiergestalt hatte. Sofort überkam sie wieder Hunger und die Lust auf einen Fortpflanzungspartner. Doch sie war noch soweit wie vorher, dass sie zu dem Spiegel in der Nähe hintrippeln und hineinsehen konnte.

Auch wenn das Bild in kleine Einzelteile zerlegt war konnte sie doch sehr gut erkennen, was sie gerade darstellte. Vor dem Spiegel kauerte eine mindestens drei Menschenlängen messende, graue Ameise mit Flügeln, eine Ameisenkönigin. Wieso war sie eine Ameisenkönigin? Sie wusste, dass Ashtaria gerne als Bienenkönigin unterwegs gewesen war, natürlich nur so groß wie die größte lebende Art. Doch ihr Lieblingstier war doch immer die Eule gewesen. Sie fühlte schon, wie wieder dieses Verlangen in ihr hochkam, möglichst bald etwas zu fressen und dann nach einem Fortpflanzungspartner zu suchen. Doch sie wusste, dass sie in dieser Gestalt und Größe niemanden finden würde, der dieses Bedürfnis erfüllen konnte. Angst und auch Verbitterung machten sich in ihr breit, drängten die aufwallenden Bedürfnisse zurück. Sie musste wieder sie selbst werden.

Sie versuchte, sich ganz auf ihre frühere Gestalt zu besinnen. Doch diesmal klappte es nicht wie vorhin über dem Berg. Sie fühlte, wie die ihr nun eigenen Triebe immer stärker durchdrangen. Sie fühlte aber auch Furcht aufkommen. Sie wollte doch hier nicht verhungern.

"Gelobe mir, deiner Schwester, beim Schein der ewigen Flamme des Lebens, der wir beide verbunden sind, dass du meinen Kindern, deren Nachgeborenen und Gefährten kein Leid antust, dies befiehlst oder von deinen Dienern oder Töchtern tun lässt, Schwester. Sonst bleibst du eine ewig hungernde Emsenkönigin", hörte sie die Stimme ihrer Schwester im Kopf. Wieso war die noch da? Die war doch tot.

"Dadurch dass du wieder frei lebst und ich dich befreit habe trägst du einen winzigen Anteil von mir in dir, Schwester. Also gelobe es, Frieden zwischen deinen und meinen Kindern oder ewige Gefangenschaft in der selbsterwählten Gestaltt!"

"Deine Brut ist mir lästig. Sie ist mir im Weg. Hunger!! Will fressen! Will raus hier! Nein, muss wieder ich werden!"

"Dann gelobe mir den Frieden zwischen deinen und meinen Kindern und deren Angehörigen!"

"Du gemeines Stück. Ich will nicht für immer in diesem Körper stecken. Ja, ich gelobe es bei der ewigen Flamme, der wir beide anvertraut sind, dass ich deiner ... deinen Kindern und deren Anvertrauten nichts antun oder Ungemach geschehen lasse", stieß Lahilliota mit unverhohlener Verbitterung aus.

"So ist es gesprochen im Geist wie im Leib. So werd' wieder ein Weib." Als Ashtarias Stimme das dachte fühlte Lahilliota wieder, wie ihr Körper menschliche Formen annahm. Sie sah nun wieder die Welt so, wie sie für Menschen sichtbar war. Als sie wieder die gerade aufgeblühte Schönheit mit der mittelbraunen Haut war erkannte sie, welchen Preis sie für ihre Freiheit und die Rückkehr zur Macht zu bezahlen hatte. Sie war von ihrer in der Nachwelt verharrenden Schwester berührt und errettet worden. Doch das hatte sie nicht aus ihrer grenzenlosen Gutherzigkeit getan, sondern um ihr, Lahilliota, eine letzte, nicht zu überschreitende Grenze zu setzen und gleichzeitig die Taten ihrer Töchter zu beschränken. Andererseits, warum sollte sie dem Jüngling nicht Dankbar sein, der sie von Errithalaia losgelöst hatte? Errithalaia, wo war die jetzt? Nun, wo sie ihre ganze Macht und noch mehr zurückgewonnen hatte, konnte sie ihren wachen Töchtern entgegentreten.

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An Bord der privaten Boeing 747 von Eleni Papadakis


Eine halbe Stunde nach der Landung bei Dubrovnik

Dieses Geheimflugzeug war schon sein Geld wert, fand die zur Vampirin und Hexe gewordene Unternehmerin Eleni Papadakis, die von den Dienern der schlafenden Göttin auch Nyctodora genannt wurde. Sie konnte damit bedenkenlos in der Welt herumfliegen, ohne sich an Luftraumgrenzen oder Überflugprotokolle halten zu müssen. Irgendwie war dieses Flugzeug so wie das unsichtbare Flugzeug der Comicfigur Wonderwoman, fand Eleni. Deshalb hatte sie schon überlegt, es Diana oder griechisch Artemis zu nennen. Doch dann war ihr ein besserer Name eingefallen: Nikephora, die den Sieg tragende. Ja, das war der richtige Name für ihre fliegende, für Radargeräte und Infrarotspürer unsichtbare Kommandostation.

"Nyctodora, unsere Erzfeindin ist mächtiger als uns lieb ist. Sie hat alle deine Kristallstaubbrüder vernichtet", hörte sie die Stimme ihrer Herrin im Kopf. Sie blickte verwundert umher. Dann fragte sie im Geist noch einmal, ob wirklich alle gestorben waren.

"Ich konnte nur zwei wieder zurückholen. Die andren sind durch einen ganz gemeinen Schwingungszauber zerstört worden. Diese Höllenschlampe hat ihr ganzes Versteck auf einem Ton schwingen lassen, der mit dem Kristallstaub wechselwirkt. Meine Kämpfer sind alle erstarrt und dadurch noch schneller der Vernichtung verfallen. Meine Kräfte, sie zu finden und zu holen wurden von diesem verfluchten Berg geschluckt wie Wasser von einem halbverdursteten Elefanten."

"Ist es wirklich die Mutter dieser Beischlafdiebinnen?" wollte Eleni Papadakis wissen.

"Ja, ihre eigene Mutter. Sie hat offenbar ihren körperlichen Tod überstanden und einen neuen Körper erhalten. Ich hätte nie gedacht, dass sie so mächtig ist."

"Dann muss sie sterben, wenn sie von ihrem Schlupfwinkel fort ist", dachte Eleni Papadakis.

"Es gibt nur noch zwei Kristallstaubvampire. Wir müssen erst wieder welche erschaffen. Nein, du wirst keiner davon sein. Deine in dir neu aufgewachten Hexenkräfte müssen erhalten bleiben."

"Dann schicken wir die beiden zu ihr, wenn du spürst, wo sie sich aufhält."

"Das wird jetzt nicht mehr gelingen. Irgendwie hat sie sich mir durch die Vernichtung entzogen, wie auch immer. Ich kann sie nicht mehr spüren, genausowenig wie ihre verdammten Gören."

"Was soll ich jetzt tun?" wollte Eleni Papadakis wissen.

"Verfolge die Kristallstaubproduktion! Gerade jetzt brauchen wir mehr davon als vorher", erwiderte die schlafende Göttin.

"Verstanden", erwiderte Eleni. Dann gab sie ihrem Piloten den Befehl, wieder zu starten und zum nächsten Einsatzpunkt zu fliegen, wo neuer Unlichtkristallstaub hergestellt werden sollte. Sie wusste, dass dies nicht mehr so lange weitergehen konnte. Irgendwann würden die Armeen und Geheimdienste mitbekommen, dass ganze Dörfer entvölkert wurden und zwar nicht von den Taliban.

Unterwegs dachte Eleni daran, wie viel Hoffnung sie in diese Kristallstaubvampirarmee gesetzt hatten. Und jetzt waren über dreißig davon auf einen Schlag erledigt worden, einfach so? Wie mächtig musste jemand sein, diese unverwüstlichen Geschöpfe mal eben zu erledigen? Doch dann fiel ihr ein, das jede Waffe irgendwann von einer mächtigeren, auch schrecklicheren Waffe übertrumpft werden konnte. Allerdings hatte die Feindin damit die Arbeit von vier Monaten zerstört. Vor allem würde es sich bei den noch nicht in die Reihen der schlafenden Göttin eingetretenen herumsprechen. Wer wollte dann noch ein Kristallstaubträger sein?

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Im Apfelhaus der Familie Latierre, Millemerveilles, Frankreich


28. August 2002, 06:00 Uhr Ortszeit

Ich spüre das wieder in den Ohren und rieche das, dass heftiges Wasser und lautes Licht kommen. Sternenstaub merkt das auch. Der ist jetzt ganz unruhig. Jetzt kann ich das ganz weite Kullern und Wummern hören das immer kommt, bevor es über uns dunkel wird und die lauten Lichter, Blitze sagen die Zweifußläufer dazu, auf den Boden runterschlagen. Diese Feuerlichter sind ganz böse, weil sie da, wo sie hinschlagen Feuer machen oder gleich wen mit einem heftigen Schlag tothauen und dabei sogar halb verbrennen können.

Jetzt kommen die ganz dunklen Dinger über uns, die Wolken heißen und keine Sonne mehr durchleuchten lassen. Es bläst immer wilder. Unser Schlafbaum rauscht und zittert stärker. Stäubchen krallt sich in seiner Schlafhöhle fest. Ich laufe raus und klettere zu meinen neuen Kindern runter. Die kennen das noch nicht. Die muss ich in die runde Schlafhöhle bringen, die Julius für uns gemacht hat. Autsch! Das war schon ziemlich laut, dieses Feuerlicht. Wieso kracht das immer so, wenn eins vom Himmel runterfällt?. Und es bläst immer wilder. Jetzt fällt auch schon Wasser von oben runter. Ich treibe meine Jungen zusammen und stoße sie eins nach dem anderen in die runde Schlafhöhle. Da kommt auch noch hartes Zeug von oben runter, kleine kalte Steine.

Brrrommm! Das war schon so nahe, gleich nach dem Licht von oben. Ich höre die kleine Aurore, das erste Junge, dass Julius und Millie bekommen haben. Sie hat Angst vor dem lauten Licht und dem dunklen Himmel.

Ich lege mich so zwischen Ausgang und meine Kinder, dass die nicht nass werden. Doch da höre ich die leise singende Kraft, die macht, dass Wasser von oben nicht zu uns reinlaufen kann. Julius hat das gemacht, damit meine Kinder und ich nicht nass werden. Aaahaauuu! Das war laut und grell. Oh, der Boden zittert auch. Das ist bestimmt in der Nähe runtergefallen. Und die kalten Steine von oben hauen jetzt ganz laut auf unsere Schlafhöhle drauf, fallen aber davon wieder runter. Ui, die Steine sind ja schon so groß wie kleine Vogeleier.

Jetzt ist es wieder ganz dunkel. Die Sonne ist ganz weg und .... Auutsch! Wieder so ein ganz grelles Licht und gleich dabei so ein ganz heftiger Schlag. Jetzt komme ich hier nicht mehr raus, weil es draußen jetzt ganz heftig bläst und dabei das Wasser, das zwischen den kalten Steinen von oben runterfällt, gegen die leise singende Kraft wirft, die meine Schlafhöhle beschützt. Das wird immer gemeiner da draußen.

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Als der erste nähere Blitz einschlug war Aurore ganz schnell zu ihren Eltern ins Schlafzimmer gelaufen. Mit vor Angst weit aufgerissenen Augen sah sie ihre Maman und ihren Papa an. Der Regenschutz des Apfelhauses war bereits in Tätigkeit und fing die von obenund durch den stürmischen Wind von allen Seiten anflutenden Regenmassen ab. Wieder krachte es peitschenschlagartig, als ein greller, blassblauer Blitz schräg vom Himmel her in Richtung Farbensee über das Apfelhaus hinwegzuckte. Julius blickte aus dem Ostfenster und erkannte die über ihnen dahinjagenden Wolkenungetüme, die aus ihren Bäuchen Regenfluten und Hagelkörner halb so groß wie Hühnereier auf sie niedergehen ließen.

"Wohl wwahr, wenn's in Millemerveilles gewittert dann gleich volle Kanne", meinte Julius zu Millie, die Aurore zwischen sich und ihn ins Bett gezogen hatte. Er kuschelte sich auch an den kleinen, bebenden Körper seiner ersten Tochter an, um ihr Schutz und Wärme zu geben. "Böses Wetter draußen. Rorie hat Angst."

"Hier bei uns brauchst du keine Angst haben, Rorie", sagte Julius beruhigend. "Unser Haus ist gegen böses Wetter gebaut worden." Wie um ihn entweder zu bestätigen oder zu widerlegen flammte genau über dem Apfelhaus ein Blitz auf, der es eine Zehntelsekunde lang in weißgelbes Licht einhüllte. Genau im selben Moment krachte es erst hell und dann mit einem in Bauch und Wänden nachdröhnend wie von zehn Kanonen zugleich abgefeuert. Dann war nur das laute Rauschen des Regens und das Prasseln und Krachen der vom Himmel fallenden Hagelkörner zu hören.

"Die Bäume, Julius?" fragte Millie.

"Da habe ich mit Camille genug Blitzumlenkungszauber drum herumgespannt. Auch unser Miniturm da draußen hat einen Blitzabweiser."

"Dusty und Goldie da draußen. Haben sicher auch Angst", quängelte Aurore.

"Die sind sicher in ihren Schlafhäuschen drin, vor allem Goldie", sagte Julius. Schließlich hatte er selbst das Geburtshaus für Goldie mit zwei Regen- und Hagelabweisezaubern belegt, die für die auf Magie ansprechenden Kniesel nicht lästig waren.

Chrysope fing zu schreien an. Zwar machte ihre Wiege, dass sie von sich aus keine Angst verspürte. Aber das laute Wetter hielt sie vom Weiterschlafen ab. Millie stand auf. Aurore wollte sie zurückhalten. Doch Julius nahm ihre kleinen Hände so behutsam er konnte und sagte: "Chrysie möchte auch nicht allein beim bösen Wetter sein." Da kam Millie auch schon mit der kleinen Schwester zurück und legte die Kissen so, dass sie in einer halbsitzenden Stellung im Bett lag. "Na komm, Chrysie, Nuckelzeit", säuselte Millie, während sie sich die Zweitgeborene Tochter so auf den Bauch legte, dass die jederzeit an eine freie Brust konnte.

"Warum ist das Wetter böse?" wollte Aurore wissen.

"Das Wetter ist laut und nass, weil da draußen irgendwo ganz wild Luft und Wasser gegeneinandergestoßen sind", sagte Julius. Seiner Tochter jetzt zu erklären, dass Wetter an sich nicht gut oder böse sein konnte ließ er weg. Schließlich gehörte es ja zum allgemeinen Sprachgebrauch, Wetter in gut oder schlecht, angenehm oder gefährlich einzuteilen. Wieder war es wie eine kilometerlange Flammenpeitsche, als Blitz und Donner im selben Augenblick aus Richtung Dorfzentrum zum Farbensee überschlugen.

"Wer jetzt an der Wasseroberfläche herumschwimmt lebt ziemlich gefährlich", wisperte Julius über Aurores kleinen Kopf hinweg.

"Habe mich bei solchem Wetter schon gefragt, was die Wasserleute im See machen, wenn's Blitzt und donnert", erwiderte seine Frau."

"Madame Neirides demnächst mal fragen", meinte Julius dazu. Da bumste es mit einem vielfachen Echo als Gruß eines anderen Blitzes, der wohl in westlicher Richtung vom Apfelhaus und etliche Kilometer entfernt eingeschlagen hatte.

"Bor, ist wie im Winter. Draußen ist alles weiß!" meinte Julius und deutete mit dem freien Arm aus dem Fenster. Das schien Aurores Angst zu vertreiben. Denn sie warf sich über ihn und zog sich auf seinen Rücken hoch und sah an seiner Schulter vorbei nach draußen. "Ja, Schnee da. Viele große Steine, runterfallen."

"Der Schnee ist kaputtes Eis, und die Steine sind Hagelkörner, also ganz kalte und hart gewordene Regentropfen. In der Größe können die schon einiges kaputthauen", seufzte Julius. Bisher hatte er die Gewitter in Millemerveilles nur als Wolkenbrüche erlebt. Dass da auch mal Hagel bei sein konnte bekam er jetzt erst so richtig mit. Vor allem dass der Sturm die niedersausenden Eisstücke noch so stark anschob, dass sie nicht senkrecht, sondern in einer steilen Abwärtskurve runterfielen. Er sah mit gewisser Besorgnis, wie die Hagelkörner in die Baumwipfel einschlugen und einzelne dünne Äste abknickten, aber durch ihre Last auch schon die dickeren Äste nach unten bogen. Die Laubbäume hatten durch diesen kurzen Hagelsturm schon einige Dutzend Blätter lassen müssen. Und es sah nicht danach aus, als ob es in kurzer Zeit aufhören würde. Eher war es so, dass das Unwetter sich noch weiter steigerte. Von der Morgensonne war kein Funken Licht zu sehen. Es war kohlschwarze Nacht draußen. Nur im Schein der nahen und ferneren Blitze konnte Julius die Umgebung sehen. Als wieder ein ganz greller Blitz aufflammte meinte er schon, dass seine Augen weggebrannt würden. Doch als der durch den Blitz erzeugte Donnerschlag abgeebbt war stellte er fest, dass er noch genug sehen konnte. Zwar tränten seine Augen von der plötzlichen Anstrengung. Aber seine Pupillen reagierten noch normal, und er sah auch keine schwarzen Punkte, wie er das nach dem Kampf in Slytherins Galerie erlebt hatte, als er in die grüne Vernichtungsflamme gestarrt hatte, in der Slytherins gemaltes Ich das eigene Dasein ausgehaucht hatte.

"Dann wird wohl heute nichts mehr mit Ausflügen in den Park mit Chloé, Viviane, Janine und Belenus", meinte Julius zu Aurore. Das kleine Mädchen rieb sich auch die Augen, weil es den grellen Blitz voll abbekommen hatte. Doch es konnte seinen Vater noch gezielt ansehen. Nebenbei gluckste und schmatzte es von Millies Seite her. Chrysope hatte beschlossen, zu frühstücken.

"Wenn das böse Wetter weg ist können wir mal rausgehen und uns das weiße Zeug ansehen, Rorie", sagte Julius zu der Erstgeborenen, die wieder sehnsüchtig ihre kleine Schwester ansah, die noch ganz unbekümmert bei Maman trinken durfte. Aurore deutete auf Chrysope und dann auf ihren Bauch: "Rorie auch Durst und Hunger."

"Da müssen wir doch glatt was gegen machen", meinte Julius zu ihr und glitt aus dem Bett. Doch Rorie sah nur ihre mutter und die Schwester an.

"Geh mit Papa, der macht dir leckere Honigmilch", sagte Millie, die schon wusste, dass Rorie gefühlsmäßig noch nicht ganz von der Mutterbrust entwöhnt war. Doch der Gedanke an Honigmilch brachte Aurore dazu, ihrem Vater hinterherzuwuseln, als der schon an der Tür war. Er fing sie ein und lud sie sich auf die Schultern, um so mit ihr zur Wohnküche rüberzulaufen. Millie lag derweil ganz bequem und fühlte den kleinen, warmen Körper auf ihrem bloßen Bauch. War das schon wieder so lange her, dass Chrysie wohl verstaut darin gesteckt hatte? Ja, und Rorie war auch schon zwei Jahre und drei Monate auf der Welt. In was für eine Welt würden die zwei reinwachsen? Ja, und hatte sie mit Julius trotz der Empfängnishemmung stillender Mütter schon das Geschwisterchen von beiden unten drin?

Julius erschrak selbst, als ein weiterer bombenartig explodierender Donnerschlag über dem Haus dröhnte. Doch mehr erschrak er, als ihm keine Sekunde danach etwas warmes, nasses Am Nacken entlang über Hals und Schultern in den Schlafanzug rann. "Rorie, i! Das war nicht fein!" stieß er erst aus. Doch weil er fühlte, dass seine Tochter wieder heftiger zitterte sagte er schnell im ruhigen Ton:"Ist schon gut. Macht Papa gleich alles sauber. Aber wenn du Pipi musst musst du das sagen und nicht einfach machen."

"Rorie Angst", sagte Aurore, die sich im Moment nicht genierte, ihrem Vater in den Schlafanzug zu pieseln.

"Okay, erst Klo und dann Küche", sagte Julius und änderte den Kurs.

Nachdem Aurore sich auf sein Verlangen hin ganz erleichtert hatte, wobei auch ein ordentlicher kleiner Haufen mitkam und er erst sie und dann sich selbst gründlich saubergemacht und den Schlafanzug in warmem Wasser einweichte, machte er für seine Tochter und sich eine große Kanne Milch mit genug von Madame L'ordoux extrasüßem Honig heiß. Er half ihr dabei, das Mischgetränk vorsichtig zu trinken und genehmigte sich bei der Gelegenheit auch was. Immerhin war es eine Spende von Temmie, und er genoss das genauso wie seine Tochter. Dabei dachte er daran, dass sie gerade beide vonTemmie aus der Ferne gestillt wurden, was in seinem Kopf ein vergnügtes leises Lachen hervorrief. "Ihr seid mir alle ganz lieb. Daher ernähre ich euch ganz gerne mit, wie alle meine Kinder."

"Du hast ja gerade erst eins", scherzte Julius. "Ja, aber das andere will bald auch zu uns an die Luft. Deshalb genießt meine Milch, bevor Barbara, die Jüngere, mich wieder trockenstellt, wie sie sagt."

"Da kannst du aber von ausgehen", schickte Julius zurück.

"Irgendwie schön, dass man auch mal an ganz alltägliche Sachen denken darf", dachte Julius für sich. Gestern noch hatte er bei Belle und Ornelle gesessen und sich mit Tim unterhalten. Nein, er wollte jetzt nicht daran denken. Jetzt gab es nur Aurore, Millie, Chrysie und ihn. Tschrabbrubumm! - Und das Gewitter da draußen.

"Chrysie schläft wieder. Offenbar hat sie gemerkt, dass ihr hier nichts passiert. Oder Millies Milchbar hat sie noch mal richtig schlaftrunken gemacht", flüsterte Julius Frau. Aurore war auch wieder ganz ruhig. Als ihr Vater dann noch alle Vorhänge lichtdicht vor das Fenster gezogen hatte legte sie sich zwischen ihre Mutter und ihn ins Bett. Beide hielten sie bei den kleinen händen. Da schlief sie auch schon wieder selig und süß.

"Ist noch was von der Milch da, Monju?" gedankenfragte Millie. Julius erwiderte auf dieselbe Weise, dass die Kanne noch zu einem Viertel voll war. "Du bist süß. Ich lass mich von meiner Tochter bis auf die Rippen trockensaugen, und du und deine Tochter schluckt mir Temmies leckere Ammenmilch weg", scherzte sie nur für Julius vernehmbar.

Das heftige Gewitter tobte sich bis acht Uhr aus. Erst dann war es endlich ruhig über Millemerveilles. Julius wartete, bis Aurore wieder aufwachte. Dann öffnete er die Fenster und ließ die vom Gewittersturm gereinigte Luft ein. Die Landschaft draußen sah aus wie nach einem Schneeschauer. Die nun über dem Horizont stehende Sonne ließ die am Boden zersprungenen Hagelkörner wie kleine, weißglitzernde Edelsteine und grobkörnigen Schnee erstrahlen.

Julius machte sein Versprechen wahr und ging noch vor dem Frühstück mit Aurore nach draußen, um nicht kaputtgegangene Hagelkörner aufzulesen. Die Bäume sahen leicht ramponiert aus. Nur die fünf zu einem Pentagramm aufgereihten Apfelbäumchen standen fest und unversehrt da. Allerdings trugen sie hohe Mützen aus Hageleis. Der Boden knirschte bei jedem Schritt. Doch Julius fühlte, dass er an den nicht plattierten Stellen sumpfartig nachgab. Er fürchtete, dass der ganze Garten komplett im Regen abgesoffen war, als hätte hier wer den tragbaren Sumpf der Weasley-Zwillinge ausgebreitet. Deshalb prüfte er die von Camille und ihm vorsorglich gelegten Drenagen, die überschüssiges Wasser in ein dickes Rohr ableiteten, das im Farbensee endete. In denen staute sich jedoch das Wasser. Offenbar war aus dem Farbensee selbst Wasser in das Ablaufrohr eingedrungen und hatte sich seinen Weg bis zu den Anschlussstellen gesucht.

"Soviel zum gemütlichen Sonntag", sagte Julius. Da hörte er Goldschweif aus ihrer Schlafbehausung rufen: "Schlimm! Komme nicht raus. Wasser vor Eingang!"

"Kriegen wir gleich, Goldie!" rief Julius. Aurore hatte nur den Namen Goldie verstanden und lief nun in ihren Badeschlappen zum Schlafhaus der Knieselkätzin hinüber. Julius eilte ihr nach, um zu verhüten, dass Goldie seine Tochter für eine Feindin ihrer eigenen Jungen hielt. Zugleich konnte er das vor dem Eingang wadentief gestaute Wasser mit einem Ausdörrzauber verschwinden lassen, damit Goldschweif wieder rauskommen konnte. Allerdings drang nun von unten her Wasser nach. Goldschweif ließ es deshalb zu, dass Julius ihre Jungen aus der Höhle holte, wobei er sich leichte Kratzwunden von den kleinen Knieseln einhandelte.

"Stäubchen ist weg!" rief Goldie nur für Julius verständlich von oben. Er rief zurück, wo er hingelaufen sein mochte.

"Kann nur riechen, dass er hier nicht mehr ist und dass er in Stimmung ist."

"o, dann will der zu den Pierres, die gerade die Knieselkätzin von Madame Pierres Schwester haben, solange die in Italien ist", dachte Julius. Da werden die sich aber freuen, wenn die kleine Griselde echte amerikanische Kraftbällchen ausbrütet." Laut sagte er zu Goldschweif: "Der hat wohl keine Angst vor nassem Boden."

"Nein, der kann zwischen den Ästenherumspringen." sagte Goldschweif. "Der geht überall hin, wo eine in Stimmung ist. Ich kenne das."

"Und bist nicht eifersüchtig?" fragte er leise genug, dass nur Goldschweif ihn hören konnte. "Eifersüchtig, was ist das?"

"Wenn du angst hast, dass dir jemand was wegnehmen will, weil der oder die stärker oder schöner oder erfahrener ist als du."

"Ich bin traurig, dass nur der mir gute jungen hier machen kann. Der ist dann eifersüchtig, wenn andere nicht seine Junge kriegen."

"Was sagt Goldie zu dir, Papa?"

"Dass Stäubchen weg ist, weil der mit anderen Knieseln neue Kniesel machen will", sagte Julius. Millie und er hatten sich längst darauf verständigt, natürliche Sachen wie Verdauung und Fortpflanzung so unbekümmert wenn auch mit entsprechend zulässigen Begriffen zu erklären und zu bereden. Schließlich sollte Aurore ja mal wissen, wie Chrysie zu ihnen hingekommen war. Im Moment war sie in der Phase, dass Chrysie alles durfte, was sie mal gedurft hatte. Wie lange das vorhalten würde wusste Julius nicht. Er hatte ja noch keine kleinen Geschwister.

Die Sommermorgensonne fraß und trank inbrünstig alles weg, was das Gewitter über Millemerveilles abgeworfen hatte. Camille und Julius arbeiteten mit Austrocknungs- und Wasserumfüllzaubern daran, das im Boden steckende Regenwasser auf leere Fässer und Tonnen zu verteilen. Man konnte ja nicht wissen, ob in den nächsten Monaten überhaupt noch mal Regen fiel. Aurore fegte auf ihrem rosaroten Kleinhexenbesen um sie herum und machte immer wieder große Augen, wie ihre dunkelhaarige Tante Camille ganz viel Wasser wegzaubern und dafür anderswo reinzaubern konnte. Sie fragte die deshalb einmal, ob das auch mit Pipi ginge.

"Nein, Rorie. Das können wir nicht aus dir anderswo hinzaubern, weil du was lebendiges bist und diese Zauber nur in unlebendige Sachen reingreifen können", sagte Camille. "Das wär's noch, eine Unterhose, die die Blase automatisch und ohne peinliche Auswirkungen leermacht und alles ins dafür bestimmte Klo rüberteleportiert", mentiloquierte Julius seine Gartenbauexpertin an.

"Hat mein Mann schon Versuche mit angestellt, als Claire unterwegs war und er keine Lust hatte, volle Windeln anzufassen, weil ich ihm gesagt habe, dass er bei Claire mehr mit der Säuglingspflege zu schaffen haben soll, wenn er sie schon nicht stillen sollte", erwiderte Camille ebenfalls rein gedanklich.

"Ja, aber der Bauchleerungszauber macht doch was ähnliches", erwiderte Julius.

"Ich weiß nur, dass der Aquaposita-Zauber nicht durch lebendes Fleisch durchgreifen kann, wohl weil das fließende Blut ihn abschwächt. Näheres klärst du bitte mit deiner Ersthelferausbilderin oder mit meiner Erstgeborenen oder der Hebamme deiner Frau", schickte sie ohne Anstrengung zurück.

Als Camille dann noch aus ihrer grünen Umhängetasche eine weitere grasgrüne Regentonne hervorzog staunte Aurore erst recht. Die Tonne war so groß, dass sie da ganz locker reinklettern und sich drin verstecken konnte. Das vergaß sie aber schnell, als die Tonne auf der dem Geräteschuppen gegenüberliegenden Seite des Apfelhauses aufgestellt und mit dnur vier Aquaposita-Zaubern randvoll aufgefüllt war. Camille verschloss sie sorgfältig mit einem Schraubdeckel, den sie dann noch durch einen Aktivierungszauber auf Julius Hände abstimmte, damit nur er den Deckel wieder aufschrauben konnte. "Du kannst Körperspeicher zaubern, Camille? Das wusste ich noch nicht."

"Habe ich auch erst von der Herstellerin der grünen Tasche gelernt, wie der geht. Die Schnatzbauer und Körperspeicherschlosser verraten das einem Außenstehenden ja nicht. Aber pssst! Außer Florymont und Jeanne weißt das jetzt nur du. Rorie muss denken, dass es eben der übliche Kindersicherungszauber ist."

"Ist es ja auch", mentiloquierte Julius. "Wie du mir erzählt hast ist Geneviève ja Hebamme gewesen. Die kannte garantiert eine Menge Kinderschutzzauber."

"Davon darfst du aber ausgehen", mentiloquierte Camille. Dann half sie Julius noch dabei, die vom Hagel abgeschlagenen Blätter zusammenzuhäufen und auf den Kompost zu befördern. Da es ja kein Herbstlaub war enthielten die Blätter noch genug Nährstoffe, um als neuer Dünger an die angestammten Bäume zurückgegeben zu werden.

Da Camille noch andere Gärten zu pflegen hatte konnte sie nicht noch länger als bis halb zehn Bleiben. Sie bat Julius, am Abend noch mal zu ihr hinzukommen, wenn sie Denise und Melanie zum Ausgangskreis für Beauxbatons gebracht hatte. Sie mentiloquierte dann noch: "Ich muss wissen, was Tim Abrahams wegen des Heilssterns erwähnt hat." Julius sah das ein.

Nachmittags machten die Latierres noch einen Ausflug auf den Farbensee, der durch das Gewitter um etliche Quadratmeter größer geworden war. Zu gerne wäre Julius jetzt da hinuntergetaucht, um die Wasserleute zu interviewen, wie die sich bei Gewitter verhielten. Doch noch hatte er seinen freien Tag.

Wie verabredet traf er sich alleine mit Camille um sieben Uhr in ihrem Haus. Florymont hatte zugesagt, noch eine Stunde auf das Abendessen verzichten zu können und war in seiner Werkstatt verschwunden. So fand Camille die Zeit und Gelegenheit, im dauerklangkerker ihres Musikzimmers mit Julius über dessen Ausflug zu reden. "Womöglich hätte dich diese Itoluhila gerne vereist, wenn du nicht unter dem Schutz des Heilssterns gestanden hättest. Aber diese Errithalaia ist offenbar noch wesentlich gefährlicher."

"Ja, ist sie wohl, Camille", sagte Julius. "Hätte dein Wasserschutzzauber, den du mir irgendwie eingeflößt hast meine Tante retten können?" fragte Julius. Er verheimlichte, dass der Felix-Felicis ihm dazu keine Anregung vermittelt hatte.

"Nein, in dem Fall hat mein eingeflößter Zauber nur dich beschützt, weil sich das Wasser, dass dabei verwendet wurde, mit deinen Körperflüssigkeiten verbunden hat. Zumindest habe ich das so gelernt, als du mich zu den Altmeistern mitgenommen hast."

"Woher weiß Mr. Abrahams von deinem Heilsstern?" wollte Julius wissen.

"Florymont und ich durften oder besser mussten ihm bei einer sehr drängenden Angelegenheit helfen. Da hat er ihn an mir gesehen", sagte Camille. Auch wenn sie es nicht offen aussprach merkte Julius, dass ihr das Thema sehr unangenehm war. Jetzt konnte er auch verstehen, wieso. Denn in gewisser Weise hatte er es jetzt amtlich, wer Aiondaras Krug sichergestellt hatte. Doch da sie nicht von sich aus darüber reden wollte ließ er es, sie dazu zu befragen. Er war sich sicher, dass sie ihm zu gerne mehr erzählte, aber erst dann, wenn es unbedingt sein musste. Doch eine Sache wollte er noch wissen:

"Kannst du mit diesem Schutzzauber auch unter Wasser atmen?"

"Für einen vollen Tag, Julius. Du hättest das auch machen können."

"Weil ich heute morgen dran gedacht habe, wie die Wasserleute im See mit dem Gewitter zurechtkamen."

"Wegen der elektrischen Kräfte der Blitze im Wasser? Hat Madame Neirides nichts zu erwähnt", sagte Camille lächlend. Dann erwähnte sie noch, dass in der Bibliothek der Villa Binoche noch Bücher über die Bruderschaft des blauen Morgensterns aufbewahrt wurden, sowie über die mächtigsten Wesen aus dem Morgenland. Allerdings habe sie an ein Regal nicht herangehen können, ohne ein schmerzhaftes Brennen in Brüsten und Schoß zu spüren. Deshalb wolle sie mit Julius noch einmal dorthin. "Keine Sorge, in der Bibliothek müssen wir nicht nackt herumlaufen, und diese Venushauch-Pflanzen wachsen da auch nicht", ergänzte sie mit einem beinahe mädchenhaften Grinsen. Julius fühlte, wie ihm die Spucke wegblieb und sein Mund austrocknete. Das wäre damals auch fast schiefgelaufen. So konnte er nur mit angerauhter Stimme sagen:

"Zumindest haben wir uns am Ende doch noch eine Menge Ärger erspart."

"Stimmt, wir hätten eine Menge schönes und interessantes aufgeben müssen", sagte Camille, nun nicht mehr grinsend.

Als Julius um Acht wieder bei seiner Frau und den zwei kleinen Latierre-Hexen war fragte Millie ihn, ob Camille ihn gefragt hatte, ob er nicht schon vor der Ministerwahl zu ihr in die Gärtnerei wechseln wollte.

"Das auch, Mamille", sagte Julius. "Aber sie versteht auch meinen Standpunkt, dass ich gerne meine Fähigkeiten für alle Zauberer und Muggel einsetzen möchte." Das verstand Millie auch sehr gut.

Nach dem Abendessen machten die bereits lauffähigen Latierres Hausmusik, wobei Rorie eine kleine Schellentrommel spielte und ihre Eltern Flöte spielten. Als die Sonne dann unterging war es Zeit für Aurore, die schon sehr sehr müde aussah. Heute konnte sie sogar ohne die übliche Einschlafgeschichte ins Bett gelegt werden und einschlafen. Chrysope bekam noch ihre Abendmilch. Bald würde sie die ersten Zähnchen kriegen. Dann wollte Millie sie langsam entwöhnen.

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In der Schenke Le Phoenixe Bleu im Viertel Quartier Quintilian, nördlich von Avignon


28. August 2002, 20:00 Uhr Ortszeit

Alain Boisverd hatte seine Schwester und Schankmaid Marlene im Gastraum gelassen, um die drei angemeldeten, diskret zu empfangenen Herren im gesonderten Teil seiner Gastwirtschaft zu begrüßen. Hier, im Blauen Phönix, war schon Geschichte geschrieben worden, dachte Boisverd. Sicher würde das heute oder in den nächsten Tagen wieder passieren.

Mit der antrainierten Dienstbeflissenheit, die nur von jener eines Hauselfen übertroffen werden konnte, begrüßte der Eigner der Schenke erst die ihm wohlbekannten Messieurs Colbert und Vendredi und fünf Minuten später auch den Kandidaten Égisthe Louvois. Der Kamin "Bleu Deux", galt unter hochrangigen Ministeriumsangehörigen als Geheimtipp für verschwiegene Treffen, wenn zwischen Ressortleitern was zu klären war, was nicht im ganzen Ministerium herumgereicht werden durfte.

Nachdem sich die drei miteinander verabredeten Herren die Asche von der Flohpulverreise abgeklopft hatten verschloss der Wirt den Kaminzugang mit einem Sperrstein und winkte die drei Herren in das anschließende Zimmer, das klein aber gemütlich aussah. Die Fenster blickten nach osten, Süden und Westen, so dass zu jeder Tageszeit Sonnenlicht hereinfallen konnte. So wurde das Zimmer gerade von goldenem Licht der Abendsonne erfüllt. Ein Runder Tisch mit sechs Stühlen lud zum Verweilen ein. Auf dem Tisch standen bereits drei goldene Kelche, doppelt so groß wie üblich.

"Wenn einer der Herren das Bad benötigen sollte, so kann er es durch diese Wandaufsuchen, indem er die Hand auf die erste Palme von links legt und "Tropentanz" ausspricht. Dann erreicht er das diskrete Bad mit allen Annehmlichkeiten unserer modernen Welt", sagte der Wirt. "Für Getränkebestellungen sprechen Sie einfach in den Kelch, der vor ihnen auf dem Tisch steht. Falls Sie zu speisen wünschen kann ich Ihnen gerne Karten und Teller bringen. Die Bestellung erfolgt dann ähnlich wie bei den Getränken. Wünschen Sie noch Kerzenlicht?"

"Wir sind keines der romantischen Liebespaare, die Sie sonst in diesem Separé bewirten, Alain. Die Sonne reicht aus", sagte Midas Colbert, der in seiner Eigenschaft schon die anfallenden Kosten errechnet und die Buchungsart bedacht hatte, um diesen Ausflug nicht im öffentlichen Gesamthaushalt auftauchen lassen zu müssen.

"Wie Sie wünschen, Monsieur Colbert", sagte Alain Boisverd.

"Ich wünsche zu speisen", sagte Vendredi. Louvois nickte beipflichtend. So gab sich Colbert einen Ruck und bat auch um eine Karte und den magischen Teller, auf dem die bestellte Speise erscheinen konnte. Alain Boisverd verbeugte sich und apportierte mit einem Zauberstabwink drei goldene Teller und drei in blaues Leder gebundene Speisekarten auf dem Tisch. Dann zog er sich zurück. Den Rest würden die drei Hauselfen erledigen, die drei Stockwerke weiter unten in der Küche schafften.

Als die Tür von außen verschlossen war und damit der Lärm der vollen Gaststube ausgesperrt war fragte Louvois, ob der Raum ein Klangkerker war.

"Dann könnte unser Gastgeber nicht diesen Luxus aufbieten", sagte Colbert. "Aber keine Bange, die Hauselfen sind auf Verschwiegenheit vereidigt. Die würden eher sterben als zu verraten, was in diesem Zimmer alles gesagt oder getan wurde."

"Wirklich? Ich hätte nicht übel Lust, die Kelche und Teller hinauszustellen und das Zimmer zum Klangkerker zu machen", sagte Louvois mit unüberhörbarer Verdrossenheit.

"Égisthe, meine Mutter wurde in diesem Raum gezeugt, wo im Schankraum hunderte Leute waren", sagte Colbert. "Meine selige Großmutter hat diesen Akt als sehr stürmisch und laut beschrieben. Gehen Sie also davon aus, dass kein Außenstehender außer den Elfen uns hören kann, und die Elfen ..."

"Wie Sie meinen, Midas, ist ja immerhin auch Ihre Karriere, die vielleicht auf dem Spiel steht", sagte Louvois. Er blickte die beiden noch ranghohen Zauberer an. Von denen hing es ab, ob er nach einer Wahl zum Minister ohne Ruckeln und Knirschen seine Vorhaben umsetzen konnte. So vertat er auch keine unnötige Zeit mit weiteren Fragen oder Begrüßungsfloskeln.

Nachdem die drei Zauberer sich Wein in die Kelche hatten füllen lassen, ohne dass jemand mit einer Karaffe an den Tisch treten musste, erläuterte Louvois seine Ansichten über die anstehenden Maßnahmen, wobei er vor allem den für Finanzen zuständigen Midas Colbert ansah. Dieser hörte sich erst nur an, was der Kandidat vorhatte. Als dann Vendredi gefragt wurde, inwieweit er zustimmen würde, seine Abteilung derart umzustrukturieren, dass nur drei Hauptbüros bestehen blieben, sagte Vendredi:

"Das dürfen Sie getrost vergessen, Monsieur Louvois. Nicht weil ich Ihnen nicht zustimmen würde, dass weniger mehr wäre. Doch anders als Martinique gibt es in Frankreich wesentlich mehr Leute und Zauberwesen. Allein das Hauselfenzuteilungsamt verwaltet siebenhundert Familien mit durchschnittlich drei Elfen pro Familie. Das Koboldverbindungsbüro musste in Absprache mit dem Kollegen Colbert um zwei Mitarbeiter erweitert werden, da die Spitzohren wegen der Bürger mit Muggelweltverbindungen auch Transfers ihres Galleonenbestandes in Muggelgeld oder Muggelkrediteinheiten haben möchten. Das Zwergenverbindungsbüro und das Zentaurenverbindungsbüro sind derzeitig wegen mangelnden Bedarf geschlossen. Was die Tierwesenbehörde angeht besteht wegen der Massenhaltung von Mastschweinen in der Muggelwelt größerer Bedarf an Nogschwanzbekämpfungseinheiten. Die brauchen ihr eigenes Büro. Die Légion de la Lune ist Ihnen ja auch vertraut. Auch wenn derzeit Ruhe vor kriminellen Werwölfen herrscht, so erachte ich diese Sondereinsatzgruppe nach wie vor als wichtige Ergänzung zur üblichen Werwolfüberwachung, die ich bereits vor drei Jahren von Registratur und Werwolfjagdbehörde zur Werwolfkontrollzentrale umgebaut habe. Gleiches gilt für die Vampirüberwachung und -bekämpfung. Es liegen leider glaubwürdige Berichte vor, denen nach immer noch Vampire versuchen, die Herrschaft über alle Menschen anzustreben. Daher kann ich eine von Ihnen gewünschte Zentrale für die Eindämmung magischer Schadgeschöpfe nicht in der von Ihnen gewünschten Weise einrichten. Allein schon die Aufarbeitung der getrennten Archive dürfte zwanzig zusätzliche Mitarbeiter erfordern."

"Das Außenpersonal?" fragte Louvois.

"Musste durch die Vorkommnisse der letzten Jahre erweitert werden. Falls Sie jetzt nach einer zentralen Außeneinsatztruppe für alle magischen Vorkommnisse fragen, das hat Monsieur Lesfeux schon angesprochen."

"Sie könnten das Koboldverbindungsbüro mit dem Büro für Zauberwesen über der Jardinane-Grenze verschmelzen. Dadurch könnte auch Personal reduziert werden", sagte Louvois. Dabei sah er erst Colbert und dann Vendredi an. Colbert sagte:

"Monsieur Louvois, das hatten wir schon mal thematisiert, vor fünf Jahren. Ich war und bin auch der Meinung, dass die Einteilung in große und kleine Zauberwesen unsinnig ist. Doch ich musste mich davon überzeugen lassen, dass gerade für die Betreuung von Veelas und Meerleuten eine eigenständige Abteilung nötig ist, und der Umstand, dass Mischungen zwischen Menschen und humanoiden Zauberwesen auch in diesen Bereich fallen bindet mir die Hände, eine Zusammenschließung der beiden Teilbereiche voranzutreiben."

"Worauf wollen Sie eigentlich hinaus, Monsieur Louvois? Ihnen geht es doch um ganz konkrete Dinge oder?" wagte sich Arion Vendredi vor.

"Das kann ich Ihnen Sagen, Monsieur Vendredi, auf eine stricktere, zentrale Verwaltung aller Zauberwesen, vor allem jenen, die mit Menschen fruchtbare Nachkommen hervorbringen können, und zwar so, dass im Zweifelsfall der amtierende Minister bestimmen kann, wie viele Gemischtrassige es in Frankreich geben soll und wo sie unterkommen dürfen. Auch liegt mir was daran, den aufkommenden Widerstand von Zauberwesen gegen unsere Vorherrschaft baldmöglichst zu beenden, nach Möglichkeit ohne Gewalt, diese aber immer als eine Option bereithaltend. Ein Muggelpolitiker aus den Staaten nannte es mal die Politik der sanften Stimme und des dicken Stockes. Nur wer einen dicken Stock zum Zuschlagen besitzt kann und darf es sich leisten, mit sanfter Stimme zu sprechen, um gewisse Forderungen zu erheben oder Vorhaben umzusetzen. Das vermisse ich bei Ihrer Abteilung, Monsieur Vendredi. Insbesondre danach, dass Meerleute nun eindeutige Zauberwesen mit Verhandlungsrecht sind und Sie sich von einer Veelastämmigen auf der Nase herumtanzen lassen, die eindeutig gegen bestehende Gesetze verstoßen hat und dies durch fortgesetzte Einflussnahme auf mindestens einen Magielosenimmer noch tut, ist ein entschlossenes, ja auch härteres Vorgehen dringend angeraten. Auch dass Sie sich dazu haben breitschlagen lassen, eine reinrassige Riesin in Frankreich leben zu lassen und einer Hybridin aus Riesin und Sabberhexe freien Abzug nach schwerwiegenden Übergriffen auf Leben und Eigentum von Menschen mit und ohne Magie gewährt haben, bedarf einer sehr gründlichen Korrektur, die mein seliger Vorgänger und dessen kommissarischer Nachfolger offenbar nicht für nötig hielten. Mehr noch, mein Vorgänger beschönigte diesen Beschluss noch damit, dass die letzten reinrassigen Riesen dadurch zu einem übersichtlichen, ja beherrschbaren Volk wurden. Und was die reinrassige Riesin angeht, die in Frankreich hausen darf, so hätten Sie damals, wo das mit der Hybridin aufkam, zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und dieses Geschöpf mit der Hybridin zusammen erlegen lassen sollen, um die potenzielle Gefärhdung der magischen Mitbürger zu beenden."

"Ah, jetzt begreife ich. Sie fordern entweder die Köpfe jener, die hinter dieser Entscheidung stehen oder meinen eigenen, weil ich diese Entscheidung mittrage", sagte Vendredi. Dann sage ich Ihnen mal etwas, Monsieur Louvois, dass Sie wohl noch nicht wissen können: Was die Riesin Meglamora angeht, so ergab sich durch die Gewährung ihres Aufenthaltes eine unschätzbare Gelegenheit, das Wesenund Verhalten dieser Zauberwesenart genauer zu studieren. Was die Hybridin aus Riesen und Waldfrau angeht, so wollte ich ihre Tötung haben. Doch mir zugegangene Informationen, die Sie noch nicht einsehen dürfen, weil sie S9 sind, überzeugten mich davon, sie besser bei den anderen Riesen leben zu lassen, als sie zu töten. Was die Veelastämmige angeht, so ist sie nur geduldet, weil sie bei längerem Ausschluss aus Frankreich den Tod finden und dadurch Blutrache auslösen würde. Näheres hierzu lassen Sie sich gütigst von Mademoiselle Ventvit, Monsieur Delacour oder dem offiziellen Veelabeauftragten, Monsieur Julius Latierre, berichten. Ich kann, will und werde keine der getroffenen Maßnahmen widerrufen, egal, ob Sie, Monsieur Lesfeux oder Monsieur Montpelier Minister wird. Falls Mademoiselle Ventvit Ministerin wird erwäge ich ohnehin meine Freistellung, da es zwischen ihr und mir auch in der von Ihnen kritisierten Angelegenheit zu viele Streitpunkte gibt."

"Ach, also mir und den beiden anderen Kandidaten würden Sie weiterhin zur Verfügung stehen, aber nicht die von mir für notwendig erachteten Maßnahmen mittragen?" wollte Louvois wissen. Vendredi nickte.

"Monsieur Colbert, Sie dachten einmal an eine Gemischtrassenaufenthaltsgebühr. Was hat Sie davon abgebracht?"

"Schlicht und ergreifend das ministerielle Veto von Monsieur Grandchapeau. Er fürchtete einen Aufruhr, dem die magische Gesellschaft womöglich nicht gewachsen sein könnte. Falls Sie Minister werden, Monsieur Louvois, können wir da gerne noch mal drüber sprechen, allein um die von Ihnen angedachte Zuwachsbeschrenkung zu verwirklichen."

"Na klar, Midas, und wenn Sie dann schon mal dabei sind gleich noch eine Muggelstämmigensteuer, weil wegen denen die Beziehungenzur Muggelwelt mit all ihren Ausgaben aufrechterhalten werden müssen", schnaubte Vendredi. Colbert stierte ihn an und sagte keinen Ton.

"Das sollten wir besser nicht vor der Wahl thematisieren, weil zu viele Leute dann behaupten werden, uns wäre nach einer ähnlichen Weltordnung, wie sie dem britischen Psychopathen mit dem unaussprechlichen Namen oder Grindelwald vorgeschwebt ist", sagte Louvois, der doch noch eine Grenze seiner Möglichkeiten erkannte. "Aber es besteht durchaus die Möglichkeit, alle Angelegenheiten mit muggelstämmigen Hexen und Zauberern von der Familienfürsorge und Ausbildung alleine betreuen zu lassen. Wir benötigen da sicher kein Extrabüro, wo es die Katastrophenumkehrabteilung gibt. Das wäre doch möglich, Monsieur Colbert, oder?"

"Nun, wenn Sie mir erklären, wie ich das meinem Sohn und meiner Schwiegertochter begreiflich machen kann, dass da demnächst Arbeitsplätze abgebaut werden könnten. Abgesehen davon hat gerade der Fall Lykotopia und der Fall Aron Lundi erwiesen, wie wichtig es ist, eine eigenständige Überwachungstruppe für das sogenannte Internet vorzuhalten. Sie sollten vielleicht vor einer Umstrukturierung mehr über das Internet wissen, Monsieur Louvois."

"Das Büro für die muggeltaugliche Informationsdarstellung kann dieses offenbar so gefürchtete Internet kontrollieren", sagte Louvois. Dann meinte er noch zu Vendredi:

"Und ich gehe davon aus, dass wenn Monsieur Colbert nach der Wahl einer Besteuerung von gemischtrassigen Menschen zustimmt, dass Sie auch entsprechende Verordnungen und Aktionen billigen werden, die die Umtriebe von aufsässigen Meerleuten, Veelastämmigen oder Riesen beenden werden. Immerhin haben Sie gerade gesagt, im Falle meiner Wahl weiterhin Leiter der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe zu bleiben."

"Wie erwähnt, Monsieur Louvois, es ist so, wie es jetzt ist die beste Lösung, auch wenn hierbei eher vom kleineren Übel gesprochen werden muss", sagte Vendredi mit steinernem Gesichtsausdruck.

"Gut, da wir das nun geklärt haben können wir nun zu Abend essen", sagte Louvois leutselig. Doch Vendredi hatte noch was zu sagen:

"Sie halten sich für den Mann mit dem neuen, eisernen Besen, Monsieur Louvois. Doch viele in Frankreich leben mit dem Status Quo gerade sehr gut. Es könnte Ihnen passieren, dass dort, wo sie mit dem Besen was auskehren, anderswo etwas herunterfällt und mehr Staub aufwirbelt, als Sie mit dem Besen auf einmal wegkehren können."

"Wollen Sie mir jetzt etwa drohen, Arion Vendredi?" fragte Louvois.

"Da Sie im Moment mit mir gleichrangig sind, solange Monsieur Montpelier sie nicht von sich aus entlässt, steht mir keine Drohung zu. Aber als Warnung dürfen Sie meine Vorhaltung gerne verstehen", sagte Vendredi. Louvois erbleichte erst und wurde dann wutrot.

"Das werde ich mir sehr gut merken, Monsieur Vendredi. Und das dürfen Sie gerne als Drohung interpretieren, weil ich durch meine Rangstellung eine kleine Stufe höher als Sie stehe. Immerhin bin ich stellvertretender Zaubereiminister."

"Auf einer Insel im Atlantik", warf Vendredi unbeeindruckt, ja schon an Frechheit grenzend ein. "Ob Sie gewählt werden entscheiden die Bürgerinnen und Bürger danach, ob diese all das mittragen werden, was Sie vorhaben, und ich gehe im Moment davon aus, dass Sie der Öffentlichkeit nicht alles auf die Nase binden werden, was Sie vorhaben. Es gibt noch sehr viele, für Sie zu viele, die mit Grandchapeaus Errungenschaften wunderbar leben können."

"Wie erwähnt", presste Louvois zwischen den Zähnen heraus. "Ich werde mir Ihre Vorhaltungen und verkappten Drohungen merken. Vielleicht überlegen Sie besser heute schon, ob sie nach der Wahl noch Abteilungsleiter bleiben wollen oder nicht besser selbst auf eine Insel umsiedeln."

"So, wie Sie das sagen, werde ich mir das gut überlegen", erwiderte Vendredi, dem die beiden anderen nun ansehen konnten, wie wütend er selbst war. So verwunderte es Colbert auch nicht, das Vendredi sagte: "Ich halte es für besser, nicht weiter an dieser Besprechung teilzunehmen, da sie einen Punkt erreicht hat, wo all zu leicht unüberbrückbarer Widerstreit entfacht werden kann. Daher empfehle ich mich. Midas, wir sehen uns dann übermorgen bei der Abteilungsleiterkonferenz. Grüßen Sie mir Ihre Gattin!"

"Halt mal! Bevor Sie hier abrücken verweise ich darauf, dass Sie zugesichert haben, über Verlauf und Ergebnis dieser Unterredung kein Wort an wen auch immer zu verlieren. Bestätigen Sie diese Zusage!" hielt Louvois den im Gehen begriffenen Beamten auf. Dieser sah ihn an und sagte:

"Sie dürfen sich darauf verlassen, dass ich keinem von diesem Treffen erzähle. Da würde ich mich ja selbst der peinlichkeit ausliefern, hinter dem Rücken meines derzeitigen Vorgesetzten mit seinen Konkurrenten zu paktieren. Ich bin ja auch nur hergekommen, weil ich wissen wollte, warum Sie mich und Monsieur Colbert alleine sprechen wollten und nicht offiziell im Ministerium mit uns sprechen wollten. Jetzt empfehle ich mich aber. Guten Abend noch."

Vendredi nahm seinen Hut, ging zur Tür und drückte die Klinke. Die Tür ging auf. Er trat hinaus und schloss die Tür. Da erhob sich auch Colbert. Er sagte:

"Ich hatte gehofft, dass diese Runde eine gedeihliche Zusammenkunft werden könnte, bei der Sie von uns über die derzeitige Lage im Ministerium unterrichtet zu werden wünschten. Ich sehe hierfür jedoch keinen Anlass mehr. Daher empfehle ich mich auch. Falls Sie gewählt werden, stehe ich Ihnen sehr gerne für weitere Beratungen zur Verfügung. Öhm, ich mache denselben Grund für mein Stillschweigen geltend, den der Kollege Vendredi genannt hat. Guten Abend noch."

Als Louvois alleine war dachte er daran, dass er die beiden auf jeden Fall loswerden musste. Denn etwas hatte ihm verraten, dass die beiden keine übliche Lebensaura besaßen. Er war kein Auravisor. Dafür hatte er von seinem Großonkel eine besondere Halskette geschenkt bekommen, die aus Demiguisenhaar und Silbermuschelperlen bestand. Wenn sie von dem durch Blutgabe für rechtmäßig erklärten Besitzer getragen wurde, war sie für alle anderen unsichtbar, verlieh aber ihrem Träger gleichzeitig die Fähigkeit, unsichtbare Einflüsse wie einen besonderen Duft und einen warmen oder kalten Windhauch zu vernehmen. Während der Unterredung hatte er mal zu Vendredi und mal zu Colbert genauer hingeblickt. Von beiden war ein tropenwarmer Windhauch ausgegangen. In seiner Nase war ohne einen wahrhaftig vorhandenen Geruchstträger der Eindruck entstanden, ein anregendes Parfüm zu riechen, das mit dem Duft warmer Haut vermischt war. Irgendwer hatte die beiden mit einer Magie angereichert, die ihn an ein starkes, weibliches Wesen denken machte. So etwas ähnliches hatte er auch an dem jungen Zauberer Julius Latierre wahrgenommen. Da war es auch eine tropisch warme Luft, aber vermengt mit dem in seine Nase projizierten Duft von heißer Milch mit Kräuterhonig. Zu gerne hätte er seinen Großonkel gefragt, wofür diese Gerüche standen, weil der ein richtiger Auravisor war. Doch da dieser Großonkel der Schwager seiner Großmutter väterlicherseits und somit kein Blutsverwandter war, hatte er diese Begabung nicht geerbt. Er wusste nur, dass dieser Großonkel einen unehelichen Sohn mit einer Hexe aus Kalifornien gezeugt hatte, über den er jedoch kein Wort verloren hatte.

Morgen gehe ich durch alle Abteilungen. Mal sehen, wer noch alles von irgendwem beeinflusst ist", dachte Louvois. Dann erkannte er, dass er der letzte Gast in diesem Zimmer war und wusste, dass er die Zeche bezahlen musste. Hoffentlich galt dies nur für diesen Abend und für die drei großen Kelche Rotwein.

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Büro von Ornelle Ventvit


29. August 2002, 09:20 Uhr Ortszeit

Es klopfte an die Tür. Ornelle hatte gerade mit Julius über den Antrag der Meerleute zur Verringerung der Müllentsorgung im Mittelmeer gesprochen. Als sie "Herein" sagte, trat ein sichtlich siegessicher auftretender Égisthe Louvois in das Büro ein. Er grüßte Ornelle und Julius mit wohl einstudierter Freundlichkeit und erwähnte, dass er gerade auf einem Rundgang durch alle Abteilungen sei, um sich offiziell bei den Ministeriumsmitarbeitern vorzustellen und für Fragen zur Verfügung zu stehen. Julius konnte es an Ornelle Ventvits Blick ablesen, dass sie dieselbe Frage umtrieb wie ihn: Will der uns jetzt verarschen?

"Nun, ich für meinen Teil halte da eher was von einem Treffen in informeller Runde für Leute, die sich interessieren, was ich vorhabe", sagte Ornelle. "Aber bitte, Égisthe, im Moment haben wir gerade fünf Minuten Zeit."

"Ich weiß, dass Sie beide von mir einen höchst abweisenden Eindruck erhalten haben, Mademoiselle et Monsieur. Ich bin auch jetzt nicht hergekommen, um Abbitte zu leisten oder umschweifige Erklärungsvorträge zu halten, warum ich Ihnen beiden gegenüber so auftrat, wie ich auftrat. Es geht mir um das große ganze, das Gefüge, das Ineinandergreifen aller einzelnen Abteilungen, Unterabteilungen und Einzelbüros. Da ich mich nun einmal sehr weit aus dem Fenster gelehnt habe und mich um das Amt des Zaubereiministers bewerbe gilt es für mich nun, die erfolgreichen Strukturen dieses so wichtigen Administrativkomplexes zu ergründen, um zu erkennen, welche Vorgänge besondere Förderung benötigen oder welche Vorgänge bis zur Wahl erfolgreich abgeschlossen sein werden, um mit den entsprechenden Ergebnissen die nach meinem Dafürhalten wichtigen Reformen durchzuführen. Auf den Punkt gebracht geht es mir darum, zu wissen, wer hier was macht und ob das so weitergehen kann oder abgeändert werden muss."

"Ja, und deshalb kommen Sie zuerst zu uns, Égisthe", sagte Ornelle. Julius hatte beschlossen, nur auf direkte Aufforderung zu antworten.

"DA trügt Sie der Eindruck. Ich war bereits im Apparierüberwachungszentrum und im Besenkontrollamt. Und demnächst werde ich die Gruppe zur Behebung verunglückter Magie und jene von Minister Grandchapeau genehmigte Mondlegion aufsuchen, um mich über Umfang und Erfolg deren Arbeit zu informieren. Nach der Lykotopia-Affäre ist es ja doch ziemlich ruhig geworden, zumal ja die unregistrierten Lykanthropen alle einer höchst bedauerlichen Krankheit zum Opfer fielen."

"Bedauerlich! Ja, im Sinne moralischer Wertung schon bedauerlich", sagte Ornelle unbeeindruckt. "Aber diese Gruppierung ist weiterhin wichtig, Égisthe", sagte Ornelle. Julius nickte beipflichtend.

"Wie man das auch werten soll. Ich möchte einen weitestgehend vollständigen Überblick über alle Tätigkeiten gewinnen, die dem Frieden und der Sicherheit der Zaubererwelt dinen. Dazu ist es natürlich auch nötig, alles einzubringen, was jemand an Kenntnissen und Fertigkeiten mitbringt." Julius begriff. Louvois spielte auf seine besonderen Zauber an. Außerdem wollte Louvois ihn provozieren. Doch er blieb ganz ruhig. So sprach Louvois weiter: "Schließlich ist es für einen Zaubereiminister wichtig, dass er sich auf die Loyalität und die Mithilfe seiner Mitarbeiter verlassen kann und diese auch bereit sein müssen, Vertrauen zu ihren Kollegen zu haben, besonders dann, wenn sie in gefährliche Einsetze geschickt werden. Dann ist es sehr wichtig, dass sie ihren Kollegen alles mitteilen, was sie hier und außerhalb erlernt oder ergründet haben."

"Sie definieren also die Bereitschaft zur umfassenden Preisgabe von Kontakten und Kenntnissen als Loyalität", legte Ornelle das Gesagte aus. Louvois nickte. Julius hatte die Bestätigung für seine Vermutungen.

"Monsieur Latierre, Ihre Anwartschaft geht jetzt ins dritte Jahr und damit in die Hälfte der Ihnen eingeräumten Zeit, um zu ergründen, ob Sie im Ministerium gut aufgehoben sind und Ihren Beitrag zur friedlichen Verwaltung der Zaubererwelt zu leisten. Sagen Sie mir bitte, was für Sie selbst ganz persönlich mehr zählt, das gesamte Gefüge des Ministeriums, die Funktion der Abteilung, in der Sie arbeiten dürfen oder eigene, aus anerzogenen Richtlinien oder außerhalb gemachten Erfahrungen geschöpfte Wertvorstellungen?"

Da Sie um eine auf mich bezogene Einschätzung gebeten haben, Monsieur Louvois, so kann ich Ihnen zuversichtlich bekunden, dass für mich der Punkt eins mit dem Punkt zwei und drei vollständig verbunden ist, solange sich meine Wertvorstellungen nicht mit Maßnahmen überschneiden, die den Zweck höher einstufen als die ethische Vertretbarkeit der Mittel, die zu seiner Erfüllung angewendet werden. Wie Sie erwähnten bin ich ab dem ersten September im dritten von fünf Jahren. Die bisherige Zeit habe ich bis auf die im Verwaltungswesen immer mal aufkommenden Missverständnisse oder Meinungsverschiedenheiten als für mich genau das empfunden, was ich machen möchte. Ich wollte in diese Abteilung und kann mich auch richtig hier einbringen."

"Nur nicht im Außeneinsatz, weil eines der von Ihnen ehrlicherweise eingestreuten Missverständnisse eine Verwendung für den Außendienst zumindest in dieser Abteilung ausschließt. Ging es da nicht auch um die Frage, ob Sie ein Recht haben, einen erteilten Befehl zu hinterfragen oder ihn gar zu verweigern, nur weil sich Ihnen mit ihrer trotz zwei Jahren noch unzureichenden Erfahrung nicht sofort erschließt, welchen vernünftigen Grund es für seine Erteilung gab oder gibt?"

"Ich finde es schon mal sehr praktisch, Monsieur Louvois, dass Sie nicht um den heißen Brei reden. Ja, ich hatte und habe gewisse Bedenken gegen die Ausführung von klaren Tötungsbefehlen, weil ich gelernt habe, dass das Töten eines Lebewesens immer nur der allerletzte von vielen Schritten sein darf und zu dem von Ihnen angedeuteten Fall eine Tötung nicht nur unnötig, sondern auch für den weiteren Fortgang höchst kontraproduktiv und öffentlichkeitsgefährdend gewesen wäre. Dass ich noch hier sitze beweist, dass Monsieur Vendredi, der meine Verwendbarkeit beschrenkt hat, einsah, dass ich in diesem konkreten Fall recht hatte und ich nur deshalb keine Außeneinsätze mitmachen darf, weil er an mir das Exempel statuieren wollte, dass er keine Befehlsverweigerung duldet. Auch weil ich einsehe, dass eine gewisse Hierarchie und Disziplin für eine vielschichtige Organisation wie das Zaubereiministerium nötig ist, sitze ich noch hier. Andernfalls hätte ich die von Monsieur Vendredi angebotene Alternative genutzt und meinen Platz zur Verfügung gestellt. Da mir diese Alternative immer noch bleibt, kann und werde ich meine Arbeit hier fortführen, bis sie entweder nicht mehr benötigt wird oder widrige Umstände mein Ausscheiden aus dem Verwaltungsstab des Zaubereiministeriums erfordern oder gar erzwingen."

"Nun, das steht Ihnen durchaus zu, Monsieur Latierre, jedoch sollten Sie dabei immer bedenken, dass Sie eine Lücke hinterlassen, die nicht so leicht ausgefüllt werden kann. Nur soweit, dass Sie und ich wissen, woran wir miteinander sind. Außerdem möchte ich gerne noch von Ihnen persönlich wissen, inwieweit Ihre Verwendung im Büro zur friedlichen Koexistenz von Menschen mit und ohne Magie eben diesem Zweck dient? Wie erwähnt aus Ihrer ganz persönlichen Sicht."

"Immerhin gelang es mir, zu verhindern, dass die Geheimhaltung der Magie durch eine den Zaubereigesetzen ablehnend gegenüberstehenden Veelastämmigen unumkehrbar zunichte gemacht wurde. Und wenn Sie jetzt darauf anspielen, dass besagte Veelastämmige in Frankreich unbedrängt weiterleben darf, so lesen Sie bitte hierzu das Memorandum, dass Monsieur Delacour in Absprache und mit Genehmigung von Monsieur Vendredi herausgegeben hat, als ich gerade Urlaub hatte."

"Demnach es ein Naturgesetz dieser obskuren Zauberwesenart gibt, dass sie nicht länger als ein Jahr vom Kontakt mit dem Boden abgehalten werden dürfen, auf dem Sie geboren wurden, weil sie sonst dahinwelken und sterben müssen? Gut, mag sein, dass dieses erwähnte Individuum in Frankreich verweilen soll, aber warum in Freiheit und unter Zugeständnis von durch Magie erbeuteter Lebewesen und Gegenstände?"

"Weil erwähnte Magie dazu geführt hat, dass im Falle einer dauerhaften Gefangenschaft der erwähnten Person oder der Urheberin selbst der Tod beider Wesen innerhalb einer nicht genau erwähnten aber doch sehr kurzen Zeit eintritt. Die Blutrachegesetze der Veelas sind Ihnen sicher schon bekannt", sagte Julius.

"Und deshalb dürfen eindeutig krriminelle Zauberwesen in der magischen und nichtmagischen Welt ihre Taten verüben, weil jeder Versuch, sie ordnungsgemäß zu bestrafen, zu ihrem Tod und damit angeblich zu einer Welle von Racheakten führt, Monsieur Latierre?"

"Sagen wir es so, Monsieur Louvois, ich persönlich möchte es nicht darauf anlegen, der Zaubererwelt, sofern noch was von ihr übrig bleibt, erklären zu müssen, warum ich eine ernsthafte Drohung in den Wind geschlagen habe, wo es genug Zeugnisse gibt, dass derartige Vergeltungsakte in der Vergangenheit geschahen. Minister Grandchapeau hat es nicht darauf angelegt, Sein kommissarischer Nachfolger legt es nicht darauf an, und je danach, wer am 14. September gewählt wird, kann ich mir nicht vorstellen, dass jemand es darauf anlegen möchte, dass seine Familie und die Familien anderer unbescholtener Mitarbeiter getötet werden. Wie erwähnt, es handelt sich um Blutrache, und zwar um eine erweiterte Form der Blutrache, der Bestrafung der Familien des Untäters oder der Täterin. Deshalb konnte auch ein gewisser Diosan Sarjawitsch nicht mal eben so hingerichtet oder auf der Flucht erschossen werden, weil seine Mutter und deren Anverwandte dann jeden Angehörigen dessen, der die Tötung vornahm getötet hätten, was auch verschwägerte Verwandte einbezieht. Ich war selbst entsetzt, wie rigoros dieses Gesetz aufrechterhalten wird. Und gerade dafür, dass wir in Zukunft weniger Furcht vor der Anwendung nötiger Maßnahmen haben müssen, dient meine Arbeit auch als Veelabeauftragter unmittelbar dem Frieden und der Sicherheit. Wenn Sie wirklich darauf wertlegen, Monsieur Louvois ..." Ornelle räusperte sich und deutete auf die Uhr über ihrem Schreibtisch.

"Nicht, dass ich Monsieur Latierres Vortrag missbillige oder ihn für zu ausschweifend halte, Monsieur Louvois, aber unsere fünf Minuten sind gleich um. Da wir weiterzuarbeiten haben bitte ich Sie höflich, nur noch eine kurze Frage mit kurzer Antwort zu stellen entgegenzunehmen."

"Mademoiselle Ventvit, ich sehe keinen Grund darin, dass Sie Ihre Arbeit nicht auch später fortsetzen können, wo es mir genauso wichtig wie Ihnen sein sollte, Missverständnisse bereits im Vorfeld auszuräumen. Immerhin bin ich ein aussichtsreicher Kandidat um die Nachfolge des selig ruhenden Monsieur Grandchapeau", kehrte Louvois heraus.

"Das trifft wohl zu. Aber auch wenn ich die aussichtsreichste Kandidatin um die Nachfolge von Minister Grandchapeau bin würde ich mir nicht anmaßen, über die Zeit der Beamtinnen und Beamten zu verfügen, solange ich dazu nicht autorisiert bin. Insofern die letzte Frage bitte:"

"Gut, Sie wollen es so", knurrte Louvois, jetzt nicht mehr kühl und sachlich wirkend: "Die eine Frage: Könnte es sein, dass Sie beide, wie Sie da sitzen, gewisse Zuwendungen von mächtigen Zauberwesen erhalten haben, die Sie beide derartig gefährlich am Rande illoyalen Verhaltens entlangbalancieren lassen?"

"Jetzt aber ... Ja, Monsieur Latierre!" Julius hatte Ornelle mit einem ddrängenden Blick angesehen. Dann wandte er sich an den Kandidaten:

"Was macht Sie so sicher, dass Sie auf jeden Fall unser oberster Dienstherr werden, Monsieur Louvois?"

"Klare Frage, klare Antwort: Weil ich der magischen Öffentlichkeit verbindlich verdeutlichen werde, dass dieses Zaubereiministerium dringend eine von Grund auf zu vollziehende Umstrukturierung nötig hat und dass hier in diesem Ministerium gewisse Gruppierungen und Zweckgemeinschaften wirken, die unter der Ägide von Minister Grandchapeau ungerechtfertigte Privilegien erworben haben und zudem noch inkonsequent handeln. Überlegen Sie sich sehr genau, junger Mann, ob Sie und andere es sich noch länger leisten wollen, eigene Ansichten über die Notwendigkeit einer gesamtheitlichen Ordnung zu stellen! Minister Grandchapeau hat hier einiges aus dem Ruder laufen lassen, weil er davon ausging, dass See und Wind sein Schiff schon nicht auf ein Riff auflaufen lassen würden. Es wird Zeit für einen neuen Kapitän. Ich empfehle mich."

"Öhm, Monsieur Louvois, da Sie mich eben direkt und ohne diplomatisches Geplenkel angegangen haben noch eine Stellungnahme, die ich auch der Presse geben werde, sofern Mademoiselle Ventvit mir dies erlaubt", setzte Julius an. Ornelle sah ihn erst kritisch an, nickte dann aber. "Da Sie das immer gerne genommene Modell eines Schiffes zur Beschreibung einer Organisation oder der Welt an Sich benutzt haben, so gilt: Es sind nicht immer die Ratten, die von Bord gehen, weil sie denken, dass das Schiff sinkt. Aber wenn die Mäuse und Ratten von Bord gehen, dann steht fest, dass das Schiff auf jeden Fall sinkt. Ahoi, Monsieur Louvois!" Bei diesem Gruß legte er kurz die Hand an den Kopf, wohl als hätte er eine Mütze oder einen Helm auf. Louvois starrte ihn an. Julius erwiderte seinen Blick entschlossen. Ornelle deutete auf die Uhr und sagte: "Die von mir eingeräumte Zeit ist bereits verstrichen. Auf Wiedersehen, Égisthe!"

"Ja, und das früher als Ihnen lieb sein wird, Ornelle Ventvit", sagte Louvois und zog die Tür schwungvoll zu. Doch ein von Ornelle in den Türrahmen eingewirkkter Zuschlagdämpfungszauber fing das Türblatt kurz vor dem Zufallen ab und sorgte für ein dezentes Schließen.

"Damit sind die Fronten eröffnet", stellte julius fest. "Nur als friedliebender Mensch werde ich mich und meine Liebsten nicht diesem erbarmungslosen Gemetzel ausliefern, dass der werte Herr anrichten wird, sollte er tatsächlich die Wahl gewinnen, weil die Wähler keine Hexe haben wollen."

"Ich habe dir das gerade durchgehen lassen, weil ich genau weiß, dass du nichts sagst, was du dir nicht gut überlegt hast, mein Junge. Ich kann dich nur bitten, nicht schon vorher, um bei der Schiffsmetapher zu bleiben, über Bord springst oder die Segel streichst. Ich halte das, was du hier machst für zu wichtig, als dass ich riskiere, dass so ein Emporkömmling von Übersee meint, hier alles umwerfen und nach seinem Bild neu erschaffen zu dürfen. Und was die anderen tun ist auch wichtig, wusste auch Minister Grandchapeau. Du möchtest sicher nicht sein Andenken in den Staub treten, weil du alles hinwirfst und das Weite suchst."

"Abgesehen davon, dass ich das Weite nicht finden würde, weil ich dafür wohl zum Mars reisen müsste, geht es mir darum, dass dieser Mensch da nicht meint, über mich frei verfügen zu können wie er will. Die Anspielungen eben waren doch schon heftig genug. Wenn ich ihm, dem künftigen Zaubereiminister, nicht verrate, was ich alles gelernt habe, es ihm am besten auch noch selbst beibringe, habe ich hier nichts zu suchen. Das gleiche gilt für alle anderen. Und was er über die sich ungerechtfertigter Privilegien erfreuenden Gruppen gesagt hat zielt deutlich auf die Latierres, Lagranges und Grandchapeaus ab, und mit den Latierres bin ich verwandt. Da würde ich, um dieses Schiffsmodell noch mal zu bemühen, im selben Boot sitzen. So oder so, der Typ hat mir, Julius Latierre, gerade in Aussicht gestellt, seine Autorität zu schlucken und nach seiner Pfeife zu tanzen oder wegen was auch immer entlassen oder gar vor Gericht gestellt zu werden. Wenn wir nicht aufpassen haben wir einen zweiten Didier hier. Die Frage ist dann nur, wer sein Pétain, also sein treuer Kettenhund ist."

"Du hast recht, Julius. Wenn wir nicht aufpassen und vor allem, wenn wir nicht klarstellen, was Louvois vorhat. Aber wir wissen es noch nicht ganz. Er tritt an mit der Parole: "Ich bin neu und so wird auch das Ministerium!" Wenn er nicht konkret sagt, was er neu machen will reicht das nicht."

"Da sprechen Sie besser mit meiner mutter drüber. Die hat für Minister Grandchapeau und andere Zaubereiministerien einumfangreiches Dokument verfasst, wie Politiker durch Tricks und falsche Behauptungen ihre Konkurrenten ausschalten können und dass dabei schon brutale Herrschaftssysteme entstanden sind, in denen es dann noch leichter war, Kritiker oder richtige Feinde mundtot oder gleich ganz tot zu machen. Wenn Monsieur Louvois schon andeutet, dass für ihn Töten ein gerechtfertigtes Mittel ist, dann wird er vor anderen Sachen auch nicht zurückschrecken. Ich fürchte, Sie als Kandidatin werden das in den verbleibenden Wochen besonders heftig erleben."

"Du möchtest mich sicher nicht dazu überreden, meine Kandidatur zurückzuziehen, oder?"

"Das steht mir nicht zu, sondern nur Ihnen", erwiderte Julius. Ornelle nickte.

"Gut, weil wir zumindest das geklärt haben gehen Sie bitte mit der Notiz unserer Unterredung zu Madame Grandchapeau und beraten mit ihr, wie wir unter Einhaltung der Geheimhaltungsstatuten von 1723 den Meerleuten im Mittelmeer helfen können! Ich gehe davon aus, Ihrer beider Kompetenz in Kenntnis der nichtmagischen Welt wird Ihnen da sicher helfen.

"Ich bedanke mich für Ihr vertrauen und werde darauf hinarbeiten, dieses zu würdigen", sagte Julius und verließ das Büro.

Als er vor Belles Bürotür stand sah er seine Schwiegertante Primula Arno. "Die hat einen Klangkerker errichtet. Aber ich habe gehört, dass Monsieur Louvois bei ihr ins Büro wollte", flüsterte sie, als Julius sich zu ihr hinunterbeugte.

"Huch, wie ist denn der so schnell hier hingekommen?" flüsterte Julius ihr ins linke Ohr.

"Heh, nicht so pusten. Sonst muss ich glauben, du beabsichtigst was sehr intimes mit mir", grinste sie ihn an. Dann zog sie ihn einfach an der Hand hinter sich her. Julius hätte dagegenhalten können. Doch er wollte wissen, was die Halbzwerggin vorhatte. Hoffentlich fühlte die sich nicht echt von ihm in Stimmung gebracht.

In Primulas Einzelbüro musste Julius erst einmal sehen, wo er sich hinsetzen konnte. Alles hier war auf Zwergengröße zugeschnitten. Doch er sah zwei normalgroße Stühle.

"Louvois kennt wie ich die Nottreppen und kann sie wohl gehen, ohne den Notfallalarm auszulösen. Deshalb konnte der so schnell herkommen. Er will sicher auch nicht von jedem im Korridor gesehen werden, bevor er nicht höchst offiziell Minister ist."

"Das könnte mich glatt wieder an den lieben Gott aus meinen Kindertagen glauben machen, damit der das verhüte", sagte Julius. Darauf sagte Primula Arno:

"Wir alle können das verhüten, Julius. Dieser Mensch hat eine Abneigung gegen andersrassige Leute. Wenn der hier Minister wird bin ich meine Arbeit los und kann dann froh sein, wenn ich bei meiner Mutter noch als Hilfshebamme mitarbeiten darf. Aber ein anderes Ding, weshalb ich froh bin, dich noch erwischt zu haben: Für wie gefährlich hältst du diese ganz junge Abgrundstochter."

"Brandgefährlich, Tante Primula. Wenn die will, kann die jeden mal eben alt werden oder zum Ungeborenen schrumpfen lassen. Dagegen gibt es keinen Zauber."

"Ich hörte sowas, dass sie dann auch die Erscheinungsform ihrer Opfer annehmen kann. Hast du davon was mitbekommen?"

"Davon nicht. Aber die Sache ist S8, Tante Primula."

"Weiß ich. Ich will nur wissen, ob die Verwandlungsresistenz von Zwergen und Halbzwergen das abwehren kann."

"Das kann ich dir nicht sagen, Tante Primula. Darüber weiß ich nichts", sagte Julius.

"Verstehe", grummelte Primula Arno. Dann wechselte sie wieder das Thema und kam auf die anstehenden Feiern im September. Als das weit genug abgehandelt war waren zehn Minuten um. Dann sprachen sie noch über Julius' Mutter, da diese ja durch seine Heirat auch mit ihr verwandt war. Es ging darum, ob dieser Organisation Vita Magica nicht beizukommen war. Julius räumte ein, dass er hierfür wissen musste, wer dieser Organisation die Tränke braute, die Menschen zu hemmungslosem Sex mit garantierter Zeugung trieb und wer die so unvergesslichen Apparaturen baute, die einen gespeicherten Infanticorpore-Fluch in einer Sekunde auf ein Opfer schleuderten und anschließend noch eine totale Gedächtnislöschung ausführten, damit das Opfer auch geistig zum Neugeborenen zurückverwandelt wurde. Ob hiergegen die hohe Fremdverwandlungsresistenz der Zwerge half wusste er auch nicht, konnte es sich aber zumindest was den Fluch anging vorstellen. Das aber deshalb Zwerge gegen Vita Magica kämpften konnte er sich überhaupt nicht vorstellen.

Nachdem auch das besprochen war stellte Julius fest, dass weitere fünf Minuten um waren. Er wollte schon los, zurück in sein eigentliches Büro, als Primula auf die Wand deutete, die in Richtung von Belles Büro lag. "Sie hat's geschafft, ihn rauszuwerfen", zischte sie. Warte noch fünfzehn Sekunden, bis er durch den nächsten Notausgang raus ist! - Ja, jetzt kannst du zu ihr rüber."

Julius bewunderte immer wieder das feine Gehör der Zwergenrassigen. Dasss Millie das geerbt hatte hatte er so nie ergründet. Gut, während ihrer Schwangerschaften hatte sie immer gerne auf die Herzschläge der jeweils in ihr wachsenden Tochter gelauscht. Aber das konnten auch Frauen mit ganz normalen Ohren, wenn es richtig still war und sie sich konzentrierten.

Bei Belle Grandchapeau ging es ausgiebig um die Meerleute, wobei hierbei auch Louvois miterwähnt wurde, weil dieser nach seiner Wahl eine stricktere Kontrolle für auffällige Zauberwesen wollte. Warum er damit bei Ornelle nicht angefangen hatte lag wohl daran, dass er ausprobieren wollte, wie schnell Julius zu irgendwelchen Äußerungen zu reizen war.

"Wenn der Minister wird möchte er mich in den Außendienst schicken, in den Computerraum zur Überwachung der Muggelwelt", sagte Belle. "Prinzipiell habe ich nichts dagegen. Aber ich fürchte, er wird den Computerraum als moderne Form des Zentaurenverbindungsbüros sehen. Und wenn du nicht aufpasst, Julius, landest du in jenem. Der versteht sich gut mit Vendredi, wenngleich der mich so seltsam angeblickt hat, als trüge ich etwas an oder in mir, das ihm missfalle. Ich wollte ihn nicht danach fragen. Aber womöglich hat er mich als das letzte ihm entgegenstehende Überbleibsel der Ära meines Vaters angesehen. Ja, und wenn Madame Grandchapeau die ältere zurückkehrt könnte ihm einfallen, sie nach Übersee zu versetzen, um seine Arbeit zu machen, sozusagen als Würdigung ihrer großen Verdienste. Was das heißt wissen Sie sicherlich."

"Wegbeförderung", sagte Julius. Doch Belle schüttelte den Kopf. Sie deutete einmal um sich herum, wo das ockergelbe Klangkerkerlicht Wände, Boden und decke auskleidete. "Vor allem, dass Demetrius dann jederzeit enttarnt werden könnte. Sie hat zwar jetzt Umstandsverhüllungskleidung. Aber auf Martinique kann sie ja nicht immer hochgeschlossen herumlaufen."

"Wie geht es Demetrius?" fragte Julius, obwohl er nicht wusste, ob er das wissen durfte.

"Wie soll es jemandem gehen, der mit weniger als einem Kubikmeter Raum auskommen muss, von der Gesunderhaltung seiner Trägerin abhängig ist und nur zu bestimmten Zeiten einen kurzen Ausblick tun darf. Er hofft wohl auch noch darauf, dass sein Zustand nicht die vorhergesagte Zeit andauert. Aber wenn ich bedenke, wie heftig Louvois mich und meine Familie damit erpressen kann und das Monsieur Vendredi und Monsieur Montpelier das wissen ..."

"Wir haben alle gedacht, Montpelier wird offizieller Nachfolger, Madame Grandchapeau. Aber ich gebe noch nicht die Hoffnung auf, dass Mademoiselle Ventvit es schafft."

"Das hoffe ich auch", gestand ihm Belle Grandchapeau. Dann schickte sie ihn wieder zurück in sein eigentliches Büro.

Vor der Tür fühlte er eine wohlvertraute Ausstrahlung, die ihn einerseits anregte und andererseits das Gefühl vollkommener Geborgenheit gab, wie ein Kind von seiner Mutter oder Großmutter fühlte. Er wusste, dass Léto im Büro war. Solange Ihr Schwiegersohn Pygmalion noch Urlaub hatte durfte sie das Büro noch betreten. Die frage war: Wie lange noch?

Mit dem Lied des inneren Friedens schirmte Julius sich gegen die seinen Geist treffende Ausstrahlung der reinrassigen Veela ab.

Nachdem er Léto offiziell begrüßt hatte erfuhr er in seiner Eigenschaft als Veelabeauftragter, dass Euphrosynes Mutter Églée ein Kind erwartete und dass Sie sich mit den Marceaus ausgesprochen hatte, wobei es für sie sehr anstrengend gewesen war, ihre Ausstrahlung niederzuhalten. Dann wollte sie von Julius wissen, ob es stimmte, dass er zwei Abgrundstöchtern begegnet sei. Julius sah Ornelle an, die jedoch beinahe erstarrt und mit weltentrücktem Blick aus dem Fenster starrend auf dem Stuhl saß. "Du sprichst jetzt im Moment nur mit mir, Julius. Also, stimmt es?" wiederholte Léto ihre Frage. Julius sah, dass um Ornelle eine schwache goldene Aura schimmerte. Hatte Léto was mit ihr angestellt? Doch weil er nicht zu lange drüber nachdenken wollte sagte er: "Eigentlich ist das ein Geheimnis des Ministeriums. Das steht nicht mal in der Zeitung, Madame Léto. Woher haben Sie das bitte?"

"Wenn einer von uns mit einer von denen zusammentrifft spürt die Mutter das ganz tief innen drinnen. Und da du immer noch von meiner Lebenskraft gesegnet bist spüre ich das. Allerdings hattest du sicher diesen wertvollen Talisman dabei, der den Kindern Ashtarias Schutz und Hilfe gibt, richtig?"

"Öhm, kein Kommentar zu diesem Zeitpunkt", sagte Julius. Léto sah ihn jetzt sehr streng an, als habe er sie gerade mit einem wüsten Schimpfwort bedacht.

Ich möchte dich nur ermahnen, ja du hörst völlig richtig, dich nicht noch mal so überstürzt mit einer dieser Missgeburten Lahilliotas einzulassen. Solange ich lebe, und das wird länger dauern als bei dir, bin ich für dein Leben mitverantwortlich. Das heißt, wenn du noch mal mit diesen Wesen zusammenstoßen könntest kommst du bitte erst zu mir und rennst nicht sofort zu einem der Kinder Ashtarias! Die brauchen ihre Schmuckstücke selbst. Hast du mich verstanden?"

"Öhm, abgesehen davon, dass Sie gerade einen angehenden Ministerialbeamten respektlos ...", stieß Julius aus. Doch ein sehr wildes Funkeln aus stahlblauen Veela-Augen würgte ihn ab. Denn er meinte, unter diesem sehr verärgerten Blick in Flammen aufzugehen. "Hast - du - mich - verstanden??" widerholte Léto ihre Frage. Julius fühlte, wie ihm überall der Schweiß ausbrach. Sein Atem ging schwer. Wenn er nicht das Lied des inneren Friedens in seinem Kopf wiederholt hätte, was wäre dann noch alles mit ihm passiert. So sagte er kleinlaut: "Ja, Madame Léto, ich habe verstanden."

"Damit ist der Zweck meines Besuches erfüllt. Ich gebe Ihnen Ihren wackeren Mitarbeiter nun wieder zurück", sagte Léto so, als sei sie hier die Chefin und könnte mal eben befinden, wer für sie zur Verfügung zu stehen hatte. Sie verabschiedete sich höflich und verließ das Büro. Erst da regte sich Ornelle wieder. Die goldene Aura verschwand übergangslos.

"Ich glaube, Sie schon mal gewarnt zu haben, dass diese ... Person ... auch noch darauf ausgehen könnte, von Ihnen mindestens ein Kind haben zu wollen", meinte Ornelle erst.

"Das war jetzt keine Frau, die von mir Mutter werden will, Mademoiselle. Das war eine, die davon überzeugt ist, meine zweite oder dritte Mutter zu sein und ich gefälligst zu gehorchen habe, weil Maman es gut mit mir meint. Aber ich komme immer wieder zum Schluss, dass die Sache mit Diosan oder die Lundi-Affäre ohne diesen Ausflug zu ihr katastrophal ausgegangen wäre."

"Ich konnte nichts machen. Dieses Frauenzimmer hat diesen vermaledeiten Sonnenatemsegen ausgenutzt, den ihre missratene Enkeltochter auf mich gelegt hat. Falls Louvois davon Wind bekommt bin ich als Kandidatin erledigt", seufzte Ornelle.

"Ohne jetzt unken zu wollen, Ornelle, woher wissen Sie, dass er nicht schon längst Wind davon bekommen hat, ja sogar konkrete Beschreibungen gehört hat. Madame Grandchapeau sagte auch sowas, dass er sie seltsam angesehen habe. Bei Ihnen hat er das eben nicht gemacht."

"Weil er Sie testen wollte, Monsieur Latierre. Als er erfuhr, dass du nur sprechen würdest, wenn er dich ausdrücklich dazu aufforderte, war sein Plan zumindest da gescheitert. Apropos Belle Grandchapeau, was hat sie gesagt?" Julius gab eine Kurzfassung der Beratung und erwähnte auch, dass Louvois vor ihm bei ihr gewesen war.

"Wie erwähnt, hätte er das mitbekommen, wie diese Veela mich förmlich zur Untätigkeit gezwungen hat ... Ich will lieber keinen großen Drachen rufen."

"Wenn der nicht schon längst draußen vor der Tür steht und Luft holt, um seinen Feuerstrahl zu uns reinzublasen", grummelte Julius. Gestern war die Welt für ihn in Ordnung gewesen, da hatte er nur seine Familie gehabt. Heute drückte wieder die ganze Welt auf seine Schultern, und aus allen Ecken kamen Leute, die meinten, ihn herumschubsen oder zerren zu können.

Beim Mittagessen traf er seine Schwiegertante Barbara, die auch von Louvois besucht worden war und zu der Ansiedlung von Meglamora und der Sache mit Nal befragt worden war.

"Sagen wir es mal so, Julius. Wir müssen uns bald entscheiden, welchen Weg wir gehen wollen. Das ist immer so bei einem neuen Vorgesetzten. Du kannst seinen Weg ganz mitgehen und dich sogar freuen, dass du ihm zuarbeiten darfst. Du kannst seinen Weg mitgehen, weil du dafür bezahlt wirst und weil du zu Hause jemanden hast, der oder die darauf angewiesen ist, dass du Galleonen nach Hause bringst. Du kannst seinen Weg mitgehen, weil du Angst davor hast, nicht mehr gebraucht zu werden oder du gehst nicht den ganzen Weg mit und riskierst, dass er dich bei jeder Abweichung vor der gesamten Belegschaft zurechtweist, oder du beschließt, dass sein Weg nicht deiner ist und trägst alle daraus entstehenden Folgen, einschließlich der, dass du nirgendwo mehr arbeiten kannst, weil er durch seine Verbindungen jeden anderen gegen dich aufbringt oder droht, die gute Zusammenarbeit aufzukündigen, wenn wer anderes dir eine neue Anstellung gibt. Ich will jetzt garantiert nicht, dass du zum dich verleugnenden, nur auf Goldgewinn festgelegten Wurm wirst, Julius. Ich wollte dir nur deine unausgesprochene Frage beantworten."

"Das finde ich auch nett, Tante Babs. Aber ich habe für mich selbst schon eine Entscheidung getroffen, und Millie weiß das auch schon und trägt sie mit, wenn sie ansteht. Das und nur das ist mir wichtig", sagte Julius leise genug, dass es im Gemurmel und Besteckgeklapper versickerte.

"Ich habe für mich auch eine Entscheidung getroffen und weiß auch, dass Jean und Maman sie mittragen. Aber näheres dazu, wenn es soweit ist. Und, hat euch Camille schon erzählt, dass bei den Roten jetzt auch eine wohnt, die meint, sie wäre eigentlich nur aus Versehen nach Beauxbatons geschickt worden oder würde das alles nur träumen?"

"Ui, nein, hat Camille nicht. Aber die sind ja auch erst seit gestern in Beauxbatons."

"Das war das erste, was Pennie und Callie mir geschrieben haben. Könnte Madame Faucon einfallen, Mademoiselle Hellersdorf als Gastrednerin einzuladen oder gar als Lehrerin einzustellen. Professeur Paximus will in diesem Schuljahr aufhören. Er hat was gesagt, dass die ganze moderne Muggelwelt ihm jetzt zu hoch sei. Oder wortwörtlich zitiert.: "Ich bin auf der Erde eingeschlafen und auf einem fremden Planeten wieder aufgewacht und weiß, dass ich nur noch tot davon runterkomme."

"Häh? Woher hast du das denn?" wollte Julius wissen.

"Hat Callie mir erzählt, als sie in die Sommerferien kam. Könnte der gguten Madame Faucon also echt einfallen, einen muggelstämmigen Zauberer oder eine dito Hexe anzuwerben."

"Wie erwähnt, Tante Babs, das hängt von ab, ob ich eine wichtige Entscheidung treffen muss. Aber ob Laurentine wieder nach Beauxbatons zurückgehen will, wo da noch genug sind, die sie als Schülerin erlebt haben?"

"Das wird dann wohl ihre Entscheidung sein", erwiderte Barbara Latierre. Julius nickte ihr zustimmend zu.

Am Nachmittag hatten sie Besuch von Monsieur Georges Rocher von der Ostlandgruppe. Dieser bat darum, aus dieser ausscheiden zu dürfen. Als er gefragt wurde wieso sagte er: "Weil ich jetzt weiß, dass eine von den Risinnen eindeutig mein Kind im Bauch hat. Ich werde nicht den treusorgenden Vater geben. Diese verdammte grüne Gurga hat mich und die anderen damals total benebelt. Ich bin ja nur deshalb geblieben, weil ich hoffte, mein Versagen wieder gutzumachen. Aber jetzt ... Die Anderen bitten auch um Versetzung in andere Einheiten, darf ich Ihnen mitteilen."

"Ich hoffe nicht, dass Sie das als hilflos geheuchelte Aussage nehmen, wenn ich Ihnen sage, dass es mir leid tut, dass Sie derartig ausgenutzt wurden", sagte Ornelle. Julius hielt sich ganz zurück.

"Na ja, besser nur ein Balg von mir, als wenn ich in mundgerechte Portionen zerschnipselt in Ahurgathas Bauch gelandet wäre und dann als ...."

"Hömm-ömm, Georges, nicht ausfällig werden", maßregelte Ornelle den Mitarbeiter, bevor der seine Phantasie noch weiter ausspinnen konnte. Dann sagte sie: "Das müssen wir aber leider festhalten, dass die gesamte Ostlandgruppe unfreiwillig zur Zeugung von Nachwuchs herangezogen wurde. Ich werde dann auch empfehlen, die Ostlandgruppe neu zu besetzen. Monsieur Latierre darf diese Empfehlung dann ins Englische übersetzen und an die beteiligten Zaubereiministerien schicken." Julius nickte. Dann fragte er:

"Öhm, und Nal ist auch schwanger?"

"Die treibt es mit allen möglichen. Soweit ich mitbekommen habe hat sie's auch geschafft, was neues auszubrüten. Ja, ich weiß, Mademoiselle Ventvit, aber die benehmen sich wie Wilde, dann kann ich das auch so vulgär sagen." Julius nickte. Ihm war nur der Gedanke gekommen, dass Nal von ihm auch schon mal ein Kind hatte haben wollen. War das jetzt kein Thema mehr, oder musste er darauf gefasst sein, dass die in einigen Jahren noch mal auf ihn zukam?

Als Julius zur üblichen Zeit wieder zu Hause ankam traf er Laurentine Hellersdorf an, die Millie aus zwei Gründen aufgesucht hatte. Der eine Grund war, dass sie mal wieder mit einer Schulkameradin plaudern wollte, wo Catherine und Claudine bei Madeleine L'eauvite waren und Joe auf Akkordprogrammierer machte. Der zweite Grund war der, dass sie von Madame Faucon eine Eule bekommen hatte, dass im roten Saal eine Schülerin eingezogen war, die ähnlich drauf war wie Laurentine damals, nur mit dem Unterschied, dass sie alles mit einer gewissen Gelassenheit ansah, als würde sie nur träumen, obwohl ihr Callie und Celestine schon ein paar mal in Nase, Arme und Brustansatz gekniffen hatten, um zu zeigen, dass sie wach war.

"Und jetzt möchte Madame Faucon, dass du nach Beaux rübergehst und mit ihr redest?" fragte Julius.

"Du kennst doch Königin Blanche. Die macht nichts halbes, wenn sie zum selben Preis auch was ganzes kriegen kann. Die hat gleich angefragt, ob ich mir vorstellen könne, in den höheren Schuldienst aufzusteigen, da sich der Fachlehrer für das Studium der magielosen Welt mit dem Gedanken trüge, bis zum Ende des laufenden Schuljahres seine Anstellung aufzukündigen, da ihm vor lauter Neuerungen in der magielosen Welt der Überblick über das wirklich unterrichtenswerte verlorenzugehen beginne. Allein schon die "galoppierende" entwicklung bei den Mobiltelefonen, die noch dazu Internetfähig sind und die zunehmende Abneigung der Menschen gegen bestimmte Religionsgruppen. Jedenfalls hat sie mir schon einen fix und fertigen Anstellungsvertrag zugeschickt, wo ich nur noch Datum und Unterschrift einsetzen muss. Ich weiß nicht, ob ich das machen will. So wie das hier läuft ist mir das lieber, dass ich auch Kontakt mit alten Freunden und meinen Verwandten haben kann, von meinen Eltern mal abgesehen. mein Vater schützt die viele Arbeit vor, meine Mutter verträgt das Klima auf Guayana nicht und hat Angst, bei offenem Fenster zu schlafen, weil sie keine Schlangen und Vogelspinnen im Haus haben will. Gut, da wo die wohnen haben die eine mit X Filtern bestückte Klimaanlage. Aber die würde am liebsten wieder nach Vorbach zurückfliegen. Zumindest weiß ich das von meiner Oma Monique. Die ist auch der Grund, warum ich lieber noch jeden Tag telefonieren können will. Ich bin die, die Opa Henri zuletzt gesehen hat. Ich bin die, die sie noch auf den Beinen hält. Wo mein Vater sich das mit ihr noch total verscherzt hat, weil er sagte, dass seine Firma die teuren Privatgespräche nicht mehr zahlen kann,obwohl er ein leitender Direktor ist, da war dann totale Funkstille. insofern habe ich seit zwei Wochen kein Update, ähm, keine Neuheiten von meinen Eltern, zumal die wissen, dass Mémé Monique oder auch Gran Mo, wie ich sie mal scherzhaft genannt habe, mir weitergibt, was meine Mutter so macht. Aber ich wollte euch nicht mit meinem Seelenmüll vollsülzen, sondern nur sagen, dass ich dieses Jobangebot bekommen habe."

"Kann sein, dass sie dir auch eins schickt, Julius", sagte Millie. Wenn andere dabei waren benutzte sie nicht den Kosenamen Monju.

"Hat mich deine Tante mütterlicherseits schon vorgewarnt, weil die das mit der neuen Mademoiselle bin-doch-keine-Hexe von ihren ersten Ablegerinnen gekriegt hat." sagte Julius bewusst lässig klingend. Laurentine grinste darüber jedoch und sagte:

"Ja, Familienbande sind schon was nützliches. Aber im Zweifelsfall haben Männer die Familie immer im Rücken, während Frauen sie meistens nur im Nacken haben."

"Ey, suchst du Streit, Mademoiselle Bébé?" fragte Millie. "Ich freue mich über jeden Tag, wo ich meinen Töchtern in die Augen sehen und meinem Mann einen guten Morgen wünschen darf und hoffe, dass da bald noch wer neues dazukommt. Aber bevor du mir damit kommst, dass ich ja das Erbgut von Oma Line habe noch so viel: Sieh zu, dass du das mit deinen Eltern wieder repariert kriegst. Im Dunklen Jahr haben wir ja alle erlebt, wie schnell jemand weg sein kann."

"An mir liegt das nicht, Madame Mildrid. Aber wenn ich auf dem Raumbahnhof anrufe heißt es immer: "Verzeihung, Mademoiselle Hellersdorf, aber Monsieur Ledirecteur ist leider in einer Besprechung, in der Halle für den Zusammenbau, bei der Nutzlast, an der Startrampe oder zu Tisch, wegen dringender Angelegenheiten nicht am Platze oder was auch immer. Wie erwähnt, der schützt seine Arbeit vor. Und Maman hat sich von denen eine neue Nummer geben lassen, die ich nur dann erfahre, wenn ich eine Unbedenklichkeitserklärung vom französischen Innenministerium beibringen kann, dass ich die Leitung nicht für Spionagezwecke verwenden werde."

"Häh?!" fragte Millie. Julius nickte Laurentine zu und deutete an, dass eine Telefonleitung durchaus auch als ungewünschte Abhörvorrichtung missbraucht werden könnte, wenn es gelang, eine entsprechende Vorrichtung zwischen Telefon und Leitung zu klemmen.

"Wie dem auch sei, ich bin froh, dass es euch noch gibt und dass ich an Claudine und euren zwei Mädels mitkriege, dass das Leben nicht nur aus Schufterei und Verbitterung besteht. Aber Joe hat das offenbar wieder vergessen. Wenn Catherine dem nicht sagt, was zu essen hängt der nur noch am Rechner. Weiß der Teufel, was der da machen muss."

"Ja, und da du das nicht weißt bist du nicht der Teufel", sagte Julius. Laurentine lachte lauthals.

"Öhm, wann ist Catherine mit der kleinen Zopfprinzessin wieder da?" wollte Millie wissen. Laurentine sagte "Gegen zehn, weil die bei ihrer Tante sicher auch isst. Deshalb bin ich nach dem Unterricht schon nicht mehr nach Hause geflohpulvert."

"Und musst du schon irgendwelchen Schulkram korrigieren?" wollte Julius wissen.

"Heute noch nicht. Meine Chefin hat ruhiges Angehen befohlen. Bin gespannt wie die reagiert, wenn ich Madame Faucons Brief vorlege. Das mache ich besser gleich morgen, weil sie es sonst von ihr persönlich erfährt."

"Dann isst du mit uns. Keine Widerrede, ich habe genug gekocht, um fünf Leute Sattzukriegen oder vielleicht sechs, sollte ich schon wieder für wen mitessen."

"Überredet", grummelte Laurentine.

Während des Abendessens erzählte Julius bewusst locker und belanglos klingend, dass Louvois heute die Runde gemacht hatte und dass er gerne haben wollte, dass alle unter ihm als Minister das taten und sagten, was er hören oder haben wollte. Aurore fragte: "Was macht der Louvois so?" Julius erzählte dann, dass Monsieur Louvois früher auf einer weit weg liegenden Insel gewohnt und da gearbeitet hatte, aber jetzt ganz gerne nach Paris umziehen möchte. Milie sagte dann noch: "Ja, und der mag keine Zwerge, keine Veelas, keine Meerleute und auch keine Kinder, deren Uroma 'ne echte Zwergin ist." Julius konnte das nicht abstreiten.

Als Aurore sich von Laurentine sozusagen als bargeldlose Bezahlung für das Abendessen noch die Geschichte einer in der Stadt lebenden Hexe namens Bibi Blocksberg erzählen ließ meinte Millie zu Julius: "Die blüht richtig auf, wenn sie bei uns oder mit Claudine zusammen ist. Ich verstehe ihre Eltern nicht. Ich hab's damals nicht, wo sie noch meinte, in deren Namen auf Vollverweigerin zu machen, verstand sie nicht, als Laurentine endlich doch eine Hexe sein wollte und verstehe sie nicht, dass gerade nach dem Tod von ihrem Großvater eine Familie zusammenhalten muss. Aber ich bin ja auch ein Muttertier, nicht wahr, Chrysie?" Die kleine chrysope gluckste zufrieden.

Als Laurentine und die beiden erwachsenen Latierres noch in der gemütlichen Wohnküche zusammensaßen erzählte Laurentine, dass sie die Geschichten erst zu hören angefangen hatte, als sie aus Beauxbatons raus war und weil sie Claudine und den Schülern erklären wollte, wieso magielose Menschen Probleme mit Hexen und Zauberern kriegen konnten, aber es auch gehen konnte, dass junge Hexen mit magisch unbegabten Kindern in die Schule gingen und in Hochhäusern wohnten. Darüber verging die Zeit bis halb elf. Laurentine verabschiedete sich und flohpulverte zurück in das Haus Rue de Liberté 13 in Paris. Millie und Julius beschlossen, dass sie den Tag noch einmal heiß ausklingen lassen wollten, allein schon, damit Julius nicht andauernd an Louvois denken musste.

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In der altrömischen Villa 500 Meter von der französischen Atlantikküste entfernt


30. August 2002

"Es ist jetzt amtlich, dass Lesfeux ein sehr böser Junge ist", sagte Jean Legris triumphierend. "Ich habe soeben die Unterlagen vervollständigt bekommen. Wie gehen wir vor?"

"Die endgültigen Beweise über Montpeliers Vergehen werde ich vorlegen, wenn dieser Lesfeux überführt hat und damit aus dem Rennen wirft", sagte Louvois. "Des weiteren lasse ich die Aktion Goldruf anlaufen. Die ist doch vorbereitet?"

"Eine Botschaft über die Porträts, und die Vorstellung geht über die Bühne. Lesfeux soll also der sein, der Goldruf durchführt?"

"Ja, bevor Montpelier ihn in vollster Erfüllung seiner Pflicht vor den Gamot zitiert."

"Und dann von uns wegen seiner Umtriebe vor neunzehn Jahren demontiert wird?" fragte Jean. Louvois nickte nur. Jean verließ den geheimen Besprechungsraum, um eifrig den neuesten Streich im Vierfachduell um das französische Zaubereiministerium auszuführen. Louvois wusste, dass er jetzt auf sehr dünnem Eis wandelte. Aber gerade jetzt war es um so wichtiger, alle Konkurrenten unwählbar zu machen. Denn auch bei Belle Grandchapeau und Ornelle Ventvit hatte er jene merkwürdige Wahrnehmung empfunden, die ihm bei Colbert und Vendredi aufgefallen war. Nur hatte diese Verbindung aus Tropenwind und exotischem Parfüm mindestens dreimal so stark gewirkt. Und bei Julius Latierre war zu der Honigmilch-Aura noch der Duft von frischem Gras in die Nase gestiegen, als habe seine Lebensaura noch eine weitere Komponente erhalten. Das konnte unmöglich mit rechten Dingen zugehen. Also galt es, die beiden auch mit abzuservieren, nach Möglichkeit in Ungnade zu stürzen. Dabei dachte er jedoch daran, diesen Jungspund Julius Latierre vor die Wahl zu stellen, die bedingungslose Loyalität zuzusagen oder womöglich einer mehrjährigen Haftstrafe entgegenzusehen, weil er sich der Untreue, der Beihilfe zu Mord und Totschlag und der Beihilfe zur magischen Freiheitsberaubung schuldig gemacht hatte. Der würde noch vor ihm kriechen und um Gnade winseln. Wieso dachte er derartig rachsüchtig? Das lag daran, dass er erkannte, dass Julius Latierre so oder so sein erbitterter Gegner werden mochte, wenn er ihm dies erlaubte.

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Im Apfelhaus der Familie Latierre


31. August 2002, 07:20 Uhr Ortszeit

Julius war froh, dass die Unwetterschäden im Garten doch nicht so heftig gewesen waren. Dank Camilles Pflanzenheiltonikum hatten alle Bäume wieder ihr volles Geäst und Blattwerk. Die Beete waren auch keine Sumpflandschaften mehr, und die Wiesen strotzten vor frischem Grün und bunten Blumen, an denen sich auch Madame L'ordouxes Bienen einfanden.

Die Latierres genossen ihr Frühstück im freien. Aurore saß auf ihrem Kinderstuhl und mampfte Honigbrot. Damit die im Garten herumsummenden Bienen nicht davon angezogen wurden hatte Julius ein unsichtbares Netz ausgespannt, dass er sozusagen von Madrashainorian abgeschaut hatte. Damit war es möglich, wirbellose Tiere wie Insekten, Schnecken oder Würmer um einen bestimmten Bereich herum auszusperren. So konnte er beruhigt zusehen, wie die Bienen knapp zwanzig Meter vom Tisch entfernt sanft abgebremst und um den Tisch herumgelenkt wurden. Den Zauber hätte er gerne schon zehn Jahre früher gekonnt, dachte er, als er auch in seiner wahren Existenz sah, dass er so wirkte, wie er es im Leben des Madrashainorian erlebt hatte. So hätte er auch Schnecken von seinen Salatbeeten abhalten können, dafür aber auf die nützlichen Regenwürmer verzichten müssen.

"Ich den Miroir, damit ich lesen kann, was die Konkurrenz schreibt", sagte Millie, als zeitgleich die Tagesfrischen Ausgaben der beiden französischen Zaubererweltzeitungen eintrafen. Julius nahm die Temps und fand als Aufmacher: "Ring frei zur nächsten Runde der üblen Schlammschlacht ums Ministerium". Als er dann noch las, dass Lesfeux auf Grund irgendwelcher Beziehungen herausgefunden haben wollte, dass Louvois ein Netzwerk aus zahlungskräftigen Kunden mittel- und südamerikanischer Wonnefeen zum Zwecke der Einflusssteigerung in der Karibik und der südamerikanischen Atlantikküste unterhielt musste er Gilbert in Abwesenheit zustimmen. Vor allem, dass diese Wonnefeen ihre Kunden mit Liebesdrogen von sich abhängig gemacht hatten stieß ihm schon übel auf. Als Gilbert dann auch erwähnte, dass Lesfeux wohl genau auf diese Informationen gewartet habe, um den Kandidaten Louvois zu beschädigen, dachte er daran, dass die Unsitten der Muggelweltpolitik jetzt endgültig in der magischen Zivilisation angekommen waren. Damit meinte er sowohl die Möglichkeit, dass Louvois echt auf diese Weise Verbindungen geknüpft hatte, als auch Lesfeux, der mit Begeisterung in diesem Schmutzwäschetrog herumwühlte.

"Hat gilbert das auch reingesetzt, dass Louvois ein Netz aus ihm treuen Wonnefeen unterhält?" fragte Millie.

"Kam er leider nicht dran vorbei, weil er nun einmal über unmittelbare Auswirkungen im Ministeriumswahlkampf schreiben muss. Er setzt aber alles in den Konjunktiv und erwähnt, dass Lesfeux diese Quellen erst gestern erschlossen haben soll, was merkwürdig sei, wo die Sache schon seit zehn Jahren liefe, ohne dass jemand auf Martinique oder Guayana das gemerkt haben will."

"Ein wenig zu zufällig", sagte Millie dazu.

"Zufällig? Eher ein wenig zu günstig für Lesfeux. Könnte sein, dass der Louvois heute noch von Montpelier vor den Gamot zitieren lässt."

"Du bist doch im Ministerium. Montpelier wird sich hüten, einen Gegenkandidaten mit großen Aussichten vor den Gamot zu stellen, wenn der keine klaren Beweise hat. Und bisher hat Lesfeux nur die Aussagen irgendwelcher Bodentänzerinnen. Ziemlich dünn um wen dran aufzuhängen", sagte Millie und fragte, was noch in der Zeitung stand"

"Das was Laurentine schon erwähnt hat, nämlich dass Professeur Paximus zu Schuljahresende aufhört und Professeur Faucon bis dahin einen kundigen und fähigen Nachfolger finden will. Außerdem hat Gilbert dein Interview mit Célines Vater wegen des Zwölferbesens reingenommen und die erste Schwangerschaft von Leonie Arbrenoir verkündet. Wurde ja auch langsam Zeit", sagte er noch. Millie grinste. Dann reichte sie ihm den Miroir, aus dem Julius das ganze bisher bekannte Ausmaß der angeblichen Verwicklungen lesen konnte. Die Schreiber betonten immer, nur die für jugendliche Leser verträglichen Tatsachen zu bringen und dass das wahre Ausmaß wie ein Eisberg sei, von dem gerade ein Zehntel zu sehen sei. Der Reporter überschlug sich sogar mit Vergleichen, dass im Mittelalter in der Muggelwelt ähnliche Beziehungen geknüpft worden seien und dass was damals gut funktioniert habe ja heute auch noch klappen mochte, aber eben wegen der aufmerksamen Presse nicht mehr so gründlich verborgen bleiben konnte.

"Hast du diese Eigenlobarie von diesem Argo Beaurivage auch gelesen, Mamille?" fragte Julius.

"Dass er Lesfeux geholfen habe, diesen Sumpf zu entdecken und nun dabei sei, ihn trockenzulegen."

"Vielleicht muss Lesfeux trockengelegt werden, so wie der sich wohl gerade vor Lachen ins Beinkleid uriniert", meinte Julius. Millie sah ihn leicht tadelnd an, musste dann aber ihrerseits schmunzeln.

"Kann sein, dass Gilbert mich auf die Kiste ansetzt, weil ich Spanisch kann. Oha, zu Wonnefeen wollte ich aber nicht hinfahren. Nachher setzt noch wer in Umlauf, ich wäre auch eine von denen, weil das Haushexendasein mich nicht ausfülle."

"Das wüsste ich aber, dass du nur eine Haushexe wärest und dass dich das nicht auf-, ähm, aussfüllt."

"Nächste Woche wissen wir, ob das mit dem Auffüllen hingehauen hat", gedankensprach Millie. Dann sagte sie hörbar: "Och joh, und Céline mit den beiden Neuen ist hier auch dabei, nur als Bild auf Monsieur Dorniers Schreibtisch zu sehen, aber klar erkennbar."

"Kannst du mal sehen", meinte Millie. Julius nahm noch mal die Zeitung von ihr und fand ganz klein im Hintergrund die Bilder von Monsieur Dorniers Familie und Enkeln, darunter auch die beiden kleinen vor kurzem geborenen Söhne von Céline, Eugene und Gérard.

"Ich glaube, ich kläre schon mal, wer auf die zwei Süßen von uns aufpasst, wenn wir zwei heute viel unterwegs sind", dachte Millie ihrem Mann zu. Dieser schickte zurück, ob sie sicher war, dass sie nach Südamerika musste. Ihm war nicht so wohl dabei. Ohne gleich alle Menschen da zu Gangstern zu erklären wollte er nicht ganz davon ablassen, dass es Weltgegenden gab, wo ein Menschenleben nur solange zählte, solange dafür bezahlt wurde. Andererseits wusste er auch, dass die Leute da richtig gut zu leben wussten, auch wenn sie kein Geld hatten. Von deren Lebensfreude und Temprament konnten sich europäische Zeitgenossen noch eine Menge aneignen, vor allem die Leute aus seinem Geburtsland, die ihr Leben als einzigen Kampf um Geld und Ansehen begriffen.

"Ich lasse mir von Tante Trice einen WARP geben, damit ich aus jeder Falle raus kann. Hat ja bei dir auch funktioniert", mentiloquierte Millie, die Julius' Besorgnis über die Herzanhängerverbindung mitbekam.

Als Julius ins Ministerium aufbrach machte er sich schon darauf gefast, die weitere Runde in dieser Schlammschlacht den ganzen Tag mitzubekommen. Als er aus dem Kamin herausfauchte wartete Belle Grandchapeau schon auf ihn. Sie hatte ein Amtshilfeersuchen dabei, dass von Mademoiselle Ventvit genehmigt worden war, wie Julius lesen konnte. "Ich bat um Ihre Begleitung, um in Hamburg, Deutschland, mit meinem Amtskollegen Weizengold und seinem Mitarbeiter Hauke Willemsen die Einbindung der Seefunküberwachung in unser Internetüberwachungssystem einzuleiten. Herr Willemsen erwähnte zu recht, dass durch das immer zuverlässigere und dichtere Funknetz Dinge übermittelt werden konnten, die nicht erst ins Internet eingespeist werden mussten, um weltweit bekannt zu werden. Falls es wieder zur Sichtung von im Meer beheimateter Tier- und Zauberwesen kommt, müssen die am Meer gelegenen Länder entsprechend reagieren können. In drei Tagen, wenn das neue Verbundsystem arbeitet, werde ich auch eine kurze Reise in die Staaten unternehmen, um die dortigen Kollegen entsprechend zu instruieren. Auch dafür habe ich Ihre Begleitung erbeten, weil Sie von der Fernmeldetechnik der Muggel immer noch Mehr Ahnung haben als ich oder meine anderen Mitarbeiter", sagte Belle.

So kam Julius einmal mehr in den Genuss, mit Belle Grandchapeaus Dienstwagen, einem kirschroten VW Käfer, fahren zu können. Zuerst hatte er gedacht, wegen seines Größenzuwachses in den letzten Vier Jahren passe er nicht mehr hinein. Doch er hatte mal wieder die fließende Rauminhaltsbezauberung von Ministeriumswagen unterschätzt. Als er sich in den Wagen hineinsetzte stieß sein Kopf nicht gegen den oberen Türrahmen, und sein Rücken konnte problemlos von der Rückenlehne des Beifahrersitzes gestützt werden.

Unterwegs sprachen sie über den Besuch von Louvois bei den verschiedenen Abteilungen und dass die anstehende Ministerwahl für alle wohl mehr unangenehmes als angenehmes bedeuten würde. Belle gestand Julius ihre Besorgnis, dass sie bei einem Sieg von Louvois wohl ihren Schreibtisch räumen müsse, sobald er Zugang zu den geheimen Akten über den fragwürdigen Segen des Sonnenatems erhalten würde. Das gleiche würde wohl auch ihrer Mutter und Ornelle bevorstehen.

"Er kann euch nicht ganz so locker rauswerfen", sagte Julius, der während der Fahrt wieder die Du-Form benutzen durfte. "Dann müsste er ja öffentlich machen, dass das Zaubereiministerium von einer einzelnen Veelastämmigen jederzeit angegriffen werden kann. Und genau das will er tunlichst verbergen, so wie er andere Zauberwesen verabscheut um nicht zu sagen hasst."

"Wie kommst du darauf, dass er Zauberwesen hasst?" fragte Belle ihren Begleiter. Julius erwähnte, dass es für ihn bei Louvois' Besuch so rübergekommen sei, weil er gezielt die Veelas und Meerleute so verächtlich bezeichnet hatte. Was er in der Meermenschenkolonie vor Martinique erlebt hatte war ja geheim. So konnte er nicht rauslassen, dass Louvois problemlos einen Krieg mit den Meerleuten angefangen hätte, wenn Ornelle und er nicht einen Friedenspakt ausgehandelt hätten. Statt dessen sagte er, dass Louvois ihn so komisch angeguckt hatte, weil er der Veelabeauftragte war.

"Dann hängst du aber auch mit drin, obwohl du damals bewusst von meiner Mutter und mir aus der Operation mit Aron Lundi herausgehalten wurdest."

"Der hat mich doch schon jetzt auf dem Kieker. Der sucht wohl schon nach dem Grund, mich fristlos und ohne Abfindung vor die Tür zu setzen, am besten gleich aus dem Büro raus nach Tourresulatant verbringen zu lassen. Ich muss zugeben, dass mir dieser Typ mit seinem Ehrgeiz und seiner Ablehnung von Zauberwesen schon eine gewisse Angst macht, auch wenn ich hoffe, dass er nicht drankommt."

"Was machst du, wenn er doch gewinnt?"

"Dann drücke ich den roten Knopf, auf dem Schleudersitz steht und sehe zu, dass ich aus seiner Schussbahn komme, bevor der noch einen amtlichen Grund findet, mich kaltzustellen. Für den zu arbeiten habe ich auf jeden Fall nicht vor, so leid mir das für dich, deine Mutter und ... öhm, deinen kleinen Bruder tut."

"Demetrius hat im Moment nur eine Sorge, dass seine Mutter ihm durch das Essen nicht genug Platz lässt und er deshalb merkt, dass er in ihr eingesperrt ist", sagte Belle. Julius wusste, dass im Wagen kein Mithörartefakt funktionierte, weil Belle eine Art tragbaren Klangkerker am Arm hatte, der mit von ihr bezauberten Räumen oder Fahrzeugen in Verbindung trat und so nicht immer erst gezaubert werden musste.

"Jedenfalls können wir uns alle warm anziehen, wenn Louvois drankommt und erst mal mit eisernem Besen ausfegt."

"Sagt meine Mutter auch, dass er der mit abstand größte Unfall in der Geschichte des Zaubereiministeriums sein wird, wenn er drankommt. Sie wollte mir nicht mehr erzählen, und, ähm, Demetrius konnte es nicht sagen, weil sie in dem Moment, wo er das wollte, das Cogison abgenommen hat. Ich weiß, dass Louvois sehr ehrgeizig ist, aber nicht drauf los jagt, wie ein Wolf, sondern lauert wie die Spinne im Netz. Öhm, apropos, hast du von dieser Spinnenfrau mal wieder was gehört. Um sie ist es in den letzten Monaten doch sehr still geworden."

"Sagen wir so, ich bin nicht traurig, dass sie mir keine Briefe schreibt. Ich kann mir aber vorstellen, dass sie das Auftauchen dieses Riesenkäfers mitbekommen hat und jetzt selbst nach einer Möglichkeit sucht, den loszuwerden. Dabei könnte es echt passieren, dass ich der mal wieder begegne. Das kann aber gerne am dreißigsten Februar im Jahr dreitausend sein."

"Und deine Mutter kann noch arbeiten? Ich las eine E-Mail, dass sie sich jetzt ein Belegbett im Honestus-Powell-Krankenhaus hat reservieren lassen. Sie hat mir auch erklärt, was damit gemeint ist. Das wäre doch mal eine Idee, dass Hebammen aus den Zauberergemeinden in der Delourdesklinik reservierte Zimmer zur Verfügung haben."

"Sie kann nicht mehr flohpulvern. Aber mit einem Ministeriumsauto darf sie noch gefahren werden", sagte Julius.

So verging die mit mehreren Raumsprüngen verkürzte Fahrt von Paris nach Hamburg mit Gesprächen über die Familien und welche Möglichkeiten Julius außerhalb des Ministeriums hatte. Da Belle ja wusste, was ihm alles schon angeboten worden war, verriet er ja kein Geheimnis. Auch dass Blanche Faucon die Stelle des Muggelkundelehrers neu besetzen musste wusste Belle schon und sprach ihm die nötige Kompetenz aus. Er erwiderte darauf, dass Laurentine Hellersdorf da jetzt mehr Erfahrung habe als er. Belle bemerkte darauf, dass er dann aber wohl von Madame Dumas eingefordert werden könnte, Laurentines Platz einzunehmen. "Wir hätten sie gerne behalten", sagte Belle mit gewissem Unmut in der Stimme. "Aber sie hat ihr Gewissen über alle Notwendigkeit gestellt."

"Belle, ich muss mich auch immer fragen, was ich tun kann, damit ich mich am nächsten Morgen noch im Spiegel ansehen und meinen Töchtern ein gutes Vorbild sein zu können."

"Gut, warum Laurentine die Arbeit bei uns nicht mehr machen wollte ist sogar verständlich, wo sie selbst immer wieder mitbekommen hat, wie haarscharf ihre Eltern an einer völligen Trennung von ihr entlanggeschrammt sind." Julius überlegte, ob er ihr sagen sollte, was Laurentine ihm erzählt hatte. Doch das behielt er lieber für sich und sagte statt dessen, dass jemand nicht ohne Bauch- und Kopfschmerzen auf die andere Seite gehen würde, um anderen das zu tun, was ihm oder ihr selbst immer Ärger oder Angst gemacht hatte. Auch das verstand Belle.

In Hamburg selbst begrüßte Julius Armin Weizengold, dessen Tochter Bärbel und erwähnten Herrn Willemsen, einen muggelstämmigen Zauberer und leidenschaftlichen Amateurfunker. Er war hochgewachsen, flachsblond und hatte strahlendblaue Augen, richtig der nordische Idealtyp, wie Julius. Dennoch reichte er mit seinen 1,85 Metern nicht ganz an den Wahlfranzosen heran.

Sie sprachen über das zivile und militärische Seefunknetz, das sowohl über erdgestützte Sende- und Empfangsanlagen, als auch über Satelliten und auch von auf See befindlichen Relaisschiffen aufrechterhalten wurde. Julius tat es gut, sich in technischen Einzelheiten zu verlieren und mit Herrn Willemsen über Frequenzen, Morsecode, Paketfunk und durch die Sonnenaktivitäten bedingte Störungen zu reden. Belle, die zwar was von Astrronomie verstand, aber nicht viel über die Sonne wusste, hörte nur zu. Bärbel, die dagegen gut beschlagen war, weil sie in Muggelkunde ein Referat über Funkstationen und elektromagnetische Felder gehalten hatte fragte dann, ob die in der modernen Zauberkunst entstandenen Unfunksteine, die Radar- und gewöhnliche Funkwellen schlucken konnten, flächendeckend eingesetzt werden konnten, um bei Sichtung einer Seeschlange oder eines Wassermenschen die Verbindung zum Land zu unterbrechen, bis die zuständigen Vergissmichs und Informationsbereiniger zur Stelle waren. Das wurde jedoch verworfen, weil so ein Schiff ja den Funk brauchte, um im Seenotfall um Hilfe rufen zu können. Julius erwähnte die Titanic, von der Bärbel natürlich auch gehört hatte.

So verständigten sie sich darauf, getarnte Funküberwachungsbojen dort auszubringen, wo die Lebensräume von magischen Meerestieren lagen oder wo bekannte Meermenschenkolonien waren.

"Die Meerleute sind eh stinkig, weil wir denen die Bude zuölen und zumüllen", meinte Hauke Willemsen. "Könnte denen glatt einfallen, mal eben die ganze Welt wissen zu lassen, dass es sie doch gibt und dass es keine Seekühe sind, wie sie bei Florida oder im indischen Ozean leben. Dann kriegen wir aber den totalen Ärger, Leute."

"Stimmt, weil wir an die Meerleute so nicht rankommen, außer vielleicht mit Ultraschallkanonen, die denen in den Ohren schrillen", sagte Julius.

"Bring bloß keinen auf solche Ideen, Julius", sagte Bärbel, die dienstliche Anrede vergessend. "Vor Feensand ist eine Meerleutekolonie, und mein Vetter taucht immer wieder zu denen runter."

"Ich war schon ein paar mal in solchen Kolonien. Wäre echt fies, denen das Leben noch mehr zu versauen", sagte Julius.

So ging es noch um die nicht geheimen Reiseerlebnisse bei Meerleuten und welche alternativen es in der rein technischen Schifffahrt gab, wenn nicht wieder auf Segelschiffe zurückgegriffen werden sollte. Julius erwähnte seinen Großvater väterlicherseits, der im zweiten Weltkrieg Schiffsjunge auf einem Zerstörer gewesen war und nach dem Krieg als Smutje auf Handelsschiffen mehrmals um die Welt geschippert war.

So verging der Tag in der freien und Hansestadt Hamburg, zumal sich Hauke nicht nehmen lassen wollte, die Gäste aus Paris auf eine Hafenrundfahrt und einen Besuch des Heinrich-Hertz-Fernsehturms einzuladen. Julius flüsterte er noch zu, er könne ja mal alleine wiederkommen, um sich das Nachtleben anzusehen. Julius grinste darüber nur und meinte, dass er Nachts schon sehr gut versorgt sei. Dann sagte er noch:

"Mein Opa väterlicherseits ist auch mal hier an Land gegangen. Der hat was von so frischem Fleisch erzählt, dass es noch lebendig im Schaufenster angeboten würde." Darüber musste Hauke Willemsen lachen, während Bärbel Weizengold ihm verschmitzt zuzwinkerte und bestätigte, dass Julius dergleichen nicht nötig hatte.

Gegen sieben Uhr abends waren sie wieder zurück. Da Julius seinen Bericht schon unterwegs geschrieben hatte, brauchte Belle diesen nur zu unterschreiben, zu kopieren und ein Exemplar für seine Akten abzugeben.

Gegen halb acht war er wieder zu Hause. Dort fand er einen Zettel seiner Frau:

Hallo Monju. Gilbert hat mich nicht nach Südamerika geschickt, weil er "diesen offenkundigen Verleumdungsschlag" nicht mitmachen wollte. Dafür hat er mich zu meiner Schwiegermutter in die Staaten geschickt, damit ich sie als Betroffene der Vita-Magica-Umtriebe interviewen soll. Wenn du wieder zu Hause bist geh sofort zu Oma Line rüber ins Château, wo unsere zwei Süßen sind. Da isst du bitte zu Abend und wartest auf mich!

Noch einen erfolgreichen Tag

deine Mamille

"Höre und gehorche, o Prinzessin aller meiner Märchen", dachte Julius und flohpulverte ins Sonnenblumenschloss seiner Schwiegergroßmutter. Dort durfte er erzählen, dass er heute den hamburger Hafen besucht hatte und wie groß die da fahrenden Schiffe waren. Gegen zehn Uhr traf Millie ein und war froh, dass sie nicht mehr kochen musste. Weil sie so müde aussah wurde ihr und Julius angeboten, die Nacht in einem der Gästezimmer zu bleiben. Da Rorie auch gerne hierbleiben wollte nahmen Julius und sie das Angebot von Ursuline und Ferdinand Latierre an.

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Aus dem Miroir Magique vom 3. September 2002

Montpelier bis auf Knochen blamiert


Louvois triumphiert über böswillige Verleumdungsattacke

Wie wir in den letzten Tagen berichteten sah sich der Mitbewerber um das Amt des Zaubereiministeriums, Monsieur Égisthe Louvois (45), einer sehr ernsten Anschuldigung ausgesetzt, er habe mit Hilfe mit Freizügigkeiten handelnder Hexen aus Mittel- und Südamerika ein Netzwerk geknüpft, über das er Kunden dieser Anbieterinnen fragwürdiger Dienstleistungen als Informationsbeschaffungs- und Wegbereitungshilfen eingespannt haben soll. Die Beweise schinen auch sehr klar, zumal es hunderte von Zeugenaussagen gab, die dies bestätigten. Gestern abend jedoch erfuhr der Miroir, dass im Zeitraum vom 25. bis zum 29. August mehr als eintausend Galleonen an die Zeuginnen ausbezahlt worden sind. Ein Mitarbeiter des kolumbianischen Zaubereiministeriums, der nicht namentlich erwähnt werden darf, da er im Milieu illegaler Wonnedienste ermittelt, bekam einen solchen Goldhandel mit und gelangte in den Besitz von zwanzig Galleonen. Da er die gezielte Bestechung mutmaßte ließ er die Herkunft der Goldmenge zurückverfolgenund schaffte es trotz der hohen Sicherheitsvorkehrungen der Kobolde, die Ausführung einer Goldüberweisung zu ermitteln, die als Quelle ein Verlies in Paris angibt. Das daraufhin eingeschaltete Koboldverbindungsbüro in Bogota und Paris ergründeten auf Betreiben von Monsieur Dexamenus Montpelier, dass das Gold aus dem Verlies für Katastrophenumkehr bei verunglückter Magie entnommen worden war. Natürlich befindet sich der Ministeriumszauberer in Bogota nun unter verschärftem Schutz, das zu befürchten steht, dass die kolumbianischen Kobolde wegen der erbeuteten Information Vergeltung üben könnten. Dies ändert aber nichts daran, dass die Zeuginnen, die eine Verwicklung Louvois' in illegale Machenschaften ausgesagt haben, offenbar aus der Abteilung von Monsieur Granatus Lesfeux bezahlt wurden. Um diesen sehr gravierenden Tathergang lückenlos zu beweisen wurde in Paris eine Untersuchung des Koboldverbindungsbüros und der Strafverfolgungsabteilung angestellt. Dabei kam heraus, dass niemand geringeres als Granatus Lesfeux den Auftrag zur Goldüberweisung erteilt haben muss, da nur er die dafür nötigen Codesätze kennt und den einzigen Schlüssel für das entsprechende Verlies besitzt, dessen Nummer als zusätzliche Legitimation auf den Überweisungsbriefen anzugeben war. Nach eingehender Befragung der angeblichen Zeuginnen stellte sich heraus, dass sie für diese Summe von je zweihundert Galleonen die Geschichte um Louvois erzählt haben. Damit ist die von Monsieur Montpelier angesetzte Anklage vom Tisch. Statt dessen muss sich nun Granatus Lesfeux einer Gerichtsverhandlung wegen böswilliger Verleumdung, Anstiftung zur Falschaussage in hundert Fällen und Veruntreuung ministerieller Goldreserven verantworten. Montpelier kündigte an, mit den Kandidaten um eine Aufschiebung der Wahl zu verhandeln, damit diese Vorwürfe endgültig vom Tisch sein können, bevor der neue Zaubereiminister gewählt wird. Mademoiselle Ventvit äußerte ihre Zustimmung, Monsieur Louvois sprach von genau der Taktik, die Montpelier und Lesfeux anwandten, um zum einen die Ministerwahl auf unbestimmte Zeit zu verschieben und zum anderen ihn als Kandidaten zu verunsichern. Er lehnte eine Verschiebung des Wahltermins ab, zumal, wie er unserem Reporter Beaurivage verriet, davon ausgehen musste, dass Montpelier die Zeit nutzen wolle, um eigene Verfehlungen zu vertuschen. Über diese Vorwürfe hatten wir berichtet.

Wir müssen wohl oder übel feststellen, dass es in unserem Zaubereiministerium gerade sehr unsauber zugeht und an dem Verdacht, dass hier alteingesessene Personen an ihren Stühlen kleben, wie es Louvois immer wieder behauptet, doch mehr dran zu sein scheint. Wir werden die Sache weiterverfolgen.

Château Tournesol


5. September 2002, 16:15 Uhr Ortszeit

Julius öffnete die Schranktür von innen. Es war immer wieder unheimlich wie faszinierend, in einer Sekunde mal eben mehrere hundert Kilometer mit einem Schritt zu überwinden. Jetzt stand er in der Halle der Schränke, wo die verschiedenfarbigen Zaubermöbel standen, die Gegenstücke in den Häusern der weit verzweigten Latierre-Familie hatten. Das ersparte Flohpulver, Besen oder das Apparieren. Ursuline Latierre saß, die Zwillinge Esperance und Félicité auf dem Schoß auf einem hochlehnigen, erdbeerfarbenen Stuhl wie eine Königin auf dem Thron. Wer zur Tür aus dem großen Kellerraum hinauswollte musste oder durfte an ihr vorbeigehen.

Julius begrüßte seine Schwiegeroma und die kleinen Schwiegertanten und wünschte ihnen einzeln "Alles gute zum Geburtstag!" Wenn er bedachte, dass seine Schwiegeroma schon einundsiebzig Jahre alt war und die beiden Mädchen auch sechs Jahre alt waren war das immer noch erstaunlich für Julius. Ihre vier jüngsten wuselten irgendwo draußen im Schloss herum, wie am fröhlichen Quieken, Schreien und Rennen zu hören war. Sicher war Aurore auch schon rausgewetzt, um mit ihren nur wenige Wochen jüngeren Großtanten zu spielen. Ja, da hörte er sie auch schon glockenhell auflachen, ein Lachen, dass ihm immer wieder verbrauchte Energie zurückbrachte. Seine Frau selbst stand mit der kleinenChrysope auf dem Arm neben ihrer Großmutter und ließ sich loben, dass Chrysie so gut gewachsen war.

Julius wurde gefragt, ob es schwer gewesen war, vorzeitig Feierabend zu machen. Er erwähnte die durch verschiedene Aufträge angesammelten Überstunden. Dann sollten Millie und er in den grünen Salon gehen, wo Ferdinand und Béatrice schon warteten.

Der Grüne Salon war bereits feierlich geschmückt. Frei schwebende Luftschlangen in Mintgrün, metergroße Leuchtballons in Gold, Grün und Rosarot schwebten unter der Decke. In den Kronleuchtern steckten sonnengelbe Kerzen, die mit goldenen Flammen brannten. Die Tafel war mit einer ebenfalls mintgrünen Leinendecke bezogen und bereits mit hochwertigem Kaffeegeschirr gedeckt. Die ganze Latierre-Sippe war schon versammelt. Alle trugen sie Festumhänge in hellen und mittleren Farben. Julius und Millie erkannten, dass sie die einzigen in jadegrünen Umhängen waren. Die Kinder trugen mehrfarbige Umhänge oder Kleider. Die Mädchen hatten schillernde Schleifen in den Haaren. Béatrice Latierre trug ein bernsteinfarbenes Kleid und eine silberne Haarspange in Form eines Einhorns, während ihr Stiefvater Ferdinand einen rot-goldenen Umhang und einen rubinroten Spitzhut mit darauf reitendem Phönix aus Gold trug. Das Einhorn stand für unvergängliche Schönheit, Anmut und Heilkraft, der Phönix für ständige Wiederkehr und über den Tod hinausreichende Treue, aber auch für Heilkraft und Lebensfreude.

Julius begrüßte seine Verwandten herzlich, auch Gilbert, der mal wieder alleine gekommen war und einen eher dienstlich anmutenden taubenblauen Umhang mit Bronzeschließen trug. Seine Mutter hatte sich ein Roséfarbenes Rüschenkleid angezogen.

"Genießen wir diesen herrlichen Tag!"sagte Ferdinand. "Wir wissen nicht, was in zwei Wochen bevorsteht."

"Das ist wohl wahr", flüsterte Julius seiner Frau zu.

Als Ursuline dann mit den beiden Zwillingsschwestern an den Händen hinter ihrer Mutter Barbara und den Vierlingen den Salon betrat erhoben sich alle, die schon saßen und winkten und nickten ihr zu.

Julius begrüßte Barbara Latierre, die ältere mit einer innigen Umarmung und fragte leis, wie lange sie bleiben könne. "Die ganze mir zustehende Stunde, Julius."

Barbara Latierre die ältere setzte sich auch prompt zwischen ihre Mutter und Julius, der rechts von Millie flankiert wurde. So konnten sie während der feierlichen Kaffeestunde, während drei Geburtstagstorten angeschnitten und verteilt wurden, über die Sachen der letzten Monate reden. Seine Schwiegerurgroßmutter, die die meiste Zeit als majestätischer Kirschbaum im Garten des Latierre-Rinderhofes wohnte, pflichtete Julius bei, dass die Atmosphäre, die Lesfeux und Louvois verbreiteten sehr verdorben war, als darin freudig und leistungswillig zu arbeiten. "Wirst du dann deine wichtige Arbeit aufgeben um bei wem zu arbeiten, der deine Fähigkeiten mehr würdigt, Julius?"

"Wenn Louvois drankommt auf jeden Fall, Oma Barbara", sagte Julius. "Die wichtigen Sachen, die ich machenkann, kann ich sicher auch bei anderen Leuten einbauen, bei Camille Dusoleil zum Beispiel oder bei Catherine Brickston. Ihre Mutter könnte sich mich als Verbindungszauberer zwischen Beauxbatons und den Eltern muggelstämmiger Schüler vorstellen, was mir irgendwie auch zusagt."

"Und bei uns auf dem Hof arbeiten wäre nichts für dich?" fragte sie.

"Maman, da wäre er mit dem, was er kann und dem was deshalb von ihm zu erwarten ist unterfordert", schaltete sich Ursuline ein. Julius räusperte sich erst, dankte seiner Schwiegeroma jedoch in Gedanken, dass sie ihm ein paar wertvolle Sekunden verschafft hatte und sagte dann: "Ich denke, dass deine Enkeltochter und Namenserbin schon genug Personal hat."

"War nur eine Frage", erwiderte die ältere Barbara.

Eine Minute vor Ende der einen Stunde, die Ursulines Mutter in menschlicher Gestalt bleiben konnte, verabschiedete sie sich und verließ die Festgesellschaft. Ursuline rückte zu Julius auf, ein Zeichen für die anderen, nachzurücken. Bei einer runden Tafel wie im Schloss von König Arthus ging das ganz gut.

Julius durfte dann noch von seiner Reise nach Hamburg berichten und vor allem den technikinteressierten Zauberern am Tisch erklären, wie das Seefunknetz aufgebaut war und den Kindern drei blau leuchtende Wellen in die Luft zeichnen, die er dann einmal eindellte, um die Frequenzmodulation zu verdeutlichen und einmal ein paar Wellen höher hervorhob, um die Amplitudenmodulation zu veranschaulichen.

Es ging dann noch um die Kinder, dass Félicité und Esperance ja morgen ihren ersten Schultag zusammen mit den Kindern der Nachbarschaft haben würden und dass das schon so lange her war, dass sie geboren worden waren. Julius konnte sich auch noch gut an die mit ihnen schwangere Ursuline erinnern und vor allem daran, wie sie seiner Mutter über ihre über Jahre verdrängte und plötzlich wieder aufgekommene Platzangst hinweggeholfen hatte.

Gegen halb sieben eilten mehrere gemalte Vorfahren der Latierres durch die Bilder im grünen Salon und riefen: "Lesfeux verhaftet! Lesfeux soll eine Muggelfrau beschlafen und geschwängert haben, ohne dass die das wollte."

"Der hätte glatt von mir sein können", sagte Orion der Wilde, der sich offenbar über diese Enthüllung amüsierte.

"Häh? Lesfeux verhaftet?" fragte Millie Julius. Julius erwähnte, dass er das auch jetzt erst mitbekam. Lesfeux war am Morgen nicht im Ministerium gewesen, weil er einen Termin bei seinem Anwalt hatte, um gegen die ihm vorgeworfene Verleumdung von Louvois anzugehen. Dass Montpelier ihn verhaften würde war eigentlich ausgeschlossen, weil der sicher nicht in den Verdacht geraten wollte, von Lesfeux' Lage zu profitieren. Gilbert, der familieneigene Chronist und offiziell Chef der Temps de Liberté, fragte die in einem grün-goldenen Kleid wie ein geschneidertes Weizenfeld gehüllte Abbildung von Demeter Cassandra Latierre, was genau passiert war. Alle hörten zu, auch die sonst unter starkem Bewegungsdrang stehenden Kinder.

"Ein gewisser Pericles Villefort, Magister der magischen Rechte und Mitglied des Zaubergamots, hat von seinem US-amerikanischen Kollegen Hypereides Greenwood den Auftrag bekommen, gegen Granatus Lesfeux wegen unter Einsatz des Imperius-Fluches erzwungenem Beischlafes mit einer Muggelfrau aus New York vor zwanzig Jahren Anklage zu erheben. Außerdem wird ihm vorgeworfen, er habe bei diesem unerwünschten Akt einen Sohn gezeugt, der gleich bei der Geburt als Zauberer Registriert wurde. Wer sein Vater ist konnte dabei nicht ermittelt werden, da seine Mutter sich nur an eine sogenannte Einzelnachtbegegnung mit einem anderen Amerikaner erinnerte. Durch Aussehen und Blutgleichheit sei aber nun, wo das Kind zum jungen Mann gereift ist, eine genaue Bestimmung des Vaters möglich geworden. Bei einer vom amerikanischen Familienstandsleiter befohlenen Untersuchung von Mutter und Kind wurde herausgefunden, dass die Mutter vor zwanzig Jahren bei einem Besuch in Paris eine beinahe lebenslang schädigende Begegnung mit einem Werwolf hatte. Damals gehörte Lesfeux ja noch zum Werwolffangkommando. Die Frau, Rosemarie Goodwin, konnte sich erst nach einer Gedächtniswiederherstellung erinnern, dass einer der Zauberer sie damals vor dem Werwolf gerettet hatte und zum Preis dafür ihre Zugänglichkeit haben wollte. Sie hatte sich gewehrt, da hat er wohl den Imperius-Fluch benutzt, um sie zu unterwerfen. Das kam erst vor einer Woche heraus."

"Und die haben das höchst ministeriell gemacht."

"Ja, weil der dabei entstandene Sohn, John Goodwin, wissen wollte, wer aus der Zaubererwelt sein Vater war, weil er ja eben gleich bei der Geburt von Thorntails und dem Ministerium registriert worden ist. Sowas kann vorkommen, habe ich damals auch erleben dürfen, ist aber so selten wie eine Mondfinsternis gleich nach einer Sonnenfinsternis", sagte Demeter Cassandra Latierre. Julius erinnerte sich, dass sie Ursulines Großtante väterlicherseits war, acht Kinder von zwei Männern bekommen hatte und dreißig Jahre lang Kräuterkunde und magische Tiere inBeauxbatons unterrichtet hatte. Ein weiteres Bild von ihr hing bei Barbara Latierre der jüngeren im Büro im Zaubereiministerium. Sicher gab es in Beauxbatons auch ein Abbild von ihr.

"Öhm, könnte eine gemeine Retourkutsche von Louvois sein", meinte Julius. "Mit Magie geht ja doch einiges an Manipulationen."

"Der Junge existiert. Ich habe mich bei denen erkundigt, die Abbilder von sich in Thorntails haben", erwiderte Demeter Cassandra Latierre.

"Ja, doch dann muss das nicht heißen, Dass Monsieur Lesfeux sein Vater sein soll", warf Julius ein und wunderte sich gerade, dass er Lesfeux in Abwesenheit verteidigte. Doch nach der Kiste mit dem angeblichen Netzwerk hielt er eine entsprechende Gegenaktion von Louvois für denkbar.

"Julius, das kläre ich selbst ab, was da passiert ist. Ihr feiert bitte weiter", sagte Gilbert und machte damit klar, dass er für solche Fragen zuständig war.

Er zog sich dann in einen kleinen Raum zurück. Demeter ging auf Ursulines Anregung durch die Bilder zu ihm hinüber, um alles zu berichten, auch das, was für Kinderohren nicht so gut geeignet war.

"Wenn du denkst, Louvois hat da einen genialen Racheschlag gelandet, Monju, dann könnte der auch gegen deine Vorgesetzte und dich was aufbieten", raunte Millie, als die Gäste wieder redeten. Ursuline hörte es aber auch und sah Julius sehr erwartungsvoll an, was er darauf sagen würde.

"Ich frage mich im Moment, ob der Typ nicht zwei Streiche gegen Lesfeux gelandet hat. Vielleicht stimmt das mit dem Kind und irgendwer hat das Louvois lange genug vorher erzählt. Dann hat er vielleicht drauf gewartet, dass Lesfeux den Fehler macht, ihn hinzuhängen. Aber vielleicht hat Louvois auch das mit der gegen ihn zielenden Kampagne gedeichselt, wobei ich gerade nicht weiß, wie genau das gegangen sein soll. Aber genauso wüsste ich jetzt auch nicht, wie man jemandem zwanzig Jahre nach der angeblichen oder tatsächlichen Tatzeit ein uneheliches Kind vorstellen kann, zumindest nicht in der Zaubererwelt, weil da doch vieles an Manipulationen aufgedeckt werden kann."

"Du meinst, dass Louvois vielleicht Beziehungen zu Leuten in Übersee hat, die ihm diese Neuigkeiten beschaffen?" fragte Ursuline und gab sich sofort die Antwort: "So wie wir ja auch, meine Verwandten, deine Freunde in Übersee und deine Schulkameraden. Über die Bilderverbindung kriegst du ja auch eine Menge mehr mit als nur über echte Leute."

"Das ist wohl wahr", sagte Julius. Millie meinte dann: "Solange die nicht auch dir ein uneheliches Kind von zwanzig Jahren anhängen solltest du dir keinen Kopf machen, Julius."

"Wäre sehr interessant, mit wem ich das dann hinbekommen hätte", entgegnete Julius darauf, bevor ihm auffiel, dass sie diesmal seinen Kosenamen nicht benutzt hatte. Also meinte sie es wohl sehr ernst. Ja, er musste sich keinen Kopf um Granatus Lesfeux' Vergangenheit machen. Der hatte ihn damals ziemlich barsch abgefertigt, weil er es gewagt hatte, in der Katastrophenumkehrtruppe mitmachen zu wollen, ohne eine Note in Muggelkunde auf dem Zeugnis stehen zu haben oder gar eine UTZ-Prüfung in dem Fach abgelegt zu haben. Nein, um den wollte er sich keinen Kopf machen. Aber um Louvois musste er sich einen Kopf machen. Wenn Lesfeux wirklich wegen sowas belangt wurde, dann war der nicht nur politisch, sondern auch als unbescholtener Bürger erledigt. Für sowas wie Vergewaltigung mochte es eine Verjährungsfrist geben. Die Unverzeihlichen waren wie Mord, ohne Verjährung.

"An Montpeliers Stelle sollte er Kraft seines Amtes die Wahl um mindestens drei Monate verschieben", sagte Ferdinand Latierre. "Solche heftigen Vorfälle verstimmen die Leute doch mehr, als dass sie wählen gehen."

"Ja, und die, die wählen gehen wählen dann wohl Louvois", meinte Albericus verächtlich klingend.

"Louvois erhebt Anschuldigungen gegen Ornelle Ventvit!" rief ein gemalter Zauberer, der von der Kleidung her vor zweihundert Jahren gelebt hatte. "Er behauptet, sie und einige andere Ministerialbeamte seien von mächtigen Zauberwesen beeinflusst und damit nicht mehr selbstständig handlungsfähig."

"Millie, da haben wir's. Der beißt jetzt heftig um sich, um alle aus dem Rennen zu werfen", knurrte Julius. Ursuline umfing ihn mit einem Arm und sagte leise: "Lass dich nicht ins Drachenfeuer treiben, Julius. Was immer der jetzt vorbringt, es muss bewiesen werden. Im Zweifelsfall geht immer noch die Flucht nach vorne. Wenn der König auf den eigenen Feldern ins Schach gerät, muss er selbst dem anderen König Schach bieten. Das hast du nicht nur von mir gelernt, mein Junge."

"Ich frage mich gerade nur, in welcher Welt ich lebe, Oma Line", seufzte Julius.

"In der, wo es Leute gibt, die ihre Vorteile suchen, und in der es auch Leute gibt, die wissen, was richtig und was falsch ist", erwiderte Line. "Ich hätte auch nicht gedacht, dass mein Schwager Janus seinen eigenen Bruder ermordet, nur weil er nicht länger ertragen wollte, in dessen Schatten zu stehen, anstatt sich einen eigenen Weg und einen eigenen Platz zu suchen. Trotzdem hasse ich die Welt nicht und habe ihr noch vier süße Kinder aufgeladen."

"Ich habe nicht gesagt, dass ich die Welt hasse. Dafür kenne ich die Muggelwelt zu gut, dass ich jetzt enttäuscht wäre. Ich frage mich nur, warum vernünftige Menschen nicht friedlich miteinander zurechtkommen können."

"Sie können das schon, wenn sie es lernenund wenn sie es wollen", erwiderte Ursuline. Millie stimmte zu.

Die Erwachsenen auf der Feier unterhielten sich nun nur noch über die neuen Vorfälle im Ministerium. Ursuline bedauerte, dass für Barbara, Hippolyte, Martine und Julius der Eindruck entstand, dass ihre Arbeitsstätte gerade auseinanderfiel. Aber noch sei nichts entschieden, und die Entscheidung liege bei ihnen allen, wie sie hier gerade säßen.

Irgendwie schafften es die ganzen mitgebrachten oder schon hier wohnenden Kinder, dass die Feierlaune wieder zurückkehrte. Auch wenn Millie und Julius morgen wieder früh aus dem Bett mussten ließen sie sich darauf ein, bis zwölf Uhr durchzufeiern. Dann waren aber alle entsprechend müde, vor allem die beiden Geburtstagszwillinge.

Julius trug Aurore, die schon tief schlief, und Millie die kleine Chrysope. Als sie sie beide behutsam umgezogen und ins Bett gelegt hatten meinte Julius: "Ich fürchte, morgen fängt für mich eine neue Welt an."

"Das haben wir schon so oft gehabt, und meistens war das ein schöner Neuanfang. Was immer da im Ministerium jetzt los ist, die können sich nicht leisten, daa alles durcheinanderkommen zu lassen." Julius hoffte, dass sie recht hatte.

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Im französischen Zaubereiministerium


6. September 2002

Die Verhaftung von Lesfeux war an diesem Tag das Hauptthema im Ministerium. Wo Julius ging und stand hörte er Gesprächsteile mit, wo die einen den Kollegen für einen verkappten Halunken hielten und die anderen Lesfeux als Opfer einer gezielten Verleumdungskampagne sahen, wie er sie angeblich gegen Louvois gestartet hatte. Wenn Julius im Büro saß und gerade nicht an irgendwelchen Briefen und Memos schrieb, sah er immer wieder Mademoiselle Ventvit an, die sichtlich in sich gekehrt auf ihrem Stuhl saß und wohl darüber nachdachte, wann es sie vielleicht erwischen würde.

Gegen drei Uhr Nachmittags schwirrten dann Memos durch alle Abteilungen, dass Monsieur Montpelier vorübergehend die Amtsgeschäfte an den Strafverfolgungsleiter Posites Champverd abgegeben habe, um sich in den nächsten Tagen einer internen Untersuchung zu stellen, die Aufschluss über die gegen ihn erhobenen Vorwürfe bringen sollte. "Da sind es nur noch zwei", stellte Ornelle Ventvit fest. Julius fragte sie, inwiweit Montpelier auch irgendwas angestellt haben mochte, das ihn von der Kandidatur ausschloss.

"Womöglich hat Monsieur Louvois irgendeinen Handlanger dazu bekommen, irgendwelche Unterlagen zu beschaffen. Gehen wir besser davon aus, dass er in den nächsten Tagen auch sowas gegen mich aufbietet. Die Sache mit Euphrosyne könnte ihm schon genügen, mich und dann auch Sie für untragbar auszugeben."

"In dem Moment, wo sowas läuft bin ich hier raus", sagte Julius.

"Ob das so einfach ist?" fragte Ornelle. "Sie sind der höchst offizielle Veela-Menschen-Beauftragte. Wenn Louvois auf diese drachengemeine Art Minister wird könnte ihm einfallen, Sie nur deshalb nicht vor die Tür zu setzen, weil er Sie als Vermittler zwischen den Veelas und seiner Mannschaft braucht. Es gibt die Kündigungssperrklausel, dernach ein Amtsanwärter, der sich Freiwillig für die Durchführung eines bestimmten Projektes gemeldet hat und dieses zu einem bestimmten Punkt ausgeführt hat, solange nicht kündigen darf oder gekündigt werden darf, wie dieses Projekt noch nicht in allen Zielen abgeschlossen ist. Tja, und die Vermittlung zwischen Veelas und Menschen ist kein befristetes Projekt, sondern eine Lebensaufgabe, mein Junge. Denn soweit ich von Madame Léto weiß wurdest du nicht für einen kurzen Zeitraum gewählt, sondern einstimmig vom Ältestenrat der Veelas bestimmt, für den Rest deines Lebens. Fühl dich geehrt!"

"Moment, ich habe die Kündigungssperrklausel gelesen", sagte Julius. "Da steht nur drin, dass ich oder sonst ein Amtsanwärterr nur dann nicht aus dem Dienst ausscheiden darf, wenn er oder sie ein befristetes Projekt angenommen hat und dieses innerhalb des nächsten Jahres abzuschließen ist. Soviel zu der Ehre, Ornelle." Die angesprochene grinste breit.

"Wunderbar. Damit kannst du der Zwangsanstellung von Louvois' Gnaden entgehen, wenn du das genauso argumentierst. Er könnte dich aber vielleicht darauf festnageln, dass er Beziehungen in wichtige Unternehmungen außerhalb des Ministeriums hat und du dort kein Bein auf den Boden bekämst."

"Will sagen, für ihn gehört Erpressung zum Tagesgeschäft?" fragte Julius.

"Sehr harsch formuliert, aber in der Sache wohl leider wahr", sagte Ornelle.

Ein Memoflieger schwirrte durch die Wandluke und segelte zu Mademoiselle Ventvit hinüber. Als sie den Zettel mit der Mitteilung las verzog sie kurz das Gesicht. Dann schnippte sie Julius den Zettel zu. Darauf stand:

Hallo, werte Melle. Ventvit,

ich bedauere zu tiefst, Ihnen mitteilen zu müssen, dass es wohl einem im Ministerium tätigen Mitarbeiter aus dem Zauberwesenbereich gelungen ist, Unterlagen nach außen zu schmuggeln, die geeignet sind, Sie und ihr Büro als handlungsunfähig bis böswillig hinzustellen. Welche Unterlagen das sind weiß ich nicht genau. Aber ich muss vermuten, dass damit mehr Schaden als sonst etwas angerichtet werden kann. Jedenfalls habe ich vor wenigen Minuten eine Eule erhalten, dass die Unterlagen mit dem Aktenzeichen C5-21/279-0039 und S5-21/279-0048 gemeint sind. Ich bitte also darum, da ich bis zur Einstufung s0 freigegeben bin, in meiner Eigenschaft als Vertreter des kommissarischen Zaubereiministers diese Akten einsehen zu dürfen, um den Schaden bestimmen zu können der entstehen kann. Des weiteren wurde Seitens des Briefschreibers ein Ultimatum festgelegt. Wenn Sie, Melle. Ventvit, bis morgen um zwölf Uhr Mittags nicht erklärt haben, von Ihrer Kandidatur zurückzutreten, werden die bezeichneten Akten den führenden Zeitungen der europäischen und US-amerikanischen Zaubererwelt übergeben. Ich weiß, das ist eindeutig Erpressung, und ich weiß, dass Sie sich dieser wohl nicht fügen werden, Melle. Ventvit. Aber um der Möglichkeit wegen, was damit für ein Schaden angerichtet werden kann sollten wir zumindest erörtern, wie wir einer unerlaubten Veröffentlichung begegnen können.

Trotz dieser höchst aufwühlenden und unangenehmen Nachricht verbleibe ich

mit freundlichen Grüßen

m. Posites Champverd

"Wie dreist muss jemand sein, bei den wenigen Kandidaten noch eine Erpressungsnummer zu starten", knurrte Julius. "Kann ja nur auf Louvois' Mist gewachsen sein", sagte er noch.

"Ja, oder von jemandem in Umlauf gebracht worden sein, der Monsieur Louvois auf diese Weise demontieren möchte, Julius. Zwar stimmt, dass Monsieur Lesfeux und Monsieur Montpelier wohl aus der Kandidatur heraus sind. Aber wenn es gelingt, sowohl mich als auch Monsieur Louvois zu beschädigen würde die ganze Wahl für undurchführbar erklärt und der geschäftsführende Zaubereiminister somit zum hauptamtlich tätigen Minister mit unbeschrenkten Befugnissen."

"Will sagen, Posites Champverd? Das glaube ich nicht wirklich. Ich kenne ihn zwar nur flüchtig, von einer Hochzeitsfeier, bei der er und ich Gäste waren. Aber der ist schon vor Minister Grandchapeau hier gewesen. Wenn der Minister hätte werden wollen hätte er das schon viel früher haben können."

"Ja, oder er hat jetzt erst die günstigste Gelegenheit dazu", sagte Ornelle. Da meinte Julius, dass genau das vermutet werden sollte, weil es nur noch zwei Kandidaten gab. dann sagte er: "Die Aktenzeichen kenne ich übrigens auswendig. Die C5-Akte ist die ganze Sache mit Euphrosyne Lundi, und die S5-Akte betrifft die künstliche Befruchtung von Meglamora. Wenn die wirklich aus dem Archiv abgezweigt wurden hänge ich mit drin."

"Nette Formulierung", schnarrte Ornelle. Dann sagte sie: "Prüfen Sie das nach, ob die Originalakten noch vorhanden sind. Falls ja, testen Sie auf magischen Kopiervorgang. Falls es keinen solchen gab, so könnte es bei den Aktennummern auch um eine Täuschung oder einen Bluff gehen, wenn Ihnen dieser Ausdruck geläufiger ist, Julius." Julius nickte und begab sich sofort in den Archivraum für die Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe. Unterwegs erhielt er jedoch schon eine Rückmeldung, und zwar von seiner eigenen Frau:

"Sag mal, Monju, kann es sein, dass bei euch ein ziemlich mieser Aktendieb umgeht? Gilbert hat mir gerade eine S5-Akte unter die Nase gehalten, die das mit Meglamora enthält, dass ihr der mit einem künstlichen Mann zwei echte Kinder in den großen Bauch gestupst habt. Ich dachte, S-Akten dürften nicht aus dem Haus oder nur von dazu berechtigten Leuten gelesen werden."

"Kannst du prüfen, ob Original oder Kopie, Mamille? Ich wurde gerade drüber informiert, dass Ornelle damit erpresst werden soll. Wenn sie nicht die Bewerbung zurückzieht gehen die Akten an die Zeitungen."

"Bis wann soll die zurückziehen?" fragte Millie über die Herzanhänger-Gedankensprechverbindung.

"Bis morgen zwölf Uhr mittags, high Noon."

"Dann muss jemand noch lernen, die Uhr zu lesen", bekam er den zu erwartenden Kommentar zurück. "Öhm, was will Gilbert mit der Akte machen?" fragte Julius.

"Weiß er nicht. Zurückschicken wäre ja heftig blöd. Aber veröffentlichen kann und will er das auch nicht, weil du da ja auch mit drinstehst."

"Habt ihr zufällig noch eine Akte aus dem Ministerium zugespielt bekommen?" fragte Julius.

"Neh, nur die."

"Dann möchte er sie bitte einbehalten oder am besten vernichten, wenn klar ist, dass es nicht das Original ist!" erwiderte Julius. Dann hatte er das Archiv erreicht.

Er stellte durch entsprechende Zauber fest, dass die erwähnten Akten in den letzten vier Wochen fünfmal kopiert worden waren. Millie meinte dann noch: "Die Eule, die die gebracht hat, hat einen Postring um. Dümmer geht's ja echt nicht."

"So? Woher kommt sie denn?" wollte Julius wissen.

"Moment! - Ups, Cloudy Canyon, vereinigte Staaten von Amerika."

"Hallo? Was macht eine französische Akte in dem Schlauchdorf?" erstaunte Julius. Dann teilte er Millie mentiloquistisch mit, dass sie bei Eintreffen der akte C5-21/279-0039 bitte auch Meldung machen sollte.

"Geht klar, und wir halten diese Akten zurück, und die Posteulen auch. Gilbert hat Tante Trices Eulenschlafstange festgemacht. Ups, wie auf's Stichwort! Da ist noch eine Eule. Ich guck mal eben - Ja, stimt. Das ist C5-21/279-0039. Und die Eule kommt aus ... VDS, Monju."

"Gut, von der Akte wurden fünf Kopien in den letzten vier Wochen gezaubert. Aber dass da jemand die extra in die Staaten bringt und von da losschickt ..."

"Ja, aber wenn damit wirklich Ornelles Ausstieg erpresst werden soll hat der oder haben die die Flugzeiten falsch berechnet."

"Oder besser noch, sie hatten nicht vor, die Akten einzubehalten, wenn Ornelle zurückzieht, wohl auch deshalb, weil sie wissen, dass sie sich dieser Erpressung nicht beugen wird. Damit ist das Ultimatum schon im Eimer."

"Es sei denn, die anderen Eulen brauchen echt wesentlich länger", erwiderte Millie. Dann fragte sie, was in der C-Akte stand. Julius erwähnte es.

"Oha, wenn das rumgeht kriegt ihr vielleicht noch mal Ärger mit Euphrosyne. Öhm, steht da auch drin, was mit Belles kleinem Bruder ist?"

"Nicht in der. Da geht es nur darum, dass Euphrosyne wegen ihres Zaubers diesenAron Lundi heiraten durfte. Über den Sonnensegen steht wohl nur was in der Akte S0-20/279-0049, die nur Vendredi und der Minister bei sich haben dürfen."

"Dann ist ja gut."

"Oder auch nicht, weil damit der Täterkreis auf die reine Zauberwesenabteilung begrenzt ist. aber die Meglamora-Geschichte ist mehr Sprengstoff als die über Euphrosyne."

"Okay, ich sage es Gilbert, er soll die Akten einbehalten. Öhm, soll er eine offizielle Meldung an euch rausschicken, dass er sie gekriegt hat?"

"Ja, mit Eulenkennung. Dann können wir wenigstens prüfen, wer alles in dem fraglichen Zeitraum in den Staaten unterwegs war."

"Geht klar, Monju. Tut mir leid, dir den Tag so versaut zu haben."

"Du nicht. Ihr habt das Zeug ja nicht in den Druck gegeben", gedankenseufzte Millie.

"Gut", schickte sie ihm zurück.

Als Julius wieder im Büro war machte er Meldung über die Anzahl der Kopien. Dass Millie ihm mitgeteilt hatte, dass die Redaktion der Temps bereits die abgezweigten Akten bekommen hatte behielt er für sich. Die Herzanhängerverbindung war zwar kein großes Geheimnis von ihm. Aber er musste es ja nicht gleich jedem aufs Brot schmieren, dass damit auch Nachrichten aus dem Ministerium hinausgeschickt werden konnten. Dann fragte er sich, wer sich den Aufwand machte, diese Akten von den Staaten aus zu verschicken? Vielleicht ... Ja, das konnte es sein. Jemand wollte einen bestimmten Eindruck erwecken, dass jemand mit Beziehungen in die USA diese Posteulen losgeschickt hatte. Aber hier in der Zauberwesenbehörde gab es nur zwei Leute, die Beziehungen in die Staaten hatten, Michelle Vernon,, deren Bruder in besagtemDorf Cloudy Canyon wohnte und er selbst, der ja Verwandte in Viento del Sol und Santa Barbara wohnen hatte. Am Ende wollte noch wer das so drehen, als habe entweder Michelle oder er, Julius, diese Geheimakten rund um die Welt geeult. Am Ende war das ein ganz gemeiner Trick, der ihn als Geheimnisverräter darstellen sollte. So konnte man auch zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Denn Ornelle würde durch die Akten schwer belastet, eine Art Halbriesenzucht aufzulegen und er wurde belastet, die entsprechende Akte entwendet zu haben.

"Ich schlage vor, dass Sie auf keinen Fall zurückziehen, Ornelle. Denn womöglich hat der Erpresser schon Kopien an die Zeitungen abgeschickt und kann sie nicht mehr zurückholen", deutete Julius an. Ornelle sah ihn daraufhin konzentriert an. Doch er okklumentierte. Sie meinte dann:

"Sie würden das nicht behaupten, wenn Sie nicht schon einen entsprechenden Hinweis erhalten hätten. Aber ich erwähne dazu nichts", sagte sie ganz leise.

Als Julius wieder bei sich zu Hause war sprach er mit seiner Frau in einem provisorischen Klangkerker. "Montpelier ist raus, Ornelle fehlt noch. Offenbar will dich Louvois auch gleich mit abfertigen."

"Oder Champverd. Aber ich denke, Louvois spielt gerade Billard über die Bande. Er hat irgendwen die Akten klauen lassen und schickt die jetzt rum. Dabei kann er so tun, als hätte ich die Akten kopiert und Champverd sei der Auftraggeber. Den hat er dann auch gleich mit weg und ist aus dem Schneider, weil die Akten für sich Ornelle erledigen, woo die meisten Franzosen was gegen reinrassige Riesen haben."

"Kann man Eulen legilimentieren?" fragte Julius seine Frau.

"Ich habe das nicht gelernt, wie das geht", antwortete Millie. Julius hatte das auch nicht gelernt. Er dachte nur daran, dass die Altmeister von Altaxarroi auch durch die Augen von Tieren sehen konnten und zwar auch das, was vor Stunden oder Jahrtausenden passiert war. Doch er konnte da nicht drauf zurückgreifen, weil die Altmeister, abgesehen vielleicht von Madrashmironda und Kailishaia was darüber erzählten. Nein, es musste auch so gehen, dachte er. Im Zweifelsfall half Flucht nach vorne.

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Im Berg der ersten Empfängnis


zehn Tage nach dem Kampf zwischen Itoluhila und Errithalaia, eine Stunde nach Abenddämmerung

Sie hatte gerufen, und alle waren ihrem Ruf gefolgt, die gerade wach waren. Itoluhila, die damit schon seit Tagen gerechnet hatte, war am schnellsten erschinen. Dann waren Ullituhilia und Thurainilla aufgetaucht, schließlich Tarlahilia und Errithalaia, die jüngste. Diese war durch den Kampf sichtlich eingeschrumpft. Zwar sah sie noch eindeutig fraulich aus, war aber nur halb so groß. Sie funkelte Itoluhila aus ihren Augen tückisch an. Dann starrte sie von unten her auf Lahilliota. Diese präsentierte sich in einem rot-goldenen Gewand mit Mond- und Sonnensymbolen und hatte sich einen goldenen Halbmond durch die schwarze Mähne geflochten. Sie bedeutete allen, sich auf die hohen Holzstühle zu setzen. Errithalaia musste wahrlich wie ein kleines Mädchen auf ihren Stuhl hochklettern und glubschte ihre normalgroßen Schwestern finster an. Dann sagte Lahilliota:

"Ich grüße euch, meine wachen Töchter. Ich freue mich, mich wieder in ganzer Kraft und Erhabenheit vor euch hinstellen zu können. Und du, Errithalaia, glotz mich nicht so vorwurfsvoll an!" Die Tochter der fließenden Zeit wandte ihr Gesicht ab. Sie wollte nicht sehen, dass ihre Mutter wieder einen eigenen Körper hatte. Alle fühlten sie, dass ihre Mutter etwas getan hatte, um wahrlich unsterblich zu sein. Es würde jeder von ihnen schwerfallen, diesen neuen Körper zu töten, abgesehen davon, dass ihnen eingeprägt war, keine Verwandte zu töten, bis auf Errithalaia, die sich überlegte, wie sie sich ihre volle Körpergröße und Lahilliotas Macht wiederbeschaffen konnte.

"Was ist dein Weg, Mutter?" fragte Itoluhila.

"Das ihr mir wieder gehorcht, wo ich nun frei bin und wieder einen eigenen Körper habe. Ich war zu lange in Errithalaias Körper und Geist eingesperrt, musste ihr dienen, ihre Ziele erfüllen. Eigentlich müsste ich es jetzt umgekehrt vollbringen. Aber ich fürchte, dass Errithalaia dann mein ewig ungeborenes Kind werden und in meinem Leib herumstrampeln will. Nein, dort hinein lasse ich nur noch ausgewählte Nachkommen, sofern ich mit dem, wie ich meine endgültige Unsterblichkeit gewann, noch fruchtbar bin. Wozu ich euch rief? Wir haben mächtige Feinde, die Kinder Ashtarias sind dabei nur die kleinsten, weil sie ausschließlich auf Abwehr und Versperrung gegen uns ausgehen. Die wirklich schlimmen sind die Blutschlürfer, die durch den in ihren Körpern wirkenden Todesstaub außerhalb dieser Höhlen eine sehr gefährliche Macht bilden können. Itoluhila, du hattest auch schon mit ihnen zu tun, richtig?" Itoluhila nickte. "Dann sind da noch die Schergen Iaxathans, die ebenfalls den Staub des Unlichtkristalls in sich tragen. Es ist also unklug, dass wir uns gegenseitig befeinden und bekriegen. Daher bin ich dir, Itoluhila, und dem Schützling Ashtarias dankbar, endlich frei und eigenständig leben zu können." Errithalaia fauchte wütend. "Ja, ich weiß, dass Errithalaia gerne euch alle in sich aufgenommen und dadurch die in euch ausgelagerten Teile meiner Selbst mit sich vereint hätte. Iaxathan trachtet nach allen Jahrtausenden danach, wieder in die Welt zurückzukehren. Gelingt ihm dies, so wird er jede Kraft hinwegfegen, die ihn hindern will. Es ist daher günstiger für uns, dass wir die Menschen nicht länger als Todfeinde ansehen, sondern nur als für uns wichtige Nahrungsgrundlage, die jedoch nicht sterben muss, ja uns als Abhängige bessere Dienste tut als als restlos entkörperte Lebenskräfte."

"Die Welt kann uns gehören, Mutter. Vereine dich wieder mit mir, und wir werden alles nachholen, was diese Schwächlichen Schwestern da nicht geschafft haben", sagte Errithalaia.

"Noch einmal werde ich mich dir nicht unterOrdnen, Errithalaia. Ich hätte vor deiner Geburt damals mehr Kraft in mich einlagern müssen, um nicht zu sterben. Das habe ich jetzt nachgeholt. Jetzt ist es an dir, mir zu gehorchen, deiner Mutter."

""Nein, das werde ich nicht. Ich bin die Tochter der fließenden Zeit. Wer Macht über die Zeit hat ist mächtiger als alle anderen von denen da. Auch du bist mir unterlegen."

"So, bin ich das?" fragte Lahilliota. "Dann versuche es, mich zu entkörpern und erlebe deine nächste große Niederlage im Leben!""

"Gleich bist du wieder da, wo du hingehörst", knurrte die kleinwüchsige Frau mit den goldfarbenen Haaren. Ihre Augen funkelten hell auf. Um Lahilliotas Körper flirrte es weiß-blau und violett. Die anderen starrten entsetzt auf das Geschehen. Doch das einzige was geschah war, dass Errithalaia noch kleiner wurde, bis sie von sich aus mit lautem Knall verschwand. Lahilliota, die bis dahin laut keuchend in der weiß-blauen Lichtwolke ausgeharrt hatte, lächelte überlegen. "Sie hat sich beinahe selbst aus der Welt gestoßen. Irgendeine von euch hätte sie dann wohl neu austragen müssen, wie ich es bei eurer Reife festlegte. So konnte sie gerade noch flüchten und wird wohl von heute an zusehen, wieder ihre Endgröße zu gewinnen. Aber was ist mit euch? Folgt ihr mir nach?" Die vier anderen Töchter von ihr bestätigten es. "So höret: Da meine gutherzige Schwester und ihr Schützling mich befreit haben, so will ich jenem, der ihr als Gefäß für ihre Macht dient, Dankbarkeit erweisen, wieder frei zu sein, indem ich ihm und den seinen nicht nachstelle. Das gleiche gilt für die nachgeborenen Kinder meiner Schwester. Denn nur diese können mit uns zusammen Iaxathans Sturm auf die Welt erkennen und zurückdrängen. Daher, meine Töchter, so sehr ihr das verabscheuen mögt, gilt unser ewiger streit mit den Kindern meiner Schwester als beendet. Nur wenn sie uns direkt angreifen, so dürft ihr euch wehren. Aber schadet ihnen nicht an Leib oder Seele und vergeht euch auch nicht an deren Angehörigen oder Nachkommen! Was die mit dem Todeskristallstaub verseuchten Bluttrinker angeht, so dürft ihr sie töten, wenn ihr wisst, wie." Itoluhila sah ihre wiedererstandene Mutter an. Dann sagte sie: "Da ihr Kern der geraubte Tod ist können sie durch die Laute frischen Lebens geschwächt und auch vernichtet werden. Denn wo neues Leben wirkt verfliegt der alte Tod. Ich habe da schon Erfahrungen mit gemacht." Sie erwähnte, dass sie mehrere Kristallstaubvampire durch die Schreie eines gerade erst geborenen Mädchens bis zum Tode geschwächt hatte.

"Gilt das auch für die Schergen Iaxathans?" wollte Lahilliota wissen.

"Das habe ich noch nicht erprobt, große Mutter", sagte Itoluhila.

Nun meldete sich Thurainilla, die Tochter der kosmischen Dunkelheit und erwähnte, dass Kanoras, der Schattenträumer, aus wohl langem Verzögerungsschlaf wiedererwachen würde. Wo er sich aufhalte wisse sie noch nicht. Aber er würde Iaxathan treu dienen. Ullituhilia erwähnte ihre Begegnung mit den Schergen Vengors und dass sie einen davon zu ihrem Gefangenen gemacht hatte.

"So gilt nun die neue Ordnung der Mutter und der Töchter alles lebendigen: Tod und Vernichtung Iaxathan und seinen Knechten!"

Tod und Vernichtung Iaxathan und seinen Knechten!" riefen die vier anderen im Chor.

"Der Tag wird kommen, wo ich wieder erstarkt bin. Dann werde ich vollenden, was ich begonnen habe", erscholl Errithalaias Gedankenstimme aus der Ferne. "Itoluhila, du wirst dann die erste sein, die ich mir einverleiben werde. Und du, abgespaltene Seele meiner wahren Macht, wirst dir wünschen, dich nie von mir abgespalten zu haben."

"Auch für dich gilt die neue Ordnung, Errithalaia. Du kannst mich nicht wieder in dich einschließen. Aber wenn du versuchst, deine Schwestern oder mich zu töten, wirst du es sein, die in einer von uns eingeschlossen wird und bleibt", schickte Lahilliota für alle ihre Töchter vernehmbar zurück. Dann ließ sie sich von den anderen berichten, was sie so erlebt hatten und erwähnte, dass sie im Traum die Verbannung von Ilithula und Hallitti miterlebt hatte. "Eigentlich schuldet mir der Bursche, der Ashtarias Gunst gewonnen hat, zwei neue Töchter. Aber vielleicht kann ich ihn auch dazu bringen, die Aufprägung Ashtarias abzustreifen und meinen Segen zu empfangen, wenn er merkt, dass reine Gutherzigkeit nicht die wahre Stärke dieser Welt ist."

"Er ist ein Sohn Ashtarias, Mutter. Ich habe es gefühlt, das sie ihn in sich getragen und geboren hat, in ihrer Nachtodesform, wo sie die Macht aller ihrer selbstgeborenen und nachgeborenen Kinder in sich vereint", sagte Itoluhila. "Oder willst du ihn neu austragen und großziehen."

"Wenn er dies von mir erbittet, werde ich dies tun, oder du, Itoluhila, oder du, Ullituhilia. Tarlahilia und Thurainilla haben ja schon handlungskräftige Schützlinge." Ullituhilia erwähnte, auch eine Dienerin zu haben und erwähnte Della Witherspoon, die Brutus Pane im Auftrag Vengors zu vernichten versucht hatte. Lahilliota musste lachen, als sie hörte, dass die Seele dieses Feindes jetzt in einem ihr überlassenen Schmuckstück gefangen war.

"So kehret alle an eure Wohnorte zurück und lebt euer Leben! Ich werde mir da selbst eine Bleibe unter den kurzlebigen Menschen suchen, um zu ergründen, wo ihre Stärken und schwächen heute liegen. Wir müssen aber bald zusehen, dass wir das Versteck Iaxathans finden. Denn sein auserwählter Knecht wird alles versuchen, sich seinem Herrn und Meister endgültig zu unterwerfen."

Alle verschwanden über den Kurzen Weg, bis auf Itoluhila. Dieser schickte sie zu: "Ich danke dir, Tochter, dass du mich mit diesem Leib und seiner früheren Trägerin vereint hast. Durch Alison, die in dir gewohnt hat, weiß ich, dass du gegen eine andere Trägerin der Unsterblichkeit gekämpft hast, die als schwarze Spinne herumlaufen kann. Ist es wirklich Naaneavargia?"

"Ja, und Anthelia zugleich", erwiderte Itoluhila. Da Lahilliota in Errithalaias Leib und Seele eingekerkert gewesen war hatte sie Anthelias erstes Leben nicht mitbekommen und wusste auch nichts von Sardonia. Doch was sie durch Itoluhila mitbekommen hatte: "Willst du Messallines Sein weiterhin in deinem Inneren tragen oder ihr doch von dir aus einen neuen Körper geben?"

"Sie hat es damals selbst so gewollt, dass sie in einem Körper neu erwachen will, der entweder gerade geboren wurde oder kurz vor der Geburt steht. Ich kann sie nur in mir fühlen, schlafend, träumend. So wie ich Alison und dich ausgestoßen habe kann ich sie nicht freisetzen, ohne sie in alle Winde zu verlieren."

"Gut, meine Tochter, dann trage deine treueste Dienerin weiter in dir wie ein ungezeugtes Kind und hoffe, dass sie eines Tages einen neuen Körper erhält! Ich werde erst einmal zusehen, diese Festung mit treuen Verteidigern zu füllen. Denn ich erwarte die Rückkehr der Kristallstaubvampire."

"Wie willst du in so kurzer Zeit so viele Abhängige haben, Mutter?" fragte Itoluhila. Zur Antwort streckte sich ihre Mutter. Ihre Kleidung verschwamm in einem Nebel, ebenso ihr Herrscherstab. Sie wurde größer, bis sie als vier meter große rote Ameisenkönigin erschien. "Ich werde mir die Leben starker Frauen und Männer einverleiben und als meine Kinder bekommen", dröhnte nun ihre Gedankenstimme durch Itoluhilas Geist. "Ashtaria wollte, dass ich in dieser Form gefangen bleibe. Aber ich werde sie nutzen, um zur Schneefallzeit ein kleines, schützendes Volk an meiner Seite zu haben. Und dann werde ich mit dem menschlichen Körper die Wonnen der Vereinigung genießen, genau wie du." Mit diesen Worten wurde aus der geflügelten Ameise wieder eine Frau. Itoluhila bewunderte diese Körperverwandlung. Zwar konnte sie sich auch in ein geflügeltes Riesentier verwandeln. Aber die Königin eines staatenbildenden Insektenvolkes zu sein war wortwörtlich die Krönung.

Als Itoluhila wieder in ihrem eigentlichen Revier war erfuhr sie per Telefon, dass eine japanische Bande versuchte, ihre durch Drogen und geistigen Zwang abhängigen Mädchen in ihrem Revier einzuschleusen. Das durfte sich der schwarze Engel nicht gefallen lassen.

ENDE

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