DER FLUCH DES GELBEN KUCHENS

Eine Fan-Fiction-Story aus der Vergangenheit der Harry-Potter-Serie

E-Mail: hpfan@thorsten-oberbossel.de
http://www.thorsten-oberbossel.de

Copyright © 2008 by Thorsten Oberbossel

__________

Vorige Story

P R O L O G

Aurora Dawn steckt nun schon mitten im zweiten Jahr ihrer Ausbildung zur magischen Heilerin. War das erste Jahr schon anstrengend, so erweist sich das zweite Jahr für sie als eine Mischung aus anstrengender Lauf- und Lernarbeit, ständiger Konzentration auf die ihr an echten Patienten vorgeführten Heilzauber und öde Schreibarbeit. Ihre Mentorin hält sie ständig auf Trab, um sie möglichst viel in kurzer Zeit und trotzdem nachhaltig genug erlernen zu lassen. In den Weihnachtsferien erholt sie sich bei ihren Eltern und Freundinnen aus Hogwarts-Zeiten, die jedoch selbst mit eigenen Familienangelegenheiten zu tun haben. Das zweite Halbjahr beginnt im Grunde wie das erste aufhörte, von den obligatorischen Zwischenprüfungen abgesehen. Die Arbeit mit echten Patienten, die ihr zu Beginn viel Überwindung und Beherrschung abverlangt, ist sie nun gewöhnt. Doch manchmal kommt sie sich schon wie eine Heilerin im Praktikum vor, wenn ihre Mentorin sie für kleinere Therapien abstellt und nur deren Ergebnisse überprüft. Die Neigung zur Zaubertrankbraukunst und Kräuterkunde hilft ihr, fast spielerisch neue Tränke zu brauen und Kombinationen aus bereits bewährten Elixieren und Tinkturen zu bilden. Jetzt sind es nur noch vier Monate, bis sie das laufende Ausbildungsjahr beenden wird.

__________

Annabel Mellow starrte entsetzt auf den Kamm in ihrer Hand. Ganze Strähnen ihres dunkelbraunen Haares hingen zwischen den eng beieinanderliegenden Zähnen. Sie hatte keinen Schmerz gefühlt. Sie starrte auf den Kamm wie auf eine tödlich giftige Schlange. Jetzt hatte es sie auch erwischt. Ihre Mutter Shirley, ihre Freundin Roshelle und ihr fester Freund Nigel hatten das auch schon abbekommen. Eigentlich hätte sie damit rechnen müssen, daß sie eine der nächsten war, die dieser merkwürdigen Erkrankung zum Opfer vielen. Bo, der Dorfälteste und nicht nur mit den europäischen Zaubern vertraut, sondern auch von den Weisen der Aborigines unterrichtet, hatte bis heute keine dunkle Magie aufspüren können, die das verursachte. Und die Heiltränke der alten Mab wirkten nicht.

"Irgendwas passiert hier, und wir können das nicht rauskriegen", dachte sie ängstlich. Seit über einhundert Jahren war Resting Rock ein ruhiges, friedliches Dorf von Hexen und Zauberern. Sie lebten sogar in Eintracht mit den Eingeborenenstämmen der Gegend. Bisher hatte ihnen niemand was zu Leide getan, nicht einmal die berüchtigten Shadelakes. Für die war Resting Rock mitten im Buschland zu unbedeutend. Hier wohnten nur einfache Hexen und Zauberer, die dem Trubel der Städte und den Muggeln entrinnen wollten. Ja, und seit ungefähr zwei Monaten wurden sie alle von diesem lautlosen, langsam wirkenden Übel heimgesucht. Bo sagte, daß es ein uralter Fluch sein mochte, den selbst er nicht kannte. Eigentlich hatten die Magier der Ureinwohner keinen Grund, ihnen was anzuhängen, weil sie mit den weißen Kindern einer anderen Magie in Frieden lebten. Nun hatte es auch sie erwischt. Annabel dachte sehr verängstigt daran, daß es vielleicht noch eine dritte Form der magie geben mochte, die weder die Erben keltischer und orientalischer Magier, noch die Naturmagier der Eingeborenen erkennen und bekämpfen konnten. Doch warum suchte diese bösartige Kraft Resting Rock heim? Das konnte und wollte sie nicht verstehen.

"Annie, bist du noch im Badezimmer?" Rief Annabels Mutter durch die verschlossene Tür. Das riß die gerade zwanzig Jahre alte Hexe aus ihrer Angststarre. Sie warf den Kamm ins Waschbecken und drehte das Wasser auf, um die ausgelösten Haare abzuwaschen und im Abfluß verschwinden zu lassen. Sie wollte ihrer Mutter nicht zeigen, daß sie nun auch zu den todgeweihten gehörte. Als das Wasser lief, fühlte sie den Durst, der sie in den letzten Tagen immer wieder plagte. Sie hielt ihren Mund unter den silbernen Wasserhahn und sog gierig das kühle Naß ein. Als sie fand, genug getrunken zu haben und der Kamm haarfrei gespült war, drehte sie das Wasser wieder ab und legte das Haarpflegeinstrument an seinen Platz zurück. Sie öffnete die Tür und sah ihre Mutter, die sie besorgt ansah.

"Du siehst blaß aus, Kind", sagte Shirley Mellow. Dann blieb ihr Blick an Annabels Kopf hängen. "Oh, hat es dich jetzt auch erwischt, Kind?" Fragte sie sehr besorgt. Annabell strich sich hastig durchs Haar und fühlte, wie eine mehrere Zoll lange Strähne dabei herausrutschte und an ihrer Stirn hängen blieb. Sie nickte ihrer Mutter betroffen zu.

"Der alte Sturkopf und seine eigensinnige Cousine werden uns alle dieser Pest opfern, nur weil sie sich weigern, Leute aus der Sana-Novodies-Klinik zu holen."

"Bo meint, das es doch ein alter Fluch der Aborigines sein könnte, Mum", seufzte Annabel.

"Wo der einen Großvater bei denen hat?" Knurrte Shirley Mellow. Ihre Tochter nickte nur.

"Mab meint, sie würde schon rauskriegen, welches Gift das ist oder welche Krankheitskeime", sagte Annabel. "Aber Jimmie ist tot. Die aus der Sano hätten dem besser geholfen als die alte Panscherin."

"Sie will nicht zugeben, daß sie seit fünfzig Jahren keine neuen Sachen mehr gelernt hat. Du hast ja noch gehört, was sie bei der letzten Versammlung gesagt hat: "Es gibt schon genug Mittel gegen alle erdenklichen Krankheiten, und Zauber gegen Flüche. Was soll ich mich da von jungen Wichtigtuern belehren lassen wie ein Schulmädchen?""

"Mum, du hast fast keine Haare mehr am Kopf", stellte Annabel fest und zuckte erschrocken zurück, als sie im Gesicht ihrer Mutter merkwürdige rote Pusteln sehen konnte.

"Ja, ich weiß, Annie, mit mir geht das jetzt so los wie mit Jimmie Wagtail. Wir können hier aber nicht einfach weg und in die Sana-Novodies-Klinik, weil Bo verboten hat, daß irgendwer das Dorf verläßt, solange Mab nicht ganz ausschließen kann, daß es eine Seuche ist."

"Sie bringen uns damit alle um", stieß annabel aus. "Nicht mal unsere Lachvögel dürfen wir losschicken."

"Ich sehe nicht dabei zu, wie du und meine Freunde von diesem Übel langsam umgebracht werdet. Ich bringe dich heute noch zu den Heilern von Sana Novodies. Nach dem Abendessen nehmen wir den großen Besen. Wir müssen aufpassen, daß wir Bos Begrenzungszauber umfliegen können."

"Den hat's doch auch erwischt, Mum. Gestern habe ich ihn sehr geschwächt am Dorfbrunnen sitzen gesehen", sagte Annabel. "Er hat auch schon diese roten Pusteln."

"Der war schon immer ein Sturkopf", knurrte Shirley Mellow. "Aber ich sehe es mir nicht an, wie du so qualvoll krepierst wie Jimmie Wagtail."

Am Abend, als die Sonne unterging, hörten sie den alten Bo im Dorfzentrum magische Gesänge der Aborigines anstimmen. Offenbar dachte der Enkelsohn eines Magiers der Ureinwohner daran, die bösen Kräfte aus dem Dorf zu jagen. Doch er wußte bisher nicht, ob es Wesen aus der Geisterwelt oder statische Flüche aus der Zauberei Europas, Afrikas und Vorderasiens waren.

"Wir müssen warten, bis er aufhört. Sonst durchdringen wir seine Magie, und er merkt, daß wir weg wollen", wisperte Shirley Mellow ihrer Tochter zu. Doch es dauerte noch zwanzig Minuten, bis Bo mit seinem Gesang aufhörte. Fünf Minuten später saßen die beiden erkrankten Hexen auf einem großen Besen und flogen rasch in die vom Kreuz des Südens beherrschte Nacht hinaus.

__________

5. April 1986

Hallo Wendy! Heute war wieder ein sehr anstrengender Tag. Meisterin Herbregis hat mich alle möglichen Heilzauber an leicht erkrankten Patienten ausprobieren lassen. Habe alles in das Lerntagebuch eingetragen. Richtig schwierig war der Zauberer zu behandeln, der meinte, mit einem Trank seine Gewandtheit erhöhen zu können und wegen eines Anteils Schlangenblut grüne Schuppen und eine dreimal so lange Zunge wie üblich abbekommen hat. Auch das vierarmige Mädchen, das auf Grund eines Wutausbruchs seiner kleinen Schwester entstanden war, hat mich schon viel Konzentration gekostet. Jetzt habe ich es kapiert, daß magische Heilkunst eine verdammt schwere Sache ist. Aber ich bin auch klar davon überzeugt, daß ich genau das lernen und dann auch machen will. Bis morgen!

Die junge Lernheilerin schloß ihr privates Tagebuch, das sie wegen des leichteren Eintragens Wendy nannte. Es war ein Geschenk ihrer Oma Regan und konnte so verschlossen werden, daß nur die erste Person, die dort etwas eingetragen hatte, es wieder öffnen und lesen konnte. Sie legte es zurück in den Nachtschrank und verschloß auch diesen. Sie blickte zu dem großen Vollportrait von sich selbst hinauf und bestellte diesem, ihren Eltern auszurichten, daß sie sich nochmals entschuldigte, nicht über Ostern nach Hause kommen zu können, weil sie die hier gelernten Sachen in den Ruhepausen wiederholen wollte, um die stressigen Runden und Übungen geordnet abzuhaken. Nebenbei bestellte sie für ihre ehemalige Schulkameradin Eunice noch die nötige Ruhe, wo ihre Drillinge im Krabbelalter waren und auch schon die ersten Zähne bekommen hatten. Dann legte sie sich schlafen.

__________

Aurora Dawn blickte auf den Kopf der vor einer Stunde eingelieferten Patientin, deren Sohn sie als Luella Fairsky vorgestellt hatte. Sie hatte kein menschliches Haar auf dem Kopf, sondern schwarz-weißes Fell, das ihr Gesicht mit dem breiten Mund überzog. Kleine Hörner sprossen aus der Stirn der Hexe, die auf der schwebenden Trage angeschnallt lag. Die silberblonde Heilerin Bethesda herbregis tauschte mit einem Kollegen aus der Abteilung für verunglückte Zauberei einige Blicke aus, während Aurora so beherrscht sie konnte auf die Patientin blickte, die unter einer dünnen Wolldecke lag.

"Ich habe ihr immer schon gesagt, sich einen neuen Zauberstab zuzulegen", redete ihr Sohn, ein Zauberer Anfang vierzig, auf die Heiler ein. "Aber nein, die muß die morsche Krücke ihrer Mutter benutzen. Jetzt haben wir den Salat."

"Es besteht kein Grund zur Panik", sagte Heilerin Herbregis energisch. "Zauberstabversager und verunglückte Verwandlungen sind für uns Routine."

"Die wollte weder sich noch wen anderen verwandeln", knurrte Mr. Fairsky. "Die wollte apparieren und ist mitten in einer Schafherde herausgekommen.Der Muggel, der sie dabei gesehen hat, mußte Gedächtnismodifiziert werden. Es sah erst so aus, als wäre sie einfach nur versprungen. Aber gestern fing sie an, mit blökendem Unterton zu sprechen und überall Fell anzusetzen. Gestern Abend kamen die Hörner durch", stieß Fairsky ungehalten und Nervös aus und deutete auf die für Menschen unnatürliche Zierde am Kopf seiner Mutter. Aurora sah ihn noch einmal an. Er war leicht untersetzt, dunkelblond mit erhöhter Stirn und dunkelgrünen Augen links und rechts einer vorspringenden Nase.

"Ach, Sie meinen, Ihre Mutter sei durch das auftauchen in einer Schafherde so verändert worden?" fragte Egon Lightfoot, der Experte für verunglückte Zaubereien.

"Sie hat erzählt, daß sie auf dem Rücken eines Schottischen Schwarzgesichtschafes appariert sei und vor Schreck gleich wieder disapparierte", sagte Mr. Fairsky.

"Gehehehenahahau", gab die Patientin mit einer Mischung aus Meckern und Blöken zur Antwort.

"Mum, sag bitte nichts, bis sie dich dazu auffordern!" Maßregelte sie ihr Sohn. Aurora fand das zwar etwas ungehörig. Doch sie hatte im Moment nichts zu sagen, sondern erst zuzusehen, was passierte. Das war ihr erster Lernfall, wo ein Mensch auf halbem Weg zwischen Ausgangsgestalt und einer Tiergestalt festhing.

"Öhm, hat die Patrouille für die Behebung magischer Unglücke den Muggel gefragt, wie viele Tiere er hatte?" Wollte Bethesda Herbregis wissen.

"Nöh, die sind erst los, als meine Mutter wieder zurückgekehrt ist. Sehen Sie hier, der Zauberstab ist an zwei Stellen leicht angeknackst. Den hat meine Großmutter schon vor siebzig Jahren benutzt."

"Oha, Eberesche, womöglich noch mit Einhornschweifkern", stöhnte Lightfoot. "Die neigen gerne dazu, nach fünfzig Jahren Fehlzauber zu produzieren."

"Habe ich meiner Mutter auch hundertmal gesagt, Sir. Aber die will es nicht wahrhaben", knurrte Fairsky, während seine Mutter entrüstet meckerte:

"Dahahahamit kohonnte meheine Muhuhutter guhuhut zaubähähähärn."

"In Ordnung, Mr. Fairsky. Bitte überlassen Sie meinem Kollegen den Zauberstab Ihrer Mutter! Ich selbst kümmere mich um Ihre Mutter. Meine Schülerin Aurora Dawn wird dem Heilungsprozeß beiwohnen", stellte Bethesda Herbregis klar.

"Ich verstehe, daß Sie neue Leute anlernen müssen. Aber meine Mutter ist nicht ganz unwichtig, Madam", knurrte Mr. Fairsky. "Ich möchte nicht, daß sie zur Fallstudie degradiert wird."

"Zum ersten, Sir, sind in dieser Einrichtung alle Patienten und Patientinnen gleichwichtig", setzte Meisterin Herbregis sehr ungehalten an. "Zum zweiten behandeln wir hier niemanden, der unsre Hilfe braucht als bloßes Studienobjekt, Sir. Es ist eben so, daß wir einen Bildungsauftrag der Heilzunft haben und die angehenden Heilerinnen und Heiler an realen Vorfällen zu unterweisen, die in unserer Einrichtung behandelt werden. Mit der Einlieferung Ihrer Mutter haben Sie sich damit einverstanden erklärt, daß unsere Adepten bei der Behandlung anwesend sein dürfen. Ich sagte Ihnen nur, wie meine derzeitige Schülerin heißt, damit Sie wissen, wer sich um Ihre Mutter kümmert."

"Sehen Sie zu, daß meine Mutter in spätestens einer Woche wieder normal ist! In zwei Wochen findet ein wichtiger Kongreß in Darwin statt. Da muß sie bei sein."

"Sir, wir müssen erst klären, was ihr widerfahren ist. Dann können wir mit einer Therapie beginnen. Ob wir Ihre Mutter morgen oder erst in einem Monat oder überhaupt heilen können, weiß ich noch nicht. Außerdem können Leute wegen schwerer Erkrankungen immer noch entschuldigt werden."

"Entschuldigung, Madam. Ich wollte nicht in Ihre Kompetenzen reinreden", knurrte Fairsky. Der Blick Bethesda Herbregis' hatte den aufgebrachten Zauberer sichtlich eingeschüchtert.

"Reinreden könnten Sie mir schon. Aber nicht verlangen, daß ich mich davon nervös machen lasse", erwiderte meisterin Herbregis kalt. Dann sagte sie noch: "Und damit wir keine Zeit verlieren sollten wir diese Diskussion beenden."

"Wie Sie meinen, Mrs. Herbregis", knurrte Fairsky. "Soll ich noch irgendwelche persönlichen Dinge herschaffen?"

"Haben Sie das noch nichtt?" Fragte Lightfoot verblüfft. Der Sohn der auf der Trage liegenden Hexe schüttelte den Kopf und errötete leicht. "Dann holen Sie mal was Ihre Mutter in den nächsten Tagen brauchen könnte, wenn wir die verunglückte Verwandlung wieder umkehren können!" fügte Lightfoot dann noch hinzu. Er nahm den leicht angeknacksten Zauberstab an sich und ging mit Mr. Fairsky davon.

"Kommt die Patientin jetzt zu Heiler Lightfoot?" Fragte Aurora Dawn.

"In seiner Station sind noch ein paar Betten in den Frauenzimmern frei. Aber bevor wir sie dorthin verfrachten bringen wir sie erst in den Diagnoseraum!" Wies Meisterin Herbregis Aurora an.

"Geheheben Siehiehie mihihir Alrahahahaunentrank!" Gab Mrs. Fairsky von sich. Aurora Dawn und ihre Mentorin schüttelten jedoch die Köpfe.

"Die haben das in der Schule alle gelernt, daß Alraunentrank das Wundermittel gegen verunstaltende Zauber und Verwandlungsunfälle sei", knurrte Meisterin Herbregis. "Aurora, sage der Dame bitte, warum wir nicht so einfach mit Alraunentrank hantieren!"

"Madam, das ist schon richtig, daß Alraunentrank bei vielen Verunstaltungen oder Körperbeeinflussungsflüchen hilft. Aber wenn jemand durch einen Magieunfall verändert wird, müssen wir den Prozeß als solchen ergründen und womöglich mit genau gegengerichteten Zaubern arbeiten, um die Auswirkungen zu beseitigen."

"Genau so ist es", sagte Bethesda Herbregis. "Wir müssen klären, ob Sie durch eine Verwandlung, einen Fluch oder einen Zauber anderer Art in diese Lage geraten sind und darauf die korrekte Behandlung aufbauen."

"Blöhöhödes Schahahahaf!" Blökte Mrs. Fairsky.

"Okay, dann in Diagnoseraum zwei", sagte Aurora Dawn. Sie ließ die trage neben sich her zu einem der vom Personal benutzten Aufzüge schweben, wo ihr die gerade ein Dreivierteljahr als Heilerin im Praktikum arbeitende Jill Trylief über den Weg lief.

"Hi, Aurora. Hat die große Meisterin dich mit einem Patienten allein losgeschickt?"

"ich möchte sie in einen Diagnoseraum bringen, Jill. Stimmt das, daß du gestern Vierlinge auf die Welt geholt hast?"

"Erzähle ich dir später mal, wenn wir Mittagspause haben", erwiderte Jill und winkte ihr noch einmal zu.

"Mäh", machte Mrs. Fairsky. Aurora fragte sich, ob das vom bloßen Apparieren mitten in einer Schafherde herkommen konnte.

"Wir kriegen Sie wieder hin, Mrs. Fairsky", versuchte Aurora, die Patientin aufzumuntern. Es war schon unheimlich, was sie in dem schon zu drei Vierteln verstrichenen Jahr mitbekommen hatte. Sie hatte einen Mann mit zwei Köpfen erlebt, der versucht hatte, sein Äußeres mit Zauberkraft aufzubessern. Nach einem Tag konnten sie ihn heilen. Sie hatte eine Hexe gesehen, die mit selbstgemischten Schminksachen herumgemurkst hatte und deshalb eine ständig die Farben wechselnde Gesichtshaut bekommen hatte. Daneben waren die körperlich bedingten Erkrankungen noch harmlos, und sie hatte sich an Aussehen und Geruch von Blut und Ausscheidungen aller Art gewöhnt. auch wenn Meisterin Herbregis ihr körperlich, geistig und seelisch eine Menge mehr abverlangte als anderen, war sie immer noch davon überzeugt, Heilerin werden zu wollen. Sie mußte halt nur aufpassen, Patienten nicht als Fälle zu sehen, sondern als Menschen, die ihre Hilfe brauchten und sich auf sie verlassen mußten. Der Vorwurf von Fairsky eben hatte sie schon arg ins Herz gestochen. Zum Glück hatte ihre Mentorin ihm ja die passende Antwort gegeben.

Als Mrs. Fairsky nun im Diagnoseraum auf einem dick gepolsterten Behandlungstisch lag konnte Aurora sehen, daß der ganze Körper der Hexe mit einer schwarz-weißen Wollschicht bewachsen war. Die Hände und Füße der magisch verunstalteten Hexe glichen schon eher Klauen als menschlichen Gliedern. Als Meisterin Herbregis hinzustieß fragten sie Mrs. Fairsky, was genau sie getan hatte, bevor es zu dieser Verwandlung kam. In einer halb blökenden, halb schrill meckernden Art berichtete Mrs. Fairsky, daß sie auf dem Rücken eines Schafes appariert war und sich nach den zwei Schrecksekunden davon wieder abgestoßen hatte um zu disapparieren. Sie hatte danach sofort die Patrouille gegen verunglückte Magie alarmiert, die dem total verwirrten Schäfer eine ihn beruhigende Gedächtniskorrektur verpaßt hatten. Aurora Wunderte sich, daß hier in Australien, wo riesige Schafweiden existierten, überhaupt ein Hüter dabei war. Bethesda Herbregis klärte sie auf, daß sie die Osterlämmer aussuchten. Aurora verzog das Gesicht. Sie mochte sich das nicht vorstellen, wie ein gerade wenige Tage altes Jungtier von irgendwem ausgesucht wurde, nur weil es Tradition war, zu Ostern sein Fleisch zu essen. Andererseits war Aurora keine Vegetarierin und empfand es als für den Gesamtkörper wichtig, auch tierische Eiweiße zu sich zu nehmen. Also durfte sie sich nicht sonderlich darüber aufregen.

"Sie sind von dem Tier heruntergesprungen und dann disappariert?" Fragte Aurora Dawn, als Meisterin Herbregis sie auffordernd anblickte.

"Nehehehein, bihin ich nihihicht. Bin sofohohohort los", rang sich Mrs. Fairsky eine einigermaßen verständliche Aussage ab.

"Oha", machte Aurora. Ihre Mentorin nickte ihr energisch zu. "Haben Sie das Tier mit dem Zauberstab berührt?" Mrs. Fairsky blökte ein Ja.

"Oha, hatten wir lange nicht mehr. Eine taktil induzierte Transitfusion", sagte Meisterin Herbregis.

"Wahahas?" Fragte die Patientin, die sich immer mehr in ein Schaf zu verwandeln schien.

"Sie haben das Schaf mit dem Zauberstab berührt und beim disapparieren darin eingesaugt und sich damit verschmolzen", sagte Aurora. "Hat aber wohl einige Zeit gedauert, bis die Verwandlung eingesetzt hat."

"Ganz richtig, Aurora. Offenbar mußte das in Mrs. Fairsky integrierte Schaf aus der Schockstarre aufwachen. Erst dann setzte die Teilverwandlung ein. Wie weit sie voranschreitet können wir nicht sagen. Mag sein, daß Sie sich komplett in ein Schaf verwandeln oder auf einer Zwischenstufe verharren. Es hat Fälle gegeben, wo solche Verschmelzungen mit überalterten Zauberstäben zu reinen Verhaltensänderungen führten oder der betroffene Mensch vollständig die Gestalt dessen annahm, was er berührt hatte. Wir können das nicht mit Alraunentrank behandeln, weil es ein voranschreitender Effekt ist, der auch von Erfahrungsschatz und körperlicher Verfassung des Tieres abhängt, mit dem Sie sich aus Versehen vereinigt haben, Mrs. Fairsky", erläuterte Meisterin Herbregis noch.

"Wie kann man sowas wieder umkehren?" Fragte Aurora Dawn.

"In dem wir ermitteln, wie stark der Vorgang ist und wenn wir es schaffen, die beiden Einzelwesen zu trennen", erwiderte Meisterin Herbregis darauf. "Dazu müssen wir mehr über das Schaf wissen. Zumindest war es kein Bock, weil diese fließende Verwandlung dann nicht stattfinden könnte, ohne daß Mrs. Fairsky große Schmerzen hätte. Womöglich war es ein Muttertier."

"Das der Hüter das nicht gemerkt hat", wunderte sich Aurora Dawn.

"Die Unfallumkerhtruppe hat wohl nicht darauf geachtet, wie viele Tiere gerade in dem Auswahlpferch versammelt waren", seufzte Meisterin Herbregis. "Aber jetzt interessiert es mich, wie stark die voranschreitende Verwandlung ausfällt und ob wir sie nicht jetzt schon anhalten können. Wie machen wir das?"

"Die Lancaster-Waxman-Prüfung", erwiderte Aurora Dawn sehr sicher. Ihre Lehrmeisterin nickte bestätigend. Vom Behandlungstisch her kam ein ungehaltenes "Muööh". Aurora fragte Bethesda Herbregis, ob die geistige Umwandlung schon weit fortgeschritten sei.

"Das kann geschehen, wenn jemand sich seinen Emotionen hingibt und ein versehentlich mit sich verschmolzenes Tier dadurch seine Instinkte entfalten kann", erklärte Auroras Mentorin. Dann blickte sie noch einmal auf den Körper des weiblichen Wesens auf dem Tisch. Sie wiegte den Kopf und zog dann den Zauberstab. Aurora sah ihr genau zu. sie Hatte das Verfahren bereits unter Einfluß des Elixiers der mannigfaltigen Merkfähigkeit gelernt und das vergangene Halbjahr häufig mit niederen Tieren verschiedener Arten ausprobiert. Damit konnte eine verunglückte Verwandlung darauf geprüft werden, ob sie erstens vollendet war oder voranschritt und zweitens eine magische Verschmelzung zwischen zwei Lebewesen oder eine verunglückte Verwandlung war. Sie hörte die Worte, die den Zauber aufbauten, steuerten und einwirken ließen. Mrs. Fairsky wand sich in den breiten Gurten, mit denen sie vorsorglich am Tisch angeschnallt war. Kleine Blitze zuckten prasselnd zwischen Zauberstab und Patientin hin und her. Dabei erschien es Aurora, als würde Mrs. Fairsky immer durchsichtiger und zu einer großen Dunstwolke. Dann konnte Aurora deutlich zwei schemenhafte Gebilde sehen, die durch flirrendes blaues Leuchten zusammengehalten wurden. Sie konnte eine Frauengestalt und den wabernden Körper eines Schafes erkennen, wobei die Frauengestalt durchsichtiger und nebelhafter war als die des Schafes. Mit drei schnellen Gesten des Zauberstabes brachte Bethesda Herbregis die heraufbeschworene Erscheinung dazu, sich in die halb umgewandelte Luella Fairsky wiederzuverstofflichen.

"Schreib auf, daß das ein subhumanisierender Prozeß ist, Aurora. Wir müssen in spätestens einem Tag die entsprechende Gegenmaßnahme finden und anwenden, sonst könnte Mrs. Fairsky vollständig in ein überlebensgroßes Schaf umgewandelt werden. Wenn dann die Wesensdurchdringung auf nichtkörperlicher Ebene stattfindet, können wir sie wohl nicht mehr zurückbringen. So einen Fall hatten wir hier noch nie."

"Woran liegt sowas, Meisterin Herbregis?" Fragte Aurora Dawn etwas betrübt. Sie hatte zwar gelernt, sich niemals zu nahe mit den hier zu behandelnden Erkrankungen und Verletzungen zu befassen. Doch daß eine Verwandlung unumkehrbar sein könnte wog doch schon etwas schwer.

"Koinzidenzen, die wir unbedingt herausfinden müssen, Aurora. Mrs. Fairsky ist unabsichtlich mit einem Tier fusioniert, daß sich mit ihr mir noch nicht bekannte Eigenschaften teilt", erwiderte Meisterin Herbregis. "Kannst du mir bitte aus der Aufnahme alle eingereichten Unterlagen über Mrs. Fairsky herholen? Ich prüfe derweil, ob sie auf den Lentavita-Zauber anspricht. Den kennst du ja schon im Schlaf."

"Natürlich, Meisterin Herbregis", bestätigte Aurora und verließ den Diagnose- und Behandlungsraum.

Unterwegs zur Rezeption dachte sie über alles nach, was sie im zweiten Ausbildungsjahr noch so erlebt, erlernt und erprobt hatte. Ein paar Behandlungen durfte sie sogar schon selbst durchführen. Sie hatte auch schon Tränke für die verschiedendsten Anwendungen gebraut und mehrere heimliche und offizielle Prüfungen bestanden, unter anderem auch in Konfliktbewältigung, was Meisterin Herbregis für eines der Schlüsselfertigkeiten eines Heilmagiers ansah. Sie hatte es doch eben erst wieder mitbekommen, wie gereizt die Angehörigen von Patienten auftraten, weil sie Angst um ihre Lieben hatten. Sie hatte lernen müssen, auch ohne den Gedächtnis vervielfachenden Trank von Beaumont alle störenden Emotionen auszusperren, um sich voll und ganz auf Beobachtung, Schlußfolgerung und Durchführung konzentrieren zu können.

"Hi Aurora, hat die große Meisterin dich in die Pause geschickt?" fragte Daisey Nettles auf dem Weg zur Rezeption. Daisey war jetzt Heilerin im Praktikum und trug die hier übliche himmelblaue Arbeitskleidung der Sana-Novodies-Klinik, während Aurora die grüne Tracht der Auszubildenden trug.

"Ich soll Unterlagen holen, um mehr über eine Patientin zu wissen, Daisey. Von Pause hat sie nichts gesagt", erwiderte Aurora Dawn.

"Hätte mich auch gewundert", grinste Daisey und winkte zum Abschied, um an ihren Arbeitsplatz zu eilen.

"Luella Fairsky?" Fragte die ältere Heilerin am Empfang, nachdem sie die schalldichte Trennscheibe zwischen sich und den Besuchern auf der anderen Seite der Theke hochgefahren hatte. "Gut, daß deine Mentorin das übernommen hat. War ein wenig schwierig, der Sohn von ihr. Aber Luella Fairsky ist ja auch nicht irgendeine Hexe."

"Für Meisterin Herbregis ist sie so wichtig oder unwichtig wie jeder andere Patient hier", erwiderte Aurora Dawn.

"Das ist schon korrekt, daß wir hier alle gleichbehandeln müssen, vom kurz vor der Geburt stehenden Kind bis zur Zaubereiministerin", seufzte die Kollegin vom Empfang. "Nur daß Luella Fairsky in zwei Wochen die Zaubereiministerin Rockridge zum internationalen Hexenkonvent nach Darwin begleiten soll. Der tagt nur alle fünf Jahre auf einem der fünf besiedelten Kontinente."

"Achso, und unsere Ministerin braucht eine Übersetzerin", vermutete Aurora.

"Das nicht. Aber sie braucht eine Expertin für Südamerikanische Zaubereigeschichte, weil da auch über die gefundenen Zaubergegenstände der Inkas, Azteken und der namentlich nicht bekannten Kulturvölker gesprochen wird. Nur damit du weißt, wen ihr da gerade wieder hinkriegen müßt."

"Krankheiten und Unfälle kommen immer ungünstig, egal zu wem", rezitierte Aurora einen Ausspruch ihrer Lehrmeisterin.

"Tja, das ist leider richtig", stimmte die Kolegin von der Rezeption ihr zu. Dann holte sie die eingereichten Unterlagen, von denen sie bereits vier Kopien gemacht hatte: Für das Archiv der Klinik, das Archiv der Heilerzunft, den Patienten und den behandelnden Heiler.

"Meister Lightfoot wollte gleich noch Angaben über den Zauberstab der Patientin Fairsky nachreichen, Aurora. Könnte in fünf Minuten soweit sein."

"In Ordnung, dann warte ich hier", erwiderte Aurora Dawn. Sie mentiloquierte Meisterin Herbregis, daß sie noch auf die Prüfungsergebnisse des Zauberstabs warten wolle, um Vollständige Ergebnisse zu haben.

"Komm dann auf dem kürzesten Weg zu mir, bitte vor die Tür", antwortete Bethesda Herbregis unhörbar.

"Es dauerte zehn Minuten, bis Egon Lightfoot mit den Prüfungsergebnissen zurückkehrte.

"Ah, Aurora, habt ihr die LWP schon gemacht?" Fragte er.

"Ja, haben wir. Meisterin Herbregis drängt zur Eile. Wir müssen in einem Tag herausbekommen, welche Koinzidenzen bei dem Unfall auftraten. Deshalb wollte ich Ihre Prüfungsergebnisse mitbringen."

"Da könnte schon was dranhängen. Die gute Mrs. Fairsky hat dem Schaf beim fluchtartigen Disapparieren über den Rücken gestreichelt und das Tier dabei wohl in den Transfer mitgenommen. Näheres bespreche ich mit ihr persönlich", sagte Heiler Lightfoot.

"Falls Sie jetzt können, wäre es vielleicht günstig", erwiderte Aurora Dawn. Lightfoot überlegte, nickte dann und folgte ihr zum Diagnose- und Behandlungsraum zwei.

"Also diesen Zauberstab behalten wir gleich ein", stellte Bethesda Herbregis unumstößlich klar, als ihr Kollege ihr erzählte, wie die Verschmelzung passiert sein konnte. Mrs. Fairsky blökte ungehalten. Sie ähnelte immer mehr einem schwarzgesichtigen Schaf. Dann sagte Egon Lightfoot:

"Sie haben ein weibliches Tier mit in ihre Disapparition genommen, es mit dem Zauberstab quasi zu einem Teil von sich werden lassen. Aber warum die Umwandlung so stark verläuft ist damit noch nicht vollständig erklärt."

"Wir brauchen vielleicht mehr Angaben über das Tier", wandte Aurora schüchtern ein. Ihre Mentorin sah sie erst leicht ungehalten an, weil diese sich unaufgefordert zu Wort gemeldet hatte. Doch dann nickte sie anerkennend.

"Das entbehrt nicht einer gewissen Logik", sagte die altgediente Heilerin. "Uns nur mit den Gegebenheiten der Patientin zu befassen kann nicht alles erklären. Wissen wir, wo dieses Tier ursprünglich war?" Fragte sie Lightfoot. Dieser deutete auf die mitgebrachten Unterlagen. Meisterin Herbregis nahm sie und las laut vor, während die am gepolsterten Behandlungstisch angeschnallte Mrs. Fairsky ungehalten verärgert dreinschaute und immer wieder ihren Widerwillen bekundete, über sie so viel zu erzählen:

"Luella Fairsky geborene Corncracker, Geboren am 17. September 1937 in Crystal Creek, Westaustralien, Besuchte die Redrock-Akademie vom 1. September 1949 bis zum 1. Juli 1956, wo sie im Haus Gemmeheart wohnte. Heiratete 1959 Peter Fairsky, Leiter des Portschlüsselmeldebüros. Geschwister: Keine. Eigene Kinder: Orville (1960), Augustus (1963), Wilhelmina (1967) und Sylvia (1970). Von ihrem ältesten Sohn Orville und dessen Ehefrau Edwina hat sie zwei Enkelsöhne, Clyde und Wilbur (Beide 1981). Konnte neben ihren Familienpflichten weiterführende Zaubereigeschichte studieren und ist heute Expertin für präkolumbianische Zauberkunst und Ritualmagie. Sie spricht neben Englisch Spanisch, Portugiesisch, Gälisch und diverse Indianersprachen. Außer während ihrer Schwangerschaften und nachgeburtlichen Betreuung gibt es keinen heilkundlichen Vorgang über sie."

"onverschöhöhöhmthoihihit!" Beendete Mrs. Fairsky diese kurze Vorlesung mit einem ungehaltenen Blöken.

"Ich habe das jetzt mal überhört, Mrs. Fairsky", erwiderte Bethesda Herbregis. Lightfoot sah die Patientin an und prüfte seine eigenen Unterlagen über Art und Brauchbarkeit des Zauberstabes und die Resultate der letzten damit gewirkten Zauber.

"Also der Zauberstab ist längst ausgedient. Eberesche verwenden nur Billiganbieter. Und nach der Untersuchung des Kernmaterials hat der Verkäufer Ihnen eine Mischung aus dem Schweif einer jungfräulichen Einhornstute und eines mindestens zweihundert Jahre alten Einhornhengstes angedreht. Ich behalte mir vor, den Händler anzuzeigen, der einen derartig unzuverlässigen Stab verkauft hat. Ich verstehe nicht, wie Sie damit so lange unfallfrei zaubern konnten."

"Löhöhögt nöhöcht öm Staööb", rang sich Mrs. Fairsky eine Antwort ab.

"Das sehen wir von der Abteilung zur Behebung von Unfällen mit Zaubergegenständen aber ganz anders", entgegnete Lightfoot sehr entschieden. "Sie haben das Schaf, mit dessen Körper sie unbeabsichtigt verschmolzen, förmlich in den Stab eingesaugt, als sie disapparierten. Alle dokumentierten Apparitionsunfälle mit Körperverschmelzungen beruhten auf sehr alten, aus minderwertigem Material zusammengefügten Zauberstäben. Ich mache meinen Job hier schon lange genug, Mrs. Fairsky. Bitte glauben Sie mir, daß Ihr Stab schon vor zwanzig Jahren ausrangiert gehört hätte. Stand in den Unterlagen was drin, ob ihre Eltern sich keine guten Zauberstäbe leisten konnten?" Fragte er Bethesda Herbregis. Aurora empfand das als gemein der Patientin gegenüber. Meisterin Herbregis schüttelte den Kopf und blätterte in den vier Seiten, um ihrem Kollegen zu zeigen, daß Luella Corncracker nicht das Kind armer Eltern war. Sie hatten es nur nicht nötig, ihr einen nagelneuen Zauberstab zu besorgen. Dann diskutierten die beiden ausgebildeten Heiler über die Möglichkeiten, wie die voranschreitende Verwandlung umgekehrt werden konnte, bis Bethesda Herbregis noch einmal auf Auroras Einwurf zurückkam.

"Wir waren uns ja auch schon so gut wie einig, daß wir alles verfügbare über das betroffene Schaf erfahren sollten. Aurora, du wirst dich nachher zu dem Pferch begeben, wo unsere Patientin versehentlich apparierte. Dort selbst wirst du den Muggel befragen, der für diese Tiere verantwortlich ist. Sicher dürfte ihm schon aufgefallen sein, daß er ein Tier zu wenig in seiner Herde hat."

"Was passiert mit Mrs. Fairsky?" Fragte Aurora.

"Wir prüfen, ob ihr Körper den Lentavita-Zauber verträgt und verzögern hoffentlich damit die progressive Metamorphose", antwortete Auroras Mentorin. Dann machte sie einige Zauberstabbewegungen über der patientin, die widerwillig auf dem Tisch herumrutschte. Aurora kannte diese Prüfung ebenso schon. Sie hatte sie sogar mehrmals an innerlich verletzten Patienten angewendet. Dann erklang das Zauberwort "Lentavita", und Mrs. Fairskys Bewegungen wurden so träge, als sei sie in unsichtbarem Sirup gefangen.

"In Ordnung, Meisterin Herbregis. Ich reise direkt dahin, wo dieser Pferch steht", sagte Aurora.

"Halte bitte die Muggelgebiets-Mindestentfernung zum Ziel ein!" Wies ihre Mentorin sie noch an. Aurora schluckte eine trotzige Antwort hinunter und nickte. Sie hatte mit ihrer Meisterin in diesem Jahr schon häufig in die Nähe von Muggelhäusern apparieren müssen. Tarn- und Gedächtniszauber hatte sie dabei so gut gelernt, daß die entsprechende Prüfung im Fach Muggelabwehrvorkehrungen sicher kein Problem für sie sein mochte. So ließ sie sich den ungefähren Standort geben, wie Mrs. Fairsky ihn bei der Ankunft verraten hatte, bevor die Verwandlung in ein Zwischending zwischen Schaf und Frau ihre Sprachfertigkeiten immer mehr beeinträchtigt hatte. Sie sah auf ihre uhr und rechnete aus, wie spät es in Westaustralien war: Genau drei Uhr nachmittags. Dann bat sie um die Erlaubnis, den Außeneinsatz durchführen zu dürfen, wie es die Vorschriften der Sana-Novodies-Klinik von einer Heilkunstadeptin verlangten. Meisterin Herbregis stellte ihr schriftlich die Anweisung für die Befragung des Schafhirten aus, machte davon drei Kopien und schickte sie auf den befohlenen Außeneinsatz.

Aurora wirkte zunächst den Tarnzauber, der ihre Erscheinung mit dem Hintergrund verschmelzen ließ, egal, aus welchem Winkel man sie betrachtete. Dann disapparierte sie so leise, daß nur ein feines Plopp zu hören war. Mit demselben Geräusch erschien sie, so gut wie unsichtbar, knappe fünfhundert Meter von einem mehrere hundert Meter langem Zaun entfernt. Von dem aus hörte sie das aufgeregte Blöken und Bähen großer und kleiner Schafe. Die Muttertiere riefen nach ihren Lämmern, die schon längst dem Osterfest geopfert worden waren. Doch nicht nur die Schäfer und einige Dutzend Hunde waren am Pferch, sondern auch ein paar ziemlich ungemütlich wirkende Männer in einheitlicher Kleidung, die wohl irgendwas amtliches zu tun hatten. Aurora atmete tief ein und aus, als sie sich darüber klar wurde, wie gut es war, nie näher als fünfhundert Meter an eine zu prüfende Muggelansiedlung heranzugehen, wenn kein Notfall das direkte Erscheinen am richtigen Ort verlangte. Sie ging ruhig weiter und blickte dabei die Schäfer und die uniformierten Leute an. Wie gerne hätte sie jetzt einen Weithörzauber gekannt, um zu belauschen, worüber die Männer sprachen. Sie sollte vielleicht bei der allmonatlichen Konferenz der Heiler und Lernheiler ab dem zweiten Jahr anregen, daß Leute, die Erkundigungen einholen sollten, mit Schallansaugrohren ausgestattet werden sollten, um aus sicherer Entfernung wichtige Gespräche von Muggeln mithören zu können. So mußte sie noch vierhundertfünfzig Meter weit laufen, bevor sie aus dem Blöken und Bähen der eingepferchten Schafe was heraushören konnte.

"... seit gestern weg. Aber das habe ich Ihren Kollegen schon erzählt", knurrte gerade ein Mann mit breitem Hut auf dem Kopf, der ihn vor der immer noch starken Sonnenstrahlung schützte. "Luella war unser bestes Muttertier. Die hat in den sieben Jahren, die wir sie haben schon vier Lämmer geworfen, zwei Böckchen und zwei Schäfchen. Und ihr ältester Sohn hat schon mit einem Sprung Zwillinge gemacht."

"Sie haben gesagt, vorgestern sei dieses Mutterschaf noch da gewesen und seit gestern wie in Luft aufgelöst verschwunden", grummelte einer der Uniformierten. "Wenn Sie uns schon dreihundert Meilen ins Hinterland rauskommen lassen, wegen eines verirrten Schafes ..."

"Ich hab's Ihren Kollegen gestern auch schon gesagt", knurrte der Mann mit dem breiten Hut, "daß ich keinen gesehen habe, der sich am Pferch zu schaffen gemacht hat und daß wir Luella im Pferch sicher eingesperrt hatten. Das Muttertier und der Bock, der sie viermal gedeckt hat, haben bei der panaustralischen Schafzüchterausstellung zweimal den Preis für die besten Eigenschaften eines Schottischen Schwarzgesicht-Schafes erhalten. Wissen Sie eigentlich wie Teuer ausgezeichnete Zuchtschafe sind?"

"Natürlich weiß ich das. Sonst hätten meine Kollegen und ich uns nicht noch mal hier in den Busch herausbequemt", grummelte der Sprecher der Uniformierten, während seine Kollegen den Zaun auf mögliche Durchlässe untersuchten und einer dabei fast von einem der dahinter patrouillierenden Schäferhunde angefallen worden wäre. Aurora stand nur da und sortierte ihre Gedanken. Das verschwundene Schaf hieß Luella? Es hatte vier Lämmer geworfen? Zwei Böckchen und zwei Schäfchen? Dann war dieses Mutterschaf auch noch viermal vom selben Schafsbock begattet worden. Sie zog sofort ihre Schreibunterlagen hervor und notierte rasch die gerade erlauschten Neuigkeiten, während einer der Uniformierten von irgendwas getrieben in ihre Richtung wanderte. Mehrere Hunde sammelten sich kläffend am Zaun und versuchten, darüber hinwegzuspringen. Aurora fühlte, daß sie nicht lange hier so herumstehen durfte. Sie fügte noch an, daß die Leute hier das verschwundene Schaf seit sieben Jahren hielten. Wie alt ein Hausschaf wurde wußte sie nicht. Aber jetzt war auch nicht mehr die Zeit, danach zu fragen. Sie sah, wie der uniformierte Muggel auf sie zuging. Gerade so hatte sie ihre Schreibsachen wieder fortgepackt, als der Fremde fast bei ihr war. Behutsam wich sie ihm aus. Für den Muggel mochte es so aussehen, als verwirbele Staub die Stelle, an der Aurora war. Wenn sie nicht zu schnell war, konnte er unmöglich eine Ahnung kriegen, daß da jemand gut getarntes herumwuselte. Disapparieren wollte und durfte sie in diesem Moment nicht. Wenn der Mann in der Uniform sie doch erkannte, mußte sie ihm mit einem Gedächtniszauber eine falsche Erinnerung einprägen. Tatsächlich änderte der Muggel seine Marschrichtung so, daß er jetzt wieder genau auf die getarnte Lernheilerin zuhielt. Diese hob den Zauberstab und murmelte "Maneto!" Dann sagte sie halblaut "Obleviate!" Der Muggel stand da, als sei das sein persönlicher Einfall gewesen und bekam einen weltentrückten Gesichtsausdruck. Aurora änderte seine Erinnerungen so, daß er einen Dingo gesehen und gerade so eben noch verscheucht hatte. Dann gab sie erst sein Denken und dann seine Bewegungsfähigkeit Frei. Keine Sekunde später disapparierte sie.

"Wir müssen noch mal Vergissmichs zu diesem Pferch schicken", begann Aurora ihren Bericht an Meisterin Herbregis. "Die suchen das verschwundene Schaf, weil es ein ergiebiges Muttertier ist, daß in den letzten sieben Jahren vier Lämmer geboren hat, zwei von jedem Geschlecht." Dann übergab sie ihrer Mentorin die Notizen, während sie schilderte, daß sie das alles ohne es selbst erfragen zu müssen erlauscht hatte. Bethesda Herbregis starrte auf die Notizen und bekam einen verdrossenen Gesichtsausdruck.

"Daher kommt das also. Unsre Patientin stimmt im Namen und ihren körperlichen Leistungen mit dem von ihr einverleibten Schaf überein. Daher findet ein Ausgleich zwischen den nicht übereinstimmenden Faktoren statt. Wir haben es also mit der seltenen Koinzidenz-Konvergenz-Komplikation nach Wendel, Waxman und Stonefield zu tun. Wie selten ist die?"

"Laut dem Buch, dessen Inhalt ich im Schnellverfahren gelernt habe kommt die nur zwischen verschwisterten Lebewesen gleicher Art vor oder wenn zwei artunterschiedliche Lebewesen über mindestens zwei gemeinsame Lebensmerkmale einander gleichen, wie zum Beispiel Geschlecht und Prozentwert des Lebensalters oder eben Erfahrungen und Vorlieben. Weil sie dann nur durch Apparition oder Dematerialisation- und Rematerialisation zusammengeführt werden, kommt diese Komplikation nur einmal in zwei Millionen Fällen vor, sofern keine gezielte Kreuzung beabsichtigt ist", sagte Aurora Dawn.

"Kennst du auch eine empfohlene Gegenmaßnahme?" Fragte Bethesda Herbregis.

"Noch nicht", erwiderte Aurora leicht verlegen.

"Bei der Menge von Überschneidungen fällt mir auch keine ein, die auf Anhieb greift", grummelte Meisterin Herbregis. "Aber wir werden etwas finden, was der bedauernswerten Mrs. Fairsky zu ihrem früheren Aussehen verhilft. Durch die Verlangsamung haben wir den Prozeß zumindest hinausgezögert. Es findet nämlich jetzt wohl auch eine Verschmelzung der Erlebnisse statt. Wenn die vollendet ist, können wir die Patientin nicht mehr in ihre ursprüngliche Form zurückführen. Sie hätte dann auf jeden Fall das Erinnerungsgut eines Schafes und dessen instinktives Verhaltensgerüst. Was Wendel, Waxman und Stonefield nämlich nicht erwähnt haben ist der Faktor, wenn mehr als vier sich gleichende Koinzidenzen auftreten. Hier haben wir gleich sieben: Das Geschlecht, den Namen, vier Kinder vom selben Vater und Zwillinge als Enkel. Ich frage mich jetzt, wie es zur Verwandlungsverzögerung kam."

"Ich wage es mal zu vermuten, daß das weibliche Schaf Luella gerade mit den postnatalen Pflichten befaßt war. "

"Ich werde alt, verdammt", grummelte Meisterin Herbregis. "Natürlich spielt die Reihenfolge der Kinder auch noch eine Rolle. Dieser Schäfer hat genau von zwei Böckchen und zwei Schäfchen gesprochen?"

"Genau so. Aber er hat keine bestimmte Reihenfolge erwähnt."

"Dann müssen wir das jetzt genau klären. Unter Umständen hängt die körperlich-geistige Wiederherstellung Mrs. Fairskys davon ab. Du hättest ruhig noch mehr in Erfahrung bringen können, Kind." Den letzten Satz hatte sie mit unüberhörbarem Ärger ausgesprochen. Aurora fühlte, wie das Blut aus ihren Wangen wich. Natürlich hätte sie wirklich alles erfragen müssen. In der Heilkunst war jede auch noch so unbedeutende Kleinigkeit entscheidend über schnelle Heilung oder unheilbare Erkrankung oder veränderung. sie wußte, daß sie nicht korrekt recherchiert hatte. Als ihre Mentorin sie mit einer energischen Handbewegung hinter sich herlotste, um dann mit ihr im Heiler-Ankunfts-Bereich zu disapparieren, war sich Aurora sicher, am Abend noch eine gehörige Standpauke abzubekommen.

Bethesda Herbregis und ihre Schülerin erschienen einen Kilometer östlich von dem Pferch, in dem immer noch über zweihundert Schafe und Lämmer eingeschlossen waren. Das Blöken und Bähen war selbst in dieser großen Entfernung noch als leise Begleitmusik der anstehenden Ostertage zu vernehmen.

"Das muß man sich mal vorstellen", begann die Lehrmeisterin. "Da trägt so ein Muttertier ihr Lamm fünf Monate aus, gebiert es unter gewissen Schmerzen, und das Jungtier wird womöglich keine zwei Monate alt, bevor es geschlachtet wird. Wäre genauso, als wenn jemand einen gerade vier Monate alten Säugling umbringt, nur um die weiche Babyhaut abzuziehen. Wir Menschen haben manchmal merkwürdige Umgangsformen mit unseren Mitgeschöpfen."

"Ja, aber dann dürften wir überhaupt kein Fleisch essen", sagte Aurora darauf.

"In letzter Konsequenz dürften wir das nicht, Aurora. Aber da wir nicht nur aus Pflanzen die nötigen Nährstoffe ziehen können ist eine gewisse Proteinversorgung schon geboten. Wir essen ja auch Eier oder verzehren Produkte, bei denen Eier verwendet werden. Insofern sollte ich nicht zu sehr über das Leben dieser sogenannten Osterlämmer philosophieren", seufzte die Heilerin. Dann wurde sie wieder sachlich. "Ich werde mich jetzt tarnen und dir folgen. Du gibst dich als britische Reporterin aus. Dein europäischer Akzent kommt uns da wunderbar zu Paß. Du befragst den Schäfer, ob an den Gerüchten was dran ist, daß ihm ein Tier aus geschlossenem Pferch entwendet wurde. Wenn er wissen will, woher du das weißt, tust du so, als wenn du deine Informationsquelle nicht verraten dürftest. Ich erfuhr von einigen muggelstämmigen Kollegen, daß Reporter der magielosen Welt gerne die unhörbaren Fernmeldungen der Ordnungshüter mithören, weil sie ähnliche Auffangapparaturen für derartige Meldungen besitzen. Die Ordnungsleute wissen und verachten das, können aber wegen der hier auch geltenden Pressefreiheit nur was machen, wenn sie Reporter dabei erwischen, wenn sie mithören. Du fragst nach dem genauen Alter und der Reihenfolge der geworfenen Lämmer und ob das Muttertier Luella besondere Eigenschaften hat. Versprüh ein wenig jugendlichen Charme! Dann kriegen wir wohl noch die entscheidenden Fakten. Ich bleibe hinter dir und werde, nur falls ich es für nötig halte, mentiloquistische Anregungen geben, welche Fragen du noch stellen möchtest." Dann verschwand Bethesda Herbregis vor Auroras Augen. Sie hatte sich komplett unsichtbar gemacht, so daß auch nicht der Hauch einer Bewegung von ihr zu erahnen war. Aurora Dawn wechselte mit dem Schnellankleidezauber ihre Aufmachung und hüllte sich in einen muggelmäßigen Hosenanzug. Sie ließ ihr schwarzes Haar offen über ihre Schulter herabwogen und ging ganz gelassen auf den Pferch zu. Erst in fünfzig Metern Entfernung hielt sie inne und überblickte die Lage. Da war nur noch einer der Polizisten. Seine Kollegen saßen wohl in dem Muggelwagen mit dem Warnlicht auf dem Dach. Als der Hüter des Pferchs merkte, daß jemand fremdes gekommen war drehte er sich leicht ungehalten um. Seine Miene hellte sich jedoch schlagartig auf, als er sah, daß es eine junge Frau mit langem, schwarzem Haar und graugrünen Augen war, die ihn sehr freundlich anlächelte. Der Polizist glubschte die unerwartete Besucherin mißtrauisch an und machte Anstalten, die Unbekannte fortzuscheuchen. Da stellte sich Aurora Dawn als Lena Cushing von der londoner Tagespost vor. Sie hatte von Vivian Acer und anderen Muggelstämmigen gelernt, welche verschiedenen Zeitungen es gab. Auf die Frage, wie sie hergekommen sei verwies sie auf einen Reisebus, der wohl etliche Kilometer entfernt wartete, bis die Buschwanderer sich wieder einfanden.

"Ist aber nicht ungefährlich, ohne fachkundige Begleitung im Hinterland rumzulaufen", knurrte der Polizist.

"Wir haben so Peilsender mit, mit denen wir auch Notrufe loslassen können", log Aurora Dawn. "Aber eigentlich bin ich hier, weil ich gestern habe läuten hören, ein dralles Mutterschaf wäre aus einem geschlossenen Pferch verschwunden. Das war doch hier, oder?" Spielte Aurora die neugierige Reporterin.

"Von wem?" Wollte der Polizist wissen. Aurora schenkte ihm dafür ihr unschuldsvollstes Lächeln und erwiderte verhalten:

"Über solche Dinge möchte ich nicht sprechen. Hier gilt doch auch Informantenschutz."

"Hängt vom Informanten oder der Informationsquelle ab", grummelte der Polizist. Aurora strahlte ihn an und sagte:

"Dann stimmt das. Das war hier?"

"Ist schon erledigt", erwiderte der Polizist. "Außerdem sind Sie ja wohl im Urlaub hier."

"Ach, jemand wie ich hat nur solange frei, solange in der Umgebung nichts sensationelles passiert. Und das ein Schaf aus einem geschlossenen Pferch verschwindet ... Ja, das kann man schon als sensationell für die Gegend hier bezeichnen."

"Der Pferch war bestimmt kaputt", knurrte der Polizist. Doch der Schäfer schüttelte den Kopf.

"Wie kann denn dann so ein Schaf einfach weg sein?" Fragte Aurora den Schäfer. Der Polizist blickte sie zwar so an wie ein lästiges Insekt, beeindruckte sie damit jedoch nicht. Der Schäfer erzählte es ihr frei heraus und deutete auf den Pferch. Aurora horchte ihn dann aus, während der Polizist genervt zu seinen Kollegen ging.

"Die werden deine Angaben prüfen, Aurora. Ich muß sie Gedächtnismodifizieren. Bleibe hier und hol die erforderlichen Informationen ein!" Mentiloquierte Bethesda Herbregis. Aurora tat so, als habe sie diese unhörbare Botschaft nicht empfangen und sprach zuckersüß klingend mit dem Schäfer, der förmlich dahinzuschmelzen schien. Sie befragte ihn zu Luella, wie alt diese war, wann sie das erste Mal geworfen hatte, wie die Jungen geheißen hatten, sofern sie nicht für den Bratofen gedacht waren und vervollständigte die bisherigen Angaben. allerdings merkte sie, daß der Schäfer sich wohl eher dafür interessierte, mit der charmanten Engländerin mit dem schwarzen Schopf über andre Sachen zu plaudern als über verschwundene Mutterschafe, machte durch ihre Gesten jedoch klar, daß sie nur der Sensation wegen hier war und nicht, um einsame Schafhüter zu unterhalten. Irgendwann wies ihre Mentorin sie mentiloquistisch an, die Befragung so behutsam es ging zu beenden und den Rückzug anzutreten. Der Schäfer merkte, daß ihm die holde Britin wohl für immer zu entgleiten trachtete und versuchte es mit Nettigkeiten, sie zum längeren Aufenthalt zu überreden. Da kehrten die Polizisten zurück und bedeuteten Aurora, alias Lena Cushing, sie möge sich schnell entfernen. Man sähe von einer Anzeige gegen sie ab, weil der Fall so gering sei, daß darum kein internationales Aufsehen gemacht werden müsse, aber auch in Australien sei das Mithören des Polizeifunks verboten. Aurora tat wunders, was der Polizist meine, da sie kein Funkgerät außer dem kleinen Peilsender mithabe. Der Polizist wollte das Gerät sehen. Doch Aurora verwies darauf, daß sie geraten bekommen habe, es keinem zu zeigen, falls sie doch mal in eine bedrohliche Lage geriete und dann Hilfe herbeirufen müsse.

"Ich bin Polizeisergeant, Ms. Cushing. Wenn ich finde, daß Sie mir beweisen müssen, daß Ihre Angaben stimmen, dann haben sie mir diesen Wunderapparat zu zeigen", knurrte der Polizist.

"Lenk den Schäfer von diesem Büttel ab!" Mentiloquierte Meisterin Herbregis. Aurora verstand sofort. Sie sah den Schäfer an und meinte:

"Die haben mir gesagt, ich sollte immer auf den Boden gucken und aufpassen, nicht zu dicht an einen Busch ranzugehen, weil es hier giftige Schlangen gibt. Stimmt das?" Fragte sie den Schäfer. Der Polizeisergeant wollte sich schon einmischen und sie daran erinnern, daß er ihr eine Anweisung erteilt habe, als sein Blick sich veränderte. Der Schäfer antwortete:

"Ja, manchmal verlieren wir einige Tiere durch Schlangen. Aber Dingos sind schlimmer. Wundere mich echt, daß Sie so alleine unterwegs sind. Außerdem wird's bald dunkel. Da sollten Sie garantiert nicht so schutzlos im Hinterland rumlaufen, Missy."

"Ja, deshalb sehe ich jetzt auch zu, wieder zu meinem Bus zurückzulaufen. Nachher vermissen die mich noch", erwiderte Aurora Dawn. Der Schäfer wollte sie gerade noch einladen, wiederzukommen, als auch er von etwas berührt wurde, das ihm einen geistesabwesenden Blick bescherte.

"Ganz normal weggehen und nach hundert Schritten disapparieren!" Kam Bethesdas Gedankenbotschaft bei Aurora an.

Als die beiden Heilhexen sich wieder von den Muggeln abgesetzt hatten und im Sprechzimmer der erfahrenen Heilerin zusammentrafen meinte Bethesda Herbregis:

"Offenbar haben sich deine Muggelkundestunden doch für was gelohnt, Kind. Ich hätte wohl nicht so schlagfertig reagieren können, als dieser Polizist wissen wollte, warum du so alleine herumliefst und was ein Touristenbus ist. Immerhin denken die jetzt, du hättest die Wahrheit gesprochen. Der mißtrauische Sergeant geht davon aus, deinen Notrufapparat gesehen und geprüft zu haben, und der Schäfer erinnert sich auch daran, einen ihm unbekannten Metallgegenstand in deiner Hand gesehen zu haben. Jetzt haben wir genug Informationen für eine abschließende Prognose. Leider sind die Aussichten für eine erfolgreiche Therapie dadurch noch geringer geworden. Denn die Reihenfolge der Lämmer entspricht vom Geschlecht her der Reihenfolge von Mrs. Fairskys Kindern. Es ist ein Wettlauf um jede Minute. Mrs. Fairsky ist einem Jahrhundertzufall zum Opfer gefallen, und wenn wir kein menschengroßes Schaf mit einem Anteil menschlichen Verstandes aus der Klinik entlassen wollen, sollten wir schleunigst erwägen, wie wir diese Misere bereinigen können. Wenn zwei Wesen durch gleichzeitige Apparition zusammengeschmolzen werden, schlägt die Behandlung mit Alraunentrank in vier von zehn Fällen fehl. Das sind vier zu viel. Außerdem haben wir ja jetzt ergründet, daß Mrs. Fairsky und dieses Mutterschaf sich zu viele Erlebnisse teilen. Da könnte die Fehlschlagsquote sogar mehr als acht von zehn Fällen ergeben. Merke es dir bitte für die Jahresendprüfung höherer Zaubertränke, daß die Gabe von Alraunentrank nur bei eindeutigen Fluchschäden unter Berücksichtigung eines betroffenen Individuums unbedenklich ist und bei nicht gewollten physischen Fusionen besser eine auf die Verwandlung abgestimmte Therapie indiziert ist!" Aurora nickte. Sie hatte zwar gelernt, daß der Alraunentrank eine verunglückte Verwandlung oder einen schweren Körperverunstaltungsfluch beheben konnte, wußte bisher jedoch nichts davon, daß bei verkreuzten Verwandlungen ganz genau geprüft werden mußte, wie was und warum und was dagegen zu machen war.

Es klopfte an die Tür. Bethesda Herbregis rief "Herein!" Daraufhin betraten ein schlachsiger Zauberer mit mausgrauem Haar und verwegen aussehendem Schnurrbart und eine leicht untersetzte Hexe mit schwarzen Locken und stahlblauen Augen das Sprechzimmer. Die respekterheischende Hexe blickte erst Bethesda Herbregis und dann Aurora Dawn an.

"Ah, Sie sind wieder zurück von Ihrem Außeneinsatz, Beth", grüßte der schlachsige Zauberer, Direktor Vitus Springs persönlich. "Haben Sie im Fall Fairsky etwas erfreuliches herausbekommen?"

"Guten Tag, Herr Direktor, Mrs. Morehead!" Begrüßte Meisterin Herbregis die Besucher. Aurora schloß sich dem höflich an, wobei sie vor Laura Morehead eine leichte Verbeugung andeutete.

"Mr. Orville Fairsky hat mich persönlich aufgesucht, um mich anzuhalten, seine Mutter schnellstmöglich zu heilen und von mir verlangt, Direktor Springs anzuweisen, alle freien Kapazitäten der Sana-Novodies-Klinik auf diesen einen Fall zu konzentrieren", sprach Laura Morehead. ". Ich wies diesen überängstlichen und daher teilweise ungehörig auftretenden Gentleman darauf hin, daß wir jedem Patienten die gleiche Aufmerksamkeit von uns erweisen, unabhängig von Herkunft und Rangstellung. Er drohte dann mit der Zaubereiministerin und der Presse. Also was ist an diesem Fall so brisant, daß ein Zauberer einen derartigen Sandsturm erzeugt?" Sie blickte Bethesda Herbregis an, die ihr daraufhin detaillierte Auskunft gab, was passiert war und warum. Laura Morehead wiegte den Kopf, während Direktor Springs sehr besorgt dreinschaute.

"Laura, es könnte sein, daß wir die Patientin nicht heilen können, wenn so viele Übereinstimmungen auftreten", sagte er.

"In der Geschichte dieser Heilstätte kam es bisher nur dreimal vor, daß ein Patient nicht von der magischen Erkrankung oder Verunstaltung geheilt werden konnte. Schöpfen Sie alle erdenklichen Möglichkeiten aus, die Statistik nicht zu verschlechtern!" Knurrte Laura Morehead. "Es wäre Ministerin Rockridge sicher peinlich, sich von einem Schaf zum Konvent in Darwin begleiten zu lassen, selbst wenn die Muggel in Australien sehr viele Schafe züchten."

"Uns liegt nichts daran, einen Patienten als unheilbar zu entlassen", versicherte Bethesda Herbregis. "Doch durch die erwähnten Übereinstimmungen sind bisher sehr erfolgreiche Spezialtherapien hinfällig."

"Weil Sie nicht ermitteln können, wieviel menschliche und wieviele tierische Merkmale vorhanden sind?" Fragte Laura Morehead. Auroras Mentorin nickte.

"Je länger wir warten, um so weiter entfernen wir uns von einer erfolgreichen Heilung", sagte Direktor Springs. "Aber ich vertraue Ihnen, Beth, daß Sie mit Ihrer umfassenden Kompetenz und Erfahrung den richtigen Weg finden."

"Vielen Dank, Herr Direktor", erwiderte Meisterin Herbregis.

Aurora Dawn hatte der ganzen Unterredung stillschweigend beigewohnt. Bis jetzt hatte sie auch nichts wirklich sinnvolles beisteuern können.

"Es ist unbedingt erforderlich, Mrs. Fairskys menschliche Eigenschaften hervorzuheben, um ihren körperlich-geistigen Ausgangszustand wiederherzustellen", sagte Bethesda Herbregis."

"Was ist, wenn wir die Gedächtnisanteile des Schafes löschen?" Fragte Direktor Springs.

"Würden wir womöglich einige Übereinstimmungen eliminieren", bemerkte Bethesda Herbregis. "Doch die körperlichen Eigenschaften stimmen ja auch überein."

"Entschuldigung, Mrs. Morehead, Direktor Springs und Meisterin Herbregis", setzte Aurora Dawn an. "Wenn wir nur für eine Stunde die körperlichen Eigenschaften Mrs. Fairskys überwiegen lassen, könnten wir die beiden in ihr verschmolzenen Wesen vielleicht trennen."

"Nichts für ungut, Aurora. Aber wie sollten wir das machen?" Fragte Laura Morehead. Bei Bethesda Herbregis wirkte Auroras Idee jedoch wie ein Wachhaltetrank.

"Daran habe ich nicht gedacht, weil die anwendung ausschließlich auf Menschen beschränkt ist", sagte Auroras Mentorin. "Du meinst, wir sollten eine Körperprobe von Mrs. Fairsky beschaffen, die wir dann in einen Vielsaft-Trank geben, um sie für eine Stunde zurückzuverwandeln. Das könnte wegen der bereits in ihr wirkenden tierischen Anteile sehr gefährlich sein. Andererseits würde der Trank ihre ursprüngliche Erscheinungsform bebünstigen."

"Vielsaft-Trank?" Fragte Direktor Springs erstaunt. "Aurora, hast du echt daran gedacht?"

"Öhm, ich habe überlegt, ob der was bringen könnte, Sir", sagte Aurora Dawn verhalten.

"Dazu müßten wir Körperfragmente von der Patientin vor der verhängnisvollen Verunstaltung haben", warf Laura Morehead ein. "Außerdem wäre es sehr riskant, bei einer teilweise tierhaften Verwandlung diesen spezifischen Trank zu benutzen, der eindeutig nur für menschliche Benutzer ausgelegt ist. Abgesehen davon unterliegt Vielsaft-Trank gesetzlichen Beschränkungen. Wenn wir ihn anwenden könnte dies zu Konflikten mit dem Zaubereiministerium führen."

"Laura, Sie sind die Sprecherin der Heilzunft", sagte Direktor Springs. "Ob diese gewagte Idee umsetzbar ist und wie sie sich in Praxi auswirkt unterliegt Ihrer Zustimmung und meiner Einwilligung", erwiderte Vitus Springs.

"Nun, Ms. Dawn hat in Zaubertränken ein gutes Gespür für Anwendbarkeit und Variation bewiesen", sagte Meisterin Herbregis Laura Morehead und Direktor Springs zugewandt. "Ich selbst durfte einigemale Zeugin werden, mit welcher Auffassungsgabe sie in diesem Fachbereich der magischen Heilkunst aufwartete. Sie haben natürlich die herausragendsten Ergebnisse zur Kenntnis genommen, Vitus."

"Mit sehr großem Vergnügen", bestätigte Vitus Springs und blickte Aurora Dawn wohlwollend an.

"Ja, aber Sie alle, auch Ms. Dawn, kennen die Interaktionsgesetze bei zauberstabgestützter Magie und Alchemie", erwiderte Laura Morehead. Dann verfiel sie in nachdenkliches Schweigen. Es endete damit, daß sie darauf bestand, die patientin selbst in Augenschein nehmen und die Lancaster-Waxman-Prüfung vornehmen zu wollen. Direktor Springs und Meisterin Herbregis stimmten natürlich zu.

Einige Minuten später sagte Laura Morehead: "Also, ich genehmige den Test mit dem Vielsaft-Trank unter dem Vorbehalt, daß wir vorher alle das Schaf selbst betreffenden Gedächtnisinhalte löschen. De Facto könnten wir darauf hinarbeiten, daß das Tier als solches endgültig ausgelöscht wird. Unsere zehn Direktiven geben dem magischen Menschen absoluten Vorrang."

"Laura, ich fürchte, die Gedächtnisübereinstimmungen würden bei Mrs. Fairsky unfeine Gedächtnislücken hinterlassen, wenn wir versuchen, die Erfahrungen des Schafes auszustreichen", stellte Direktor Springs nach einer legilimentischen Überprüfung Mrs. Fairskys fest. "Wir müssen erst die körperlichen Eigenschaften hervorheben und dann trennen, was von dem Mutterschaf stammt und was von Mrs. Fairsky." Alle ausgebildeten Heiler die anwesend waren nickten zustimmend.

Bethesda Herbregis reiste selbst zu Luella Fairskys Haus, um nach Proben ihres unverwandelten Körpers zu suchen und kehrte eine Viertelstunde später mit einigen Haarsträhnen zurück, die sie aus diversen Kämmen herausgelöst hatte. Damit vervollständigte sie eine große Dosis Vielsaft-Trank.

"Bestenfalls können wir sie für eine Weile zurückverwandeln und die fremden Anteile besser ausloten. Schlimmstenfalls könnte es eine unkontrollierte Verwandlung geben", seufzte Meisterin Herbregis.

Aurora Dawn bangte mit ihrer Mentorin mit, als diese Luella Fairsky eine kleine Dosis des nun rotgoldenen Trankes einflößte. Mrs. Morehead und Direktor Springs standen dabei und sahen auf die aus dem Lentavita-Zauber gelöste Patientin, die im Moment eher einem vergrößerten Schaf glich. Nach einigen Sekunden begann der verwandelte Körper zu pulsieren, zerlief scheinbar zu einer breiigen Masse und pulsierte weiter. Gemäß den Erfahrungen mit Vielsaft-Trank konnte jemand, der einen auf seinen eigenen Körper abgestimmten Trank einnahm nicht verwandelt werden. Vielleicht half der Trank Luella Fairsky, ihr eigentliches Aussehen zurückzugewinnen. Doch für zehn Sekunden waberte die unförmige Masse, in die sie sich verwandelt hatte, bevor sie mit einem lauten Schmatzen innehielt und dann in Zuckungen und wellenförmigen Bewegungen die Gestalt wechselte, bis ein menschlicher Körper entstanden war, der Körper einer nackten Frau mit nachtschwarzem Haar und kastanienbraunen Augen. Luella Fairsky stöhnte und jammerte. Irgendwas schmerzte sie wohl sehr. Doch im Moment schien sie ihre ursprüngliche Erscheinungsform angenommen zu haben.

"Was hahaben Siehie mit mihihir gemahahacht?" Brachte sie leicht ungehalten heraus. "Mein ganzer Körper tut weh." Die letzten Worte waren völlig frei von tierhaftem Blöken über ihre Lippen gegangen. Doch immer noch schien es nicht so recht um sie bestellt zu sein. Außerdem wirkte sie an Unterleib und Beinen übermäßig füllig, während ihr Oberkörper eher dünn wirkte. Aurora Dawn sah besorgt auf die durch den Trank hervorgerufene Verwandlung. Irgendwie hatte sie das ungute Gefühl, daß gleich etwas danebengehen würde. Auch Bethesda Herbregis blickte besorgt auf die Patientin, die sie alle kritisch anblickte.

"Ach, die gute Mrs. Morehead persönlich ist auch zugegen", knurrte Mrs. Fairsky. "Wollten Sie sehen, was ich mir selbst eingebrockt habe?"

"Ich bin hier, weil Ihr Sohn meint, die halbe Welt in Aufruhr versetzen zu müssen", erwiderte Laura Morehead. Dann blickte sie leicht beklommen auf den Oberkörper Luella Fairskys, der sich zu verändern begann. Die weiblichen Rundungen verflachten immer mehr, und Mrs. Fairsky begann wieder, unter irgendwelchen Schmerzen aufzustöhnen. Dann konnten sie alle sehen, wie unter pumpenden Bewegungen der Unterleib und die Beine der Patientin anschwollen und sich dann verformten. Die beiden Beine teilten sich in vier Beine auf. Die Füße wurden paarhufig. Aus dem Steißbein wuchs ein Schwanz, und ein weißes Wollkleid sproß aus dem verformten Körper. In wenigen Sekunden entstand so ein überlebensgroßes Schaf, das an Stelle eines Kopfes den unterleibslosen Körper Luella Fairskys besaß. Aurora fühlte sich an einen Zentauren erinnert, wie sie ihn einmal im Verbotenen Wald von Hogwarts gesehen hatte. Bethesda Herbregis blickte verdrossen auf das Geschöpf, dessen menschlicher Kopf wütend umherblickte und dann mit Luella Fairskys Stimme sagte:

"Was haben Sie da gemacht, sie Pfuscherin?! Ich fühle mich jetzt ganz verkehrt an."

"Diesen Effekt haben wir weder gezielt erwarten können noch gezielt herbeiführen wollen", sagte Auroras Mentorin.

"Machen Sie das umgehend wieder rückgängig!" Verlangte Luella Fairsky. "Wie sehe ich denn jetzt aus? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein!"

"Wir werden versuchen, Sie vollständig zurückzuverwandeln", beteuerte Laura Morehead, die von dem Ergebnis auch unangenehm überrascht worden war. Sie hob ihren Zauberstab und wiederholte die Lancaster-Waxman-Prüfung. Aurora sah jedoch, daß diesmal keine wabernde Trennung zwischen Mensch und Schaf zu erkennen war, sondern nur eine milchige Aura, die die Konturen von Mrs. Fairskys Körper umspielte.

"Das kann doch nicht wahr sein", knurrte Vitus Springs. "Das sieht jetzt so aus wie ein einheitliches Wesen."

"machen Sie das rückgängig, verdammt!" Fluchte Mrs. Fairsky und rutschte von dem Behandlungstisch auf ihre vier Laufbeine. Sie wollte gerade losstürmen, um auf die Heiler loszugehen, als sich ihr Gesicht wieder entspannte und einen Ausdruck großer Zufriedenheit bekam. "Fühlt sich irgendwie toll ann, so zu laufen", sagte sie mit einem gewissen Lächeln. Laura Morehead blickte sie sehr überrascht an und fragte, ob sie sich irgendwie merkwürdig fühle.

"Irgendwie ist das nicht so übel", sagte Luella Fairsky mit einer Mischung aus Zufriedenheit und Staunen. "Irgendwie ist das was ganz anderes als ich je gefühlt habe."

"Mrs. Fairsky, es kann sein, daß sie wegen der verunglückten Verwandlung einen Schock erlitten haben", stellte Mrs. Morehead fest. "Bitte legen Sie sich wieder hin, damit wir herausfinden, ob wir Sie aus der mißlichen Lage befreien können!"

"Ich fühle mich doch wohl", sagte Luella Fairsky. Direktor Springs sah ihr tief in die Augen und konzentrierte sich. Dann schlug er vor, der Patientin noch eine Dosis Vielsaft-Trank zu geben, bevor die geistig-seelische Verschmelzung vollendet wäre. Doch die neue Verabreichung brachte nur ein, daß Luella Fairsky für zehn Sekunden von Krämpfen geschüttelt wurde und ein übel riechender, bräunlich grüner Schwall dünnflüssigen Stuhls aus ihrem Hinterteil herausspritzte.

"Mensch, das tat weh, verdammt!" Quängelte die teilweise Schaf, teilweise Mensch gebliebene Patientin.

"Versuchen Sie eine Tier-zu-Mensch-Verwandlung, Bethesda!" Ordnete Springs an. Doch diese verpuffte mit lautem Knall. Springs versuchte dann, das Mischwesen zu schocken. Doch der Zauber prallte auf den Körper Luellas auf und zerstob in roten Funken, ohne eine Spur zu hinterlassen und ohne die übliche Wirkung zu zeigen.

"Eh, was sollte das denn", sagte Luella Fairsky nun amüsiert.

"PTR-Bestimmung!" Befahl Vitus Springs seiner Mitarbeiterin. Aurora Dawn starrte nur auf die ungewollt entstandene Mischform zwischen Schaf und Mensch und dachte daran, daß sie das mit ihrer Idee verschuldet hatte. Sie wollte sich abwenden, um nicht weiter zusehen zu müssen. Offenbar ging Springs davon aus, es nur noch mit einem einzigen Wesen zu tun zu haben. Das hieß doch, daß Mrs. Fairsky und das Mutterschaf Luella endgültig miteinander verwachsen waren, nicht nur körperlich, sondern auch geistig-seelisch. Wie anders konnte es auch sein, daß die eben noch wütende Patientin jetzt so zufrieden aussah und sich offenbar in dieser Erscheinung wohlfühlte. Der Gestank des durch den fehlgeschlagenen Vielsaft-Trankes ausgestoßenen Durchfalls ließ sie ihre Nase rümpfen. Sie sah Bethesda Herbregis an, die gerade die Instrumente für eine genaue Bestimmung der Passivtransfigurationsresistenz in Stellung brachte.

"Soll ich die Ausscheidung beseitigen, Meisterin Herbregis", Fragte sie ihre Mentorin.

"Mach das bitte!" Erwiderte Bethesda Herbregis leicht ungehalten klingend. Das wirkte für Aurora wie ein harscher Tadel. Dennoch holte sie mit dem Aufrufezauber einen starken Bodenreiniger herbei, den sie auf die besudelten Stellen verteilte, einwirken ließ und dann alles mit "Ratzeputz" und "Evanesco" verschwinden ließ. Dann sprühte sie einen umfassenden Geruchsvertilger im Raum aus, der die unangenehmen Ausdünstungen schlagartig verschwinden ließ.

"99,98", sagte Bethesda Herbregis nach zwei Minuten.

"Wo lag sie vorher?" Wollte Laura Morehead wissen.

"Wissen wir nicht", sagte Bethesda Herbregis. Aurora stand derweil nur da und blickte fast apathisch auf das Mischwesen, das sie wie ein kleines Mädchen anlächelte. Das war die Auswirkung ihrer Idee. Sie hatte den Vielsaft-Trank ins Spiel gebracht. Ihretwegen lief Luella Fairsky nun mit einem Schafskörper unter der Taille herum. Wenn die PTR bei 99,98 lag und Schockzauber und Zaubertränke nichts mehr ausrichten konnten, dann hieß das, daß sie wohl für den Rest ihres Lebens so bleiben würde. Wie lange mochte sie so leben? Was für ein Leben konnte sie denn in dieser Daseinsform führen? Sie war für den Rest ihrer Lebenszeit verunstaltet. Und trotzdem blickte sie die Patientin eher zufrieden als verdrossen oder gar verängstigt an. Es wirkte wahrhaftig so, als habe sie sich mit dieser Erscheinungsform angefreundet, sie als ihre Natur liebgewonnen. Doch das war bestimmt nur eine andere Form von Schock, eine Reaktion des Verstandes auf eine als unumkehrbar erkannte Situation.

"Besteht noch eine Möglichkeit, diesen Zustand zu beenden und die Patientin in ihrer üblichen Daseinsform weiterleben zu lassen?" Fragte Laura Morehead.

"Alraunentrank würde ich jetzt noch versuchen", sagte Meisterin Herbregis. Falls dieser nicht wirkt, steht uns kein Verwandlungs- oder Entfluchungszauber mehr zur Verfügung."

"Ich will nicht mehr diesen nackten Unterkörper haben. Ich fühle mich jetzt ganz wohl so", erwiderte Luella Fairsky ohne Blöken. "Ich will keine Tränke mehr schlucken. Das hat mir fast den Darm aus dem Leib gebrannt."

"Den Alraunentrank nehmen Sie noch ein! Oberste Heileranweisung", bestand Laura Morehead auf die letzte mögliche Behandlung.

"Ihre Heilersachen interessieren mich nicht mehr. Ich bleib jetzt so", erwiderte Luella Fairsky. Natürlich wollte ihr das keiner so durchgehen lassen. So holte Bethesda Herbregis den Alraunentrank her, und Laura Morehead flößte ihn der Patientin ein. Doch außer mehreren lautstarken, bestialisch stinkenden Blähungen brachte dieser sonst so wirksame Trank nicht mehr ein.

"Autsch! Das ist ja die reinste Folter!" Quängelte Luella Fairsky, nachdem sie zum zehnten Mal ihre neuen Hinterbacken hatte erbeben lassen. Die Heiler hatten alle Fenster des Raumes geöffnet und sorgten mit Frischluftzaubern dafür, daß keiner länger als zwei Sekunden den Gestank ertragen mußte. Dann war es vorbei. Der Alraunentrank hatte keine Rückverwandlung bewirkt.

"So, habt ihr mich jetzt genug durchgewalkt", knurrte Luella Fairsky. "Ich bleibe so. Das ist mein Körper. Und ihr könnt den mir nicht wieder wegnehmen."

"Wir werden herausbekommen, was wir noch machen können", sagte Bethesda Herbregis. Sie wollen doch nicht ihr restliches Leben so rumlaufen."

"Warum nicht. Ich komme jetzt ganz gut mit diesem Körper zurecht. Warum sollte ich diese unzulänglichen zwei Beine alleine haben wollen? Ich bleibe jetzt so, Basta! Schreiben Sie mir die Entlassungspapiere aus, Mrs. Herbregis!"

"Nicht bevor wir nicht weitere Möglichkeiten gefunden haben, um Ihnen zu Ihrem angeborenen Körper zurückzuverhelfen", sagte Bethesda Herbregis.

"Ich bleibe nicht hier", erwiderte Luella Fairsky. Dann krachte es, und sie war einfach fort.

"Das gibt's nicht. Die kann doch nicht aus einem Behandlungsraum und ohne Zauberstab disapparieren", knurrte Vitus Springs.

"Da sie es getan hat, Vitus, kann sie es auch", schnarrte Laura Morehead sehr ungehalten. "In fünf Minuten alle in meinem Büro in Canberra!" Fügte sie noch hinzu.

"Der Raum ist gegen Apparieren abgesichert", warf Bethesda Herbregis ein.

"Für Zauberer und Hexen", vervollständigte Vitus Springs die Aussage. "Aber wir haben soeben die Entstehung eines neuen Zauberwesens miterlebt, das offenbar gegen die meisten uns bekannten Zauber immun ist, von Verwandlungstränken bis zu Schockzaubern, nichts hat daran was geändert.".

"Wenn ich das mit dem Vielsaft-Trank nicht überlegt hätte", erwiderte Aurora Dawn.

"Wir hätten ja auf dessen Einsatz verzichten können", erwiderte Bethesda Herbregis. "Niemand hier gibt dir die Schuld daran, daß wir bei der Behandlung versagt haben. Denn wenn wir nichts anderes hätten machen können, hätte Mrs. Fairsky sich auch in etwas verwandelt, daß nichts mit ihrer Ausgangsform zu tun hatte. Offenbar war die Grenze, wo eine vollständige Umkehr gelungen wäre, längst überschritten", sprach die Mentorin weiter.

"Ja, weil ich nicht rechtzeitig die nötigen Informationen zusammengetragen hätte", stöhnte Aurora Dawn. Ihr sonst immer sehr zuversichtliches Lächeln war einem Ausdruck großer Trübsal gewichen. Bethesda konnte ihr die Selbstvorwürfe von den augen ablesen. Sie selbst blieb jedoch gefaßt. Laura Morehead blickte von der Lehrerin zur Schülerin und zum Direktor, der verdrossen in einer Ecke stand.

"In vier Minuten bei mir", sagte die Sprecherin der australischen Heilerzunft und verließ den Behandlungsraum.

"Ich habe Ihnen eingeredet, mit dem Vielsaft-Trank könnten wir sie retten", seufzte Aurora Dawn. "Wie soll ich das jetzt entschuldigen?"

"Zum einen, Aurora, hast du zwar die Idee gehabt, Vielsaft-Trank einzusetzen, hast die Durchführung aber nicht offen vorgeschlagen. Das waren wir. Und wir anderen hätten mehr Bedenken äußern müssen, wenn wir alle nicht daran gedacht hätten, daß wir Luella Fairsky um jeden Preis retten müßten. Ich stimme dir gerne zu, daß du ein wenig zu früh von der Informationsbeschaffung zurückgekehrt bist. Aber in letzter Konsequenz haben wir, Direktor Springs, Mrs. Morehead und ich, den Vielsaft-Trankverabreicht. Sieh es bitte so, daß die Übereinstimmungen zwischen Mrs. Fairsky und dem Schaf alles überwogen haben, was wir mit magischen Mitteln hätten bereinigen können! Es ist zwar jetzt für dich ein schwerer Schlag, daß du hier nicht allen Menschen helfen kannst. Aber ich habe diese Lektion genauso erlernen müssen wie du, aurora. Daher bin ich jetzt doppelt vorsichtig. Und dennoch ist gerade diese Panne passiert, von der die Betroffene nicht wahrhaben will, daß es eine Panne ist."

"Die Quintaped-akzeptanz, Aurora", sagte Vitus Springs nun etwas gefaßter. "Als ich ihren geistigen Zustand für eine mögliche Gedächtniskorrektur durchforschte, waren die übereinstimmenden Ereignisse bereits zu einer Erinnerungseinheit verschmolzen. Der Trank hat jedoch dafür gesorgt, daß es keine körperliche Durchmischung, sondern eine abgegrenzte Aufteilung gab. Damit hat Mrs. Fairsky ihre Intelligenz und eigenen Erinnerungen als dominantes Merkmal zurückbehalten. Das sie nun wie eine Zentaurin mit einem Schafskörper herumläuft und nicht zu einem menschengroßen Schaf transmutierte ist das Ergebnis dieser klaren Unterteilung. Dann hat ihre Wut über die Verwandlung den Erinnerungsverschmelzungsprozeß begünstigt. Longterm warnt ja eindeutig davor, sich gefühlsbezogene Erinnerungen anderer Menschen ins Gedächtnis einzuverleiben, weil bei einer emotionalen Erschütterung die eigene Persönlichkeit davon verändert werden kann. Und was die Schuldfrage angeht, so gilt sie vordringlich mir, weil ich das Experiment höchstpersönlich gestattet und ihm beigewohnt habe. Daher müßte man mich als Direktor der Sano zur Verantwortung ziehen. Außerdem ist uns die Patientin entwischt, bevor wir alle noch bestehenden Möglichkeiten ausgeschöpft haben."

"Ja, aber ich hatte die Idee mit dem Vielsaft-Trank", beharrte Aurora darauf, daß sie die Schuld an Mrs. Fairskys wohl unumkehrbarer Verwandlung trug.

"Wenn wir gar nichts getan hätten oder mit eindeutig wirkungslosen Zaubern hantiert hätten wäre das Endergebnis wohl noch schlechter ausgefallen", stellte Meisterin Herbregis fest und winkte Aurora, ihr zu folgen, nachdem sie per Blickkontakt das Einverständnis ihres Vorgesetzten erbeten hatte.

Im Sprechzimmer der Heilerin fühlte Aurora, wie ihr die Tränen der Enttäuschung in die Augen stiegen. Zum ersten Mal in ihrer Ausbildung hatte sie gründlich versagt. Hätte sie doch besser den Mund gehalten! Sie saß da und kämpfte mit ihren Tränen. Sie wollte nicht vor ihrer Mentorin zusammenbrechen, wo sie ihr fast zwei Jahre lang ohne Murren und Zaudern gefolgt war und alles von ihr lernbare gelernt hatte. eine ganze Minute schwiegen sich die erfahrene Heilerin und die Adeptin an. Dann sagte Meisterin Herbregis:

"Du wirst mit Fehlschlägen wie diesem genauso umzugehen lernen wie ich, Aurora. Die Magie an sich ist schon eine Sache mit vielen ungeahnten Ausgängen. Wenn dann noch sowas kompliziertes wie die Wechselwirkung zwischen Magie und menschlichem Leben zu berücksichtigen ist, kann es unter ungünstigen Voraussetzungen zu unerwünschten Folgen kommen. Heute hatten wir derartige ungünstige Voraussetzungen. Sicher könnte ich deine Schuldgefühle damit nähren, daß ich dir vorwerfe, ddu hättest schneller und sorgfältiger recherchieren müssen, wo es um jede Minute ging. Aber ich persönlich kann nicht sagen, ob wir da nicht schon zu spät gehandelt haben. Es gibt Situationen, Aurora, da ist alles was du tust oder nicht tust zum scheitern verurteilt, weil es uns noch nicht bekannt ist, weil wir die Situation nicht lange genug studieren können, um den wirklich erfolgreichen Ausweg zu finden. Ich habe schon Hexen und Zauberer in diesen Mauern sterben sehen müssen, weil sie sich Vergiftungen mit uns bis dahin unbekannten Mixturen zugezogen haben. Ich möchte nicht versuchen, dir einzureden, daß sowas wie gerade eben halb so schlimm ist. Ich möchte nur feststellen, daß wir alle, von euch Adepten bis hin zu Direktor Springs, jeden Tag schmerzvolle Erfahrungen machen können, daß unsere Kunst auch ihre Grenzen hat. Wir können zwar über neunundneunzig Prozent aller hier eintreffenden Krankheitsfälle kurieren. Aber ein Prozent Unsicherheit ist immer dabei, und wenn wie heute die Zahl der ungünstigen Faktoren zu groß ist, können wir nur zwischen dem kleineren und größeren Übel entscheiden. Und so wie sich die energische Mrs. Fairsky nach der unbeabsichtigten Verwandlung benommen hat, empfindet sie ihre neue Erscheinungsform als kleineres Übel."

"Ja, weil ihre Erinnerungen und die des Mutterschafes Luella zu einem Gedächtnis zusammengeflossen sind", erwiderte Aurora Dawn betrübt.

"Was indiziert, daß sie dadurch eine neue Identität erworben hat, die nur noch gewaltsam umgeformt werden kann", stellte Bethesda Herbregis fest. "Ihr war es nicht mehr wichtig, Verpflichtungen zu haben oder daß ihre Familie sich um sie sorgt."

"Wir wissen ja nicht mal, wo sie hinappariert ist", erwiderte Aurora. "Sie könnte in den Pferch zurückappariert sein, wo sie das Mutterschaf mitgenommen hat oder bei ihren Verwandten sein. Ich denke, Mrs. Morehead kümmert sich darum, sie zu finden. Immerhin hat sie ja selbst die Erlaubnis gegeben, den Vielsaft-Trank zu verabreichen und mag sich daher auch schuldig fühlen."

"In einer Minute will sie uns in Canberra sehen", sagte Aurora leicht betrübt.

"Wegen der abschließenden Klärung, was wir alles vorher und später gemacht und beobachtet haben. Also sieh zu, daß du nicht in ihrem Büro zu weinen anfängst. Sie mag keine gefühlsduseligen Heiler. Was passiert ist ist passiert. Deine Tränen machen es nicht ungeschehen. Mit Rückschlägen müssen wir leider leben. Sie helfen uns jedoch, viele andere Fälle zu lösen", sagte Meisterin Herbregis, trat auf Aurora zu und legte ihr aufmunternd die Hand auf die Schulter. "Lass dich nicht kleinkriegen! Die magische Heilkunst braucht innovative Vorgehensweisen genauso wie eingespielte Methoden", sagte sie noch und winkte ihr, sie zu begleiten.

Als sie durch das Flohnetz im Laura Moreheads Büro angekommen waren, begrüßte die Oberste der australischen Heilzunft den Direktor, ihre ehemalige Schülerin und deren gegenwärtige Schülerin mit zurückhaltender Freundlichkeit. Aurora Dawn war noch nie hier gewesen und staunte, wie verspielt das Amtszimmer der höchsten Heilerin Australiens ausgeschmückt war. Plüschige Stoffnachbildungen von Einhörnern, Hippogreifen und grasgrünen Drachen bevölkerten die unteren Etagen mehrerer Regale. Bilder mit lustigen Zwergen, Kobolden und Schnatzern hingen zwischen den Vollportraits großer Heilmagier an den drei freien Wänden. Über dem Kamin selbst tickten und tackten drei Wanduhren, die eine in Form einer suppentellergroßen Rosenblüte, die andere wie eine Sonne geformt und die dritte wie ein schlagendes Herz aus blutroten Mosaiksteinen beschaffen. Aurora erkannte, daß die eine Uhr die Ortszeit in Canberra zeigte. Die zweite wies die Ortszeit von Sydney aus, während die in Form eines schlagenden Herzens die britische Ortszeit anzeigte. Laura Morehead saß in einem hellblauen Ohrensessel und blickte immer wieder zu einem Vollportrait eines hageren Hexers mit eisblauen Augen unter schlohweißem Haar.

"Bitte setzen Sie sich!" Bat die ranghöchste Heilerin Australiens alle, die sie einbestellt hatte. Dann sagte sie:

"Es ist uns bisher nicht gelungen, Mrs. Fairsky oder das Wesen, in das sie sich verwandelt hat, aufzuspüren. Ihre Apparitionsmöglichkeit ist anders als die von Zauberern oder Hauselfen. Ich habe diverse Kontaktpersonen angehalten, alle mit ihr mittelbar und unmittelbar zusammenhängenden Ereignisse an mich weiterzumelden. sie hätte nicht so übereilt verschwinden dürfen."

"Ich fürchte, sie wird vorerst die Nähe von magischen Heilern meiden, Laura", sagte Vitus Springs verdrossen.

"Warum?" Wollte Laura Morehead wissen.

"Weil ihr Bewußtsein mit dem Erfahrungsschatz eines Mutterschafes fusioniert ist und sie sich jetzt in ihrer Erscheinungsform kerngesund und völlig in Ordnung empfindet. Sie lehnt es ab, sich in einen anderen Zustand versetzen zu lassen. Von ihrer behaltenen Intelligenz her weiß sie, daß wir sie mit keinem Verwandlungszauber oder -trank verändern können, geht aber davon aus, daß wir uns nicht damit abgeben werden, sie so zu lassen, wie sie ist. Daher wird sie wohl zusehen, nicht erneut in unsere Obhut überstellt werden zu können. Jede Minute, die sie in diesem neuen Körper zubringt, entfernt sie noch weiter von einer Wiederherstellung ihres früheren Lebens. Wie erwähnt haben wir es hier mit der Quintaped-Akzeptanz zu tun, einer positiven Empfindung des neuen Körpers gekoppelt mit einem Gefühl der Überlegenheit gewöhnlichen zauberern gegenüber. Womöglich haben wir hier unbeabsichtigt jenen Prozeß nachvollzogen, der vor etlichen Jahrtausenden die Entstehung von Wassermenschen und Zentauren bewirkt hat."

"Ich möchte mich aber nicht mit einem Fehlschlag zufriedengeben, Vitus. Wir müssen einen letzten Test durchführen um festzustellen, ob sie wirklich unumkehrbar an Körper und Geist verändert wurde", knurrte Laura Morehead. "Wenn ich der Zaubereiministerin mitteilen muß, daß ihre Südamerikaexpertin jetzt als eine Art Halbschaf herumläuft und das offenbar für richtig hält, dann nur, wenn ich ihr mitteilen kann, ob wir das noch umkehren können oder nicht. Ich wappne mich bereits für die ausstehende Konfrontation mit der Familie Fairsky. - Damit sind wir auch schon bei dem Punkt, der zu Ihrer aller Einbestellung führte. Ich übernehme die Hauptverantwortung für das Mißlingen der Rückverwandlung auf Grund unzureichender Zeit, um erfolgreiche Therapien zu entwickeln. Sie, Direktor Springs, lassen in den Forschungsabteilungen nachforschen, ob es eine magische Methode gibt, zwei miteinander verkreuzte Geschöpfe zu trennen, wenn sie länger als einen Tag verbunden waren und prüfen nach, ob es einen Trank gibt, der eine PTR von 99,98 überwinden kann. Soweit ich mitbekommen habe, besitzen wir noch ausreichend Vielsaft-Trank mit Mrs. Fairskys Körperessenz. Vielleicht können wir diesen mit anderen Tränken zu einem wirksamen Rückverwandlungselixier speziell für sie veredeln."

"Ich werde die entsprechenden Kollegen damit beauftragen", sagte Vitus Springs.

"Zu Ihnen, Bethesda: Sie haben alles erdenkliche getan, die Patientin auf konventionelle Art zu behandeln. Nachdem ich Ihren Bericht studiert habe muß ich feststellen, daß zu viele Übereinstimmungen zwischen den beiden Ausgangswesen vorhanden waren, um schnell genug die einzig wirksame Therapie zu finden. Es mag zwar Ihre bisherige Erfolgsbilanz ein wenig eintrüben, befreit Sie aber von der alleinigen Schuld am Ausgang der Angelegenheit."

"Laura, ich habe gelernt, Fehlschläge hinzunehmen und dafür auch die volle Verantwortung zu übernehmen. Sollte es nötig sein, mich dafür zur Verantwortung zu ziehen, werde ich mich jedem Verfahren stellen, daß dazu eröffnet wird", erwiderte Meisterin Herbregis sehr entschlossen. Doch Laura Morehead schüttelte den Kopf und sagte:

"Es wäre für Ihre Adeptin im zweiten Ausbildungsjahr sehr nachteilhaft, wenn ihre Mentorin zum einen von irgendwelchen Nachstellungen belastet wird, weil sie in Ausübung ihrer Pflicht das erwünschte Ziel verfehlt hat oder gar dieses ausbleibenden Erfolges wegen gezwungen würde, ihren Beruf und Lehrauftrag nicht mehr ausüben zu können. Sie sind für die Ausbildung von Ms. Aurora Dawn verantwortlich und haben im Rahmen ihrer Ausbildung zur Verfügung zu stehen und sich nicht in irgendwelche hingehaltenen Schwerter zu stürzen. Gerade weil Ms. Dawn Zeugin des heutigen Vorfalls wurde ist dies ein Grund, daß Sie weiterhin an ihrer Seite stehen und sie führen, damit sie nicht aus lauter Furcht vor Fehlschlägen oder Selbstzweifeln befindet, ihre bisher so vielversprechende Ausbildung unvollendet abzubrechen. - Keine Widerrede!" Bethesda Herbregis wollte schon was einwerfen. Doch der mahnende Blick Laura Moreheads zwang sie zur Ruhe. Dann wandte sich die höchste Heilerin an Aurora Dawn, die wohl auch widersprechen wollte.

"Zu Ihnen, Ms. Adeptin Dawn: Sie haben zwar eingebracht, man möge die körperlichen Eigenschaften Mrs. Fairskys für eine Stunde hervorheben. Die konkrete Darlegung, dies mit Vielsaft-Trank zu tun, sowie die Ausführung der Idee lag nicht in Ihrer Verantwortung. sie mögen jetzt denken, Sie hätten Luella Fairskys Zustand zu verantworten. Dem ist aber nicht so. Direktor Springs und ich haben angeordnet, Vielsaft-Trank zu verabreichen, nicht sie. Es würde nicht nur ein schlechtes Licht auf die Heilerzunft werfen, wenn wir uns darauf beriefen, von einer Auszubildenden zu waghalsigen Vorhaben überreden zu lassen, sondern auch sehr feige sein, wenn ein Vorgesetzter die Schuld an einem Fehlschlag auf die Unerfahrenheit seiner Schüler schiebt. Falls Sie jetzt denken, ich würde meine Karriere für Ihre Ausbildung opfern, darf ich Sie trösten, daß meine Rangstellung nur von anderen Heilern in Frage gestellt und widerrufen werden könnte. Also schreiben Sie es sich bitte hinter die Ohren, daß Sie nicht an Mrs. Fairskys Veränderung die Schuld tragen! Ich riskiere meinen Kopf nicht, indem ich die Verantwortung übernehme, und Sie setzen gefälligst Ihre Ausbildung fort! Wir können eine ganze Menge heilen, aber doch nicht alles. Nehmen Sie dieses als eine der wichtigsten Lektionen, die wir Ihnen geben konnten und bleiben Sie uns erhalten!"

"Sie trauen mir offenbar viel zu, Mrs. Morehead", sagte Aurora leise.

"Vor allem weiß ich, was sie bisher geleistet haben. Es wäre sehr dumm, Sie jetzt wegen dieses Vorfalls aus der Ausbildung zu entlassen oder Sie in dem Gefühl abbrechen zu lassen, einen schwerwiegenden Fehler gemacht zu haben. Also werfen Sie den Besen nicht ins Feuer, Ms. Dawn! Lernen Sie aus dieser und jeder weiteren Erfahrung herauszuschöpfen, was Sie als Heilerin auszeichnen soll! Vertrauen Sie sich weiterhin der gestrengen Führung von Meisterin Herbregis an und gehen Sie den Weg weiter, den sie vor zwei Jahren betreten haben! Ich will Sie im Sommer Winter nächstes Jahr zur Vereidigung der HIPs sehen. Ist das angekommen?"

"Jawohl, ist es", erwiderte Aurora Dawn leicht eingeschüchtert.

"Dann ist alles wesentliche geklärt. Zurück an Ihre Arbeit, Ladies and Gentleman!"

"Laura, diese Schafsfrau ist wieder in der Klinik gewesen. Sie hat Lightfoot niedergeworfen, dessen Zauberstab gestohlen und sich damit ein kleines Tränkefaß geholt und ist dann disappariert", sagte das Portrait einer kleinen Hexe in lindgrünen Gewändern, deren Name auf dem Rahmen mit Sana Novodies angegeben wurde. Aurora kannte das Portrait. Es hing auch bei Direktor Springs und im Foyer, wo die Besucher und neuen Patienten eintrafen.

"Sie hat was?" Fragte Laura Morehead.

"Wie sah das Faß aus, Sana?" Fragte Vitus Springs.

"Orangerot mit der Aufschrift "L. F. VST", erwiderte die gemalte Sana Novodies."

"Dieses raffinierte Biest hat sich den auf Luella Fairsky abgestimmten Vielsafttrankvorrat geschnappt", knurrte Vitus Springs. "Also will sie sicherstellen, daß niemand sie mehr zurückverwandeln kann."

"Laura", schnarrte der gemalte Hexer mit dem weißen Haar, "Ein Wesen, auf das Ihre Beschreibung zutrifft, ist in einen Pferch eingedrungen, aus dem angeblich ein wertvolles Zuchtschaf verschwunden ist und hat einen dort gehaltenen Schafsbock gestohlen. Der Schäfer hat das vor fünf Minuten bei der Polizei angezeigt. Die Jungs vom Desinformationstrupp sind schon los und klären das."

"Was für ein Bock war das?" Fragte Vitus Springs sehr erregt. Aurora und Bethesda blickten sich vielsagend an.

"Nach dem, was die Polizei aufgenommen hat heißt der Hammel Barney", sagte das Portrait des weißhaarigen Hexers. Aurora warf ihrer Ausbilderin noch einen eindeutigen Blick zu.

"Sie hat den Bock entführt, von dem das in sie integrierte Muttertier vier Lämmer empfangen hat", stellte Meisterin Herbregis fest. "Was will die mit dem?" Fragte sie. Doch die Antwort darauf kam keine fünf Minuten später.

"Mr. Peter Fairsky wurde soeben von einem uns bis dahin unbekannten Mischwesen aus seinem Büro verschleppt", meldete ein portraitierter Zauberer, der Verbindung zur Strafverfolgungsabteilung hatte. Sein Original hatte damals als Verbindungszauberer zur Sana-Novodies-Klinik gearbeitet.

"Luella Fairsky wieder in der Klinik", meldete die portraitierte Sana Novodies. "Sie hat Vielsaft-Trank entwendet."

"Jetzt ist klar, was das soll", schnarrte Laura Morehead. Auch Aurora Dawn wußte, was die Schafsfrau vorhatte.

"Einbruch und Diebstahl bei Muggeln, Entführung eines Zauberers, Einbruch in die Sana-Novodies-Klinik in Tateinheit mit Diebstahl eines hochpotenten Zaubertrankes ... und womöglich mutwillige Verwandlung eines Zauberers gegen dessen Willen in Tateinheit mit nicht genehmigter Verabreichung eines Zaubertrankes der Wirkungsklasse sieben", zählte Auroras Lehrmeisterin die begangenen und zu erwartenden Straftaten auf, derer sich Luella Fairsky schuldig gemacht hatte und allerhöchstwahrscheinlich noch schuldig machen würde.

"Sie ist wirklich sehr intelligent. Sie hat gewußt, daß sie von niemandem mehr aufgehalten werden kann", sagte Laura Morehead sehr wütend. "Meine Damen und Herren, wenn die Strafverfolgungstruppen und Auroren sie nicht in den nächsten Stunden finden, können wir uns rühmen, bei der Entstehung einer neuen Zauberwesenspecies Zeugen geworden zu sein."

"Wenn das genau der Bock ist, der dem Schaf Luella ... Doch der hat doch einen anderen Namen", wandte Vitus Springs ein. Seine Kolleginnen nickten. Doch Laura Morehead sagte:

"Die anderen Übereinstimmungen reichen aus, um den von uns aus versehen eingeleiteten Prozeß gezielt zu reproduzieren. Sie wird ihren Mann dazu zwingen, im Körperkontakt mit dem gestohlenen Deckbock zu disapparieren, wobei er ihn wohl mit dem Zauberstab bestreichen muß. Gelingt dabei die körperliche Fusion, steht den Schritten zur Erzeugung eines männlichen Artgenossens von Luella Fairsky nichts mehr im Weg. Sie muß nur warten, bis er sich zu verwandeln beginnt und ihn mit auf ihn abgestimmten Vielsaft-Trank manipulieren. Danach, so die Vermutung, wird er sich in jene Hybridrasse verwandeln, der sich Mrs. Fairsky nun ganz unbefangen zugehörig fühlt."

"Dann sollten die Strafverfolgungsleute schnell machen", knurrte Vitus Springs. "Mutwillige Verwandlung eines erwachsenen MitZauberers ist keine Bagatelle. Wenn die Verwandlung dann noch unumkehrbar wird ..."

"Steht nur zu fragen, ob wir Luella Fairsky dafür zur Verantwortung ziehen können", seufzte Laura Morehead. "Sie könnte bei einem guten Verteidiger auf Unzurechnungsfähig wegen geistiger Veränderung plädieren."

"Sie geht wohl genau davon aus. Erwischt man sie rechtzeitig, kann sie behaupten, unter dem Einfluß der eingeschmolzenen Persönlichkeit gehandelt zu haben. Gelingt ihr Vorhaben, kann sie sich als Mutter einer neuen Zauberwesenart registrieren lassen", sagte Meisterin Herbregis. Aurora dachte wieder daran, daß sie durch ihre Idee mit dem Vielsaft-Trank diese Kette von Straftaten mitverschuldet hatte. Doch Bethesda Herbregis erkannte es und mentiloquierte ihr: "Du bist für diese Folgetaten und deren Auswirkungen genausowenig verantwortlich wie ich, Kind."

"Erstaunt mich, daß sie in diesem Zustand noch zaubern kann", sagte Vitus Springs. "Meerleute und Zentauren können das nicht."

"Das liegt an den Zauberstabgesetzen und der Natur der Zauberwesen. Hexen- und Zaubererkinder lernen ja sieben Jahre lang, vernünftig zu zaubern, während Meerleute von ihrer Natur her nicht nach Redrock können und Zentauren sich unserer Rasseüberlegen fühlen und unter sich bleiben", erwiderte Laura Morehead. Dann fügte sie noch hinzu: "Zurück an Ihre Arbeit!"

Nacheinander flohpulverten Vitus Springs, Aurora Dawn und Bethesda Herbregis in die Sana-Novodies-Klinik zurück. Dort angekommen nahm Vitus Springs Aurora Dawn noch einmal zur Seite:

"Laura und ich sind uns einig, daß wir dich nicht aus England rübergeholt haben, damit du beim ersten unangenehmen Erlebnis aussteigst oder dich zum Rauswurf anbietest. Keiner außer Laura, Beth und mir hat es mitbekommen, daß du vorschlagen wolltest, den Vielsaft-Trank zu gebrauchen. Du hast nur zugesehen, daß wir ihn zubereitet und erfolglos angewendet haben. Also Kopf hoch und weiterlernen! Diese Art von Erfahrungen machen die besten Heiler irgendwann. Bei deiner Mentorin hat es zehn Jahre gedauert, bis sie jemandem nicht helfen konnte, und sie ist die beste Mitarbeiterin, die ich hier habe. Ich selbst habe fünfundzwanzig Jahre Glück gehabt, immer die richtigen Zauber und Mixturen zu finden, bis ich einem Zauberer nicht helfen konnte, der meinte, sich mit einem Antipodischen Opalauge anlegen zu müssen. Die magische Heilkunst ist umfangreich. Sie reicht von ungeborenen Kindern bis zu ehrenvoll ergrauten Hexen und Zauberern, vom Anfang bis zum Ende des Lebens. Lass dir bitte nicht die große Chance entgehen, dieses so umfassende Gebiet der Magie zu erkunden und zu praktizieren!"

"Ich kann Ihnen nur versprechen, daß ich es versuchen werde", sagte Aurora dem Direktor. Dann durfte sie mit ihrer Lehrmeisterin gehen.

"Sehen wir es mal ganz nüchtern, Aurora. Diese Luella Fairsky fühlt sich jetzt sehr wohl, und das gehört ja auch zu unseren Aufgaben, sagte sie ihrer Adeptin.

"Sie meinen, sie empfindet sich jetzt als besseres Wesen als vorher?" Fragte Aurora.

"Durchaus denkbar", erwiderte Bethesda Herbregis. Aurora schwieg dazu.

__________

10. April 1986

O Wendy! Das war heute ein sehr heftiges Erlebnis für mich, mitzukriegen, wie eine Patientin durch einen Apparierfehler und einen kaputten Zauberstab so gründlich verunstaltet wurde, daß sie sich in ein großes Schaf zu verwandeln anfing. Ich ungebildete Gans habe dann gemeint, mit Vielsaft-Trank und ihren unveränderten Körperfragmenten zumindest für Eine Stunde die normale Gestalt zurückbringen zu können. Doch statt dessen hat sie den Körper eines Schafes bekommen, aus dessen Hals ihr Körper ohne unterleib herausragt. Schlimm ist daran, daß sie dadurch eine PTR von über neunundneunzig Prozent bekommen hat und kein Trank sie mehr zurückverwandeln konnte. Erst war sie wütend, und dann auf einmal total glücklich mit diesem Mischkörper. Die konnte sogar ohne Zauberstab disapparieren. Meisterin Herbregis sagt, daß wir in der magischen Heilkunst nicht alles beheben können, was durch Tränke oder vermurkste Zauber angerichtet wird und ich mich daran gewöhnen sollte. Aber so richtig kriege ich das nicht hin. Oberheilerin Morehead hat zwar die ganze Schuld für den Murks auf sich genommen, weil sie das mit dem Vielsaft-Trank abgesegnet und angeordnet hat. Aber ich hatte die Idee. Gut, wenn Meisterin Herbregis recht hat, dann habe ich heute zumindest gelernt, daß gegen einen verunglückten Zauber längst nicht immer ein Zaubertrank hilft, wenn nicht ganz klar ist, was den Patzer verursacht hat. Dann hat diese Patientin einen Schafsbock gestohlen, ihren Ehemann entführt und will den wohl in ihren Artgenossen verwandeln. Wenn die Strafverfolger sie nicht früh genug kriegen, gibt es dann zwei ganz neue Zauberwesen, die gegen alles an Zaubern und Tränken immun sind. Ich hoffe, jetzt den nötigen Schlaf zu kriegen. Denn wie ich meine Mentorin kenne wird die morgen gleich wieder mit mir voll ins Tagesgeschäft einsteigen und mir das nicht durchgehen lassen, an die bedauernswerte Patientin zu denken, die jetzt als Schafsfrau oder weibliches Werschaf herumlaufen muß. Sie hätte besser bei uns bleiben und auf eine rettende Behandlung warten sollen. Bis morgen dann, Wendy!

Aurora Dawn prüfte, ob sie den Vorfall des nun beendeten Tages in allen Einzelheiten in ihrem Lerntagebuch erfaßt hatte. Sie umkringelte den für sie selbst gedachten Hinweis: "Bei Körperverschmelzungen hilft kein Vielsaft-Trank." Mit roter Tinte und ging schlafen.

__________

Der übliche Lern- und Arbeitsstreß überdeckte die Gedanken an den Fehlschlag schon bald. Nach fünf Tagen, in denen Bethesda Herbregis und ihre Mentorin nichts von Luella Fairsky und ihrem entführten Ehemann gehört hatten, waren sie zu sehr mit anderen patienten beschäftigt, die durch abgerutschte Haushaltszauber, fehlerhafte Zaubertränke oder verpatzte Selbstverschönerungstricks ambulant oder stationär zu betreuen waren. Aurora hatte mittlerweile den richtigen Tonfall heraus, um die durch ihre Beschwerden verunsicherten Patienten nicht noch mehr aufzuregen oder zu verängstigen. Einem zauberer, der meinte, durch Drachenschuppen und pulverisierte Ameisen Megastärke erringen zu können, mußten sie einen Trank aus Fischschuppen und zerriebenen Phönixfedern verabreichen, um ihm das ständige Feuerspeien wieder auszutreiben.

"Das die Burschen es nicht lernen wollen, daß es nicht reicht, die Bestandteile superstarker Wesen zusammenzuschütten, um superstark zu werden", schimpfte Bethesda Herbregis während der Mittagspause. "Dabei konnte unser Feuerspucker von heute Morgen noch von Glück sprechen, daß er sich bei der Auswahl der Ameisen nicht auf Wüstenarten eingelassen hat. Dann wäre die Drachennatur noch deutlicher durchgeschlagen. Ich rede gleich noch mit Direktor Springs über eine formelle Anzeige gegen den Händler, der die Opalaugenschuppen verkauft hat. So geht es ja doch nicht."

"Dann soll ich alleine zu Mrs. Bulger und gucken, ob die Hypertrichotropie wirklich behoben ist?"

"Mit deinem Gespür für Zaubertränke kriegst du das schon ohne mich hin, Kind", sagte Bethesda Herbregis. Mittlerweile dürfte die Harwuchsmixtur ordentlich neutralisiert sein, die die gute Emily Bulger geschluckt hat. War schon korrekt, Nacktschneckenschleim in den Gegentrank zu geben."

"Sie wird es wohl gelernt haben, daß sie dieses Mittel nicht gleich auf ex trinken darf", stellte Aurora Dawn fest.

"Wollen's hoffen", entgegnete ihre Mentorin.

Nach der Mittagspause ging Aurora durch die Flure der Klinik. Dabei traf sie auf Monica Riddley, die mit ihrer Mentorin Brigid Springwood auf dem Weg zur Abteilung für Zaubergegenstandsunfälle war. Die nicht mehr ganz so füllige Jahrgangskameradin Auroras wirkte mißmutig. Offenbar hatte ihre Ausbilderin ihr in der Mittagspause mal wieder die Meinung gesagt. Aurora fragte sich, warum Monica es bisher nicht gelernt hatte, ihre unfreundliche Art zurückzudrängen, besonders wenn sie mit echten Patienten zu tun bekam.

"Huch, wo ist denn deine Aufpasserin?" Sprach Monica ihre britische Kameradin an.

"Die muß noch was nachbereiten, was heute Morgen gelaufen ist und mich nicht dabei braucht", sagte Aurora. Die Gesetze zum Umgang eines Heilers mit mutwilligen Körperverunstaltungen kannte sie gut genug, daß sie von dieser Art von Bürokratie häufig genug verschont blieb. Brigid Springwood meinte dazu noch:

"Ach die Sache mit dem Feuer speienden Burschen, der so stark wie ein Drache werden wollte? Könnte sein, daß das nicht einfach wird, da alles abzuschließen."

"Der Idiot hat den Trank vermurkst", knurrte Monica. "Der hätte ein Drittel weniger Drachenschuppen nehmen sollen. Dann hätte der vielleicht das Ziel erreicht."

"Nichts für ungut, Monica. Aber Bethesda und Aurora haben wohl das Rezept für den Fehlgänger gehabt. Wir nicht. Da kannst du nicht definitiv behaupten, was zu einem gewünschten Effekt geführt hätte", tadelte Heilerin Springwood ihre Schülerin. Dann wünschte Sie Aurora noch einen erfolgreichen Nachmittag.

"Nach dem Ding mit der Fairsky kann die das echt brauchen", feixte Monica. Doch Aurora überhörte es. Sie hatte schon in Hogwarts gelernt, nicht alles ernstzunehmen, was jemand ihr an den Kopf warf. Abgesehen davon wußte Monica nicht, daß sie, Aurora, die Idee mit dem Vielsaft-Trank gehabt hatte.

Mrs. Bulger war eine an die sechzig Jahre alte Hexe, die ihr langsam ergrauendes Haar durch eine eigene Mixtur zur Haaraufbesserung verschönern wollte und nun nicht nur meterlanges Kopfhaar sondern auch einen ellenlangen Bart und dichtes Körperfell abbekommen hatte. Das war vor drei Tagen gewesen. Jetzt sah die Patientin wieder wie eine gesunde Frau aus. Nur ihr Haupthaar war noch eine bis zu den Waden herabwallende, silberbraune Mähne.

"O, noch nicht alles aus dem Körper raus, Mrs. Bulger?" Fragte Aurora Dawn.

"Ihre Ausbilderin meinte, ein Liter wäre nicht so einfach auszutreiben", knurrte die Hexe, während Aurora mit ungesagten Abtrennzaubern die viel zu üppige Behaarung auf ein angenehmes Maß stutzte und die Haare verschwinden ließ. "Ich habe es wohl begriffen, daß ich besser Geld für professionelle Haarpflegemittel ausgebe als selbst was zusammenzurühren."

"Sie haben es noch harmlos erwischt, wenn ich bedenke, was ich in meiner Ausbildung schon für Zaubertrankprobleme zu sehen bekommen habe", erwiderte Aurora locker, wobei sie nicht genau ausplauderte, welche sie genau und bei wem gesehen hatte.

"Das glaube ich Ihnen gerne, junge Dame. Ihre Ausbilderin ist in der Hinsicht ja sehr gründlich erfahren und gibt Ihnen garantiert genug Einblick in Pfuschereien wie bei mir", sagte Mrs. Bulger. Aurora Dawn nickte und prüfte nach, ob sie die für die Patientin optimierte Gegenmixtur auch in der kleinen Ausrüstungstasche hatte, die sie bei Beginn ihres zweiten Lehrjahres überreicht bekommen hatte, um auf Anweisung der Ausbilderin vorrätige Heilmittel anwenden zu können. Sie hörte es fast jedes Mal, wenn sie die kleine Tasche öffnete, wie ihre Mentorin sagte:

"Gewöhn dich gut daran, die immer und überall mitzuhaben, Aurora! Wenn du mit der Ausbildung fertig bist wird so eine Tasche deine ständige Begleiterin sein, wenn du im Einsatz bist."

"Warum läßt mich die gute Beth eigentlich nicht nach Hause? Hat sie Ihnen das wenigstens erklärt?" Wollte Mrs. Bulger wissen, bei der das Haar langsam aber zusehens nachwuchs.

"Weil die Wachstumsrate Ihrer Haare Ihrem Körper nötige Nährstoffe entzieht und Sie deshalb nicht Ihrem gewohnten Alltag nachgehen dürfen, Mrs. Bulger. Zumindest hat Meisterin Herbregis das erwähnt, als Sie unter den schlimmsten Auswirkungen Ihres Trankes zu uns kamen."

"Dann muß ich eben viel mehr essen und trinken", knurrte Mrs. Bulger. Doch Aurora überhörte es. Auch das hatte sie schon gelernt, nicht auf jede Patientenbemerkung anzuspringen, sondern nur auf unmittelbare Fragen zu reagieren. Sie zog die Phiole mit der heutigen Abklinghilfe aus ihrer Tasche und goß deren Inhalt in einen kleinen Silberbecher, den sie ebenfalls bei sich trug. "So, Mrs. Bulger. Ich weiß, das Zeug schmeckt wohl eklig. Aber wenn meine Ausbilderin und ich das richtig ausgerechnet haben tilgt das die letzten Spuren des Trankes in ihrem Körper", sagte sie warm und lächelte die Patientin aufmunternd an.

"Sie dürfen das schon alleine geben?" Fragte Mrs. Bulger argwöhnisch.

"Da Meisterin Herbregis mich fünfmal hat zusehen lassen, wie es bei Ihnen anschlägt befand sie, daß ich das einmal unbeaufsichtigt anwenden darf", erwiderte Aurora und sah zu, wie Mrs. Bulger den bereitgestellten Trank einnahm, sich angewidert schüttelte und dann keuchte, als habe sie gerade einen zwanzig-Meilen-Lauf hinter sich gebracht. Dann fragte die vom übermäßigen Haarwuchs gepeinigte:

"Was ist in diesem Elixier drin, daß ich meine, gleich wie ein voller Wasserkessel zu kochen?"

"Abgesehen davon, daß ich gemäß der hier gültigen Vorschriften nicht alle Trankrezepturen verraten darf möchten Sie das bestimmt nicht wissen, was in dem Trank verarbeitet wurde", erwiderte Aurora Dawn freundlich dreinschauend.

"War nur ein Versuch, Ms. Dawn. Hauptsache, das Zeug wirkt wie es soll", schnaufte Mrs. Bulger. Dann entspannte sie sich wieder. Aurora trente ihr nach einer Minute eine Haarsträhne ab, um zu untersuchen, ob das Gegenmittel die Endwirkung zeigte.

"ruhen Sie sich besser etwas aus, Mrs. Bulger. Ich denke, ihr Mann und ihre zwei Töchter kommen so in einer Stunde wieder zu Besuch."

"Irma hat heute keine Zeit dafür", seufzte Mrs. Bulger. "Wenn ich morgen wieder hier rauskomme kann sie ja auf mich warten."

"Ich gehe davon aus, daß Sie morgen entlassen werden dürfen", erwiderte Aurora zuversichtlich. Dann verabschiedete sie sich von der Patientin, die für eine kleine Extragebühr ein Einzelzimmer bewohnen durfte.

Aurora suchte eines der kleineren Zaubertranklabore für Lernheiler auf. Ireen Barnickle mischte gerade einen Trank gegen Blutergüsse. Ihre Mentorin Ceres Beanstock führte die Aufsicht in dem für Lernheiler und Ausgebildete zugänglichem Labor.

"Ah, Aurora. Hat Beth dich zum Zaubertranknachbrauen angehalten?" Fragte die hagere Heilerin Beanstock freundlich grinsend. Ireen prüfte gerade, ob eine Zutat auch korrekt dosiert war.

"Ich prüfe nur nach, ob eine Therapie morgen abgeschlossen ist, Meisterin Beanstock", sagte Aurora Dawn und lächelte ihrer Jahrgangskameradin Ireen aufmunternd zu.

"Tisch zwei ist gerade sauber", sagte Heilerin Beanstock und deutete auf den zweiten Tisch von links. Aurora Dawn nickte und holte einen Zinnkessel der Größe eins aus einem stählernen Braugeschirrschrank. Darin verrührte sie zunächst ohne Anheizen einige Ingredientien, entzündete dann ein kleines Feuer unter dem Kessel und fügte dem Gemisch noch einige Zutaten hinzu, bevor sie die zur Prüfung mitgebrachte Haarsträhne in den Kessel einwarf. Sofort wurde die Flüssigkeit kristallklar und köchelte ohne Schaumbildung vor sich hin. Aurora beroch das Gebräu und konnte nur eine Note von angesengtem Horn feststellen. Die Male zuvor war der Testtrank knallrot umgeschlagen und hatte goldenen Schaum gebildet, der schon aus drei Metern Entfernung nach verkohltem Fleisch gestunken hatte. Jedesmal war die Lösung klarer und der Gestank schwächer ausgefallen. Jetzt war kein Rotstich mehr zu erkennen.

"Gratuliere, die Extoxikation hat wohl geklappt", sagte Ceres Beanstock anerkennend. Ireen wagte einen prüfenden Blick auf Auroras Trank und nickte.

"Ich kriege den Indikator bis heute nicht richtig hin. Wie machst du das immer?"

"Das solltest du besser mich fragen, Ireen. Aurora ist zwar exzellent. Aber Fragen dieser Tragweite gehören dem Ausbilder gestellt", wies Meisterin Beanstock ihre Schülerin zurecht. Aurora mentiloquierte schnell:

"Schreibe ich dir auf, Ireen."

"Danke", kam Ireens unhörbare Antwort zurück.

Aurora schrieb sich das Ergebnis der Prüfung und den Erfolg der Therapie für sich und ihre Mentorin auf. Dann schüttete sie den Testtrank in den Ausguß, wo er gluckernd verschwand. Sehr sorgfältig spülte sie den Kessel aus und reinigte ihn mit Mrs. Scours magischem Allzweckreiniger. Sie hatte das benötigte Zubehör gerade wieder an seinen Aufbewahrungsplatz zurückgelegt, als aus dem Nichts heraus die Durchsage klang:

"Bereitschaftsheiler zur Notaufnahme! Bereitschaftsheiler bitte dringend zur Notaufnahme!"

"Deine Mentorin macht heute Bereitschaft, nicht wahr?" Erkundigte sich Ceres Beanstock.

"Ja, macht sie", antwortete Aurora. Da klang auch schon Bethesda Herbregis' Gedankenstimme in ihrem Kopf: "Aurora komm zur Notaufnahme!"

"Womöglich will sie dich dabei haben. Das klang ja sehr dringend", stellte Meisterin Beanstock fest. Aurora nickte und verließ das kleine Labor wieder. Über eine nur für das Personal zugängliche Treppe eilte sie hinunter zum Foyer und von da in den seitlichen Trakt für Notfälle. Dort traf sie zusammen mit ihrer Mentorin ein. Die Kollegin von der Aufnahme hatte gerade eine Hexe auf ein herbeigezaubertes Untersuchungsbett gehoben. Eine junge Hexe, nicht viel älter als Aurora Dawn selbst, stand mit angstgeweiteten Augen daneben. Die auf dem Bett liegende Hexe sah entsetzlich aus. Ihr Kopf war bis auf ein paar lose hängende dunkelbraune Haarsträhnen kahl, und in ihrem Gesicht und an anderen freiliegenden Hautpartien waren vereinzelte rote Blasen zu sehen, als habe sie sich mit einer tückischen Hautkrankheit oder einer Form von Drachenpocken angesteckt.

"Keimfreilösung!" Befahl meisterin Herbregis. Aurora holte die von ihr unter Anleitung der Heilerin gebraute Mixtur zur Abtötung von Pilzsporen und anderen Krankheitserregern aus ihrer Tasche und besprühte sich und ihre Mentorin damit. Dann tranken sie von dem Keimbanntrank, den jeder Heiler mitzuführen verpflichtet war. Danach schafften sie die Patientin auf dem Untersuchungsbett in einen angrenzenden Behandlungsraum, in dem mehrere Quarantänezauber wirkten. Dort setzte Bethesda Herbregis eine Flotte-schreibe-Feder auf ein großes Pergamentblatt, auf das diese selbständig mitschrieb, was jetzt hier gesprochen wurde. Aurora blickte die junge Hexe an, die der Patientin so sehr ähnelte, daß es nur ihre Tochter sein konnte. Während Bethesda Herbregis alles für eine gründliche Untersuchung vorbereitete. Die Rezeptionshexe bekundete, vor einer halben Stunde ihre vorgeschriebene Dosis Keimbanntrank eingenommen zu haben. Die immunisierung gegen die häufigsten Zaubererweltkrankheiten würde auch noch ein Jahr vorhalten. Sie verließ den Raum und schloß die schwere Eisentür. Jetzt würde kein wie immer gearteter Erreger mehr aus diesem Raum entwischen können. Ein stationärer Luftauffrischungszauber sorgte für genügend Atemluft.

"So, das war vielleicht ein wenig hektisch", sagte Bethesda Herbregis. "Mein Name ist Bethesda Herbregis, und das hier ist meine Auszubildende im zweiten Jahr Aurora Dawn", stellte die erfahrene Heilerin sich und ihre Schülerin korrekt vor. "Verstehen Sie mich?" Fragte sie die auf dem Behandlungsbett liegende.

"Wir sind die ganze Nacht geflogen", sagte die jüngere Hexe. "Meine Mutter ist sehr krank und erschöpft. Und mich hat es wohl auch erwischt. Achso, meine Mutter heißt Shirley Mellow und ich bin Annabel mellow, Madam Herbregis."

"Wasser!" Röchelte die auf dem Bett liegende. Bethesda Herbregis holte ungesagt einen goldenen Kelch aus dem Nichts und füllte ihn mit einem Zauberstabstupser randvoll mit frischem Wasser.

"Vorsichtig, nicht zu schnell!" Ermahnte Auroras Mentorin die Patientin, die beinahe Kraftlos nach dem hingehaltenen Trinkgefäß griff und dieses wie knapp vor dem Verdursten ansetzte.

"Könnte ich bitte auch etwas Wasser haben?" Fragte Ms. Mellow. Aurora kopierte den Herhol- und Auffüllzauber von ihrer Mentorin. Annabel trank vorsichtig. Dann sagte sie: "Das kommt auch von dem, was uns alle erwischt hat. Erst Durst, dann gehen die Haare aus, dann kommen die roten Pusteln und irgendwann tut es wohl sehr weh. Fünf von uns sind in den letzten zwei Wochen sehr grausam gestorben", sagte Annabel. Aurora hörte es sich an, während Bethesda Herbregis einen Diagnosezauber über die auf dem Bett liegende Patientin sprach.

"Kuck dir das an, Aurora. Irgendwas hat sie angegriffen wie ein Gift. Den Intox-Indikator!" Aurora sah auf das grünlich-blau leuchtende Pulsieren um Mrs. Mellows Körper. Es flimmerte wild und blitzte alle fünf Sekunden kurz auf, um dann fast zur Unsichtbarkeit abzuklingen. Aurora hatte diesen Zauber mittlerweile auch erlernt, um sich einen Gesamtüberblick über einen erkrankten Menschen zu machen. Sie hatte in der Halbjahresprüfung alle Erscheinungsformen hersagen dürfen, was auf ein Gift, was auf eine innere Verletzung und was auf einen Krankheitserreger hinwies. Das Flimmern und immer wieder erfolgende Aufblitzen kannte sie nicht. Zumindest war es kein üblicher Vergiftungseffekt.

Nachdem Aurora Dawn ihre Portion des Giftnachweiseelixiers hervorgeholt und bereitgemacht hatte, ritzte Bethesda Herbregis den linken kleinen Finger der auf dem Bett liegenden Patientin an und fing fünf Blutstropfen im Testgefäß auf. Doch der Giftnachweiser blieb unverändert. Wenn ein Gift im Körper der Patientin wirkte, hätte es den Testtrank in eine von zwanzig bestimmten Farben umschlagen lassen müssen. Doch nichts geschah. Das darin vermischte Blut löste sich nur vollständig darin. Bethesda Herbregis fing weiteres Blut in einem leeren Goldbecher mit Deckel auf. Dann verschloß sie die Schnittwunde mit dem einfachen Wundheilzauber.

"Negativ auf Intoxikation? Das kann nicht angehen", knurrte meisterin Herbregis. Aurora fragte, welche Vergiftung diesen Leuchteffekt von eben herbeiführen konnte.

"Es ist eine Schwächung aller Gewebeschichten, Aurora. Irgendwas zersetzt ihren Körper ganz langsam. Ich habe diese Reaktion bisher noch nie gesehen. Deshalb wollte ich den Intox-Indikator", sagte die hauptberufliche Heilerin.

"Das ist kein Gift und kein Erreger. Das muß ein Fluch sein. Unsere Heilerin hat ja auch schon alles ausprobiert", sagte Annabel.

"Schön zu wissen", knurrte Meisterin Herbregis, bevor sie streng fragte, wer denn die betreffende Heilerin sei.

"Mab Creekstone", sagte Annabel. "Sie meinte auch, es könnte eine magische Seuche sein, die durch einen uralten Zauber der Aboringines über uns gekommen ist."

"Creekstone? Lange nichts mehr von ihr gehört. Dann kommen Sie aus Resting Rock?" Fragte die Heilerin. Annabels Mutter rang sich ein "Genau" ab.

"Unser Dorfsprecher wollte nicht, daß wir herkommen", sagte Annabel. "Aber Mum wollte nicht zusehen, daß ich genauso sterbe wie ein Freund von mir."

"Madam Creekstone war in den letzten zwanzig Jahren nicht mehr bei den Neuheitenkonferenzen. Mrs. Morehead hat ihr wohl ein paar ernste Ermahnungen geschickt. Ich dachte, sie hätte um Beendigung ihrer Aprobation gebeten."

"Nicht das ich wüßte", sagte Annabel und füllte ihren Trinkkelch mit eigener zauberkraft neu auf.

"Das werden wir klären, wenn ich mehr über die Symptome weiß", knurrte Bethesda Herbregis und holte ein Prazap-Trimax-Glas aus ihrem Kittel, um sich das entnommene Blut in hundertfacher Vergrößerung anzusehen. Über dem Becher mit dem Blut entstand ein mehrere Meter großer, gelblich-weißer Kreis wie ein riesiger Wassertropfen, in dem mehrere rundliche Objekte wie aus gelbweißer Knetmasse umhertrieben und winzige rote Scheibchen zu erkennen waren. Aurora sah, daß einige der weißen Gebilde leicht verstümmelt wirkten und konnte genau sehen, wie ein am Rand ausgefranstes rotes Scheibchen durch das Vergrößerungsfenster trieb.

"Keine Viren und Mikroben", knurrte Heilerin Herbregis. "Aber das Blut gefällt mir nicht. Es sieht so aus, als seien seine festen Bestandteile deformiert oder angefressen worden."

"Hat Madam Creekstone auch gesagt", erwiderte Annabel darauf. Meisterin Herbregis machte das wütend.

"Wie kommt es dann, daß diese Dame ihren Amtseid und ihre Pflicht vergißt und Sie beide nicht von sich aus zu uns gebracht hat?! Wie kann jemand so pflichtvergessen sein?!"

"Sie findet, daß sie es selbst herausfinden kann", stöhnte Mrs. Mellow. Aurora betrachtete Annabel. "Darf ich an Ihnen einen Diagnosezauber anwenden?" Fragte sie die jüngere Hexe. Meisterin Herbregis sah ihre Schülerin kurz an, nickte dann aber. Aurora erhielt das Einverständnis und wirkte mit "Vitalis Revelio" denselben Zauber wie ihre Lehrmeisterin. Annabel wurde von einer grünlich-blauen Aura eingehüllt, die wild flimmerte wie heiße Luft über Wüstensand. Ab und an blitzte es hier und da. Dann schien die Aura für einige Sekunden durchsichtiger, wo es aufgeblitzt hatte. Bethesda Herbregis begutachtete die Erscheinung und meinte dann:

"Es ist richtig, Sie haben was immer es ist wohl auch im Körper", knurrte die Heilerin. Dann befahl sie Annabel, zu berichten, wie es angefangen hatte.

"Das ging vor zwei Monaten los, nachdem am Morgen für einen kurzen Augenblick der Boden gebebt hat", begann Annabel. "bo, unser Dorfältester, hat sofort eine Beschwörung gemacht, um zu prüfen, ob die Erde uns irgendwie böse ist. Zumindest hat er es so genannt. Sein Großvater war ein Magier der Ureinwohner und hat ihm viele seiner Rituale beigebracht. Er fand, daß die Erde uns nicht böse sei, nur irgendwie verändert. Warum, das konnte er mit seinen Ritualen nicht klären. Weil nicht mehr passierte lebten wir einige Wochen lang ruhig weiter. Es war nur Wwindig, und wir haben mehr Sand im Dorf gehabt als sonst. Dann fing es bei Collin Firewood an, der sein Haus im Süden nahe der ruhenden Steine hat, denen unser Dorf seinen Namen verdankt. Erst trank er nur viel. Dann gingen ihm jeden Tag immer mehr Haare aus, sogar sein netter Bart. Dann wurde ihm immer wieder übel. Dann kamen diese roten Pickel, die immer größer wurden, und so vor vier Wochen tat ihm alles weh. Er bekam von Heilerin Mab immer wieder Schmerzunterdrückungstränke. Doch sein Körper wurde immer schwächer. Irgendwann reichten die Tränke nicht mehr aus, und er konnte auch nicht mehr richtig trinken. Vor zwei Wochen ist er dann tot umgefallen. In der Zeit, wo er krank wurde, bekamen auch andere Leute bei uns diese üble Sache ab. Eine Freundin von mir hat schon die Hälfte ihrer Haare verloren. Unser Brunnen ist ständig leer, weil viele von uns ziemlichen Durst haben, und Jimmy Greengrass, ein Schulfreund von mir, ist vor fünf Tagen Gestorben. Ja, und jetzt geht es mit uns zu Ende." Bei den letzten Worten rannen Tränen aus Annabels Augen.

"So, und weil euer Dorfältester sich seine Zauberkunst von den Abos hat beibringen lassen und meint, es sei nichts und eure Heilerin meint, ohne uns klarzukommen tut keiner was dagegen?" Fragte Meisterin Herbregis zornig. "Sagt mal, wie erwachsen seid ihr denn, daß euch nicht klar wird, daß ihr vielleicht alle bald sterben müßt!"

"Deshalb sind Mum und ich jetzt hier, weil wir nicht sterben wollen. Aber Bo hat um Resting Rock einen Begrenzungszauber aufgebaut. Den konnten wir nur sehr schwer umfliegen. Disapparieren geht bei uns nicht, weil die Gründer von Resting Rock Angst vor den Shadelakes hatten. Wir haben ja nicht einmal einen Kamin zum Flohpulvern", sagte Annabel. Aurora bedauerte die junge Hexe. Derartig von der ganzen Welt abgeschnitten zu sein empfand sie als sehr unangenehm.

"Eulen oder Cockaburras habt ihr dann wohl auch nicht, wie?" Schnarrte Madam Herbregis.

"Doch, aber Bo hat einen Zauber gemacht, daß die nur bis zur Dorfgrenze fliegen können. Heilerin Mab bestand darauf, daß die Seuche oder der Fluch nicht aus Versehen jemanden anderen erwischt."

"Mit anderen Worten, Ms. Mellow, Ihr Dorfältester und eine unverantwortlich rückständige Person, die sich immer noch Heilerin nennen darf, haben Sie alle in diesem Dorf eingekerkert und sehen zu, wie alle sterben, ohne zu klären, warum?" Fragte Auroras Mentorin wütend. Annabel erschrak und brauchte zwei Sekunden, bis sie sich ein zustimmendes Nicken abringen konnte.

"Und Mab Creekstone hat auf alle Flucharten geprüft?" Wollte die silberblonde Heilerin noch wissen. Annabel bejahte es. "In Ordnung. Dann teste ich Sie und uns auf durch Körperkontakt überspringende Flüche. Ich kenne einige neuere, die durchaus ähnlich sein könnten, je nach Verwünschungsziel." So sprach Bethesda Herbregis zunächst einen Zauber über sich und Aurora, der jedoch keine sicht- und greifbaren Auswirkungen zeigte. Dann unterzog sie die bereits stark angegriffene Mrs. Mellow und danach ihre Tochter dem Zauber.

"Was immer es ist wirkt unmittelbar in Resting Rock. Jedoch ist es wohl ein progressiver Effekt", knurrte die Heilerin.

"Vielleicht klingt es ab, wenn wir alle von da wegholen", schlug Aurora Dawn vor.

"Das machen wir sowieso", knurrte ihre Mentorin. "Die müssen alle hier zu uns hin, damit wir klären, was genau sie so zurichtet und ob wir es kurieren können. Die beiden Damen hier werden gleich aufgenommen. Ich stelle die entsprechenden Anweisungen aus. Du gehst zu Direktor Springs und gibst ihm die Mitschrift der Anamnese!" Sie nahm die magische Schreibfeder vom nun fast vollen Pergamentblatt und kopierte dieses mehrfach. Eine Kopie gab sie Aurora Dawn. Dann schrieb sie eine Aufnahmeanweisung für Mrs. Shirley und Ms. Annabel Mellow aus und ordnete an, daß diese im Quarantänetrakt untergebracht wurden. Zwar ging von den beiden wohl keine unmittelbare Ansteckungsgefahr aus. Doch da ihre Erkrankung nicht in einen der hier geltenden Sonderbereiche eingeordnet werden konnte, war ihre Unterbringung dort besser, zumal im Moment auch niemand anderes dort stationär behandelt wurde. Die Zwanzig an Drachenpocken erkrankten Patienten vom Märzanfang waren schon seit drei Wochen genesen, und die Abteilung mehrmals mit magischen Säuberungsmitteln und Keimfreilösung gereinigt worden. Aurora Dawn verließ das hermetisch verschließbare Zimmer und eilte zum Büro von Direktor Springs. Sie sah das Türschild "Zutritt nach Anklopfen genehmigt" und klopfte kurz an die massive Eichenholztür. Als sie von drinnen ein "Herein!" vernahm trat sie ein und entschuldigte sich für die Störung. Der Leiter der Klinik lächelte sie freundlich an. Dann nahm er die Mitschrift entgegen, die von der Flotte-schreibe-Feder angefertigt worden war.

"Keine Erreger, keine Gifte, keine Flüche? Sehr merkwürdig", grummelte Direktor Springs. "Ihre Mentorin hat richtig befunden, die beiden aufzunehmen. Ich leite diese Mitschrift an Mrs. Morehead weiter. Das kann nicht angehen, daß eine aprobierte Heilerin derartig verbohrt sein kann."

"Haben wir denn genug Platz für das ganze Dorf?" Fragte Aurora.

"Gute Frage. Resting Rock ist zwar relativ klein, aber hat bestimmt an die zweihundert Bewohner. Aber die kriegen wir schon unter. Ich rufe einfach den Unterbringungsnotstand aus. Dann kann ich einen Anbau für bis zu fünfhundert Patienten öffnen."

"Das habe ich vergessen", sagte Aurora. Meisterin Herbregis hatte ihr einmal erklärt, das die Gründerin Sana Novodies ihr Krankenhaus so gebaut hatte, daß es im Falle einer magischen Katastrophe die doppelte Anzahl Patienten aufnehmen konnte. Zu deren Behandlung konnten dann niedergelassene Heiler und magische Hebammen herangezogen werden.

"Hauptsache, ich weiß es noch", erwiderte Direktor Springs schmunzelnd. Dann warf er Flohpulver in seinen kleinen Kontaktfeuerkamin. . Aurora Dawn wollte sich zurückziehen. Doch Direktor Springs hielt sie mit einer Handbewegung zurück. "Das gehört auch zu Ihrer Ausbildung, wichtige Maßnahmenentscheidungen mitzubekommen", sagte der Leiter der Sana-Novodies-Klinik. Dann steckte er seinen Kopf in die nun smaragdgrün lodernde Feuerwand im Kamin und rief: "Moreheads Hauptbüro!" Aurora hörte dann mit, wie ihr derzeitiger oberster Chef mit der Sprecherin aller Heiler Australiens sprach und dabei aus der ihm übergebenen Mitschrift zitierte.

"Creekstone? Mab Creekstone? die war zu meiner Ausbildungszeit noch in der Klinik tätig", hörte sie Laura Moreheads Stimme wie durch einen langen Tunnel klingen. "Keine Frage, Vitus, Sie veranlassen die sofortige Unterbringung aller Bewohner von Resting Rock in der Sana-Novodies-Klinik. Was immer diese Krankheit auslöst muß gefunden werden. Wenn Mab Creekstone bei Ihnen ist, geben Sie umgehend Bescheid, damit ich unsere werte Kollegin höchstpersönlich aufsuchen kann. Leider haben sie in Resting Rock keinen Kaminanschluß. Wie steht es mit der Eulenverbindung?"

"Hmm, laut Mitschrift der Befragung hat deren Ältester einen Begrenzungszauber um das Dorf gelegt, um Postvögel aufzuhalten, Laura."

"Wie viele Bereitschaftsheiler können Sie gerade freistellen, ohne den Betrieb in der Klinik zu behindern?" Wollte die Sprecherin der australischen Heilmagier wissen.

"Im Moment nur zwei, Beth und Mel. Wenn Beths Adeptin Aurora Dawn mitgezählt wird eben nur drei, Laura. Gestern war viel los. Sie haben es ja mitbekommen, das mehrere Willy-Willy-Besen aaußer Kontrolle gerieten."

"Fast unmittelbar", hörte Aurora die Sprecherin der Heiler schnauben. "Okay, dann schicken Sie Bethesda Herbregis mit ihrer Adeptin und Melchior Vineyard dort hin, um den Abtransport der Bevölkerung zu organisieren. Sollten sie dabei auf Schwierigkeiten stoßen, geben Sie mir Bescheid, dann lasse ich von Ministerin Rockridge Hilfstruppen dorthin ausschicken."

"Verstanden, Laura", erwiderte Vitus Springs. Dann verabschiedete er sich und zog seinen Kopf wieder zurück, so daß er für Aurora wieder sichtbar auf dem ihm zugedachten Hals erschien.

"Sie haben mitbekommen, daß Sie mit Ihrer Mentorin nach Resting Rock gehen mögen. Ich informiere Heiler Vineyard noch, daß er ebenfalls hingehen soll. Er ist zudem ein Experte für Flüche der Ureinwohner, falls unsere Magiekenntnisse nicht ausreichen."

"Wann sollen wir los?" Fragte Aurora.

"Gestern", antwortete Vitus Springs. "Schaffen Sie mir die Leute alle her! Ich rufe den Erweiterungszauber auf. Sie haben ja mitbekommen, daß vor allem unsere pflichtsäumige Kollegin Creekstone herkommen soll."

"Wird sie ausgestoßen?" Fragte Aurora.

"Ziemlich wahrscheinlich", knurrte Direktor Springs. "Wie wahrscheinlich genau hängt davon ab, was sie alles unternommen oder unterlassen hat. Aber so wie ich Madam Moreheads Gesicht und Tonfall deuten darf schreibt diese bereits an der entsprechenden Verfügung."

"Ich melde Meisterin Herbregis, daß wir jetzt aufbrechen müssen. Geben Sie mir das Schriftlich?"

"Natürlich", erwiderte Vitus Springs und zog eine seiner Schreibtischschubladen auf, wo er die Formularpergamente für Dienstanweisungen aufbewahrte. Er trug innerhalb einer Minute alle nötigen Sachen in eines davon ein, kopierte es dreimal und gab Aurora eine Kopie. Sogleich verließ die Adeptin im zweiten Ausbildungsjahr das Büro des Klinikleiters und eilte zurück in den Behandlungsraum, wo ihre Mentorin sehr sorgenvoll auf die Trimax-Vergrößerungsansicht des Blutes von Mrs. Mellow blickte.

"Was immer es ist, es wirkt noch weiter. Sieh dir das an, Kind!" Begrüßte Bethesda Herbregis ihre Schülerin.

Aurora blickte auf das gelbliche runde Sichtfenster und fragte, was sich verändert habe.

"Die roten Blutkörperchen zersetzen sich weiter, und die weißen haben eine schnellere Vermehrung. Wenn das Blut wirklich von dieser fremden Krankheit schneller geschädigt wird, als die natürliche Erneuerung stattfindet, ist klar, das die Körper der Patienten nicht lange durchhalten."

"Ist es nur das Blut?" Fragte Aurora.

"Ich habe auch eines der ausgefallenen Haare unter das Glas gehalten. Es ist löcherig wie ein schweizer Käse. Deshalb halten die Haarwurzeln auch nicht fest. Damit steht fest, daß die Erkrankung auch die Haut zerstört, langsam aber unübersehbar."

"Also ist es was, das den Körper ganz langsam auflöst?" Fragte Aurora. "Eine Art schleichende Verschwinditis?"

"Verschwinditis hat magisch genau nachweisbare Ursachen. Hier finde ich keine. Aber wir müssen los. Vitus hat mir schon mentiloquiert, daß du mit einem Außeneinsatzbefehl zu mir unterwegs bist." Aurora nickte und gab ihrer Lehrerin das entsprechende Formular.

"Was Sie beide angeht, Mrs. und Ms. Mellow, so werden Sie unverzüglich hier aufgenommen. Da ich erkennen konnte, daß Ihr Blut stark geschädigt wurde und immer noch wird, werde ich meine Kollegen anweisen, Sie der Chapel-Whitesand-Therapie zu unterziehen."

"Was ist das für eine Therapie?" Wollte Annabel Mellow wissen. Bethesda Herbregis blickte Aurora an und wies sie damit an, die Frage zu beantworten.

"Das ist eine komplette Bluterneuerungstherapie, Ms. Mellow. Ihnen wird zunächst ein Blutauffrischungstrank mit verzögerter Wirkung verabreicht. Dann wird Ihnen in dem Maße altes Blut abgezapft, wie der Trank neues Blut ausbilden kann. Das ist eine sehr auszehrende, aber gegen schwere Blutvergiftungen und Blutparasiten einzig wirksame Behandlungsart. Die Therapie wurde vor dreißig Jahren von den Heilerinnen Maye Chapel und Modesty Whitesand entwickelt, als ein Zauberer Gefahr lief, dem Vampirismus zu erliegen."

"Ich habe die Bereitschaftslabore schon angewiesen, Bluterneuerungstränke nachzubrauen und den vorhandenen bereitzustellen", sagte Meisterin Herbregis. Dann beschwor sie ein weiteres Behandlungsbett herauf und ordnete an, daß Annabel Mellow sich darauflegte. Wenige Minuten später waren die beiden Hexen aus Resting Rock im Quarantänetrakt. Bethesda Herbregis und ihre Schülerin packten eine große Kiste mit Ausrüstung zusammen, die vor allem aus einem Satz Braukesseln, Rührbesteck, Zaubertrankzutaten, einigen Meßinstrumenten für Zauberkraft, Trimax-Gläsern und jeder Menge Keimbanntrank und Keimfreilösung bestand. Natürlich wurden auch zahlreiche Zutaten eingepackt. In zehn Minuten waren die beiden Heilhexen reisefertig. Sie holten sich zwei Nimbus 1500 aus dem Lager für Flugbesen, weil die heimischen Rennbesen im Moment wegen eines Serienproduktionsfehlers nicht benutzt werden durften. Aurora war froh, auf einem Besen zu reiten, den sie sehr gut beherrschte. Bethesda Herbregis wies den etwas jüngeren Kollegen Melchior Vineyard an, nur bis auf fünf Kilometer an Resting Rock heranzuapparieren. Sie wußten ja nicht, wo die Apparationsgrenze genau verlief. Aurora fragte vorsichtig, ob zehn Kilometer nicht sicherer wären und verwies darauf, daß um das französische Zaubererdorf Millemerveilles eine magische Absperrung lag, die von außen kommende Apparatoren im Umkreis von zehn Kilometern abwies. Bethesda Herbregis überlegte kurz. Fünf Kilometer mehr bedeuteten bei mitgeführter Ausrüstung zwei Minuten mehr Flugzeit. Doch dann nickte sie und korrigierte die Zielanweisung. Melchior Vineyard, dessen Urgroßeltern väterlicherseits australische Ureinwohner waren, und dessen Haut deshalb ein klein wenig dunkler getönt war als die Auroras, willigte ein und disapparierte mit einem Sack voller Zutaten. Dann folgten Aurora und Bethesda, die zwischen sich die größere Kiste hielten. Bethesda übernahm dabei die Zielausrichtung, während Aurora sich darauf konzentrierte, in der Nähe ihrer Mentorin zu bleiben. Dann verschwanden die beiden Hexen aus der Sana-Novodies-Klinik.

"Der Vorschlag, ein wenig weiter weg zu apparieren war lebensrettend", stellte Melchior Vineyard fest, als sie ankamen. Er hielt einen mit merkwürdigen Gravueren übersäten Stein hoch, der leise summte. "Irgendwer hat den Zauber gegen unerwünschte Gäste gewirkt. Wer in seinen Wirkungsbereich eintritt, ohne das Gegenritual angewandt zu haben, stirbt innerhalb einer Minute einen qualvollen Tod. Mein Warnstein reagiert so heftig, daß wir bestimmt schon ganz in der Nähe davon sind."

"Das wollen wir doch mal nachprüfen", knurrte Bethesda Herbregis und holte ein speziell zum Auffinden von großflächig wirkenden Flüchen gefertigtes Instrument aus dem Ausrüstungskasten. Dieses sprach nicht an.

"Sie müssen die Sensibilität des Maledictometers verändern", sagte Melchior Vineyard. "Der Zauber gegen unerwünschte Besucher wirkt anders als ein hermetischer Fluch, weil es ein Ritual ist und kein sofort aufrufbarer Zauber."

"Hatte Vitus Sie nicht schon vor einiger Zeit gebeten, unsere Instrumente auf die Flüche und Zauber der Ureinwohner zu kalibrieren?" Fragte Meisterin Herbregis. Doch ihr Kollege, den Aurora auf gerade einmal zehn Jahre älter als sie selbst schätzte, antwortete ganz unbefangen:

"Gerade weil ich im Moment der einzige Experte für diese Zauber bin wurde ich in den letzten Monaten dauernd durchs Land geschickt, weil es einige Weiße doch geschafft haben, echte Magier unter den Medizinleuten meiner Vorfahren zu ärgern oder sich von ihnen Glückszauber und Liebeszauber abzubitten, die nicht ohne entsprechende Nachwirkung benutzt werden können."

"Schon daran gedacht, einen Fortbildungskurs für aprobierte Heiler zu geben?" Fragte Bethesda Herbregis den Kollegen.

"Oh, da müßte ich zehn Jahre drauf ansetzen", sagte Melchior Vineyard. "Deshalb hat die gute Laura mich ja auch noch nicht dazu verdonnert."

"Wenn dieser Zauber hier wirkt, können wir nicht nach Resting Rock hinein, geschweige andere Heiler und Ministeriumszauberer herkommen lassen", knurrte Bethesda Herbregis.

"Wir können da schon rein. Ich muß nur das Ritual gegen die bösen Mächte wirken und euch beide mit da einbeziehen. Es wirkt dann einen ganzen Mond lang. Aber ich denke, so lange wollt ihr eh nicht hierbleiben."

"Du kannst dann auch mit hinein?" Fragte Bethesda Herbregis ihren Kollegen.

"Wenn ich ihn gegen einen bereits vorherrschenden bösen Zauber wirken muß nicht, weil ich dann als Kraftübermittler für die Wirkung außerhalb der bösen Magie verbleiben muß. Das heißt, ihr könnt dort nur zu zweit hinein, wenn es mir gelingt, die Macht des Abwehrzaubers zu überlagern."

"Kannst du dann auch jeden anderen damit versehen?" Fragte Bethesda Herbregis.

"Ich bin nicht so mächtig wie ein echter Stammeszauberer. Ich kann wohl gerade drei selbst für Magie empfängliche Leute damit schützen", sagte Heiler Vineyard. Aurora sah ihn leicht betrübt an. Hieß das jetzt, daß nur sie und ihre mentorin nach Resting Rock gelangen konnten, ohne einem gefährlichen zauber zum Opfer zu fallen? Als habe der Fachkollege für Zauber der Aborigines ihre gedachte Frage gehört sagte er:

"Ich weiß, daß klingt jetzt sehr unangenehm. Aber im Moment könnte ich nur euch beide da reinschicken, wenn ich überhaupt genug Kraft auf euch übertrage, um gegen das Ritual zu bestehen."

"Dann fang an!" Knurrte Bethesda Herbregis sehr ungehalten.

Aurora stellte fest, daß die Ritualmagie der Ureinwohner wesentlich zeitaufwendiger war als die von ihr erlernten Zauber. Melchior mußte ein Feuer machen, einen meditativen Singsang anstimmen und dazu mit zwei Holzstücken den Rhythmus klopfen. Das dauerte schon eine Stunde. Dann kam die eigentliche Beschwörung. Bethesda und Aurora mußten um das in einem Steinkreis prasselnde Feuer tanzen und dabei genau auf den Gesang ihres Kollegen lauschen, der einen eigenen Tanz veranstaltete, um die magischen Kräfte herbeizurufen und an seine Kollegen weiterzugeben. Aurora fühlte, wie etwas ungreifbares sie umfing, in sie eindrang und sich in ihr immer mehr bündelte. Es dauerte eine weitere Stunde, bis Melchior Vineyard am Rande der Erschöpfung eine schnelle Folge von Silben sang und dabei in großen Sprüngen um das brennende Feuer tanzte, von dem und dem Boden aus diese unfaßbare und doch spürbare Kraft nun pulsierend auf die beiden Heilhexen einströmte, bis ihr Kollege mit einem letzten lauten Ton den Gesang beendete. Seine Stimme hallte noch einige Sekunden im umgebenden Gebirgsland nach. Dann war nur noch das Knistern des Feuers zu hören.

"Es hat geklappt", seufzte Melchior Vineyard. "Fliegt nun los. Ich hüte das Feuer", brachte er noch hervor, bevor er knapp am Rande der Ohnmacht niedersank. Bethesda Herbregis und ihre Schülerin betteten ihn auf mehrere Kissen und hängten die Ausrüstung an die Besen. Dann flogen sie los, ihren Kollegen mit einem kleinen Vorrat Wasser und Lebensmitteln zurücklassend.

"Sie waren wohl drei Minuten unterwegs, als Aurora fühlte, wie etwas von außen versuchte, sie festzuhalten und dabei immer wieder von ihr abrutschte wie an einer glatten Eiswand. Sie fragte ihre Mentorin, ob sie das auch verspürte. Diese mentiloquierte ihr zu, daß sie es wohl merkte.

Dann erreichten sie das kleine, in Sichtweite eines grauen, an die hundert Meter hohen Felsens angelegte Dorf mit etwa dreißig um einen Versammlungsplatz aufgestellten Holzhäusern. Keiner war auf den Straßen, den Gärten oder auf den Feldern zu sehen. Es schien, als sei das Dorf völlig ausgestorben. Aurora fürchtete schon, daß die geheimnisvolle Krankheit in der Zeit, wo die Mellows von ihr und Meisterin Herbregis untersucht worden waren, alle anderen getötet hatte, weil zwei entkommen waren. Doch dann konnte sie einen uralten Mann mit tiefbrauner Haut und einer breiten Nase sehen, der aus dem größten Haus direkt am zentralen Versammlungsplatz heraustrat und wütend gestikulierte. Sein schlohweißes Haar hing in losen Strähnen vom Kopf herab, und der betagte Zauberer schien sich nur schwer auf den Beinen halten zu können.

"Du gehst zu den Häusern!" Wies Bethesda Herbregis ihre Schülerin an. "Ich spreche mit diesem Herrn da."

"Hoffentlich greift er dich nicht an, Meisterin Herbregis", erwiderte Aurora.

"Das soll er mal wagen", knurrte die Heilerin. "Dann kriegt er ziemlichen Ärger." Aurora nickte. Die beiden Hexen aus der Sana-Novodies-Klinik landeten auf dem Versammlungsplatz. Meisterin Herbregis schritt kerzengerade auf den alten Zauberer zu, der sie und ihre Adeptin zornig anfunkelte.

"Wer immer Ihnen geholfen hat, mein Lied gegen Störenfriede zu überwinden, verschwinden Sie hier wieder!" Schnarrte der uralte Magier. Aurora sah ihn für einige Sekunden genau an. Auch in dessen Gesicht erblühten bereits jene roten Blasen, mit denen Shirley Mellows Körper verunziert war.

"So wie Sie und wohl alle anderen hier aussehen haben Sie sehr dringend heilkundlichen Beistand nötig", schnarrte Bethesda Herbregis sehr unerbittlich zurück. "Wir haben zwei von Ihren Mitbewohnerinnen bei uns in der Sana-Novodies-Klinik aufnehmen müssen, weil sie den akuten Auswirkungen einer tödlich verlaufenden Erkrankung unterliegen. Ich bin Heilerin Bethesda Herbregis und das ist meine Auszubildende im zweiten Jahr Aurora Dawn. Sie müssen der Dorfälteste sein."

"Sieht man das nicht?" Shnarrte der alte Zauberer verächtlich. "Ich habe hier das Sagen. Und auch wenn Sie mein Lied gegen Störenfriede irgendwie übertönt haben haben Sie hier nichts zu suchen. Wir haben eine Heilerin. Auf jeden Fall haben Sie sich jetzt diesem alten Fluch ausgesetzt, der uns alle betrifft und dürfen hier nicht mehr weg. Ich habe eine Grenze gezogen, die auch ihr Gegenritual nicht mehr passieren kann. Es ist unverzeihlich, daß die Mellows unerlaubt davongeflogen sind. Sie werden diesen Zorn der Geister nun auch auf alle anderen übertragen."

"Aurora, führe bitte meine Anweisung aus und bring die Leute hier dazu, sich zu versammeln, damit wir sie alle hier wegbringen können!" Herrschte Meisterin Herbregis ihre Adeptin an, die immer noch da stand und dem Wortwechsel lauschte. Aurora verstand und ließ ihren Besen mit der Ausrüstung am Rande des Versammlungsplatzes zurück. Sie fragte sich jedoch, ob sie wirklich alle aus dem Dorf hinausbringen konnten, wenn der wütende alte Zauberer wirklich eine Absperrung errichtet hatte.

Sie klopfte an die ersten Haustüren, während sich Bethesda Herbregis und Bo lautstark unterhielten. Ein kleines Mädchen mit hellblonden Haaren blickte durch das Fenster links von der Tür. Von drinnen erklang eine leicht erschöpft klingende Frauenstimme: "Wir dürfen nicht mehr rausgehen."

"Sie müssen raus, Madam. Meine Lehrmeisterin und ich haben Anweisung, Sie alle in die Sana-Novodies-Klinik zu bringen", erwiderte Aurora Dawn.

"Bo hat die Türen versperrt. Keiner kommt mehr ohne seine Erlaubnis raus."

"Sie lassen sich gefangenhalten?" Fragte Aurora nun zwischen Verwirrung und Verärgerung schwankend.

"Er ist Meister alter zauber, gegen die wir nichts machen können", sagte die Hausbewohnerin. Aurora ging an die Tür und zog daran. Ein Gefühl, als liefen tausende von Ameisen im Eiltempo über ihren Arm ließ sie einen winzigen Moment zögern. Doch dann zog sie entschlossen an der Tür, die laut knarrend aufging.

"Wie Sie sehen kann ich die Tür aufmachen", knurrte Aurora verärgert. "Jetzt können Sie und ihre Tochter rauskommen."

Das kleine Mädchen rannte die Warnung ihrer Mutter überhörend durch die Tür ... und freute sich, weil nichts passierte. Ihre Mutter stürmte mit angstgeweiteten Augen aus dem Haus. Im gleichen Moment setzte Bo mit einem magischen Gesang an. Doch dieser brach unverzüglich wieder ab, als Bethesda Herbregis "Silencio!" und "Incarcerus!" rief.

"Wer bist du?" Fragte das Mädchen, das sich über die wiedergeschenkte Freiheit freute. Aurora stellte sich freundlich lächelnd vor und erfuhr, daß das Kind und ihre Mutter die Wollongers waren. Der Vater des Mädchens war vor einer Woche an dieser schleichenden Krankheit gestorben und verbrannt worden.

"Dieser alte Narr wollte mich doch glatt mit einem archaischen Bann belegen", knurrte Bethesda Herbregis. "Ich habe ihn an den Brunnen gefesselt. Und da soll der bleiben, bis wir alle hier aus dem Dorf haben."

"Das ist meine Lehrmeisterin, Großheilerin Herbregis", stellte Aurora ihre Mentorin vor. Liza Wollonger blickte sie nur an. In ihrem Gesicht und auf ihren Händen zeigten sich bereits die roten Blasen, und ihr hellblondes Haar, das bestimmt einmal voll und geschmeidig gewesen war, hing stark gelichtet über ihre Schultern herab. Ihre Tochter Selma zeigte noch keine Anzeichen der hier grassierenden Epidemie.

"Meine Adeptin hat es Ihnen wohl schon gesagt, daß wir sie in die Sana-Novodies-Klinik bringen müssen", sagte Bethesda Herbregis.

"Sie beide alleine?" Fragte liza Wollonger. "Bo hat die Grenze verstärkt, nachdem er heute morgen mitbekommen hat, daß Shirley und Annie Mellow sich davongemacht haben. Hier kommt keiner mehr raus. Dann hat er heute Mittag unsere Häuser mit einem Bannzauber belegt, daß wir nicht mehr rausgehen können."

"Wollte der Sie verhungern lassen?" Fragte Meisterin Herbregis sehr empört.

"Mab ist noch frei. Sie hätte uns dann wohl was gebracht."

"Apropos, wo finde ich diese Kollegin von uns?" Fragte Bethesda Herbregis.

"Sie sammelt wohl neue Heilkräuter. Könnte aber bald zurück sein. Sie und ihr Cousin Bo haben verfügt, daß wir alle hierbleiben sollen, um den Fluch, den wir bis jetzt nicht erkennen können, nicht auf andere zu übertragen."

"Woher wissen die beiden so genau, daß diese Erkrankung auf andere übertragen wird?" Fragte Bethesda Herbregis. "Wenn keiner hier herauskommt und niemand von außen hereinkam ist das doch nur eine Vermutung."

"Heilerin Mab meinte, daß wir verhindern müssen, daß andere das abbekommen. Sie findet keine Erreger. Sie sagt nur, daß irgendwas unsichtbares unsere Körper zersetzt, je älter jemand ist desto schneller. Bo ist wohl deshalb noch am Leben, weil er einen Talisman bei sich trägt, der seinen Körper widerstandsfähiger macht."

"Ist das nicht selbstlos", spottete Bethesda Herbregis. "Anstatt er diese Art von Schutzzauber auch für Sie anderen benutzt, überläßt er sie dieser tückischen Krankheit."

"Das Ding ist ein Geschenk seiner Abo-Vorfahren und soll die bösen Geister der Traumzeit fernhalten", sagte Liza. Aurora Dawn sah ihre Lehrmeisterin an und versuchte ihr was zuzumentiloquieren. Doch sie schaffte es nicht, die Gedankenfrage zu stellen, ob sie die anderen Dorfbewohner aus den Häusern holen sollte. Es war wie ein wütender, durch ihren Schädel brausender Hornissenschwarm, als sie versuchte, mit voller Kraft zu mentiloquieren. Sie flüsterte ihrer Mentorin zu, daß das Gedankensprechen blockiert würde.

"Habe ich auch schon festgestellt. Der alte Narr hat wohl auch einen Bann gegen Gedankenübermittlungen gewirkt", sagte diese. "Okay, hol die anderen Bewohner aus den Häusern. Unser Schutz macht wohl, daß wir diese Sperren überwinden können."

"In Ordnung, Meisterin Herbregis", bestätigte Aurora Dawn und lief begleitet von Selma Wollonger los, um die anderen Dorfbewohner aus den Häusern zu trommeln.

Wie vorhin auch fühlte Aurora bei jedem der Häuser etwas wie eine über ihre Arme hinwegrasende Ameisenarmee, als sie die Türen öffnete. Doch der Einsperrzauber, den der alte Bo gewirkt hatte, kam nicht gegen das von Mel Vineyard durchgeführte Ritual an. So versammelte Aurora nach und nach die Dorfgemeinschaft auf dem zentralen Platz, wo der Dorfälteste mit starken Stricken am Brunnen angebunden war und sich wütend wand und den Kopf schüttelte, als könne er den ihm aufgehalsten Schweigezauber damit los werden. Bei einigen bereits schwerkranken Bewohnern mußte die Lernheilerin Tragen heraufbeschwören und die von starkem Haarausfall und roten Blasen gezeichneten Dörfler neben sich herschweben lassen. Bo warf den beiden Sana-Novodies-Hexen einen verächtlichen Blick nach dem anderen zu.

"Wo bleibt diese Mab Creekstone?" Schnarrte Bethesda Herbregis.

"Sie wird wohl noch auf ihrer Heilkräuterfarm unterwegs sein", sagte einer der jüngeren Bewohner, bei dem die Auswirkungen der unheimlichen Krankheit noch nicht zu sehen waren. Bethesda Herbregis fragte, wo das sei, als aus knapp hundert Metern Höhe eine in blaue Tücher gehüllte Hexe auf einem knorrigen Transportbesen herabsank, an dem große Ledersäcke hingen. Als die landende Hexe die Versammlung der Dorfbewohner und die auf Tragen gebetteten Kranken sah, stürzte sie fast ab. Bo wand sich noch heftiger in seinen Fesseln, die unvermittelt zerfielen, als die landende Hexe eine schnelle Zauberstabbewegung vollführte. Dann setzte die Besenreiterin auf. Sie trug einen hellblauen Wickelrock und darüber einen Kapuzenmantel. Die Kapuze hatte sie mit Schnüren unter dem Kinn fest um ihren Kopf gebunden. Sie wirkte steinalt wie Bo, nur daß sie eine helle Hautfarbe und europäisch geprägte Gesichtszüge besaß. Dennoch fiel Aurora eine gewisse Ähnlichkeit zu Bo auf, der nun, wo er wieder frei war, die Fäuste ballte und wegscheuchende Bewegungen gegen seine Mitbewohner machte. Offenbar wollte er sie wieder in ihre Häuser zurücktreiben. Dann wandte er sich Bethesda Herbregis zu, die ihren Zauberstab auf ihn richtete. Bo griff unter seinen staubigen Umhang, wohl um selbst einen Zauberstab zu zücken. Die Hexe in blauen Tüchern schwenkte ihren Zauberstab auf Bethesda Herbregis ein. Aurora reagierte unverzüglich. Sie hob ihren Zauberstab und rief "Stupor!" Vom roten Schockblitz getroffen stürzte die uralte Hexe zu Boden.

"Na, das war aber am Rande eines schweren Verstoßes gegen den Heilerkodex, Aurora", rügte Bethesda Herbregis ihre Schülerin, nachdem sie mit einer schnellen Bewegung den freigekommenen Bo von einem Schwarm Seile fesseln ließ.

"Ich weiß nicht, was sie vorhatte, Meisterin Herbregis", rechtfertigte Aurora ihre Handlungsweise. "Die sah mir so aus, als wolle sie Ihnen einen Fluch aufhalsen."

"Untersuche sie und nimm ihr dabei den Zauberstab ab!" Wies Bethesda Herbregis ihre Adeptin an. Diese nickte und trat zu der von ihr betäubten Hexe. Nach zweimaligem Diagnosezauber stellte sie fest, daß die Geschockte sich bei ihrem Sturz nichts gebrochen hatte. Sie nahm ihr den Zauberstab ab und gab ihn an ihre Lehrmeisterin weiter. Die Dorfbewohner standen während der ganzen Szene völlig unbeteiligt da und beobachteten die beiden Hexen, die die Machtverhältnisse in Resting Rock in wenigen Minuten auf den Kopf gestellt hatten.

"Lass sie erst einmal so liegen, Aurora. Wir müssen die Apparitionssperre aufheben, um die Patienten in die Klinik transportieren zu können", sagte Bethesda Herbregis.

"Das klappt nicht. Die Mauer ist von den Gründern errichtet worden und hält einen Monat an, wenn der letzte Bewohner hier heraus ist", sagte Logan Mathews, ein dunkelhaariger Zauberer, der hier als Grundschullehrer arbeitete.

"Ich weiß, damals waren die Shadelakes nicht gut auf die Treebarks zu sprechen. Aber die leben doch schon seit fünfzig Jahren nicht mehr hier", erwiderte Großheilerin Herbregis. Mathews nickte.

"Wie wirkt dieser Begrenzungszauber?" Wollte Aurora Dawn wissen.

"Er läßt keinen durch, solange er nicht die Erlaubnis von Bo hat", sagte Mathews. "Der Alte und seine verstockte Cousine da haben uns die letzten Wochen hier krepieren lassen. Wie die Mellows rausgekommen sind weiß ich nicht."

"Aber ich", knurrte Bethesda Herbregis. "Erstens war dieser Begrenzungszauber gestern noch durchlässig und zweitens von einer besorgten Mutter leicht zu überwinden. Sie hätten also alle mit ihren Kindern und Kindeskindern aus Resting Rock flüchten können, solange dieser menschenfreundliche Zeitgenosse hier geschlafen hätte."

"Warum läßt Bo uns nicht weg?" Fragte Selma Wollonger frei heraus. Bo straffte sich in den neuen Fesseln und versuchte, seine betäubte Verwandte und Gehilfin anzublicken.

"Er meint, wir würden andere mit unserem Fluch anstecken", sagte Liza Wollonger.

"Wenn es ein Fluch ist, dann wirkt er nur hier. Wir haben keine bösartige Magie entdeckt, als Mrs. Mellow und ihre Tochter bei uns ankamen. Zunächst einmal gilt es, Sie alle hier aus dem Ort zu kriegen und zur Behandlung in die Sana-Novodies-Klinik zu transportieren", sprach Bethesda Herbregis mit weit klingender Stimme. Bo grinste verächtlich.

"Wir sind dreihundert Leute, die Hälfte davon schon so gut wie tot", stieß ein sich gerade noch auf den Beinen haltender Dorfbewohner aus.

"Ich werde mit einem Patienten neben mir losfliegen, bis wir dort sind, von wo gefahrlos disappariert werden kann", sagte Bethesda Herbregis. Aurora, du bleibst hier und versorgst die Schwerkranken mit analgetischen Tränken!"

"Jawohl, Meisterin Herbregis", bestätigte Aurora Dawn. Dann sah sie noch zu, wie ihre Lehrerin ein Tragegeschirr heraufbeschwor, in das sie eine der Tragen quer hinter ihrem Besen einhängte. Dann hob sie ab, und die Trage hing sicher hinter dem fliegenden Besen.

"Ui, das geht auch?" Fragte ein wohl gerade zwanzig Jahre alter Dorfbewohner, der neben einem dunkelbraunhaarigen Mädchen mit blaßgrünen Augen stand.

"Der ist vor einem Jahr von der magischen Heilzunft als neuer Transportzauber zugelassen worden", sagte Aurora und überblickte die Ansammlung. "Sie haben es gehört, daß ich allen, die es brauchen, schmerzstillende Tränke geben soll. Ich fange bei denen an, die bereits schwerkrank sind."

"Und was ist mit Heilerin Mab? Soll die so bleiben?" Fragte ein älterer Zauberer.

"Sie hat unsere Maßnahmen behindert und wollte nicht, daß wir Sie fortbringen. Sonst hätte sie nicht Ihren Dorfältesten befreit."

"Wer sagt uns, daß Bo unrecht hat und wir den Fluch oder was es ist nicht doch weitergeben?" Wurde sie aus den Reihen der versammelten Dorfbewohner gefragt. "Sie kommen einfach her und machen was, ohne genau zu wissen, ob das richtig ist."

"Weil das unsere Pflicht ist, kranken Hexen und Zauberern zu helfen und wir allen Grund haben, anzunehmen, daß Sie alle hier keinen weiteren Monat überleben werden, wenn Sie nicht von mehreren Spezialisten behandelt werden. Da Ihr Dorfältester ja meinte, mit einem alten Zauber gegen unerwünschte Gäste jeden Helfer aussperren zu müssen, können wir Sie nur nach und nach hier herausbringen und keinen weiteren Heiler herrufen", antwortete Aurora Dawn. Sie fühlte, wie die Erleichterung, aus den versperrten Häusern herausgekommen zu sein, immer mehr in Argwohn umschlug. Einer fragte dann auch, was mit den Häusern geschehe, wenn alle aus Resting Rock verschwunden seien. Aurora beteuerte, daß die Häuser verschlossen blieben und niemand von außen sich daran vergreifen würde. Doch der Frager hakte nach und wandte ein, daß das vielleicht die Absicht des Unbekannten sei, der sie alle mit dem Fluch getroffen habe, um an Resting Rock heranzukommen. Aurora hätte ihn daraufhin fast gefragt, was es denn so wertvolles hier gebe, daß jemanden zu einem derartigen Schlag treiben mochte. Doch statt dessen sagte sie so ruhig sie konnte:.

"Erst einmal müssen Sie wieder gesund werden. Ihre Kinder haben diese Krankheit auch schon in sich, auch wenn sie noch nicht davon betroffen wirken. Wollen Sie echt Ihre Kinder zusehen lassen, wie erst Sie sterben und sie dann hier verhungern oder an der Krankheit sterben lassen?"

"Wir wollen vor allem nicht, daß Resting Rock ausgeplündert wird, nur weil Sie und ihre Zuchtmeisterin von der Sano unsere Heilerin für unfähig halten und einfach beschließen, uns mal eben hier wegbringen zu müssen", tönte einer der älteren Zauberer, der bestimmt schon siebzig Jahre zählte und wiegte seinen Kopf, worauf ein Büschel grauer Haare aus seinem stark gelichteten Schopf herausrutschte und federleicht zu Boden schwebte. Aurora erkannte, daß die Stimmung sich gerade gegen sie und ihre Mentorin gekehrt hatte. Sie galten jetzt nicht mehr als Befreier sondern Handlanger dessen, der das Dorf so oder so leerräumen wollte.

"Wielange glauben Sie, daß Sie noch leben, wenn Sie niemand behandelt?" Fragte die Lernheilerin verdrossen und blickte alle älteren Hexen und Zauberer an, die bereits die Zeichen der unheimlichen Seuche trugen. "Was hat Ihre ansässige Heilerin erreicht, außer Ihnen ein paar Schmerzmittel zu geben? Es sind schon mehr als zehn Ihrer Mitbewohner gestorben, weil Ihre Heilerin nicht ergründen konnte, was Sie alle hier krank macht. Also was sorgen Sie sich jetzt um Ihre Häuser und Grundstücke? Ihr Leben sollte Ihnen hundertmal mehr wert sein, und vor allem das Leben Ihrer Kinder. Selma wird, wenn das so weitergeht, ihre Einschulung nach Redrock nicht mehr erleben."

"Du redest viel, Mädchen. Dabei habt ihr doch selbst keinen Funken Ahnung, wer uns da wie verflucht hat", spie ihr eine ältere Hexe entgegen, die gewisse Ähnlichkeiten mit Mab Creekstone hatte. Aurora Dawn sah sie geradeheraus an und sagte:

"Ja, nur in der Sana-Novodies-Klinik gibt es mehr als zwanzig erfahrene Heiler, die sich jedes Jahr auf den neuesten Stand bringen und daher mehr Möglichkeiten haben, Ihnen allen zu helfen. Unser Kodex befiehlt uns, jedem kranken magischen Mitmenschen zu helfen, auch dann, wenn er sich nicht helfen lassen will."

"Hat Mab auch gesagt. Deshalb meint sie ja auch, daß wir hierzubleiben hätten. Und ihr Vetter Bo denkt, die Geister seiner Ahnen sind auf uns wütend, weil wir uns hier angesiedelt haben. Die Magie der Abos ist anders als das, was die in Redrock unterrichten. Aber deinem Akzent nach warst du wohl auf der alten Insel in Hogwarts, nicht wahr. Finden die hier in Australien keine neuen Heiler mehr?" Wollte ein anderer Zauberer wissen.

"Ja, ich war in Hogwarts. Aber das tut jetzt nichts zur Sache. Die Heilmagie in England ist nicht anders als die hier in Australien. Und wie gesagt, es bringt Ihnen über haupt nichts, an das Wohl Ihrer Häuser hier zu denken, wenn Sie alle eine tödliche Krankheit in sich tragen. Ob sie von einem Fluch kommt wissen wir nicht. Sie wird auch nicht durch Mikroben oder andere Erreger verursacht. Ihr Blut wird von etwas unsichtbarem zersetzt, ebenso wie Ihre Haut. Wir müssen herausbekommen, was das ist und behandeln. Wenn es eine böse Kraft ist, die wirkt, dann wirkt sie vordringlich hier."

"Was du nicht sagst, Mädchen", knurrte die Hexe, die Mab Creekstone ähnelte. Konnte es eine Tochter oder Nichte von ihr sein. "Jedenfalls lassen wir uns nicht von hier verjagen."

"Das will auch keiner", sagte Aurora. Da sah sie, wie sich mehrere Zauberstäbe gegen sie richteten und fühlte unvermittelt Angst aufsteigen. Gerade wollte sie rufen, daß sie doch bloß keine Dummheiten machen sollten, als Liza und Selma Wollonger zwischen sie und die aufgebrachten Dörfler sprangen.

"Ey, laßt sie in Ruhe!" Rief Selma mit Angst in der Stimme. Sofort traten weitere Eltern mit ihren Kindern als lebender Schutzwall zwischen die verärgerten Nachbarn und die junge Lernheilerin.

"Sie hat recht. Wegen der Kinder müssen wir hier raus. Was bringt uns das, hier zu warten, wie einer nach dem anderen wegstirbt. Wollt ihr echt noch länger zusehen, wie es uns so ergeht wie Jimmy?" Rief eine junge Frau, die ein gerade einmal sieben Monate altes Baby auf dem Arm hatte. Auch ihr gingen schon die Haare aus. "Ich kann Annies Mutter verstehen, daß sie mit ihr abgehauen ist. Ich hätte mit Dougy hier auch schon längst verschwinden müssen. Aber du, Fred, du hängst an diesem abgelegenen Nest in den Bergen." Sie deutete auf einen Zauberer in grünem Umhang. "Du würdest lieber zusehen, wie Dougy und ich draufgehen, damit du stolz sagen kannst, daß niemand deine Familie von hier verjagt hat."

"Du hättest doch verschwinden können, Roshelle", knurrte der Angesprochene Zauberer. "Oder hattest du Angst, das Bos Abo-Geister dich fressen und unseren Douglas gleich mit?"

"Vielleicht", schnarrte die junge Mutter. "Jedenfalls wollte ich nicht ohne dich weggehen, du Troll."

"Du hast damals gesagt, du willst nicht in dieser überdreht hektischen Zaubererwelt leben, wo sie immer mehr Muggelstämmige haben als reinblütige Zauberer. Ich hör's noch, wie du sagst, daß du lieber auf 'ner einsamen Insel verrecken möchtest, als dir von besserwisserischen Muggelgeborenen erzählen zu lassen, wie die Zaubererwelt zu funktionieren hat. Frag die da doch mal, ob sie reinblütig ist oder nicht, bevor du meinst, für sie einstehen zu müssen!"

"Ich dachte, Shadelakes Ideen wären hier nicht willkommen", preschte Aurora Dawn vor. Schlagartig wurde es still. Sie erkannte, daß der Name der auf Reinblütigkeit versessenen Zaubererfamilie hier genauso einschüchternd wirkte wie der Name dessen, der vor fünf Jahren noch ganz Britannien und Irland in Angst und Schrecken gehalten hatte. So sagte sie noch: "Unabhängig davon, ob ich einen ellenlangen Stammbaum von ausschließlich reinblütigen Vorfahren vorweisen kann oder mindestens einen Muggel als Elternteil habe, bin ich ausgebildete Hexe und bereits im zweiten Jahr meiner heilmagischen Ausbildung und habe daher eine gewisse Kompetenz, die zumindest die anderen Eltern hier offenbar respektieren möchten, um ihre Kinder in Sicherheit zu bringen. Es nützt hier keinem was, wenn er oder sie in den nächsten Wochen sterben muß. Denn eines wissen wir auf jeden Fall: Die Krankheit erfaßt jeden hier, ohne Ausnahme. Selbst Ihr Dorfältester ist bereits betroffen. Also befolgen Sie bitte die Anweisung der Heilzunft! Wir haben den unmittelbaren Auftrag, jeden von hier in die Sana-Novodies-Klinik zu bringen, um ein Mittel gegen die Erkrankung zu finden." Ein starker Windstoß fegte über den Platz und wirbelte Staub auf, der wie eine hauchzarte Nebelwolke um die Füße der Dorfbewohner und der angehenden Heilerin herumstrich.

"Der Begrenzungszauber wird keinen von uns hinauslassen", betonte der Dorfschullehrer von Resting Rock. Wie zur Bestätigung seiner Worte erzitterte die Luft wie bei einem dröhnenden Donnerschlag. Doch es war nichts dergleichen zu hören. Die Dorfbewohner blickten bange in die Richtung, in der Bethesda Herbregis mit einer Trage davongeflogen war. Wieder erzitterte die Luft. Der gefesselte Bo grinste überlegen.

"Ihre Kollegin kommt nicht durch", sagte Fred. "Wir kommen hier nicht raus."

"Dann wird Ihr Dorfältester diese Begrenzung eben wieder abbauen. Es sei denn, er möchte als Ihr Mörder in die Welt seiner Ahnen eingehen", sagte Aurora kalt und blickte Bo durchdringend an. Doch dieser blickte nur überheblich zurück. Ein Schwirren in der Luft ließ alle nach oben blicken. Bethesda Herbregis kam mit ihrer Ladung zurückgeflogen. Ihr Gesicht war eine Maske unbändiger Wut. Aurora wußte, daß ihre Mentorin streng aber sehr beherrscht auftreten konnte. Jetzt sah sie so aus, als wolle sie gleich jemanden erwürgen oder mit dem Todesfluch umbringen.

"Sie da, Bo oder wie Sie heißen, entfernen auf der Stelle die archaische Abgrenzung um Resting Rock!!" Schrillte Meisterin Herbregis, bevor sie landete.

"Ich fürchte, dazu muß er erst wieder reden können", sagte Fred. Auroras Lehrerin sprang vom Besen und funkelte ihn sehr zornig an. Dann wandte sie sich an Bo.

"Sie bilden sich wohl viel auf Ihre Aborigine-Magie ein, Sir. Aber glauben Sie mir, daß die Ihnen nicht lange nützen wird. Wenn Sie nicht für den Rest Ihres Lebens auf der Insel der Verbannung leben wollen bauen Sie diesen Zauber sofort ab. Falls nicht, dann werden Sie vor dem Zauberergericht wegen mehrfachen Mordes an unschuldigen Kindern verurteilt. Und glauben Sie mir, daß im australischen Zauberergamot genug Großeltern und Eltern sitzen, die Sie dafür ganz sicher für alle Zeiten aus der freien Zaubererwelt aussperren." Dann nahm sie den Schweigezauber von Bo. Dieser blickte die Heilerin an und sagte:

"Ich würde die ganze Welt umbringen, wenn ich den Begrenzungsbann aufrufen würde. Dieser Fluch darf nicht in die Welt hinaus."

"Sie alter Narr!" Schimpfte Meisterin Herbregis. "Shirley und Annabel Mellow sind bereits in unserer Welt angekommen. Wir haben keine Anzeichen für einen ansteckenden Fluch und auch keine Erreger bei ihnen gefunden. Außerdem hat niemand, auch kein Dorfältester, das Recht, unschuldige Hexen und Zauberer an einem Ort festzuhalten und ihnen jede nötige Heilbehandlung zu verwehren. Sie haben sich bereits Strafbar gemacht, weil Sie die Erkrankung nicht angezeigt haben. Wenn Sie finden, daß Ihre Mitbewohner, auch und vor allem die Kinder, in diesem Dorf gefangen bleiben sollen, bis keiner mehr lebt, ist das Freiheitsberaubung und vielfacher Mord. Also bitte!"

"Ihre Magie kann längst nicht alle Kräfte erkennen, die in diesem Land wirken, Sie eingebildete Giftmischerin", schnarrte Bo, schüttelte sich und hustete. Aurora konnte deutlich den roten Schleim sehen, den der Dorfälteste ausspie. "Selbst ich weiß nicht, wer hier vor Jahrtausenden einen zauber gewirkt hat, der unbefugte Leute töten soll und ob die dann nicht alle anderen umbringen. Shirley und Annabel Mellow sind unverantwortlich aus meiner und meiner Cousine Obhut weggeflogen. Womöglich werden jetzt alle in Ihrer sogenannten Heilstätte den qualvollen Tod sterben, den bisher nur wir erdulden müssen. Ach ja, Sie werden auch draufgehen, junge Dame, weil Sie meinten, gegen alle Warnungen und Vorkehrungen bei uns eindringen zu müssen. Ich nehme den Begrenzungszauber und den Bann gegen unerwünschte Besucher nicht zurück. Alle die hier wohnen bleiben hier. Und Sie bleiben auch hier. Auch wenn Ihr Gegenzauber gegen meine Magie schützt, so kann ich immer noch verlangen, daß man Sie hier einsperrt, bis der Fluch entweder vergeht oder wir alle tot sind", röchelte Bo. Er hustete, und ein Gemisch aus Blut und Speichel rann ihm über die trockenen Lippen. "Los, nehmt die beiden neunmalklugen Hexen da fest!" Krächzte er und blickte Bethesda Herbregis und Aurora Dawn an. Fred und einige andere machten Anstalten, den Befehl auszuführen. Doch ein Großteil der Bewohner bildete einen lebenden Schutzring um die beiden Sana-Novodies-Hexen.

"Fred, die beiden sind die einzigen, die Dougy helfen können. Willst du echt, daß dein Sohn stirbt?!" Rief Roshelle, die sich mit ihrem Baby zwischen Fred und Aurora gestellt hatte.

"Bo hat recht, daß wir alle diesem Fluch erliegen", sagte ein anderer Zauberer resignierend. Eine junge Hexe entgegnete:

"Dann wären wir vor zwanzig Jahren schon gestorben. Laßt die beiden in Ruhe!"

"Ihr stellt euch gegen mich, euren gewählten Dorfältesten?" Fragte Bo sehr zornig klingend.

"Du bist krank, Bo. Womöglich weißt du nicht mehr, was richtig oder falsch ist", übte sich Liza Wollonger in Diagnostik. Bethesda Herbregis sah sie erst tadelnd an, mußte dann aber überlegen lächeln. Ihre übergroße Wut verflog.

"Da wir das nicht mit Sicherheit ausschließen können, zumal Mrs. Mellow auch über wiederkehrende Kopfschmerzen klagt, kann das Urteilsvermögen und die Persönlichkeit beeinträchtigt werden. In diesem Fall bin ich als Heilerin berechtigt, auch gegen den Widerstand eines Patienten über dessen Behandlung zu befinden."

"Mab ist die niedergelassene Heilerin. Ihre Handlangerin da hat sie widerrechtlich betäubt", röchelte Bo und deutete mit seiner breiten Nase auf Aurora.

"Für sie gilt dieselbe Regel. Sie kann sogar froh sein, wenn die Heilerzunft ihr eine beeinträchtigte Urteilskraft atestieren kann, weil sie sich gegen so viele Gebote der Heilzunft vergangen hat. Also bin ich hier im Moment die zuständige Heilerin, Sir. Sie und alle, die sich bereits im fortgeschrittenen Stadium der Krankheit befinden, werden sich daher meinen Anordnungen unterwerfen. Also nehmen Sie umgehend sämtliche Zauber zurück, die den Bewohnern von Resting Rock den Zugang zu professioneller Hilfe verwehren!"

"Wenn ich schon gestört bin, wie Sie meinen, junge Frau, dann kann ich das doch nicht mehr. Die Rituale müssen konzentriert und bei voller Geistesanwesenheit gewirkt werden. Sonst gehen sie komplett schief", grinste Bo. Aurora fragte sich, ob dieser Zauberer tatsächlich schon umnachtet war, daß er sich darüber amüsierte, daß er seine Mitbewohner eingesperrt hielt und keinen von außen zu ihnen vorlassen wollte. Zumindest aber hielt sein Auftreten diejenigen zurück, die zunächst die beiden Heilerinnen festnehmen wollten. Aurora Dawn sah ihn mitleidig an. Das trieb dem Dorfältesten das überlegene Grinsen aus. Er blickte sie zornig an. Da krachte ein Schockzauber von Bethesda Herbregis und raubte Bo die Besinnung.

"Ich habe diese Spielchen satt", knurrte die Großheilerin. "Wir haben den Auftrag, Sie alle in die Sana-Novodies-Klinik zu bringen. Und diesen Auftrag werden wir ausführen, auch gegen die hier wirksamen Uraltzauber."

"Ach ja?! Das haben Sie doch schon versucht", widersprach ihr Fred.

"Es ist nur daran gescheitert, daß Ihr offenkundig unzurechnungsfähig gewordener Dorfältester Sie alle, die hier geboren wurden, an der Flucht hindern will. Ich selbst durchdrang die Sperre. Doch die Trage wurde festgehalten", erwiderte Bethesda Herbregis.

"Und was ist, wenn Bo doch recht hat, Sie alte Besserwisserin? Dann würden wir den Fluch in die ganze Welt bringen", warf die Hexe ein, die Mab und Bo irgendwie ähnlich sah.

"Wie erwähnt befinden sich zwei von Ihnen schon in unserer Welt. Wenn er recht hätte, was ich stark bezweifle, dann täte es jetzt auch nichts mehr zur Sache, ob wir Sie alle noch aus Resting Rock fortbringen oder dieser tödlichen Krankheit überlassen. Und wir Heiler haben den obersten Auftrag, jedem kranken Menschen der mit Magie begabt oder durch bösartige Magie geschädigt wurde zu helfen und nicht tatenlos zuzusehen, wie sie leiden und sterben."

"Ja, aber wie bringen wir die Leute hier heraus?" Fragte Aurora.

"Auf die Weise wie ich es an und für sich vorhatte geht es nicht", erwiderte Bethesda Herbregis. Aurora nickte. Sie dachte daran, daß sie beide wohl durch Melchior Vineyards Gegenzauber immun gegen die Begrenzung waren. Sie könnten also fliehen. Doch das verstieß eben gegen die zehn Heilerdirektiven, denen nach sie keinen kranken Menschen, der mit Magie begabt oder von bösartigen Zaubern beeinträchtigt wurde, im Stich lassen durften. Aber das wollten sie ja auch nicht. Sie wollten eher Hilfe holen. Doch sie fühlte, daß wenn sie jetzt von hier verschwänden, kein Weg zurückführen würde. Wieder fegte eine rauhe Windböe über den Platz und wirbelte den Staub vom Boden auf. Aurora fragte sich, warum sie hier keine gepflasterten Straßen haben wollten, als der Sand an ihrem Umhang hängen blieb. Sie versuchte, ihre Mentorin anzumentiloquieren. Doch es gelang immer noch nicht.

"Wo fängt dieser Rückhaltezauber denn an?" Wollte Aurora von ihrer Mentorin wissen.

"Knapp zwei Kilometer von hier, hinter einem Maisfeld", erwiderte Bethesda Herbregis.

"Dann wäre es vielleicht möglich, die Leute da bis zu diesem Punkt zu bringen und sich dort versammeln zu lassen", sagte Aurora Dawn. Ihre Mentorin schüttelte den Kopf.

"Wir bringen die von diesem Punkt aus weg, weil wir hier alle Schwerkranken besser vorbereiten können", sagte Meisterin Herbregis. Dann sprach sie zu der Menge der Dorfbewohner: "Was auch immer Ihr Dorfältester angestellt hat, Sie alle hier qualvoll sterben zu lassen, wir werden Sie nicht hier zurücklassen."

Eine weitere Windböe fegte über den Platz. Aurora blickte in den Himmel. Graue Wolken eilten aus Südosten heran. In der Ferne türmten sich wahre Ungeheuer aus Wasserdampf. Dort lagen keine Berge, die ein aufkommendes Unwetter abfangen würden.

"Ich fürchte, es wird bald ein Unwetter geben", sagteAurora Dawn laut und deutete auf die heranrückende Wolkenfront.

"Oha, auch das noch", seufzte Roshelle. "Das letzte Gewitter ist zwei Monate her."

"Dann sollten Sie alle in Ihre Häuser zurückkehren. Lassen Sie jedoch die Haustüren offen, damit dieser Einkerkerungszauber sie nicht wieder einsperren kann!" Ordnete Bethesda Herbregis an und organisierte den Transport der Tragen in die Häuser, während der Himmel sich weiter verdunkelte und immer stärkere und länger andauernde Windböen durch Resting Rock jagten. Innerhalb einer Viertelstunde waren die Schwerkranken in ihren Häusern. Auch Mab und Bo waren in Sicherheit gebracht worden. In der Ferne leuchtete der erste Blitz auf. Aurora eilte mit den Wollongers in deren Haus, während Bethesda Herbregis Roshelle, Fred und den kleinen Douglas ins Haus begleitete.

Leise grummelnd kündigte sich das aufziehende Gewitter an. Der stärker werdende Wind rüttelte an den Fenstern und pfiff durch die Ritzen der Holzhäuser.

"Wir müssen die Wohnzimmertür zumachen", sagte Liza. "Sonst fegt uns der Gewittersturm noch Wasser ins Haus."

"Ich kann einen Elementarwall gegen Wasser aufbauen", sagte Aurora. Liza dachte nach, ob sie den auch konnte und nickte ihr zu.

"Repulso Aquas exteriores!" Rief Aurora und deutete auf den offenen Hauseingang. Eine silbrige, hauchzarte Lichtwand baute sich auf. Diese würde nun mindestens zwei Stunden alle von außen anstürmenden Wassermassen abhalten. Der Sturmwind brauste nun noch stärker und blies Sand und Staub von draußen herein. Aurora und Liza Wollonger fegten diesen mit Säuberungszaubern zurück. Liza hatte sichtlich Mühe, ihre Arme zu bewegen. Die in ihr gährende Krankheit beeinträchtigte ihren Körper doch schon sehr arg. Außerdem mußte sie immer wieder etwas trinken, weil ein schier unstillbarer Durst sie quälte. Die kleine Selma lief immer hinter ihrer Mutter her. Als der Gewittersturm mit voller Wucht hereinbrach und laute Donnerschläge dröhnten, fragte die verwitwete Hexe die Lernheilerin, ob sie ihr was gegen die schmerzenden Blasen auf der Haut geben könne.

"Wir haben Mrs. Mellow ein Breitband-Analgetikum gegeben. Aber das kann zu Bewußtseinstrübungen führen. jucken diese Blasen oder stechen sie?"

"Es ist irgendwie so, als hätte ich zu lange in der Sonne gesessen. Eine Tante von mir hatte mal ähnliche Pusteln. Eine Heilerin hat das als Sonnenallergie bezeichnet und eine Tinktur aufgetragen, die die Pusteln sofort weggemacht hat."

"Sonnenkrauttinktur", sagte Aurora. "Habe ich auch mit. Aber ich weiß nicht, ob die was bringt. Die hilft gegen die schädlichen Auswirkungen der Sonnenstrahlen." Gleißendhell zuckte ein Blitz genau über das Haus hinweg. Keine Sekunde später krachte ein Donnerschlag wie eine zehn Meter große Pauke und rüttelte an Wänden und Ohren. Aurora fragte sich, ob die Häuser alle mit Blitzablenkungszaubern geschützt waren. Als ob Liza die Gedanken der Lernheilerin gelesen hatte sagte sie:

"Wir haben einen Blitzfangzauber auf einem brachliegenden Feld errichtet, der alle uns geltenden Einschläge anzieht. Für die Kinder ist das immer ein Spaß, wenn zwanzig Blitze in kurzer Zeit genau da reingehen, weil dann ein Teil der eingefangenen Kraft als bunte Lichtfontäne in den Himmel Zurückgeschleudert wird.""

"Dann bin ich ja beruhigt", sagte Aurora Dawn. Liza hielt ihr den mit roten Blasen übersäten rechten Arm hin. Die Lernheilerin verstand und holte eine große Flasche mit einem goldenen Sonnensymbol heraus, dessen Strahlen sich an einer gewellten Linie brachen. Sie rieb Liza Wollonger den Arm ein, glaubte aber nicht, daß dieses Mittel wirkte, da es eben nur gegen übermäßige Sonnenstrahlen half. Doch was war das? Kaum hatte sie die roten Blasen überstrichen, schrumpften diese zusammen und verschwanden restlos. Liza staunte.

"Das Zeug wirkt", sagte die Mutter Selmas. "Es tut gar nicht mehr weh."

"Hat diese Mab keine Sonnenkrauttinktur?" Fragte Aurora.

"Sie kennt das nicht. Ich habe ihr das mal erzählt. Sie meinte, daß das wohl nur in sonnenreichen Gegenden nötig wäre und uns empfohlen, Parasolis-Zauber auf unsere Kleidung zu legen, um sie für die Sonne undurchdringlich zu machen."

"Wir züchten Sonnenkraut bei uns in der Klinik und beziehen es aus anderen Zaubergärten", sagte Aurora, die sich wunderte, daß ihre Tinktur geholfen hatte. bei einem bösartigen Zauber durfte das eigentlich nicht sein, weil die Tinktur ausdrücklich gegen die Schäden unsichtbarer Strahlen der Sonne entwickelt worden war ... Unsichtbare Strahlen? Irgendwo klingelte da ganz leise was bei ihr. Sie hatte irgendwann mal gehört, daß nicht nur die Sonne unsichtbare Strahlen aussandte, die gefährlich für Menschen werden konnten. Aber wo war das noch mal und von wem?

"Hier, nehmen Sie die Tinktur und cremen Sie sich damit überall da ein, wo die roten Blasen sind, Mrs. Mellow. Am besten reiben Sie ihre Tochter auch damit ein. Womöglich können wir damit zumindest die Haut heilen. Ich muß zu meiner Mentorin und ihr das mitteilen."

"Meinen Sie, daß Zeug stoppt die Krankheit?" Fragte Liza Wollonger.

"Fühlen Sie sich denn jetzt allgemein wohl?" Fragte Aurora.

"Mir tut immer noch der Kopf etwas weh und ich habe immer noch großen Durst und fühle mich schlapp", erwiderte Selmas Mutter. Sie nahm die Tinktur. Aurora wirkte den Parapluvius-Zauber, der sie in einen nichtstofflichen, unsichtbaren Regenschutz einhüllte und lief durch die für Festkörper durchlässige Wasserabwehrmauer hinaus ins freie. Der Boden war bereits vom herabstürzenden Regen getränkt und sumpfig. Die Lernheilerin lief durch den Ort, vorbei an den Häusern, in deren offenen Türen sie ähnliche Wasserabwehrmauern sah wie sie selbst gezaubert hatte. Dann erreichte sie das Haus, wo Bethesda Herbregis war.

"Meisterin Herbregis, Sonnenkrauttinktur hilft gegen die roten Blasen", meldete sie, als sie ihrer Mentorin gegenüberstand.

"Wie bitte?! Das kann nicht gehen. Die wirkt nur gegen gefährliche Sonnenstrahlen", sagte die Großheilerin.

"Vielleicht ist es sowas in der Richtung, Meisterin Herbregis. Ich habe vor einigen Jahren mal was davon gehört, daß es unsichtbare Strahlen geben soll, die gefährlich sein sollen. Ich muß mich nur erinnern, von wem und was."

"Unsichtbare Strahlen? Die könnten wir natürlich nicht mit Fluchfindern oder Giftanzeigern nachweisen. Aber woher sollten die bitte kommen?"

"Ich überlege noch", sagte Aurora. "War auf jeden Fall was mit Muggeltechnik und ... Jetzt habe ich es wieder. Ich habe es von Tim Preston, einem muggelstämmigen Hauskameraden, der gerade im sechsten Jahr in Hogwarts ist. Dessen Vater arbeitet in einer Anlage, die aus Atombrennstoff elektrischen Strom macht. Das sei gefährlich, weil beim Verbrennen dieses Stoffes, den er als Kernspaltung bezeichnet, unsichtbare Strahlen entweichen, die Leute krank machen oder töten können, je nachdem, wieviel sie davon abbekommen."

"Und dann machen die sowas?" Fragte die Großheilerin. "Das heißt, diese Knochensäger und Giftpanscher der Muggel kennen was, was wir nicht kennen? Was genau hat dir dieser Tim Preston erzählt?"

"Das diese Strahlen von dem Brennstoff kommen, der in seinen winzigsten Teilen zersetzt wird und sein Vater deshalb wohl viel Geld verdient, um zu verhindern, daß die Asche dieses Brennmaterials nach draußen gelangt."

"Ist nicht gerade viel", schnaubte Bethesda Herbregis. "Aber wie diese Strahlung wirkt hat er dir dann auch nicht erzählt. Weil sonst wärest du ja sofort darauf gekommen, nicht wahr?"

"Er hat nur erzählt, daß sie krank machen und töten können. Wie genau hat er nicht erzählt. Könnte sein, daß jemand anderes das weiß."

"Bei uns in der Sano kenne ich keinen, der von sowas schon gehört hat, grummelte Bethesda Herbregis. Fred und Roshelle lauschten interessiert. Immerhin sprachen die beiden Heilhexen da über ihre Krankheit.

"Vielleicht, weil bisher kein muggelstämmiger Heiler ausgebildet wurde?" Fragte Aurora.

"In meinem Jahrgang war ein Muggelstämmiger. Aber das ist ja schon einige Zeit her. Seit wann gibt es diese gefährlichen Elektrostromöfen denn?"

"Wohl noch nicht so lange", sagte Aurora. "Jetzt fällt es mir auch ein, daß Roy einen Vortrag über diese Atomsachen gehalten hat. Er hat von Supersprengbomben erzählt, die ganze Städte zerstören können und auch diese strahlende Asche freisetzen, an der heute noch Leute sterben. Bin ich doch vernagelt." Den letzten Satz knurrte sie wütend.

"Du meinst, du hättest das sofort erkennen müssen?" Fragte Bethesda Herbregis. "Nur wenn dir jemand die Symptome beschrieben hätte und nicht einfach nur sagt, daß diese Strahlen krank machen und töten. Ich würde jetzt gerne etwas mehr wissen, welches Material diese Strahlen aussendet, wie diese wirken und was die Muggel dagegen machen können."

"Tim meinte, daß sie durch dicke Blei- und Betonwände abgeschwächt werden. Wie deren Ärzte was dagegen machen können hat er nicht erzählt. Ich hätte ihn besser mal fragen sollen."

"Du konntest nicht wissen, daß wir in der Zaubererwelt einmal damit zu tun bekommen könnten", sagte Bethesda Herbregis leicht verstimmt. "Aber bevor wir uns in dieses Thema verrennen, sollten wir klären, ob das mit der Sonnenkrauttinktur tatsächlich so gelingt."

"Sie heilt nur die Haut, Meisterin Herbregis. "Was immer die anderen Symptome auslöst, wird damit nicht kuriert", erläuterte Aurora. Bethesda Herbregis nickte. Dann probierte sie die Sonnenkrauttinktur an Fred und Roshelle aus und schaffte es tatsächlich, die roten Pusteln verschwinden zu lassen.

"Aurora, ich erteile dir hiermit den Auftrag, das Dorf zu verlassen und in die nächstgelegene größere Muggelstadt zu apparieren, um dort nach Büchern über diese unsichtbaren Strahlen zu suchen und diese mitzubringen. Such dir was aus, was ohne Muggelfachwissen vorauszusetzen erklärt, wie und woher diese Strahlen entstehen. Vielleicht haben wir tatsächlich mit einer Quelle zu tun, die in der Nähe von Resting Rock liegt."

"Nichts für ungut, Meisterin Herbregis. Aber wenn ich hier einmal aus dem Dorf heraus bin, komme ich vielleicht nicht wieder hinein", wandte Aurora Dawn ein.

"Ja, und mentiloquieren geht auch nicht", grummelte ihre Lehrmeisterin. Mit Getöse rollte ein Donner über das Dorf hinweg."Mel Vineyards Ritual schützt uns gegen die Aborigine-Magie. Deshalb denke ich schon, daß du zurückkehren kannst. Ich hoffe nur, das Gewitter läßt in den nächsten zwanzig Minuten nach." Ein greller Blitz erleuchtete den Innenraum, dicht gefolgt von einem Donnerschlag. Laut rauschte der Regen über das Dach, überzog die Fenster mit einem glitzernden Film und spülte in kleinen Bächen den Boden. Klatschend warf der Wind weitere Wassermassen gegen Wände und Fenster. Es war nun so dunkel wie in der Nacht.

Erst nach einer Stunde hörte das Spektakel auf. Bethesda und Aurora hatten in der Zeit im Schutz des Parapluvius-Zaubers und vom weiträumigen Blitzfangzauber vor anderen Gefahren des Unwetters sicher die Kranken mit Sonnenkrauttinktur behandelt und die Chapel-Whitesand-Therapien eingeleitet, um das verdorbene Blut gegen neues auszutauschen. Erst als der letzte ferne Donner vergrollt war flog Aurora Dawn auf ihrem Besen los. Sie hatte ihre Tasche bei der Mentorin gelassen, damit diese mit dem Vorrat an fertigen Lösungen weiterbehandeln konnte. Tatsächlich entkam sie dem Begrenzungszauber, den sie als leichtes Zerren an ihrem Körper empfand, aber dann doch weiterfliegen konnte. Sie flog zu der Stelle, wo Melchior Vineyard ein großes Zelt aufgebaut hatte, um vor dem Unwetter sicher zu sein. Diesem erzählte sie in wenigen Sätzen, daß Sonnenkrauttinktur die Hautschädigungen zurückdrängen konnte und daher vermutet würde, daß es auch eine überstarke Strahlung einer unbekannten Art sein konnte.

"Sowas gibt's? Das kann nicht sein", sagte Melchior Vineyard. "Und ihr beiden meint echt, daß sowas die Leute von Resting Rock krank gemacht hat?"

"Wir wissen es nicht. Aber es könnte eine Möglichkeit sein, die ohne Magie und Giftstoffe krank macht", erwiderte Aurora. "Ich muß jetzt los, um Muggelbücher zu organisieren, in denen mehr darüber steht", sagte die Lernheilerin im zweiten Jahr noch. Dann prüfte sie, welche größere Stadt der Muggel in der Nähe war. Sie belegte sich mit einem Unsichtbarkeitszauber und disapparierte.

Vierhundert Kilometer weiter fort erschien sie im zentrum von Alice Springs. Ihre Übungen im Apparieren an vorher nicht besuchten Orten hatte sich wieder einmal ausgezahlt. Keiner hier hatte ihre ankunft gehört. Zu viele Autos lärmten in den Straßen. Aurora wäre beinahe von einem Bus überrollt worden, weil sie nicht auf einem der Fußgängerwege angekommen war. Gerade soeben noch rettete sie sich auf den Bürgersteig und atmete durch, um den Schrecken zu überwinden, während der Bus an ihr vorbeiknatterte.

"Oha, das Apparieren in Muggelgegenden sollte besser vorher genau geplant werden", dachte Aurora Dawn. Dann besann sie sich auf das wesentliche. Sie brauchte einen Lageplan, um öffentliche Büchereien zu finden. Wo bekam man sowas. Sie ging einige hundert Meter, bis ihr einfiel, daß sogenannte Tankstellen, die den flüssigen Kraftstoff für die vielen Autos verkauften, auch Stadtpläne anboten. Sie hatte zwar kein Muggelgeld mit. Doch die Heilergebote erlaubten ihr, heimlich wichtige Unterlagen zu organisieren, wenn sie diese kopierte und die Originale am Fundort zurückließ. Aber wo war die nächste Tankstelle? Sie überschlug alles, was sie in Muggelkunde darüber gehört hatte. Jetzt wurde ihr klar, warum Bethesda Herbregis sie hergeschickt hatte. Denn die Mentorin hatte keinen Muggelkundeunterricht gehabt. Aurora rief sich das Bild mehrerer Metallsäulen mit Schläuchen und Anzeigeinstrumenten daran ins Bewußtsein, dachte daran, am nächsten solchen Ort anzukommen und leitete mit einem konzentrierten Gedanken die Disapparition ein. Leise ploppend tauchte sie hinter dem Kassenhäuschen einer Tankstelle auf. Sie hatte es tatsächlich geschafft, sich an einen ihren Vorstellungen entsprechenden Ort versetzen zu können. Sie sah Autos, in deren Hinterteile gerade Metallvorrichtungen hineinragten, die mit langen, leicht vibrierenden Schläuchen verbunden waren. Sie achtete nicht auf das ihr fremde Geräusch der Benzinpumpen und den durchdringenden Gestank. Sie umschritt das Kassenhäuschen und beobachtete den Verkäufer in einem langen Überwurf. Er bewachte die angebotenen Artikel, die für Autofahrer praktisch waren. Aurora überlegte, ob sie sich sichtbar machen und in den Laden hineingehen sollte. Doch sie hatte kein Geld mit, und offen sichtbar mit irgendwelchen Unterlagen herumhantieren, die sie nicht bezahlt hatte kam auch nicht in Frage. Sie sah auf die drei Säulen. Was würde passieren, wenn diese nicht weiterlaufen würden? Sie hob ihren Zauberstab und dachte "Mechanetus!" Die erste Säule schnarrte einen Moment und verstummte dann. Die zweite Säule blieb ohne Geräusch stehen. Ebenso die dritte. Mit den Unterbrecher mechanischer Geräte hatte sie mal eben eine ganze Tankstelle lahmgelegt. die zwei Männer und die eine Frau, die gerade ihre Kraftstoffdurstigen Autos füllen wollten, blickten perplex auf die Zapfanlagen. Dann zogen sie die Einfüllhilfen aus ihren Motorwagen heraus und hängten diese in die Halterungen der Säulen ein. Aus dem Kassenhäuschen stürmte der Verkäufer oder Besitzer heraus. Offenbar hatte er den Ausfall der drei Tanksäulen mitbekommen. Aurora Dawn huschte so leise sie konnte um das Häuschen herum und schlüpfte ungehört und ungesehen durch die offene Tür. Sie roch die Ausdünstungen von Kraftstoff, aber auch bedrucktes Papier und etwas, das sie an Essen denken machte. Ja, tatsächlich gab es in diesem Laden ein Regal, in dem unter durchsichtiger Folie verschlossene Fertigspeisen feilgeboten wurden. Doch die interessierten die unsichtbare Besucherin nicht. "Accio Stadtplan!" Dachte sie konzentriert. Keinen Moment später sprang ein zusammengefaltetes Stück Papier von einem Stapel und flog in einer Sekunde zu ihr hinüber. Sie tippte das erbeutete Papier mit dem Zauberstab an und dachte "Geminio!" Keine zwei Sekunden später hielt sie zwei Stadtpläne in der Hand. Den Originalplan schickte sie mit "Dismitto" an seinen Aufbewahrungsort zurück.

Als sie den Laden so unbemerkt wie sie hereingekommen war verlassen hatte hob sie aus guter Deckung heraus den Mechanetus-Zauber an den Zapfsäulen auf. Der Mann aus dem Kassenhäuschen war gerade dabei, ungeduldig gegen die dickbäuchigen Metallsäulen zu klopfen. Als diese dann wieder schnarrend ansprangen, aber im Moment ja keiner die Zapfvorrichtung betätigte, schien alles wieder im Lot zu sein. Aurora Dawn disapparierte indes, nachdem sie sich sorgfältig den Namen der Tankstelle und die von ihr gewirkten Zauber notiert hatte, um bei einer Anfrage des Zaubereiministeriums belegen zu können, warum sie hier gewesen war. Dann disapparierte sie.

Es dauerte einige Minuten, bis die Lernheilerin den ergatterten Stadtplan vollständig verstanden und mehrere Büchereien darauf gefunden hatte. Sie suchte sich die nächstgelegene aus und plante, dort sichtbar vorzugehen. Sie apparierte in der Nähe des rotbraunen Sandsteingebäudes. Dort sicherte sie ab, nicht beobachtet werden zu können und hob die Unsichtbarkeit wieder auf. Dann wechselte sie ihre Kleidung mit dem Schnellumkleidezauber und ging ganz offen um das Gebäude herum und betrat es.

Sie gab vor, sich für alles zu interessieren, was mit Atomkraft und Strahlung zu tun hatte und betonte, daß sie vor allem an den möglichen Gesundheitsschäden dieser Sachen interessiert war. Der Bibliothekar fragte sie, ob sie studentin sei. Aurora nickte. Sie wurde gefragt, ob sie die betreffenden Bücher ausleihen oder hier lesen wolle. Sie gab an, hier lesen zu wollen. So wurde sie erst durch ein Labyrinth von Bücherregalen geführt, wo ein Gehilfe des Bibliothekars ihr leicht verständliche Bücher über Kernkraft, Radioaktivität und Strahlenmedizin vorstellte. Sie hatte nachher zwanzig Bücher in den Armen, als sie im Lesesaal anlangte, wo ihr der Bibliothekar flüsternd bedeutete, das sie noch drei Stunden Hatte, um die ausgewählten Bücher zu studieren und am nächsten Tag ruhig wiederkommen könne. Aurora bedankte sich leise und setzte sich in eine unüberschaubare Ecke an einen kleinen Lesetisch. Sie baute die ausgesuchten Bücher als Sichtschutz vor sich auf, nahm das oberste und machte drei Multiplicus-Kopien davon, die sie ungesagt einschrumpfte und in der weiten Tasche ihrer nun getragenen Jeans verbarg. Sie wartete einige Minuten, tauschte dann dasBuch aus und wiederholte den Kopiervorgang. Eigentlich war es gegen die Zaubereigesetze, Bücher zu kopieren, weil sie Ausdruck von Wissen und Gedankengängen waren. Aber wenn sie nicht stehlen wollte, mußte sie sich auf die Sonderregelungen der Heilzunft berufen. Sie hatte keine Bedenken, Laura Morehead Rede und Antwort stehen zu können, abgesehen davon, daß ihre Mentorin ihr ja die ausdrückliche Anweisung erteilt hatte, so viel wie möglich über dieses bisher unbeachtete Phänomen zusammenzutragen. So verbrachte sie eine Viertelstunde damit, die ausgesuchten Bücher zu vervielfältigen, wobei sie die Originalausgaben wieder zurücklegte. Dann verharrte sie noch einige Zeit, bis der Lesesaal sich geleert hatte, nahm den Stapel auf und ging damit zu dem Bibliotheksangestellten. Dieser fragte sie, ob sie ein photographisches Gedächtnis habe, daß sie so schnell alle Bücher durchgearbeitet habe. Aurora meinte nur, daß sie nach Stichwörtern gesucht und sich entsprechende Passagen herausgeschrieben hatte. Dann vollzog sie an dem Gehilfen und an dem Bibliothekar im Eingangsbereich einen Gedächtniszauber, der sie davon überzeugte, daß sie nicht hier gewesen sei. Noch während sich die Gedanken der Muggel neu einspielen mußten disapparierte die Lernheilerin mit ihrer Beute.

"Hups, deine Kleidung", meinte Melchior Vineyard. Aurora nickte. Sie räumte die sechzig verkleinerten Bücher aus der Hosentasche und wechselte in ihre vorschriftsmäßige grüne Adeptenkleidung zurück.

"Ihr Mädels habt es echt drauf", bemerkte Melchior Vineyard. "Hast du keine Angst, bei diesem Zauber mal komplett nackt vor jemandem zu stehen?"

"Wäre ich dann die erste Frau, die du so sehen würdest?" Fragte Aurora keck zurück. Melchior Vineyard sah sie verdutzt an und schüttelte den Kopf. Aurora lächelte ihn schulmädchenhaft an und meinte:

"Dann könnte ich dich auch nicht verderben. So, jetzt muß ich sehen, ob ich wieder in das Dorf reinfinde. Der Älteste von denen hat einen Zurückhaltezauber gewirkt. Wir können die Leute da nicht rausbringen."

"Habe ich schon bedacht. Während du weg warst bin ich in die Sano zurück und habe den Chef informiert. Er hat mehrere Experten für alte Zauber kontaktgefeuert. Doch die haben dem alle das erzählt, was ich auch weiß, das nämlich solange die Bedingungen, nach denen das Ritual gewirkt wurde, noch nicht oder nicht mehr erfüllt sind, nach denen der Begrenzungsbann ausgerichtet wurde, keiner aus dem Dorf wieder rauskommt. Ich habe zusätzliche Blutauffrischungstränke und Sonnenkrauttinktur angefordert. Aber das dauert wohl bis morgen früh."

"Zumindest gut zu wissen, daß du den Kontakt mit unseren Leuten hältst. Dann bis demnächst."

"Moment mal, diese ganzen Bücher da will Meisterin Herbregis lesen? Da muß die aber mehrere Wochen dran sitzen, so wie ich das sehe.""

"Das sind Kopien von zwanzig Büchern", sagte Aurora.

"Öhm, dir ist klar, daß das illegal ist, Bücher zu kopieren?"

"Nur solange die Sonderregel fünf der Heilerprivilegien nicht gegeben ist, der nach im Falle eines unbekannten Vorgangs oder Notfalls Unterlagen jeder Art beschafft werden müssen, die Aufklärung über Art und Auswirkungen geben. Dabei wird das Verbot zur magischen Vervielfältigung von Büchern oder Schriftrollen außer Kraft gesetzt, solange der Notfall gegeben ist. Wenn die Notlage behoben ist, müssen die kopierten Schriften allerdings vernichtet werden. Ich habe bei Meisterin Herbregis viel über unsere Rechte und Pflichten gelernt."

"Stimmt, hast recht, Aurora. Ich wollte nur testen, wie gründlich deine Kenntnisse sind", sagte Melchior Vineyard leicht verlegen. Aurora grinste ihn vielsagend an. Dann flog sie auf ihrem Besen zurück in das Dorf, dessen Straßen von einer grauen Schlammschicht überzogen waren.

"Was hat so lange gedauert, Aurora?" Begrüßte Meisterin Herbregis ihre Schülerin ungehalten. Aurora erwiderte unbekümmert:

"Die Stadt war nicht klein, und ich mußte erst einen Plan beschaffen und dann darauf eine vielversprechende Bücherei finden.

"Hat es sich gelohnt?" Fragte Meisterin Herbregis. Aurora nickte. Dann gingen die beiden Heilhexen zum Versammlungshaus, in dem der Dorfrat zu tagen pflegte. Die Heilerin hatte hier das mobile Zaubertranklabor eingerichtet.

"Ich habe für einen Fall wie diesen eine Dosis von Bicranius' Mixtur der mannigfaltigen Merkfähigkeit mitgenommen. Damit werden wir beide die von dir beschafften Bücher in unser Gedächtnis aufnehmen", sagte Bethesda Herbregis und holte eine gelbe, gut verkorkte Flasche heraus. Aus dieser schenkte sie sich und der Lernheilerin einen winzigen Becher voll. Aurora trank das Gebräu, das sie selbst einmal hatte brauen dürfen und spürte einige Sekunden darauf etwas wie einen wild durch ihren Kopf wirbelnden Bienenschwarm. Bunte Funken tanzten vor ihren Augen. Dann meinte sie, wacher zu sein als sonst. Sie kannte diesen Effekt, wenn sie den Gedächtnistrank einnahm. Ohne dazu aufgefordert zu werden nahm sie das erste der beschafften Bücher und schaffte es, dieses in einer Minute vollständig durchzublättern und alles darin enthaltene auswendig zu lernen. Bethesda Herbregis tat es ihr gleich. Nach knapp einer halben Stunde hatten sie alle Bücher durchgelesen.

"Ich kann mit vielen Muggelbegriffen und Maßen nichts anfangen, Aurora. Aber im Wesentlichen wissen wir beide nun, daß du auf die richtige Spur gekommen bist", sagte Bethesda Herbregis. "Die beschriebenen Symptome entsprechen genau denen, die die Muggel für diese Art von Verseuchung ermittelt haben. Das hier in Australien ein Metall namens Uran gefördert wird, aus dem auch im Naturzustand diese gefährlichen Strahlen entweichen, wußte ich vorher nicht. Das ist an und für sich ein unverzeihliches Versäumnis. Noch dazu nennen sie diesen metallischen Stoff "Gelber Kuchen". Klingt so, als sei diese Substanz so harmlos wie ein Stück Kuchen. Gegen die Endstadien haben die Muggel kein Mittel gefunden. Offenbar ist ihnen die Erzeugung der Elektrizität aus Zerfallsprozessen wichtiger als die eigene Gesundheit und die Umwelt. Bedenklich ist es auch, daß der größte Teil der verwendeten Materialien nach der Verwertung noch Jahrtausende lang Strahlen aussendet. Da steht zwar drin, daß an Atomkraftwerken geforscht wird, die mehr der Grundsubstanz verwerten und weniger Reststoff erzeugen. Aber trotzdem verbleibt immer noch ein bedenklich hoher Anteil schädlicher Rückstände, der als Atommüll bezeichnet wird. Eigentlich müßten wir auf Grund dieser gefährlichen Entwicklung um die Genehmigung bitten, den Muggeln den Umgang mit dieser Elektrizitätserzeugungstechnik abzugewöhnen. Das Problem ist nur, daß der Geheimhaltungsstatus es verbietet, in die eigenständige Entwicklung der Muggel einzugreifen. Somit ist zu befürchten, daß derlei Gefahren auch in Zukunft drohen. Womöglich wurde es für uns höchste Zeit, sie kennenzulernen. Denn jetzt haben wir eine Grundlage, die Auswirkungen dieser unsichtbaren Gefahr, die ganz ohne Mikroben, Gifte und Magie einhergeht, zu studieren und zu beseitigen. An der Anweisung, alle von hier fortzubringen, hat sich damit jedoch nichts geändert."

"Annabel Mellow hat davon gesprochen, daß hier vor zwei Monaten die Erde gebebt hat. Vielleicht haben die Muggel hier in der Gegend eines dieser Bergwerke betrieben, aus denen dieser "gelbe Kuchen" geholt wurde. Sie haben mir doch mal den Fall geschildert, wo ein altes Bergwerk zusammengebrochen war, als zwei Gringotts-Mitarbeiter prüften, ob dort noch wertvolle Erze gefördert werden könnten. Einer der Mitarbeiter starb bei dem Unglück", erwiderte Aurora vollkommen emotionslos. Noch wirkte der Trank und unterdrückte alle Gefühle.

"Ja, das war vor genau neunzehn Jahren und drei Monaten", entgegnete Bethesda Herbregis. "Ich habe damals an der Rettung des zweiten Mitarbeiters teilgenommen. ein brennbares Gas ist ausgetreten und explodiert und hat mehrere Stollen einstürzen lassen. Die beiden konnten nicht rechtzeitig disapparieren, weil die Explosion sie beide bewußtlos gemacht hat."

"Soetwas ähnliches wird das hier auch gewesen sein, Meisterin Herbregis. In den Büchern steht auch, daß diese Bergwerke besonders gesichert sein müssen, vor allem was die Belüftung und die Sicherheit der Bergleute angeht. Deshalb verstehe ich es nicht, wie sowas passieren kann."

"Das werden wir klären, allein schon, um Resting Rock von den strahlenden Substanzen zu reinigen. Dir ist ja auch bewußt, daß wir uns dieser Strahlung die ganze Zeit ausgesetzt haben und daß die Mellows unbeabsichtigt Rückstände von Uran im Körper tragen und damit auch diese Strahlung aussenden", erwähnte Bethesda Herbregis gleichgültig klingend.

"Ja, das ist mir bewußt geworden", sagte Aurora ohne Spur von Unbehagen oder Angst. "Deshalb sollten wir die Leute möglichst bald hier rausbringen und an Gegenmitteln forschen, um unsere Körper von dem gefährlichen Stoff zu befreien."

"Dann sollten wir festlegen, was wir zuerst tun sollen", sprach Meisterin Herbregis. Danach besprachen die beiden Heilhexen, wie sie den Dorfbewohnern verdeutlichen konnten, daß es kein Fluch im magischen Sinne war und daß sie daher auf jeden Fall fortgehen mußten. Aus den Büchern entnommenes Wissen über die ersten Nachweismethoden mit Hilfe von lichtempfindlichen Stoffen und magnetischen Feldern brachten sie darauf, zaubererweltliche Entsprechungen zu entwickeln, die innerhalb eines Tages verfügbar sein konnten. Da Aurora von den elektrotechnischen Beschreibungen mehr verstanden hatte, wurde sie beauftragt, eine Form des als praktischen Strahlenmessers beschriebenen Geiger-Müller-Zählers zu bauen. Noch wirkte der Gedächtnistrank, so daß Aurora ihr neues Wissen einer Flotte-Schreibe-Feder diktieren konnte, ohne nachdenken zu müssen. Nach einer Stunde hatte sie ein Prinzip erkannt, mit dem ohne muggeltechnische Gerätschaften die Stärke dieser Radioaktivität gemessen werden konnte. Bethesda Herbregis hatte derweil lichtempfindliche Mixturen angerührt, die in total dunklen Behältern aufbewahrt wurde. Aurora Dawn flog am Abend noch zu Melchior Vineyard. Diesmal war es schwieriger, den Rückhaltebann zu durchbrechen.

"Ihr seid euch jetzt sicher, daß wir hier alle diese unsichtbaren Strahlen abkriegen, die ganz ohne Magie erzeugt werden?" Wollte Melchior Vineyard wissen. Angst schimmerte in seinen Augen. Aurora Dawn bejahte es. Dann gab sie ihrem bereits ausgebildeten Kollegen die Baupläne für einen Strahlenspürer, der wie eine Wünschelrute aussah, nur das am Treffpunkt der beiden Schenkel eine kristallene Hohlkugel mit einer gasförmigen Substanz angebracht werden sollte, die besonders empfindlich auf die unsichtbaren Strahlen reagierte. Dann kehrte sie zu Bethesda Herbregis zurück.

"Wenn unsere Instrumentenwarte schnell sind, haben wir morgen schon den ersten Strahlenfinder."

"Gut, dann sollten wir zusehen, daß wir diesen Bo doch noch dazu kriegen, seine Leute freizulassen. Auf jeden Fall wird es gut sein, wenn alle in der Quarantänestation aufgenommen werden. Du hast Melchior Vineyard weitergegeben, daß unsere Leute mit Blei gefüllte Umhänge herstellen und anziehen sollen?" Aurora nickte. Dann ließ die Wirkung des Gedächtnistrankes nach, und sie fühlte das Unbehagen, daß sie alle hier in großer Gefahr schwebten.

"Jetzt fühle ich Angst", gab Aurora zu. Ihre Lehrmeisterin nickte ihr zu und sagte:

"Die ist bei uns immer dabei, wenn wir uns unbekannten Krankheiten oder gefährlichen Kreaturen nähern müssen, Kind. Aber jetzt, wo wir davon ausgehen können, die Gefahr zu kennen, werden wir sie zumindest verringern können. Komm, wir sehen nach, wie es den Patienten geht!""

"Sollen wir es ihnen sagen, was sie haben?" Fragte Aurora.

"Das möchte ich erst mitteilen, wenn wir wirklich wissen, daß es diese Uranstrahlung ist. Dazu werde ich Bodenproben nehmen, sie konzentrieren und mit der Schwärzungsmethode testen. Außerdem können wir dieses Material vielleicht im Trimax-Glas oder unter Verwendung von Scotopsin prüfen."

"Was uns dann nur sagt, daß es daran liegt", sagte Aurora leicht verunsichert. Doch der aufmunternde Blick ihrer Lehrerin rüttelte sie wieder auf. Zu untersuchen und zu behandeln war die einzig richtige Vorgehensweise, solange sie die erkrankten Dorfbewohner nicht fortbringen konnten.

Bei der Untersuchung von Liza Wollonger zeigte sich, daß die Chapel-Whitesand-Therapie anschlug. Zumindest würde sie den Verlauf der Krankheit lange genug hinauszögern, um vielleicht doch ein wirksames Heilmittel zu finden. Jetzt, wo Aurora Dawn und ihre Lehrmeisterin wußten, daß sich die tückischen Substanzen in allen Geweben einlagern konnten, würde eine einmalige Bluterneuerung nicht viel bringen, wenn der strahlende Stoff bereits in den Knochen steckte und die Blutbildung störte. Auch konnte es bei einer länger andauernden Verstrahlung, so hieß das bei den Muggeln, zu Krebsgeschwüren kommen, weil die in den Zellen enthaltenen Regulierungsprozesse abgewandelt wurden. Immerhin konnten die magischen Heiler gegen den Wildwuchs geschädigter Körperzellen was machen, wo die Muggelheiler nur mit Herausschneiden und sehr heftigen Wirkstoffen dagegen ankämpften, die den Körper sehr stark belasteten. Ja, es wurde sogar eine gezielte Bestrahlung der betroffenen Partien angewendet, um die veränderten Zellen abzutöten. Aurora hatte bei drei Behandlungen assistieren dürfen, die Wucherungen verschwinden ließen. Womöglich mußten sie und ihre Lehrerin sich den vorbeugenden Behandlungen unterziehen, wenn sie auf lange Sicht keine üblen Nachwirkungen erleiden wollten. Doch zunächst wollten sie die unmittlbaren Auswirkungen der Verstrahlung beheben.

"Annabel Mellow sprach von einem Erdbeben, bevor das hier losging", brachte die Lernheilerin im zweiten Ausbildungsjahr Liza auf das Thema, was sie im Moment auch interessierte. "Haben Sie irgendwann mal davon gehört, daß Muggel hier in der Gegend ein Bergwerk betrieben haben?"

"Nicht in der Nähe von Resting Rock", sagte Liza Wollonger. "Allerdings erinnere ich mich daran, daß ein Cousin von mir vor zwölf Jahren einmal davon gesprochen hat, daß er Muggel mit großen Maschinen etwa zwanzig Kilometer von hier entfernt gesehen hat. Bo hat daraufhin festgelegt, daß Muggelabwehrzauber bis auf fünf Kilometer um Resting Rock herum eingerichtet werden sollen und wir nicht in die entsprechende Gegend fliegen oder apparieren dürften. Diese Muggelmaschinen sollen im Südosten von hier gewesen sein."

"Südosten", sagte Aurora Dawn. "Sie waren da nie?"

"Nachdem Bo die Verhaltensregeln aufgestellt hat nie wieder. Wir haben hier doch alles", sagte Liza Wollonger. Ihre Tochter Selma platzte dann damit heraus, daß Jimmy da trotz Bos Verbot häufiger gewesen sein mußte. Der hatte immer mal wieder erzählt, daß Muggel in komischen Anzügen da herumgelaufen seien und irgendwas in große Wagen verladen hatten. Aurora nickte, als habe sie die Bestätigung bekommen, die sie haben wollte.

"Also doch", sagte sie nur.

"Was, also doch?" Fragte Liza Wollonger.

"Wir prüfen gerade nach, ob etwas, was von Muggeln aus der Erde geholt wird, die Krankheit verursacht. Wenn wir uns da ganz sicher sein können, können wir Sie alle gezielt behandeln."

"Macht das Zeug gefährliche Strahlen wie die Sonne?" Fragte Liza Wollonger.

"Genau das prüfen wir nach, ob es sowas gibt", sagte Aurora. Denn sie hatten ja vereinbart, nicht gleich zu behaupten, daß es diese mit den üblichen Sinnen nicht feststellbare Strahlung war.

Die Lernheilerin wollte gerade zu ihrer Lehrmeisterin zurückkehren, als etwas wie ein großer Papierschmetterling durch die offene Haustür hereinflatterte und sich raschelnd vor Aurora auf den Tisch setzte.

"Ah, der Kollege hat einen Weg gefunden, uns was zuzuschicken", sagte sie und griff behutsam nach dem Papiergebilde.

"So ähnliche Dinger verwenden sie im Zaubereiministerium, um schriftliche Botschaften zwischen den Abteilungen auszutauschen", sagte Liza Wollonger. "Mein Cousin arbeitet da."

"Bei uns in der Sano geht das über Mentiloquismus oder Durchrufzauber, wenn jemand was mitteilen will", sagte Aurora Dawn und fingerte am Bauch des Papierschmetterlings, der nun, wo ihn eine lebendige Hand hielt, nur ein besonderes Papiergebilde war. Sie pflückte einen zusammengefalteten Zettel aus dem Bauch des Papierboten und faltete diesen.

Anweisung von Laura Morehead und Direktor Springs

Einwohner Resting Rock in Zauberschlaf versenken!
Nach durchführung sofort Dorf verlassen und zum Raport in QS SaNo erscheinen!

"Wir haben eine Anweisung von unserer Sprecherin erhalten", sagte Aurora Dawn. "bitte bleiben Sie liegen!."

"Was sollen Sie machen?" Fragte Liza Wollonger.

"Aurora, führe die Anweisung nicht aus!" Dröhnte Bethesda Herbregis' Stimme durch das Dorf. "Ich weiß jetzt, wie wir die alle hier herausbekommen können. Wenn die einmal im Zauberschlaf liegen könnte die gute Laura Morehead befinden, daß wir hier nicht so schnell wieder herkommen dürfen."

"Moment, ich geh mal eben raus", sagte die Lernheilerin und eilte aus dem Haus. Dort tippte sie sich mit dem Zauberstab an den Kehlkopf und murmelte: "Sonorus!" Dann rief sie mit nun überall hörbarer Stimme: "Wie wollen Sie das anstellen, Meisterin Herbregis?"

"Wo bist du gerade?" Hörte sie die dröhnende Antwort.

"Bei den Wollongers", antwortete Aurora magisch verstärkt.

"Gut, in einer Minute in unserem Labor!" War die knappe Antwort ihrer Ausbilderin. Aurora bestätigte den Erhalt dieser Anweisung und stellte mit "Quietus!" ihre Stimme wieder auf natürliche Reichweite ein.

"Zauberschlaf? Die wollten uns in Zauberschlaf versenken und dann solange so liegen lassen, bis sie wissen, ob wir noch zu retten sind?" Empörte sich Mrs. Wollonger. Aurora nickte und sagte dann beruhigend:

"Ja, aber meine Lehrmeisterin hat offenbar einen Weg gefunden, Sie und alle anderen in die Sana-Novodies-Klinik zu bringen, trotz Bos netten Absperrungen. Ich erkundige mich bei ihr und komme dann zurück, falls sie mir nichts anderes aufträgt."

"Wer hat denn diese Zauberschlafanweisung rausgegeben?" Fragte Liza Wollonger.

"Die Sprecherin der Heilerzunft", knurrte Aurora.

"Unverschämtheit sowas", schnaubte die nun alleinstehende Mutter.

"Achtung an alle Bewohner von Resting Rock! Bleiben Sie bitte in Ihren Häusern! Wir werden sie in spätestens drei Minuten sicher herausbringen!" Erscholl Bethesda Herbregis' magisch verstärkte Stimme durch das Dorf.

"Ihr kriegt uns hier nicht raus!" Rief Fred ebenfalls mit Hilfe des Sonorus-Zaubers.

"Das werden Sie erleben, junger Mann", dröhnte meisterin Herbregis' Stimme zurück. Aurora bat Mrs. Wollonger, mit ihrer Tochter im Haus zu bleiben und lief aus dem Haus. Um Zeit zu sparen flog sie mit dem Besen hinüber zum Versammlungshaus. Dort landete gerade Bethesda Herbregis.

"Schon da, wunderbar, Kind. Komm mit rein!"

"Wie wollen Sie die Leute hier rausbringen. Dieser Begrenzungszauber hätte mich schon fast nicht mehr durchgelassen."

"Weil dieser Bo nicht wissen konnte, was es außer einem Fluch sein konnte", sagte die erfahrene Heilerin. "Er hat die Abgrenzung so gewirkt, daß jedes atmende Wesen, das hier geboren oder von dem fremden Fluch befallen wurde, innerhalb der Dorfgrenzen zu bleiben hat. Das heißt, daß nur gesunde Leute oder tote Dinge Resting Rock verlassen können, Aurrora. Er hat nicht von Seelen oder lebendigen Wesen gesprochen."

"Wie haben Sie das aus ihm herausgeholt?" Fragte Aurora.

"Wirkt diese Seuche jetzt schon auf deinen Verstand, Kind? Oder ist es eine mir unbekannte Nachwirkung von Bicranius Beaumonts Mixtur. Anders kann ich mir diese Frage von dir wirklich nicht erklären."

"Veritaserum?" Fragte Aurora. Ihre Ausbilderin nickte ihr heftig zu.

"Er wollte nicht antworten. Da ich ihn schon für unzurechnungsfähig erklärt habe, was ich der guten Laura Morehead gegenüber besten Gewissens vertreten kann, konnte ich die Anwendungsbeschränkungen umgehen. Er hat mir dann erzählt, wie er das Ritual ausgerichtet hat. Wir werden dieselbe Methode benutzen, die eine gewisse Professeur Blanche Faucon zum Ende 1980 benutzt hat, um ihre Tochter und andere personen aus dem angegriffenen Sternenhaus herauszubringen. Ich habe es vor vier Jahren von unserer französischen Kollegin Matine erfahren, daß Professeur Faucon ihre Tochter Catherine in ein Stofftaschentuch verwandelt hat, um sie und andere auf einen Schlag aus der Gefahrenzone zu befördern. Da das Festhalteritual atmende Wesen zurückhält, und weil wir jetzt ziemlich sicher davon ausgehen, es mit einer besonderen Form von Verseuchung und keinem Fluch zu tun zu haben, werden wir diesen Magiern der Aborigines ein Schnippchen schlagen. Soweit ich weiß kennen die gerade die Animagus-Verwandlung, wie sie die Schamanen in anderen Naturvölkern auch schon beherrschen. Heterotransfiguration in unbelebte Gegenstände ist denen nicht geläufig."

"Oh, hat mir ein Klassenkamerad erzählt, daß ihm sowas ähnliches passiert ist, als Sie-wissen-schon-Wer seine Eltern getötet hat", sagte Aurora, die verstand wie es klappen sollte.

"Womöglich war Professeur Faucons Methode da auch das Vorbild", erwiderte Auroras Mentorin. Dann sagte sie noch: "Ich habe gerade einen Antwort-Schmetterling losgeschickt, um unsere baldige Ankunft anzukündigen. Wahrscheinlich wird die gute Laura Morehead mich wegen mutwilliger Abänderung ihrer Anweisung gehörig ausschimpfen. Aber auch das werde ich besten Gewissens über mich ergehen lassen."

"Dann wollen wir jetzt loslegen?" Fragte Aurora Dawn.

"Unverzüglich. Du bist in fortgeschrittener Verwandlung sehr gut. Du kannst das tun. Also los! Wir treffen uns in einer Viertelstunde mit den Besen auf dem Versammlungsplatz. Die Ausrüstung verbleibt solange hier."

"Jawohl, Meisterin Herbregis", erwiderte Aurrora gehorsam und eilte davon, um die neue Anweisung auszuführen. Sie hoffte nur, daß das darauf folgende Donnerwetter wirklich nur ihre Mentorin betreffen würde. Vor allem hoffte sie darauf, daß die Vivo-ad-invivo-Verwandlung klappen würde. Sie hatte sie zwar im letzten Jahr häufig geübt. Aber Klassenraumbedingungen waren mit der Wirklichkeit nicht immer vergleichbar.

"Bleib ganz ruhig sitzen, Selma!" Rief Aurora dem kleinen Mädchen zu. Dann befreite sie dessen Mutter von der Chapel-Whitesand-konstruktion, verschloß die Wunden und stellte sich einige Meter von Liza entfernt hin und vollführte nach einigen Sekunden Konzentration eine schnelle Abfolge von Zauberstabbewegungen, an deren Ende ein Blitz herausschlug und Liza Wollonger von einem Moment zum nächsten in ein kleines Stofftaschentuch verwandelte. Selma starrte erschrocken auf ihre veränderte Mutter. Diese Schrecksekunde nutzte Aurora um mit "Repititio Transfiguratio!" die Verwandlung wesentlich schneller als eben noch zu wiederholen. Sie nahm die so transportierbaren Bürger von Resting Rock und verstaute sie behutsam in ihrem Umhang. Sie wußte, daß die beiden keine Schmerzen empfindn, wohl aber ihre Umgebung wahrnehmen konnten. Dann eilte sie zum nächsten Haus und wiederholzauberte ungesagt. Die Bewohner versuchten gar nicht erst, fortzurennen. Aurora war froh, daß der Zauber klappte. Sie hatte schon befürchtet, daß die Strahlenschädigung die Patienten so stark verändert hatte, daß ihre Körper nicht mehr den üblichen Verwandlungsregeln unterlagen. Nach mehreren Dutzend Häusern trug sie über einhundert Taschentücher über ihren Umhang verteilt bei sich. Als sie dann auf dem Versammlungsplatz mit ihrer Meisterin zusammentraf, sagte diese:

"Du fliegst zuerst hinaus. Ich habe diesen Bo und seine pflichtvergessene Cousine bei mir. Ich weiß nicht, ob die von Bo gewirkten Zauber sich nicht verändern, wenn er ihren Wirkungsbereich verläßt."

"In Ordnung, ich fliege los", sagte Aurora und startete.

Diesmal meinte sie, eine Riesenhand wolle sie zurückreißen. Sie rutschte fast von ihrem Besen. Doch dann war sie aus der Bannzone heraus. Sie hatte alle verwandelten Bürger durchgebracht! Hinter sich hörte sie ein Prasseln und Donnern. Sie blickte sich um und sah Bethesda Herbregis, die in eine rosarote Lichtblase eingehüllt war und von feurigen Gebilden und bunten Blitzen umtost wurde. Doch die Lichtblase prellte jeden Ansturm zurück. Dann war auch sie wohl aus der Wirkungszone des Rückhaltezaubers heraus.

"Hat dieser Narr doch echt gedacht, mit seinen Gedanken seinen abtransport vereiteln zu können", knurrte Auroras Mentorin. "Aber er hat nicht mitbekommen, daß ich nach dem Start bereits den Amniosphaera-Zauber aufgerufen habe."

Wenige Minuten Später erreichten sie das Zelt von Melchior Vineyard.

"Wir apparieren in der Quarantänestation, Mel", sagte Bethesda Herbregis.

"Öhm, was ist denn mit euch beiden passiert. Ihr seht so ausgestopft aus", sagte der Heilerkollege.

"In gewisserweise sind wir das", knurrte Meisterin Herbregis. "Aber das wirst du gleich sehen, warum. Nur so viel: Wir haben den Auftrag ausgeführt."

"Welchen, die Leute rauszuholen oder in Zauberschlaf zu versenken?" Fragte Melchior Vineyard. Da fing sein Warnstein zu summen an. Er blickte erschrocken in die Richtung, aus der die beiden Kolleginnen gekommen waren.

"Oha, ihr habt da irgendwas ziemlich übles heraufbeschworen, seufzte er und deutete auf etwas, das aussah wie eine Armee unförmigerSchatten, die auf sie zuhielt.

"Wir haben das Ritual ausgetrickst, Mel. Besser ist es, wenn wir jetzt verschwinden", sagte Bethesda Herbregis erregt. Das ließ sich Melchior Vineyard nicht zweimal sagen. Er disapparierte. Aurora Dawn war keine Sekunde später fort. Bethesda Herbregis sah noch die Schatten heranfliegen, fühlte eine immer stärker werdende Kälte. Dann verschwand sie auch. Kaum war sie fort, zerstoben die unheimlichen Schattenwesen mit lautem Geheul in alle Himmelsrichtungen. Ihr magischer Fokus war verschwunden, ihr Auftrag fehlgeschlagen oder erfüllt. Denn jetzt existierte kein atmendes Wesen mehr in Resting Rock.

Aurora Dawn landete wie gewünscht im Ankunftsraum der Klinik. So schnell sie konnte lief sie in die Quarantäneabteilung hinüber. Tatsächlich war die Station nun doppelt so groß wie sie sie in Erinnerung hatte. Auf halber Länge des Hauptganges traf sie Laura Morehead und Vitus Springs.

"Was tragen Sie denn da bei sich?" fragte Laura Morehead argwöhnisch.

"Wir haben alle Einwohner Resting Rocks evakuiert, Madam Morehead", meldete Aurora der obersten Heilerin Australiens. Dann kam auch Bethesda Herbregis angelaufen und vervollständigte die Meldung:

"Wir haben alle Einwohner in Invivo-Form aus Resting Rock evakuiert, da ein archaisches Einschließungsritual den Transport der Patienten in ihrem körperlichen Normalzustand verhinderte, Laura. Wir werden sie jetzt in den Zimmern unterbringen."

"Beht, ich gab eigentlich die Anweisung, die Bewohner in Zauberschlaf zu versenken, bis wir wissen, ob und wie wir sie ohne Gefahr für uns anderen behandeln können", schnarrte Laura Morehead. "Improvisation ist wichtig, aber zu viel Eigenmächtigkeit ist unerwünscht", fügte sie noch hinzu. "Wenn das zutrifft, was ihr beiden vermutet, dann enthalten die Patienten einen gefährlichen Stoff, der nicht auf die üblichen Intox-Anzeiger anspricht, aber jeden in unmittelbarer Nähe betreffen kann."

"Deshalb bringen wir die hier unter", sagte Bethesda Herbregis, die am Tonfall gemerkt hatte, daß das heftige Donnerwetter der Sprecherin ausbleiben würde.

"Das war riskant, Beth", sagte Vitus Springs. "Wir sind auf diesem Gebiet völlig ahnungslos. Woher konntest du wissen, ob die Patienten sich problemlos umwandeln lassen?"

"Abwägung, Vitus. Wenn wir sie in Zauberschlaf versenkt hätten, wäre ihnen nicht so schnell geholfen worden. Außerdem haben wir sie damit aus der unmittelbaren Gefahrenzone herausbekommen. Wir wissen nicht, ob der sonst gegen alle Elementarformen außer Feuer schützende Schlaf gegen diese Art von Einfluß ebenso wirksam gewesen wäre", rechtfertigte Bethesda Herbregis ihr Vorgehen.

"Hast du die Verwandlungen alleine ausgeführt, Beth?" Fragte Vitus Springs.

"Ich vertraute zu recht auf die Fertigkeiten von Adeptin Dawn, eine derartige Verwandlung ausführen zu können. Aber jetzt bitte ich darum, die Patienten sicher unterbringen zu können."

"Genehmigt", sagte Vitus Springs und warf Aurora einen anerkennenden Blick zu. Laura Morehead betrachtete die Ausbuchtungen der Umhänge.

"Wie fühlst du dich, Aurora?" Fragte die oberste Heilerin Australiens.

"Bißchen müde. Aber sonst geht es mir gut. Ich habe nur ein wenig Angst, daß wir uns diese Strahlenkrankheit eingefangen haben könnten."

"Ich habe euren Bericht erhalten und die Empfehlung zur Anweisung erhoben", sagte Vitus Springs Bethesda Herbrebis zugewandt. "Ihr bleibt auch in Quarantäne, bis wir heraushaben, wie diese Substanz neutralisiert werden kann. Dann kümmern wir uns um Resting Rock. Ministerin Rockridge hat eine Anfrage ausgegeben, wo in der Nähe der Ansiedlung dieses Uranium abgebaut wird oder wurde."

"Die Information habe ich, Sir", sagte Aurora aufgeregt und wartete, bis sie gefragt wurde. "Zwanzig Kilometer südöstlich von Resting Rock", gab sie dann die Auskunft weiter, die sie von Liza Wollonger erhalten hatte, die sie gerade bei sich trug.

"o das würde einiges vielleicht erleichtern", sagte Laura Morehead. "Woher wissen Sie das, Adeptin Dawn?"

"Von Mrs. Liza Wollonger, einer Bürgerin aus Resting Rock, Madam."

"Gut, das wird nachgeprüft", befand Mrs. Morehead. Dann gebot sie, die Patienten unterzubringen.

Eine halbe Stunde später war die Quarantänestation mit Patienten belegt. Sie alle waren entkleidet worden. Die Kleidung wurde ohne Federlesen in Nichts aufgelöst. Dann hatten sich alle einer gründlichen Körperwäsche zu unterziehen, bei der sie von Kollegen Bethesdas und Auroras in schweren, bleigefüllten Umhängen betreut wurden. Erst danach durften sie alle in klinikeigene Nachtgewänder schlüpfen. Die Schwerkranken wurden wieder mit Chapel-Whitesand-Vorrichtungen von verdorbenem Blut erleichtert. So verbrachte Aurora Dawn die erste Nacht als Patientin in der Sana-Novodies-Klinik.

__________

"Wie konnte uns so ein Versäumnis unterlaufen?!" Schnarrte Laura Morehead, als sie das silberne Instrument, das wie eine Wünschelrute aussah und am Verbindungsende eine taubeneigroße Kristallkugel besaß, über Auroras Körper hinwegführte. Die mit einer blauen, gasförmigen Substanz gefüllte Kugel leuchtete auf, als sie über Auroras Körper hing. Ein leises Summen kam von der Metallkonstruktion her. "Dieses Ding tut wirklich, was du vorausgesagt hast, Aurora. Gratuliere. Du hast soeben die magische Heilkunst um eine wichtige Erfindung bereichert."

"Sieht ja heftig aus", stöhnte Aurora. "Da hat es mich doch wirklich stark erwischt."

"Deine Ausbilderin hat uns heute morgen ihre Notizen über den Tag zukommen lassen. Das Buch verursachte bei dem Anzeiger hier einen mittelstarken Effekt. Ihr wart gestern eine Zeit lang starken Windböen ausgesetzt, die euch den Staub, der diese Radioaktivitätsstrahlung getragen hat, um den Kopf geblasen hat. Deshalb habt ihr einiges davon eingeatmet." Wie zur Bestätigung glühte die Kristallkugel über Auroras Brustkorb etwas heller. Die rauchartige Füllung brodelte wie flüssiges Sonnenlicht.

"Das heißt, Meisterin Herbregis und ich werden diese Krankheit auch kriegen", seufzte Aurora voller Unbehagen.

"Nachdem ihr beiden uns mit der Nase drauf gestoßen habt, was diesen sogenannten Fluch bewirkt, haben unsere Spezialisten für Blut- und Gewebezerstörungen bereits einiges in Arbeit, um das zu verhindern. Mit deinem Strahlenspürer hier können wir kontrollieren, wo noch gefährliche Materialien vorhanden sind. Wir kriegen das aus euch allen raus."

"Die Muggel verwenden Blutaustausch. Den können die zumindest. Aber wenn das Zeug in den Knochen und den Nervenfasern und anderen Gewebearten steckt ..."

"Ich habe die unerlaubt kopierten Bücher unter dem Einfluß des Gedächtnistrankes gelesen. Sie strahlen jedoch auch diese Radioaktivität aus. Daher habe ich sie unmittelbar danach wie vorgeschrieben verschwinden lassen. Zumindest hinterläßt das Verschwinden keine Strahlung."

"Wie geht es Meisterin Herbregis?" Fragte Aurora.

"Sie hat stärker geleuchtet als du, Aurora. Liegt wohl daran, daß du zwischendurch aus der Wirkungszone heraus warst oder ihr Körper ein paar Jahre älter ist. Sie empfiehlt eine innere Reinigung mit Einläufen und Tränken, sowie eine vollständige Knochenrekonstruktion mittels Skele-Wachs."

"Ach neh, nicht das Zeug", grummelte Aurora Dawn.

"Wird dir wohl nichts anderes übrig bleiben, wenn du die schädlichen Stoffe aus den Knochen haben willst", sagte Laura Morehead. Aurora nickte nur.

Als Laura Morehead wieder gegangen war, dachte Aurora Dawn daran, wie gefährlich der Heilberuf sein konnte, wenn man sich mit völlig unbekannten Erkrankungsformen befassen mußte. Hätte sie nicht Tim Preston in Hogwarts kennengelernt, wäre sie wohl nicht darauf gekommen, daß die fremde Krankheit eine ganz andere Ursache als einen Fluch oder einen Erreger haben konnte. Dann dachte sie daran, wie viel Skele-Wachs-Trank nötig sein mochte, um alle Bewohner von Resting Rock mit reinen Knochen auszustatten und dachte mit großer Beklommenheit daran, wie weh die Knochenerneuerung tun mochte. Ein Mensch besaß an die zweihundertfünfzehn Knochen. Die alle erneuern zu müssen war bestimmt auch gefährlich, vor allem im Bereich von Schädel und Brustkorb. Denn zuerst mußten die geschädigten Knochen ja aus dem Körper verschwinden. Dann erst konnte Skele-Wachs seine wundervolle Wirkung entfalten. Sie dachte daran, welche Tränke und Zauber sie noch über sich ergehen lassen mußte. Womöglich hatte man sie schon dem Ventervacuus-Zauber unterzogen. Denn sie fühlte sich sehr hungrig.

"Hallo Aurora, wie geht es dir?" Hörte sie Bethesda Herbregis' Stimme in sich.

"Ich hörte, sie wollen uns alle die Knochen neu machen. Davor ist mir etwas bange. Aber wenn damit das ganze Strahlengift ausgeräumt wird, muß ich wohl da durch", schickte Aurora ihrer Lehrmeisterin zurück.

"Vielleicht bekommen wir davon nicht viel mit. Ich habe angeregt, daß wir alle nacheinander in große Wannen mit keimfreilösung gelegt und mit Beatmungsschläuchen in einer mittelstarken Betäubung gehalten werden, um alle Knochen auf einmal nachwachsen lassen zu können", erhielt sie zur Antwort. "Direktor Springs wird dazu wohl bald was sagen."

"Skele-Wachs geht nicht mit Schlaftränken zusammen. Und Schlafzauber verzögern das Knochenwachstum", schickte Aurora zurück.

"Tja, deshalb experimentieren unsere Kollegen bereits mit Kombinationen, die sich vertragen. Mal sehen, wann sie eine gefunden haben."

"Das kann dauern, wenn sie nicht über eine mehrstufige Verabreichung gehen wollen", mentiloquierte Aurora Dawn. Sie fühlte, wie ihr Kopf vom Gedankensprechen schon gut erhitzt war.

"Habe ich auch vorgeschlagen. Da hat mir doch ein Kollege vorgehalten, ich solle nicht in die Therapie dreinreden, solange ich in einem Patientenbett läge. Ich würde das ja auch nicht haben wollen."

"Kann ich mir vorstellen", dachte Aurora Dawn für sich und schickte zurück, daß sie ja wohl genug vorarbeit geleistet hatten.

"Wird sich zeigen", kam die Antwort zurück.

Im Laufe des Tages erfuhr Aurora, daß auf Grund der natürlichen Eigenschaften des Urans, das einigen Alchemisten doch schon untergekommen war, ein Komplettreinigungsmittel für die weichen Gewebeteile zusammengestellt werden konnte, das in der nötigen Menge wohl in zwei Tagen verfügbar war. Sie bekam zu essen und entleerte Darm und Blase in einen Nachttopf, dessen Inhalt sie selbst verschwinden ließ. Jill Trylief war jetzt die für sie zuständige Heilerin.

"Ist schon was ganz neues, diese Radioaktivitätssache, Aurora. Aber im Grunde ist es auch nur ein Gift, und mit sowas haben wir ja doch genug erfahrung. Diese Strahlenfinder sind schon gruselig. Wenn ich mit denen über einige Flächen gehe, glimmt meiner auf. Aber er summt nicht. Daisy meinte, daß wenn Sonnenkrauttinktur die Hautschäden behebt, die Sonne ja dann ähnliche Strahlen zur Erde schickt. Da habe ich das Ding mal nach oben gerichtet, und es hat schwach aber sichtbar geflimmert. Schon unheimlich, daß wir die ganze Zeit von diesen Strahlen umgeben sind."

"Ja, und die Muggel hantieren damit seit 1895 herum, seitdem ein Konrad Röntgen in Deutschland Strahlen gefunden hat, die durch alles durchgehen und Phosphorflächen zum glühen bringen und damit eine neue Muggeltechnik erfunden hat, mit der die dann auch in lebende Menschen reingucken können."

"Laura Morehead meint, wenn ihr das hier alles heil übersteht, möchte sie dich und Beth Herbregis bitten, in den Winterferien einen umfassenden Vortrag über diese neue Art von Krankheit zu halten."

"Ach du meine Güte. So viel habe ich darüber auch nicht gelernt. Da waren zu viele Muggelmaßeinheiten und Maschinenbeschreibungen drin, die ich trotz Muggelkunde nicht kapiert habe", stöhnte Aurora Dawn.

"Deine Ausbilderin meinte vorhin zu Daisy, daß du in Hogwarts wen kennen würdest, dessen Vater berufsmäßig mit sowas herumhantiert. Schreib dem doch, du möchtest was erklärt bekommen!"

"Nur wenn ihr noch was von mir übrig laßt, was eine Feder führen kann, Jill. Aber kann verstehen, daß ihr alle euch auf diese Sache stürzt."

"Alle nicht, Aurora. Deine Kameraden bleiben in der gewohnten Ausbildung mit ihren Mentoren, und meine Jahrgangskameraden sind auch nicht alle für euch zuständig. Daisy und ich haben uns gemeldet, weil wir uns auf Fluchschäden und Entgiftungsprozeduren spezialisieren wollen."

"Der Fluch des gelben Kuchens", grummelte Aurora Dawn. "Nur weil ein paar Muggel in der Nähe von Resting Rock Uran aus der Erde geholt haben hat es mehrere Tote gegeben. Für die kommt jetzt alles zu spät."

"Das ist nicht deine Schuld, Aurora. Wären Shirley Mellow und ihre Tochter nicht mutig genug gewesen, gegen den Willen dieses alten Halb-Abos zu uns zu kommen, würden die jetzt alle in ihren Häusern dahinsiechen und qualvoll sterben, ohne daß irgendwer das mitbekommen hätte."

Es klopfte an die Tür. Jill Trylief fragte laut: "Wer da? Quarantänezustand!"

"Ich bin entsprechend isoliert", klang eine Frauenstimme durch die geschlossene Tür. Aurora kannte die Stimme, konnte sie aber nicht zuordnen. Dann erklang Laura Moreheads ebenfalls gedämpfte Stimme:

"Wir tragen Kleidung gegen die Strahlen, Ms. Trylief."

"Kommen Sie herein!" Sagte Jill. Die hermetisch schließende Holztür entriegelte sich, und zwei Frauen in gelben Gewändern, die den ganzen Körper überzogen, traten ein. Sie trugen durchsichtige Helme. Aurora erstarrte. Neben Laura Morehead stand die amtierende Zaubereiministerin von Australien, Latona Rockridge. Ihre rotblonden Haare waren unverkennbar.

"Ich grüße Sie, Ms. Dawn", sprach die Ministerin. Aurora setzte sich auf. So fühlte sie sich ja noch ganz in Ordnung. Sie streckte ihre rechte Hand aus und ergriff die behandschuhte Rechte der Ministerin.

"Ich wußte nicht, daß man im Quarantänetrakt Besucher empfangen darf, Frau Ministerin", versuchte sich Aurora Dawn in einer lockeren Begrüßung.

"Ausnahmeregelung", sagte die Ministerin lächelnd. "Mrs. Morehead hat sie mir erteilt, nachdem ich dem Beispiel Ihrer Ausbilderin folgend ein paar sogenannte Strahlenschutzanzüge aus der Muggelwelt habe beschaffen lassen. Ich bin auch nur vorbeigekommen, um Ihnen und Großheilerin Herbregis zu danken, daß Sie beide so mutig waren, das Geheimnis von Resting Rock zu lüften."

"Wir haben nur Befehle ausgeführt und unsere Pflicht als Heiler erfüllt, Madam", erwiderte Aurora Dawn. Laura Morehead sagte dann noch:

"Dennoch gehört immer viel Mut dazu, sich gegen den Widerstand von Hexen und Zauberern einer unbekannten Krankheitsform zu nähern. Immerhin hat Ministerin Rockridge Ihren Angaben nach ermitteln lassen, was passiert ist, Ms. Dawn." Die Ministerin räusperte sich und sagte dann:

"Nun, das obliegt ja nun mir, Laura. Also, ich habe meine Abteilungen arbeiten lassen und herausbekommen können, daß es vor zwölf Jahren einen von den Muggelbehörden nicht genehmigten Abbau von Uran gegeben hat. Wie Sie herausbekommen haben, haben die Muggel einen berechtigten Respekt vor der Strahlung, auch wenn sie das Risiko in Kauf nehmen, um ihre Atomstromöfen anzuheizen. Daher müssen die Bergwerke bestimmte Sicherheitsanforderungen erfüllen. Das war aber jemandem zu teuer, der auf seinem Grundstück die verräterische Strahlung aufgespürt hat und meinte, sich billig bereichern zu müssen, auf Kosten etlicher Bergleute, die zunächst keine Probleme damit hatten, ohne größeren Sicherheitsaufwand dort hinunterzugehen. Dann wurde der Betreiber der Mine erwischt, und die Anlage wurde mit Blei und Beton versiegelt. Allerdings hatten die Muggel in ihrem Eifer vergessen, die Stollen auszufüllen. Daher kam es vor zwei Monaten zu einem Einsturz. Die Versiegelung brach auf, und durch den Einsturz aufgewirbelter Uranstaub flog in großen Mengen in die Luft. weil im Umkreis von mehreren hundert Kilometern keine Muggelsiedlung liegt, hätten diese es wohl erst in Jahren bemerkt. Jetzt arbeiten meine Spezialisten an einem Plan, das Gelände zu entseuchen und die gegrabenen Stollen mit Gesteinswachstumszaubern vollständig zu schließen. Wir wissen nicht, wann Resting Rock wieder bewohnt werden kann. Daher werden sämtliche Bewohner von dort auf andere Zaubererdörfer umgesiedelt, wenn sie von den Strahlengiften gereinigt und geheilt sein werden. Nach Mrs. Moreheads Aussagen könnte die umfassende Therapie auf Grund zu beschaffender Zutaten in zwei Wochen beendet werden."

"Spätestens am dreißigsten April", fügte Mrs. Morehead ein.

"Wenn das überhaupt klappt", sagte Aurora.

"Jetzt wo wir wissen, was es ist, wie es wirkt und wo es herkommt wird das klappen, Aurora", sagte Jill Trylief sehr zuversichtlich. Laura Morehead nickte.

"Es ist eine besondere Form von Vergiftung. Deshalb habe ich sie unter der Bezeichnung Radiointoxikation als offizielle Form ins Register der Erkrankungsarten eintragen lassen."

"Hoffentlich ist das nicht zu spät für die schwerkranken Leute aus Resting Rock", seufzte Aurora Dawn.

"Die werden zuerst behandelt. Allen voran Mr. Wongara, der Dorfälteste."

"Der wird sich freuen", grinste Aurora Dawn.

"Vor allem, wenn ich den demnächst mit seiner Base vor dem Zauberergamot zur Verantwortung ziehe", erwiderte die Ministerin. Laura Morehead sagte:

"Wir wissen nämlich mittlerweile, daß die Radiointoxikation erst im Endstadium zur geistigen Schwächung führt, wenn das Gehirn vom Wasserentzug und den Strahlenschäden bereits angegriffen ist. Auf Unzurechnungsfähig wird der sich nicht berufen."

"Oh, dann hat Meisterin Herbregis aber ein Problem", stellte Aurora fest.

"Zum Zeitpunkt der Diagnose mußte sie auf Grund der unverantwortlichen Handlungen davon ausgehen, es mit einem unzurechnungsfähigen Zauberer zu tun zu haben", erwiderte Laura Morehead, und ihre Stimme klang durch den Schutzhelm wie aus einem großen Kessel.

"Jedenfalls werden die beiden so schnell keine hohen Stellungen mehr in einer Zauberersiedlung einnehmen", fügte die Ministerin hinzu. Dann bedankte sie sich noch einmal bei Aurora Dawn für den entscheidenden Hinweis und verließ mit Mrs. Morehead das Einzelzimmer.

"So, ich bin dann auch einstweilen weg, um die entscheidende Entgiftungstherapie mit vorzubereiten. Bis dann, Aurora!"

"Bis dann", erwiderte Aurora.

__________

Es dauerte einen weiteren Tag, bis Aurora erfuhr, daß die Sana-Novodies-Klinik mehrere Fässer Skele-Wachs-Trank angekauft hatte, sowie den Bluterneuerungstrank und mehrere Körpergewebewiederherstellungstränke zusammenbekommen hatte. Dann war es soweit. Anstatt nur vierzig Behandlungswannen waren zweihundert angeschafft worden. Bethesda Herbregis hatte von ihrem Zimmer aus die geeignete Kombination aus Schlaf- und Skele-Wachs-Trank an ihre Kollegen weitergegeben, auch wenn einige nicht sonderlich begeistert gewesen waren. Somit konnten zweihundert Patienten zugleich in die gleichwarm bleibenden Behandlungswannen steigen, die mit Keimfreilösung gefüllt waren. Aurora Dawn sah zu, wie einer ihrer zukünftigen Kollegen den Zauberstab über sie führte und fühlte unvermittelt etwas wie ein erschlaffen ihres Körpers und ein merkwürdiges Gefühl, als entweiche der Druck aus ihrem Kopf. Sie meinte noch, ihre Zähne aus dem Mund kullern zu fühlen. Dann setzte die Wirkung des Schlaftranks mehr und mehr ein. Sie fühlte noch, wie ihr Skele-Wachs eingetrichtert wurde. Dann versank sie in tiefen Schlaf.

Es war schon ein gruseliger Anblick, wie Auroras Körper unter dem Entknochungszauber, der einmal als Unfall bei einer Verhärtungsabmilderung entstanden war, aus der jungen Hexe einen rosigen, menschenförmigen Gummisack machte, dessen Brustkorb unter dem eigenen Gewicht eingedellt wurde. Der Heiler schloß schnell das magische Beatmungsgerät an, das die Lungen mit dem nötigen Druck entfaltet hielt und den Atemluftaustausch garantierte. Dann maß er mit dem neuen Strahlenfinder nach, wie stark Auroras Körper unter dieser Maßnahme entseucht worden war. Das magische Instrument leuchtete zwar noch, summte aber nicht mehr so laut. Also war ein beträchtlicher Anteil bereits herausgezaubert worden.

Einen Tag später konnte sich der Heiler davon überzeugen, daß seine zukünftige Kollegin wieder ein vollständiges Skelett besaß. Er ließ die ausgefallenen Zähne nachwachsen und weckte seine Patientin.

"Habe ich's überstanden?" Fragte sie und strich sich mit der Zunge über die neuen Zähne. Dann griff sie sich mit den vollkommen beweglichen Fingern an den stabilen Schädel, betastete ihre Wangen- und Kieferknochen und lächelte.

"Der Rest ist weniger drastisch", sagte der Heiler und koppelte seine Patientin an die Blutentnahmevorrichtung an.

"Jetzt kann man die ganzen Knochenbrüche, die ich mir beim Quidditch zugezogen habe nicht mehr sehen", scherzte Aurora, nachdem sie den Bluterneuerungstrank eingenommen hatte. Vier Stunden später war ihr Blut vollkommen ausgetauscht. Wieder war der Strahlungswert abgesunken. Dann bekam sie einen Einlauf mit der neu entwickelten Desuranium-Lösung, der ihre Gedärme gründlich durchspülte. Die dabei ausgefilterten Ausscheidungen verschwanden im neuen Vanesco-Eimer, der alle halbflüssigen und Flüssigen Substanzen umgehend verschwinden ließ.

"Mein Kollege hat sich das Ding patentieren lassen, Ms. Dawn. Übrigens wurde diese schnuckelige Kugel an zwei Silberstäben hier als Ihre Erfindung eingetragen. Beachtlich, innerhalb eines Tages so eine schnell nachbaubare und funktionierende Sache hinzukriegen."

"Wenn wir nicht gewußt hätten, was es war, hätten wir sowas nicht erfinden können", erwiderte Aurora Dawn bescheiden. Ihr angehender Kollege lächelte nur zur Antwort.

Einen Tag später war die letzte grundlegende Körperentgiftung beendet, und der Strahlenfinder blieb still und dunkel. Es folgten Körperheilungszauber und ein Wiederaufbautrank, der den Rest der geschädigten Gewebeschichten vom Körper aufsaugen und durch neues Gewebe ersetzen ließ, was für die junge Lernheilerin eine geraume Zeit wie in ihr herumwuselnde Ameisen wirkte. Doch dann, nach insgesamt neun Tagen intensiver Behandlung, verkündete Jill Trylief:

"Gratulation, Ms. Dawn, Sie sind vollständig entgiftet und geheilt. Meisterin Herbregis erwartet Sie in einer halben Stunde zur Nachbereitung Ihres Einsatzes und zur Planung der nächsten Einsätze."

"Heute schon", grummelte Aurora Dawn. Doch dann lächelte sie. Ihr war es in der Quarantänestation ohnehin schon fast zu langweilig geworden. So bedankte sie sich artig für die Entlassung und verließ zehn Minuten Später den Quarantäneflügel in ihrem neuen grünen Lernheilerinnenumhang. Als sie durch den allgemeinen Klinikbau ging, grüßten sie alle ausgebildeten Heilerinnen und Heiler, sowie ihre Kameraden aus den Ausbildungsjahrgängen. Sogar die sonst so abweisende Monica Riddley hatte ein anerkennendes Lächeln für sie übrig. Womöglich war es auch nur die ehrliche Freude daran, daß sie nicht nach Resting Rock geschickt worden war. Doch das war Aurora jetzt egal. Sie war von allen Auswirkungen der schleichenden Erkrankung befreit und konnte nun ihre Ausbildung fortsetzen. Sie hoffte, daß sie für's erste nur mit Sachen zu tun bekommen würde, die bereits bekannt und behandelbar waren. Als sie in ihrem eigenen Zimmer ankam, grüßte sie das Portrait an der Wand.

"Wo warst du so lange, Aurora. Deine Eltern haben sich schon Sorgen gemacht."

"Richte Ihnen bitte aus, mir ginge es jetzt wieder gut. Ich war auf einem Außeneinsatz, der eine gefährliche Seuche betraf, die wir erst einmal finden und was dagegen entwickeln mußten. Ich war vorsorglich in Quarantäne. Aber jetzt bin ich ganz frei von allen Giften und Keimen. Wenn du das weitergegeben hast such unsere Hogwarts-Version auf und gib ihr von mir die Bitte weiter, Tim Preston zu informieren, ich würde ihm demnächst einige Fragen über Strahlungen und die ganzen Atomsachen zuschicken, die er mir dann, wenn der UTZ-Stress ihn nicht zu sehr erwischt hat, bitte beantworten möchte, wenn er Zeit hat. Danke dir!"

"Atomsachen? Stimmt, Sein Vater arbeitet ja mit sowas. Okay, ich gebe es weiter", sagte die gemalte Ausgabe von Aurora Dawn und verschwand aus ihrem Bild.

Wie einbestellt erschien Aurora Dawn in Mrs. Herbregis' Büro und meldete sich einsatzbereit.

"Wir besprechen erst einmal, was wir in Resting Rock und hier alles erlebt haben. Das wird wohl zwei Stunden dauern", begann die Lehrmeisterin. Sie diskutierte Mit Aurora die getroffenen Maßnahmen, rügte sie leicht, weil sie so unbedacht mit Sonnenkrauttinktur hantiert hatte, ohne es mit ihrer Mentorin abzuklären, lobte sie für ihren gelungenen Einsatz in Alice Springs und sprach ihr die Anerkennung für ihren Mut aus, sich der unbekannten Gefahr gestellt zu haben.

"Du hättest gemäß Ausbildungsverordnung auch ablehnen können, in diese Gefahrenregion einzudringen. Das weißt du ja."

"Ich habe daran gedacht, daß ich mich in zwei Jahren nicht mehr davor drücken kann, Meisterin Herbregis. Deshalb wollte ich das jetzt schon wissen, ob ich damit zurechtkomme."

"Ganz souverän, möchte ich meinen. Die haben mir schon die richtige Adeptin zugewiesen", lobte Mrs. Herbregis ihre Schülerin. "Du hast den Auftrag der magischen Heilzunft klar verstanden: Helfen wo es geht und nicht vor irgendwelchen Gefahren davonlaufen, solange es Leute gibt, die deine Hilfe brauchen."

"Ich habe Mrs. Morehead, Direktor Springs und Ihnen versprochen, die Ausbildung durchzustehen, solange es keinen Grund gibt, sie vorzeitig zu beenden. Den hätte es wohl nur gegeben, wenn die Krankheit nicht hätte kuriert werden können."

"Das du damit einen Meilenstein der magischen Heilkunst gesetzt hast ist dir also nicht so wichtig?" Wollte Bethesda Herbregis wissen.

"Ich habe es nicht darauf angelegt, was neues zu entdecken. Abgesehen davon fiel mir das mit der unsichtbaren Strahlung ja nur ein, weil ich die Sonnenkrauttinktur benutzt habe und ich mich an die Berichte von Tim Preston erinnerte.

"Apropos, falls du es noch nicht angedacht hast möchte ich dich bitten, deinen ehemaligen Mitschüler anzuschreiben und ihn um die Erläuterung einiger Begriffe zu bitten, die wir beide noch nicht verstanden haben. Ich weiß, er befindet sich derzeitig in der intensivsten Phase seiner Zaubereiausbildung. Aber ich denke, wenn er Wert darauf lebt, in einer gesunden Zaubererwelt zu leben, wird er uns so weit er kann helfen, hoffe ich."

"Ich habe ihn schon vorgewarnt, Meisterin Herbregis. Er wird wohl heute noch eine Antwort zurückschicken, ob ich ihn damit behelligen kann oder nicht."

"Natürlich, die Schnellverbindung", erwiderte Bethesda Herbregis kühl. Dann ging sie mit Aurora Dawn die noch zu klärenden Begriffe aus den Büchern durch und schrieb sie auf eine Liste. Danach kam sie auf das, was nun wieder anstand.

"Wir haben noch einige Wiederherstellungszauber, die wir noch genauer einüben müssen", sagte ihre Mentorin. "Zu unserem Vorteil befinden sich zur Zeit drei Hexen in der Klinik, die an Myopyrose leiden. Wir müssen noch rauskriegen, wie die sich diese seltene Krankheit eingehandelt haben. Also zieh dir bitte den Keimfreiumhang über, damit die Erreger uns nicht auch noch erwischen, wo wir gerade gesünder sind als vor unserem Ausflug nach Resting Rock!" Aurora nickte und holte sich einen besonders bezauberten Kapuzenumhang aus dem Ausrüstungsraum, der alle magischen und nichtmagischen Sporen und Erreger abhielt und sogar für zwei Stunden eine Kopfblase erzeugte, die die schädlichen Stoffe ausfilterte. Aurora lernte an den drei kranken Hexen, die nnur mit Schmerzlinderungstränken davon abgehalten werden konten, sich die Lunge aus dem Hals zu schreien, wie der Muskelbrand, der durch ins Blut gerattene Feuerpilzsporen entstand, erkannt und behandelt werden konnte, wobei die Entseuchung zwei Tage und die Wiederherstellung des zerstörten Muskelgewebes einen Tag andauern würde. Dann besuchten sie noch einige Patienten, die Bekanntschaft mit giftigen Zauberpfalnezn gemacht hatten. Das empfand Aurora als ihr Heimspiel, weil sie die giftigen Pflanzen auswendig kannte und die nötigen Gegenmittel auch schon ohne Aufsicht brauen und verabreichen konnte. Dann ging es sogar auf einen schnellen Außeneinsatz, bei dem sie einen kleinen Jungen behandeln mußten, der den herumliegenden Zauberstab seiner Mutter in den Mund genommen und darauf herumgekaut hatte, bis ihm ein schnabelartiger Mund und ein kugelrunder, grüner Bauch gewachsen waren.

"Ihnen ist schon klar, daß Zauberstäbe aus Eukalyptusholz und Opalaugenherzfasern nicht zum lutschen geeignet sind", maßregelte die Heilerin die Mutter des Jungen, während Aurora den durch den Ballonbauch zum Schweben geratenen Knirps mit einem magischen Netz einfing und anstach, bis die magische Gasladung entwichen war. Dann stellte sie mit einem kleinen Quantum Alraunentrank die Mund- und Nasenpartie des Kindes wieder her.

"Ich wollte nur kurz ins Bad. Da habe ich den Stab auf dem Tisch liegen lassen. Das ist mein Bruder in Schuld mit seinen Lakritz- und Schokoladenzauberstäben, die genauso lang sind wie echte", verteidigte sich die Mutter.

"Ja, doch Sie haben Ihren Zauberstab für den Kleinen leicht erreichbar rumliegen gelassen. Ich empfehle Ihnen dringend, sich einen neuen Zauberstab zu kaufen. Die Drachenherzfasern sind schon stark angeknabbert, und das Holz dürfte durch den Speichel seine magische Balance verloren haben."

"Das kostet acht Galleonen, so einen Stab neu zu kaufen", grummelte die Mutter.

"Sein Sie froh, daß wir unsere Einsatzgebühr nicht von Ihnen extra erstatten lassen."

"Ich habe eine Mutter-Kind-Versicherung abgeschlossen", sagte die Hexe.

"Das ist in jedem Fall richtig", sagte Bethesda Herbregis. "Andererseits hat jeder Bewohner der Zaubererwelt ein Anrecht auf umfassende magische Heilung."

"Ist ja gut, daß Sie so schnell kommen konnten", sagte die Mutter und nahm ihren Sohn in die Arme.

"Das ist unser Beruf, Madam", sagte Bethesda Herbregis. Dann ließ sie sich die genauen Angaben über die Familie geben, bestätigte, daß sie den kleinen Brian vollständig geheilt hatten und ließ es sich von seiner Mutter unterschreiben. Danach ging es wieder zurück in die Klinik.

"Du hast es wirklich raus mit Zaubertränken, und hast den Kleinen auch gut beruhigen können, bevor du ihm die überschüssige Luft ablassen konntest. Das sitzt also auch bei dir. Notiere dir das bitte auch, daß das der erste echte Einsatz gegen einen ungerichteten Schwebezauber war und du bei der Gelegenheit auch eine Verunstaltung der Stufe eins behoben hast. Zwei Tropfen Alraunentrank oder der Corporeformus-Zauber sind da die entsprechende Therapie." Aurora nickte und notierte es sich in ihr Lerntagebuch.

Als sie am Abend im Tagesraum der Lernheiler mit Ireen Barnickle und den anderen aus ihrem Jahrgang über die vergangenen Tage sprach, fühlte sie sich so, als habe es den Einsatz in Resting Rock und die notwendige Therapie danach nur in ihrem Lerntagebuch gegeben.

"Jedenfalls habt ihr bewiesen, daß die Muggelwelt uns echte Probleme macht, wenn wir die weiter so herummurksen lassen", befand Monica Riddley. Ireen Barnickle warf ein, daß die Muggel schon selbst Angst vor dieser Verseuchung hatten, weil ja sonst dieses Bergwerk weiter so betrieben worden wäre.

"Ja, aber das es überhaupt aufgemacht wurde kommt doch nur daher, weil die Muggel dieses Zeug unbedingt haben müssen, um ihre Stromfabriken damit betreiben zu können. Stellt euch mal vor, so'n Ding explodiert einmal oder brennt ab. Dann kann ein ganzes Land sterben", warf Monica Riddley ein.

"Ja, aber wenn du an der Stelle sagst, die Muggel sollen das nicht mehr machen, dann findest du locker fünfzig andere Sachen, die du denen gleich mitverbieten kannst", warf der bärengleiche Tom McCloud ein. "Oder denkst du, wir sollten denen diese ganzen Weltraumsachen dann durchgehen lassen oder diese lauten Feuersprüh-Flugmaschinen. Überhaupt könnten wir denen gleich alles an Waffen und Kriegsgeräten verbieten, damit die lernen, sich wieder gegenseitig zu achten und nicht gleich loszukämpfen."

"Tom, ich bin völlig deiner Meinung, daß es nicht reichen würde, nur eine Sache zu verbieten. Aber solange das Ministerium findet, wir sollten die Muggel ihr Leben leben lassen, damit die uns nicht mit allem möglichen Krempel auf die Nerven gehen, dann ist wohl zu erwarten, daß diese Nichtskönner eines Tages den ganzen Planeten in die Luft sprengen oder ihn mit diesem Strahlenzeug überdecken", gab Monica Riddley noch einen gehässigen Kommentar ab. Berthold Woodman grinste Monica an und sagte:

"Immerhin kriegen wir durch die Muggelgeborenen ja doch mit, was bei deren Eltern so für Sachen laufen, um damit klarzukommen, nicht wahr, Ms. Shadelakerin?"

"Du meinst weil diese ... Bälger von Muggeln bei einem winzigen Funken Magie gleich als vollwertige Zauberer ausgewiesen werden sollten wir deren Eltern ihren Krempel machen lassen? Vergiss es!" Knurrte Monica Riddley. Tom grinste abfällig, während Ireen frustriert seufzte. Aurora zeigte keine Regung, wie ihr dieser kurze, eigentlich unnötige Wortwechsel behagte oder nicht. Sie dachte daran, wie schnell sie alle in eine Situation geraten konnten, von der sie nicht wußten, ob sie sie unbeschadet überstehen würden.

Wieder allein in ihrem Zimmer erfuhr sie, daß Tim Preston zwar im Moment Stress wegen Verwandlung und Kräuterkunde hatte, aber gerne bereit war, seiner ehemaligen Schulkameradin zu helfen. Dann griff sie zu ihrem privaten Tagebuch und trug die letzten dreizehn Tage nach. Dann schrieb sie den Eintrag für den gerade verstrichenen Tag:

24. April 1986

Wendy, bevor ich nach den ganzen Nachtragungen ins Bett falle und mich freue, nicht mehr Patientin, sondern wieder Heilerin zu sein, möchte ich dir noch einmal mitteilen, daß ich verdammt froh und glücklich bin, daß ich den ersten wirklichen Außeneinsatz in Resting Rock überlebt habe. Wenn ich nicht drauf gebracht worden wäre, was der Fluch des gelben Kuchens ist, könnte ich heute vielleicht meine Haare mit leichtem Kämmen vom Kopf fegen und wäre irgendwann genauso elend gestorben wie die armen Leute von Resting Rock. Ich bin auch froh, daß ich hunderten von Leuten habe helfen können. Sicher, den großen Teil haben die fertig ausgebildeten Kollegen besorgt. Doch durch das Experiment mit der Sonnenkrauttinktur bin ich auf die Spur gekommen.

Wenn ich mir das so überlege, Wendy, dann macht es mir auch ein wenig Angst, mir vorzustellen, daß es viele Orte auf der Welt gibt, wo dieses Zeug gebraucht und verheizt wird. Vor allem nach dem, was ich jetzt darüber weiß, fühle ich mich etwas unwohl. Irgendwie ist es so, als hätte ich in einem bekannten Haus eine versteckte Tür aufgemacht und wäre fast von rausschlagendem Feuer erwischt worden und hätte da erst gemerkt, daß verborgene Teile des Hauses brennen und das Feuer jederzeit das restliche Hauserfassen kann. Nur die Hoffnung, daß es sich hinter der versteckten Tür austobt, läßt mich noch gut schlafen. Hoffentlich begreifen die Muggel, welches Ungeheuer sie da herangezüchtet haben und halten es immer in Ketten oder besser, sie werden es so los, daß es keinem was tun kann. Ich habe mit den anderen heute abend darüber geredet. Monica meint, man müßte den Muggeln alles verbieten, was gefährlich ist. Tom und Berthold finden, daß wir dann den Muggeln alles aus der Hand nehmen müßten, also sie besser weiterleben lassen. Auch wenn es gefährlich ist, was die Nichtmagier so anstellen, so darf ich selbst bei all dem nicht vergessen, daß sie ohne Magie zurechtkommen müssen und sich wie wir ihre Welt so bequem es geht gestalten möchten. Wenn wir ihnen da hineinfuhrwerken, sind wir nicht besser als die Muggel, die damals aus lauter Angst vor der Magie unschuldige Menschen gejagt, gequält und ermordet haben. Das müssen wir immer bedenken, gerade wir von der Heilerzunft. Unsere Welt kann auch gefährliche Sachen hervorbringen, die rechtfertigen, daß die Muggel Angst vor uns haben. Zumindest können wir mit diesem "Fluch des gelben Kuchens" jetzt umgehen. Das läßt mich ruhiger schlafen.

ENDE

Nächste Story |

Verzeichnis aller Stories | Zur Harry-Potter-Seite | Zu meinen Hobbies | Zurück zur Startseite

Seit ihrem Start am 10. August 2008besuchten 4793 Internetnutzer diese Seite.