DER TOTENTÄNZER

Eine Fanfiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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P R O L O G

Die entschlossenen Schwestern der USA haben sich damit arrangiert, daß ihre Anführerin scheinbar spurlos verschwand und sie nun von Donata Archstone geführt werden. Nach dem Ende des britischen Dunkelmagiers Voldemort und der unberechenbaren Brutkönigin Valery Saunders gilt die Aufmerksamkeit nun verstärkt der Erbin Sardonias. Doch sie ist bei weitem nicht die einzige Bedrohung des scheinbar so sicheren Friedens.

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"Soso, ein Sklave vom alten Bradford spinnt rum, er sei ein ganz böser Gott?" Fragte Sheriff Bedingfield seinen Besucher, einen knapp fünfzig Jahre alten Viehtreiber, dessen Boss schon häufiger Krach mit Bradford hatte, weil seine Rinder immer mal wieder die Grundstücksgrenzen überquerten und Bradfords junge Zuckerrohrpflanzen niedertrampelten. Der bärtige Mann blickte den Sheriff verächtlich an.

"Diese Niggerreligion halt, Sheriff. Dieser Typ glaubt, ein alter Totengott oder sowas zu sein. Damit hält der die anderen ganz kusch, und Bradford kann denen noch so häufig die Peitsche überziehen."

"Abgesehen davon, daß die Leute Neger und nicht Nigger heißen, Fred, bin ich für Sklavenmeutereien nur dann zuständig, wenn die ihre Herren umbringen. Abgesehen davon geht's dich und deinen Boss doch auch nix an, oder?"

"Seitdem diese schwarzen Drückeberger unsere Hühner klauen und nachts auf Urwaldtrommeln rumkloppen und unser Vieh damit rammdösig machen ist das auch Mr. Fenders und mein Ding, was die Nigger da machen, Sheriff. Der will nachher noch mit Jack und Cody zu Bradford rüber und dem sagen, der soll diesen Affenstall ausmisten und diesen Lumpenhund am Baum aufknüpfen, um seinem Pack zu zeigen, daß der kein Gott oder sowas ist. Ich wollte das Ihnen nur erzählen, falls die faulen Kerle meinen, uns dumm kommen zu können."

"Das wagst du mir zu erzählen, daß dein Boss sich mit Bradford anlegen will und dabei meint, das Gesetz sei auf seiner Seite?" Stieß Sheriff Bedingfield aus. "Dann sollte ich dem mal sagen, daß ich hier das Gesetz vertrete, an das ihr alle euch zu halten habt, Bradford genauso wie dein Boss und ihr Cowboys."

"'ne Kuh aus unserer Herde hat 'n Kalb verloren, weil diese Buschnigger mit ihrem Getrommel und Gesinge die total verstört haben, Sheriff. Mr. Fender will vom alten Bradford Entschädigung für das Kalb haben und bei der Gelegenheit gleich klarmachen, daß dieser Urwaldpriester aus seinem Sklavenstall zu verschwinden hat, am besten mit langgezogenem Hals. Im Zweifelsfall tun's dann auch ein paar Kugeln in seine Brust."

"Ich sehe schon, Fred, daß ich da ganz schnell hin muß. Wann will Mr. Fender seinen Nachbarn aufsuchen?"

"Ich hab'ne Stunde zu Ihnen rübergebraucht. Könnte sein, daß der Boss schon bei Bradford in der Tür steht und den zusammenstaucht", erwiderte der Cowboy. Sheriff Bedingfield seufzte. Dann holte er seinen Revolvergürtel und sein Gewehr, steckte für die Waffen ausreichend Munition ein und rief seinem Hilfssheriff Carson zu, die beiden Pferde zu satteln. Er blickte noch einmal auf den Eichenholzschreibtisch und den Wandkalender. Heute war der siebte Mai 1859. Hier, im kleinen Ort Hillcrest in Virginia, passierte eigentlich nie was, wofür man einen Sheriff brauchte. Doch die umliegenden Farmen, Ranches und Plantagen boten immer wieder Anlaß zum Einschreiten. Sollte er die anderen Zusammenrufen, die bei den immer wieder auflodernden Streitereien zwischen Cowboys benachbarter Besitzungen einschritten? Ach was! Er brauchte nur Will Carson, seinen langjährigen Debuty.

Fünf Minuten später galoppierten drei Pferde über den festgestampften Boden der Hauptstraße von Hillcrest. Fred Tanner, der Vorarbeiter von Fenders Ranch, führte die beiden Gesetzeshüter in Richtung Osten. Sie wußten, daß sie schneller als in einer Stunde da sein mußten, wenn sie den als rauflustig geltenden Fender daran hindern wollten, Bradford zusammenzuschlagen und diesen Sklaven, der von seinem Erstbesitzer den Namen Ruben Coal verpaßt bekommen hatte, eigenhändig aufzuknüpfen. Der Sheriff sah Sklaven nicht als Nutzvieh in menschlicher Gestalt, wie die meisten weißen Siedler im Umland. Auch wenn er an der Lage nichts ändern konnte, das Eingeborene aus Afrika für Baumwoll- und Zuckerrohrplantagenbesitzer schufteten und wie Vieh ge- und verkauft werden konnten, wollte er doch nicht tatenlos zusehen, wie ein Sklave von einem Weißen aufgehängt wurde. Die Stimmung gegen die Haltung von Negersklaven war im Norden eh schon ziemlich feindselig. Wenn sich rumsprach, daß ein Sheriff es zuließ ... Ach die im Süden hier würden da keinen müden Cent für rausrücken, um einem Neger das nackte Leben zu retten. Wenn der nicht spurte oder noch schlimmer, andere dazu bekam, ihre Arbeit zu verweigern, würden den viele hier am liebsten mit dem Kopf nach unten den Wölfen zum Fraß vorwerfen. Doch Jonathan Bedingfield war hier das Gesetz, und das hatte befolgt zu werden. Vielleicht konnte er das so drehen, daß Fender statt Geld für das fehlgeborene Kalb diesen aufsässigen Sklaven bekam, den er dann am besten gleich weit weg weiterverkaufte. Dann wäre die Angelegenheit vom Tisch.

Die Hoffnung, eine Friedliche Lösung zu erreichen verflog schlagartig, als sie, noch knapp drei Meilen von der Bradford-Plantage entfernt, mehrere Gewehrschüsse hörten. Bedingfield stieß seinem Rapphengst Chico die Sporen in die Flanken und trieb ihn, obgleich der schon so ausdauernd galoppiert war, noch einmal zu einer schnellen Gangart an. Er preschte an Freds breitgebautem Braunen vorbei und hielt auf die von großen Grenzsteinen bezeichnete Grundstücksgrenze zu. Wieder krachte ein Gewehrschuß und hallte mehrere Sekunden lang von den umgebenden Hügeln, Felsen und Bäumen wider. Debuty Carson hatte seiner grauen Stute Windfairy ebenfalls die Sporen gegeben. Doch die schon langgediente Mutter von insgesamt sechs Fohlen konnte mit dem gerade dreijährigen Chico nicht mithalten. Nur Freds treuer Hengst Oakwood schaffte den verschärften Galopp des Sheriffpferdes.

"Der alte Bradford spinnt wohl", brüllte Fred hinter dem Sheriff. "Was glaubt der, daß so'n Nigger mehr wert is' als'n weibliches Kalb von 'ner Hochleistungskuh."

"Ich hab's dir schon mal gesagt, Fred, daß die Schwarzen Neger heißen", schnarrte der Sheriff.

"Auch von der Yankeeseuche befallen, wie?" Knurrte der Cowboy, der nun auf gleicher Höhe mit dem Sheriff dahinpreschte. "Sklaven sind Menschen und haben die gleichen Rechte vor dem lieben Gott, oder was?"

"Hast du schon mal einen von denen bluten gesehen, Fred? Das Blut von denen ist genauso rot wie das von uns", verteidigte der Sheriff seine Einstellung, von der er wußte, daß sie hier nicht sonderlich populär war. Der Cowboy grunzte nur verächtlich und deutete statt einer Antwort auf die nun vorausliegende Plantage, über die gerade wieder ein Schuß hinwegpeitschte. Der Sheriff riß sein Gewehr von der Schulter, prüfte nach, ob es geladen war und spannte den Hahn. Er riß den Lauf nach oben und feuerte einen Schuß in die Luft. Das sollte denen da auf der Plantage zeigen, daß noch wer bewaffnetes hier war.

Das Zuckerrohr, von dem Bradford nicht all zu schlecht lebte, stand bereits hoch genug, um wie Schilf um einem See die direkte Sicht auf das Feld zu verhüllen. In der Ferne konnte der Sheriff die fünf Häuser erkennen, von denen das Herrenhaus mit seinen vier Stockwerken wie ein kleines Schloß mitten in Virginia emporragte. Die anderen Häuser waren Ställe und die Unterkünfte der hundert Sklaven, die Bradford sich hielt. Wenn die Schwarzen nicht gerade im Zuckerrohr arbeiteten, konnten die sich selbst versorgen. Sie hatten Gemüsebeete und bekamen von ihrem Herren genug Fleisch und Mehl, um nicht zu verhungern, aber gerade wenig genug, um zu wissen, wer Herr und wer Sklave war. Jetzt hörte Bedingfield auch ein merkwürdiges, hohles Klopfen. Erst beim Näherkommen erkannte er, daß es die dumpfen Schläge auf einer bestimmt sehr großen Trommel waren. Dann rauschte es im Zuckerrohr, und ein muskulöser, ebenholzfarbener Mann, der bis auf eine Leinenhose unbekleidet war, tauchte mit steif wirkenden Bewegungen vor dem Sheriff auf. Wieso trug der Sklave keine Arbeitskleidung. Und wieso hatte der den Eisenring nicht um den Hals, den Bradford allen Sklaven um die Gurgel schmieden und mit seinen Initialen versehen ließ, um sein Eigentum zu kennzeichnen? Dann fiel dem Sheriff auf, wie leer die Augen des Negers blickten. Der schwarze Mann wandte sich mit einer langsamen Bewegung den drei Pferden zu, die nun, wo der Mensch aus dem Zuckerrohrfeld aufgetaucht war, abrupt stehengeblieben waren und nun sehr nervös mit den Hufen scharrten. Bedingfield fühlte, wie Chicos Leib erbebte, als wittere der Hengst einen Brand oder ein nahendes Unwetter. Der schwarze Mann aus dem Zuckerrohr trat auf die drei Ankömmlinge zu. Seine Bewegungen wirkten hölzern wie von einer Marionette. Die grauen Augen des Mannes blickten ausdruckslos, ja seelenlos auf die drei, deren Pferde immer unruhiger wurden.

"Der sieht aus wie'n Toter", seufzte Fred und griff an seinen Revolvergürtel. Der Sheriff schritt nicht ein, als der Cowboy seinen Colt freizog und spannte. Bedingfield warf sich das gerade leergeschossene Gewehr wieder über die Schulter, als Chico unvermittelt laut wieherte und mit einem Ruck die Vorderbeine hochriß. Bedingfield schaffte es gerade noch, seine Schenkel fest um den Leib des Hengstes zu klammern, um vom Schwung der nach oben steigenden Vorderhand nicht aus dem Sattel geschleudert zu werden. Er hatte in jungen Jahren wilde Pferde zugeritten und war daher nicht so leicht abzuwerfen. Sein Debuty hingegen flog im hohen Bogen durch die Luft, als Windfairy gleichfalls scheute und laut wiehernd vor dem auf sie zuwankenden Schwarzen Reißaus nahm. Fred behielt wie der Sheriff sein Pferd fest unter dem Hinterteil. Doch die beiden Hengste schnaubten, wieherten und bockten nun. Bedingfield bekam noch die Zügel zu fassen. So verhinderte er, daß sein Chico durchging. Fred konnte seinen Braunen auch noch bändigen. Was machte den Tieren solche Angst? Diese Frage durchzuckte den Verstand des Gesetzeshüters, während er darum kämpfte, sein Pferd am Ort zu halten. Carson war laut krachend im Zuckerrohr gelandet und rührte sich nicht mehr. Der schwarze Mann, der so merkwürdig daherlief und so ausdruckslos blickte, wandte sich ihm zu und schlurfte auf seinen nackten Füßen auf den reglos daliegenden Hilfssheriff zu. Die plötzliche Panik seines Pferdes und die Art der Bewegungen des Fremden ließen Bedingfield daran zweifeln, daß der Schwarze dem abgeworfenen Debuty helfen wollte. So rief er mit befehlsgewohnter Stimme: "Bleib von ihm weg! Faß ihn nicht an!" Doch der dunkelhäutige Fremde hörte es nicht. Er beugte sich hinunter. Fred zielte mit seinem Revolver auf den Sklaven. Bevor Bedingfield ihn zurückhalten konnte feuerte der Cowboy eine Kugel auf den Schwarzen ab. Das Geschoß peitschte zu schnell für Menschenaugen durch die Luft und bohrte sich in den Oberkörper des Mannes. Dieser zuckte unter der Wucht der einschlagenden Kugel zusammen. Das Geschoß trat am Rücken des Fremden wieder aus. Es kam kein Blut. Mehr noch, der Fremde drehte sich mit einer unheimlichen Ruhe um und wandte seinen ausdruckslosen Blick dem Cowboy zu. Bedingfield verstand nicht, warum der Fremde nicht tot umgefallen war. Der Schuß hatte genau die Herzgegend getroffen und war aus dieser kurzen Entfernung durch den Oberkörper gedrungen. Der mann hätte das nicht überleben dürfen. Doch nicht nur daß der nun mit einer immer größeren Geschwindigkeit auf Fred zutorkelte wie einer, der nach zwei Flaschen Whisky die Zeche prellt. die Ein- und Austrittswunde der Schußverletzung blutete nicht. Es sah so aus, als habe Fred eine Puppe aus Ebenholz getroffen, die nun von unsichtbaren Fäden gesteuert auf den Cowboy zuhielt. Oakwood wieherte in höchster Panik, warf sich herum und galoppierte los, den verblüfften Reiter gerade so noch tragend. Der Schwarze machte keine Anstalten, dem davonpreschenden Hengst nachzulaufen. Er drehte sich um und wankte auf den reglosen Hilfssheriff zu, während Chico immer panischer wurde. Bedingfield wußte, daß ihm das Pferd gleich genauso durchgehen würde wie Windfairy und Freds Hengst. Doch er konnte seinen Debuty nicht diesem unheimlichen Wesen ausliefern, das scheinbar ohne jeden Schmerz einen tödlichen Treffer überstanden hatte. Bedingfield sprang aus dem Sattel. Für Chico war das das Signal, nun selbst davonzurennen. Staub aufwirbelnd jagte der Rappe von der Plantagengrenze fort. Bedingfield zog seinen Revolver und richtete ihn auf den Kopf des Fremden. Dieser öffnete gerade seinenMund und zerrte mit seinen sehnigen Händen den Oberkörper des Hilfssheriffs nach oben. Peng! Der Schuß aus dem Revolver des Sheriffs schlug in den Hinterkopf des Fremden. Dieser zuckte zwar zusammen. Doch mehr passierte nicht. Wieder konnte der Sheriff keinen Blutstropfen sehen. Der Schwarze riß den Kopf des Hilfssheriffs nach hinten und machte Anstalten, dem Debuty in den Hals zu beißen. Sheriff Bedingfield feuerte noch einmal. Doch diesmal zielte er nicht auf den unheimlichen Fremden, sondern auf Carsons Kopf. Der Debuty zuckte noch einmal zusammen. Blut schoß aus der Austrittswunde der Kugel heraus. Der Unheimliche ließ den Körper des Hilfssheriffs los und drehte sich wie eine Spieldosenfigur so mechanisch dem Sheriff zu. Bedingfield sah den völlig ausdruckslosen Blick des Schwarzen, der nun auf ihn zugewankt kam. Noch einmal feuerte der Ordnungshüter von Hillcrest seinen Revolver ab. Die Kugel bohrte sich zwischen die Augen des Unheimlichen. Dieser zuckte zusammen und schlenkerte mit den Armen. Doch dann setzte er mit steigender Schrittgeschwindigkeit seinen Weg fort. Bedingfield glaubte, seinen Verstand zu verlieren. Dieser Mensch da fiel nicht tot um. Das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen. Legenden von Totenbeschwörern bei den Afrikanern gingen ihm durch den Kopf. Er hatte davon gelesen, daß Hexenmeister aus dem Urwald ihre Feinde totfluchten und sie dann als seelenlose Sklaven für sich arbeiten ließen. War das hier einer? Bedingfield feuerte noch drei Schüsse auf die zielstrebig auf ihn zuwankende Gestalt ab. Doch kein noch so tödlich platzierter Schuß stoppte den Fremden. Bedingfields Verstand wurde von angstvollen Gedanken überflutet. Dieser Mann da starb nicht, weil er schon tot war. Diese eine, unfaßbare Erkenntnis überlagerte jede klare Überlegung. Bedingfield wußte, daß er nun das Opfer des wandelnden Toten werden sollte, nachdem er seinem Hilfssheriff aus einer ihm unklaren Eingebung heraus ein solches Schicksal erspart hatte. Doch ohne Pferd war er dem Unheimlichen ausgeliefert. Dann rauschte es hinter ihm. Er wandte sich um und sah weitere halbnackte Neger, die zum Sklavenbestand Bradfords gehörten. Bevor er noch was unternehmen konnte krallten sich kalte Hände um seine Arme und rissen ihn hoch. Für einen Moment roch er den unverkennbaren Gestank einsetzender Verwesung. Dann krachte eine Faust auf den Hinterkopf. Jener, der zuerst aus dem Zuckerrohr aufgetaucht war verhielt auf der Stelle und lauschte wie die anderen auf einen nur ihnen geltenden, für die Ohren Lebender unhörbaren Befehl. "Bringt den weißen Mann zu mir!" Wie eine Truppe Marionetten trugen die insgesamt fünf Seelenlosen den bewußtlos geschlagenen Sheriff durch die Zuckerrohrfelder davon.

Fred bekam sein durchgehendes Pferd erst eine Meile von der Plantagengrenze entfernt unter Kontrolle. Der kalte Schweiß tropfte dem Cowboy unter der breiten Hutkrempe heraus von der Stirn. Er hatte diesen schwarzen Wicht doch mindestens einmal getroffen. Doch der war nicht umgefallen. Das war doch nicht normal. Er hatte nie an so einen Kleinkinderunsinn wie Hexerei oder den Urwaldfirlefanz der Schwarzen geglaubt. Doch dieser halbnackte Kerl da war nicht gestorben. Der hatte nicht mal geblutet. War das überhaupt noch ein Mensch gewesen? Warum war ihm der Gaul unter'm Hintern durchgegangen, der selbst von direkt neben dem einschlagenden Blitzen und vom Geruch angeheizter Brandeisen nicht so heftig in Panik getrieben wurde? Was hatte dieser besoffene Sklave an sich gehabt, daß seinem Pferd einen solchen Schrecken einjagen konnte? Die einzige Antwort, so sehr er sie auch für puren Unsinn hielt war die, daß dieser Fremde schon tot war. Das war eine herumlaufende Leiche, die dazu abgerichtet war, andere Menschen anzugreifen. Fred hatte auf der rasanten Reiterei von der Plantage weg die Schüsse gehört und als Revolverknälle erkannt. Bedingfield hatte wohl mehrmals gefeuert. Hatte das was gebracht? Er mußte umdrehen und zurückreiten. Doch sein Pferd verweigerte ihm den Gehorsam. Es schnaubte, wieherte und brüllte, stieg immer wieder mit Vorder- oder Hinterhand und versuchte, seinen Reiter abzuwerfen. Fred schaffte es nicht, sein Reittier wieder auf die Plantage zuzubewegen. Dann hörte er die Trommeln. Sein Pferd erbebte. Der erfahrene Cowboy wußte, daß es gleich wieder durchgehen würde. Er klammerte sich mit Schenkeln und Händen fest. Da preschte es auch schon mit ihm los, unhaltbar, getrieben von einer ihm unbegreiflichen Angst.

Als Bedingfield wieder zu sich kam lag er mit Stricken gefesselt auf dem Platz vor dem Herrenhaus. Obwohl es noch heller Tag war hatten die Sklaven hier ein Feuer angezündet. Er hörte neben den dumpf in seinem Schädel pochenden Schmerzen noch das wilde Pochen einer großen Trommel, vielleicht einer Pauke. Sein Blick klärte sich langsam. Er konnte einen hageren Mann sehen, der im Takt der Trommeln vor dem Feuer tanzte wie ein wildgewordener Hampelmann aus dunklem Holz.

"Dieser Nigger macht einen Teufelszauber", seufzte jemand neben Bedingfield. Der Sheriff sah nach rechts und erkannte Fender, den Ranch-Besitzer. "Ich wollte Bradford wegen dem Kerl die Meinung sagen und 'ne passende Summe für Maggys verlorenes Kalb rausschlagen. Da kamen uns sechs besoffene Nigger entgegen und griffen uns mit Schaufeln an. Die sind nicht umzulegen."

"Wo ist Bradford?" Wollte der Sheriff wissen.

"Da auf dem Klotz. Die wollen ihn opfern oder sowas", schnarrte Fender.

"Eine heidnische Opferung", entgegnete der Sheriff und sah, wie der Plantagenbesitzer sich gegen ihn auf dem Holzklotz haltende Lederriemen stemmte. Währenddessen gab der tanzende Schwarze einen kehligen Singsang von sich, der jeden Zweifel raubte, daß er irgendeine magische Beschwörung seiner Urahnen ausrief. Bedingfield sah die in wilder Ekstase glühenden Augen des Tänzers, der immer ausschweifendere Figuren tanzte und immer lauter seinen Hokuspokusgesang zum Takt der immer eindringlicher dröhnenden Trommel erklingen ließ. Dann erkannte der Sheriff, wie vier wie betrunken oder an Marionettenfäden geführte Schwarze Bradfords Frau und seine zwei Söhne aus dem Haus trugen. Aus dem Zuckerrohr tauchten weitere torkelnde Gestalten auf, die wie wandelnde Tote aussahen. Einige von denen wirkten schon so, als hätten sie ein halbes Jahr im Grab gelegen. Bedingfield kannte die Spuren der Verwesung, die nach gewisser Zeit ausgegrabene Tote aufwiesen. Er hatte es vor fünf Jahren mitbekommen, wie ein Mensch auf einem erschlossenen Grundstück gefunden wurde, der von Indianern dort verscharrt worden war. Die wandelnden Toten formierten sich zu einem Kreis, der sich im Takt der Trommel drehte. Dann hörte die Teufelsmusik auf, und der Tänzer erstarrte in der Bewegung. Die von ihm herbeigerufenen Gestalten erstarrten ebenfalls.

"Habt ihr weißen Hunde euch eingebildet, die Macht der Loas zu verhöhnen und nicht den Preis dafür zu bezahlen. Jetzt habe ich genug treue Diener, die mir helfen, euch und euer schmutziges Nest Hillcrest niederzumachen", sagte der Tänzer nach einer Minute. "Doch vorher werde ich das stinkende Herz dieses Unwürdigen hier meinem großen Ahnherren opfern, dem Herrn der Toten. Sein Geist möge deinen Leib fressen, dein Blut trinken und mich von allen Demütigungen befreien, die ich mir von dir habe gefallen lassen müssen, Bradford.""

"Du bist wahnsinnig, Ruben", schrillte Bradford. "Was immer du den anderen für ein Teufelskraut verpaßt hast, du bist und bleibst ein nichtsnutziger, undankbarer ..." Da deutete der Tänzer mit seinem rechten Zeigefinger auf Bradford. Bedingfield sah nichts außer dieser Geste. Doch Bradford schrie auf, als träfe ihn etwas wie ein glühendes Brandeisen oder eine Dornenpeitsche. Er zuckte zusammen und wand sich in seinen Fesseln. Der Tänzer winkte einem seiner Gehilfen. Dieser torkelte auf ihn zu und überreichte ihm ein Fleischermesser. Bedingfield wußte, wofür der Neger das brauchte.

"Ich werde dein von Gier und Verachtung getränktes Herz jetzt herausschneiden, ohne dich dabei zu töten, Bradford. Du sollst dem Herrn der Toten gehören. Sein Geist soll über deinen Körper gebieten, bis er ihn nicht mehr braucht. Dann werden deine Söhne geopfert. Dein Weib werde ich zur Trägerin meiner Erben machen, auf daß meinem Urvater weitere treue Söhne geschenkt werden", knurrte der Tänzer und schritt mit dem gefährlich scharfen Schneidwerkzeug auf Bradford zu.

Bedingfield wollte aufspringen, um den Schwarzen davon abzuhalten, dieses barbarische Ritual durchzuführen. Doch die Fesseln hinderten ihn daran. Mit einem wieder einsetzenden Singsang auf den Lippen beugte sich der Tänzer über den nun reglos daliegenden Plantagenbesitzer und setzte die Messerklinge an. Bedingfield schloß die Augen. Das wollte er nicht mit ansehen. Fender schien hingegen härter im Nehmen zu sein oder war von der ganzen Sache zu sehr angetan, als seine Augen zu schließen. So hörte Bedingfield nach einem kurzen Aufschrei Bradfords und einem wilden Trommelwirbel Fenders von Angst verwirrten Ausruf: "Das Herz schlägt noch! Es schlägt noch!"

Bedingfield riß die Augen auf und sah den Tänzer, der ein zuckendes, rotbraunes Etwas in den Händen hielt und darauf einsang als gelte es, dieses Etwas mit jedem Ton weiter am Leben zu halten. Bradfords Körper lag da, blut überströmt. Daneben lag das rotbraun besudelte Fleischermesser. Bedingfield fühlte, wie die grauenhafte Erkenntnis ihn um den Verstand brachte. Hier wurde echte, schwarze Magie angewendet, eine dunkle Zauberkraft, die aus Afrika selbst herübergebracht worden sein mußte. Fender rief noch, daß der Schwarze der Teufel selbst sein mußte, bevor den Sheriff die Gnade einer Ohnmacht übermannte. So bekam er nicht mit, wie Bradfords Söhne demselben blutigen Ritual unterzogen wurden, während Bradfords Frau wie betäubt dalag und scheinbar nichts von der Lage mitbekam. Der Tänzer legte die aus ihren Körpern geschnittenen Herzen in große Tonkrüge und verschloß diese. Seine Diener trugen sie davon, um sie irgendwo im Zuckerrohr zu verstecken. Bradford und seine Söhne lagen eine Weile reglos da. Dann schlossen sich die grausamen Wunden. Fender kämpfte um seinen klaren Verstand. Der Plantagenbesitzer erhob sich und wankte auf das lodernde Feuer zu. Ebenso seine Söhne. Als sie davorstanden, ließen sie sich fallen und landeten in den Flammen. Kein Laut entrang sich ihren Kehlen, während die Feuerzungen ihnen die Haut vom Fleisch leckten und die drei verbrannten. Fender hätte sich zu gerne die Nase zugehalten. Doch das war nicht möglich.

"mein Urvater hat die verdorbenen Hüllen dem Feuergott zum Fraß überlassen. Sein Weib sei mein!" Rief der Tänzer. Nehmt euch die beiden weißen Hunde und macht sie zu euren Brüdern! Morgen früh werden wir Hillcrest zu unserer neuen Siedlung machen!" Kein Jubel, keine Bestätigungsgeste folgte dieser Ankündigung. Die lebenden Toten wankten auf die Gefangenen zu. Fender wußte, daß er nun selbst die letzten Sekunden seines Lebens vor sich hatte.

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Elysius Davidson wachte aus einem Alptraum auf. Er sah Zombies, die auf eine kleine Stadt zuwankten, in die Häuser eindrangen und deren Bewohner mit ihren vom Leichengift getränkten Nägeln und Zähnen tödliche Verletzungen beibrachten. Der Leiter des Laveau-Institutes wußte, daß derartig vergiftete Menschen selbst zu wandelnden Toten wurden, wenn die dunkle Magie, die die Zombies erschaffen hatte, stark genug war. Die lebenden Toten überfielen die Bewohner der Stadt im Schlaf. Bald würde ihnen die ganze Stadt gehören, wußte Davidson. Doch er konnte nichts dagegen tun. Er stand auf dem Marktplatz und konnte sich nicht bewegen, als habe jemand einen Erstarrungszauber auf ihn gelegt. Er sah voller Angst, wie die Zombies die Seuche ihres Daseins weiter und weiter verbreiteten, bis unvermittelt Flammen aus einem der Häuser schlugen. Offenbar hatte jemand die unheimlichen Eindringlinge doch gehört, eine Kerze entzündet und diese vor Schreck fallen lassen. Nun brach Feuer aus, das sich innerhalb einer Minute zu einem immer gefräßigeren Brand auswuchs. In der Ferne, vom immer heller lodernden Feuer angeleuchtet, konnte Davidson einen dunkelhäutigen Mann erkennen, der für ihn unhörbare Lieder sang und wild tanzte. Er erkannte den Tanz als das Voodoo-Ritual des bannenden Schlafes, der bereits schlafende Menschen unaufweckbar hielt. Er wußte, daß Totenpriester Afrikas und schwarze Schamanen damit ganze Dörfer entvölkert hatten. Das Feuer griff noch schneller und noch heller um sich. Meterhohe Flammenzungen tanzten mit dem dunkelhäutigen Mann um die Wette, der nun laute Rufe ausstieß, um seine unheimlichen Erfüllungsgehilfen aus dem Inferno herauszuholen. Doch der Brand fraß nicht nur die Holzhäuser und hölzernen Gehsteige, sondern auch die Lebenden Leichen, die nicht einfach so vor ihm davonrennen konnten. Ab und an tauchte eine wie eine Fackel lodernde Kreatur auf, wankte, schwankte und stürzte, um dann endgültig das Opfer des entfesselten Feuersturmes zu werden. Dabei war es Davidson, als höre er eine ihm wohlvertraute Frauenstimme, die aus allen Richtungen zugleich, mit Ohren unortbar und in einem tranceartigen Singsang sprach:

"Die Streiter des Sohns
des großen Barons
werden wiederkehren,
sich nach dem Schlafe neu vermehren,
wenn gieriges Fleisch mit altem Gebein
wird unheilvoll verbunden sein."

Elysius Davidson hatte noch mit ansehen können, wie der Tänzer wütend davoneilte, als seine letzten toten Vasallen ihr Dasein im Feuer aushauchten. Dann war er aufgewacht.

"Ich sollte vielleicht doch den Urlaub nehmen, den sie im Herold immer fordern", dachte Davidson, als er die Nachwirkungen seines Angsttraumes abzuschütteln geschafft hatte. Es war jetzt anderthalb Wochen her, daß er erfahren hatte, daß diese Brutkönigin endlich erledigt worden war, der selbst das LI nichts hatte anhaben können. Die neue Feindin, wie sie im Institut genannt wurde, hatte ihre eigene, unbeherrschbar gewordene Kreatur vernichtet. Was würde die selbsternannte Erbin Sardonias nun anfangen, wo das halbe Land in Aufruhr war, weil Wishbone verschwunden blieb und niemand wußte, ob die machthungrige Hexe nicht schon den nächsten Schlag vorbereitete? An ihm, dem Leiter des Marie-Laveau-Institutes zur Bekämpfung aller hermetischen und animistischen Formen schwarzer Magie lag es, dieser Bedrohung entgegenzuwirken. Aber wieso hatte er von einem Zombie-Überfall auf eine kleine Stadt geträumt? Mit Zombies oder anderen Formen schwarzmagisch beherrschter Toter hatte sich die Sardoniaanerin doch nicht beschäftigt. Sicher. Immer wieder tauchte jemand auf, der oder die die alten Zeremonien verwendete, um seelenlose Sklaven zu erschaffen. Doch denen waren die Leute vom LI immer noch rechtzeitig genug auf die Spur gekommen, vor allem, weil sie früh genug von Marie Laveaus Geist gewarnt wurden, wo solche Vorkommnisse sich androhten.

"Erst drei Uhr", grummelte Elysius Davidson. Er wollte doch noch einige Stunden schlafen. Wer wußte schon, wann er wieder genug Schlaf bekam, wenn die Sardonianerin das Machtvakuum zu füllen meinte, daß Voldemort und diese Valery Saunders hinterlassen hatten.

Doch erneut holte ihn im Schlaf jenes vernichtende Vorgehen ein, das ihn bereits geängstigt hatte. Wieder sah er den beinahe lautlosen Überfall der wandelnden Leichen. Wieder hörte er jene unheilvolle Vorhersage. Diesmal erkannte er jedoch, wer da sprach. Es war die Stimme der alten Voodoo-Meisterin Marie Laveau. Deren Geist hatte den körperlichen Tod überstanden und dazu geführt, daß in ihrem Namen jenes magische Institut gegründet wurde, das die Bekämpfung schwarzmagischer Vorgänge und Wesen zum ewigen Ziel hatte. Kurz bevor Davidson erneut erwachte konnte er den Geist der Voodoo-Meisterin sehen, wie dieser vor ihm in einem für körperlich existierende Wesen unzugänglichem Keller einen Haufen Knochen jonglierte und hörte noch ihre Worte, daß nur dann, wenn ihre Prophezeiung kurz davor stand, einzutreten, der gegenwärtige Leiter des Institutes von ihr erfahren solle. Denn vorher würde es nichts bringen, nach dem geächteten Sohn des Herrn der Toten zu suchen, und er würde weiterlauern.

Als Elysius Davidson erneut erwachte brummte ihm der Kopf. Er dachte daran, daß Maries Geist häufiger im Keller unter ihrem Grabhaus düstere Voraussagen gemacht hatte. Doch wer sie hörte konnte sich danach noch an sie erinnern, auch wenn die Weißsagung mit unverständlichen Bildern verschlüsselt war. Warum sollte Marie darauf bestanden haben, daß er sich wieder an diese Voraussage erinnerte, wenn sie kurz vor ihrer Erfüllung stand? War es nicht wichtiger, früh genug Gegenmaßnahmen zu ergreifen? Die Frage konnte sich Davidson jedoch beantworten. Längst nicht immer half es, die Zukunft vorher zu kennen, zumal die vagen oder bildhaften Ausdeutungen mißverstanden werden konnten. So barg jede Voraussage die Gefahr in sich, durch ihre Bekanntgabe erst recht in Erfüllung zu gehen. Ein Paradebeispiel dafür hatte es ja erst im Mai gegeben, wußte der Leiter des Laveau-Institutes. Hätte der macht- und mordlüsterne Halbmuggelstämmige Tom Riddle nicht auf Grund einer ihm geltenden Prophezeiung damals versucht, Harry Potter zu ermorden, hätte er nicht die Grundlage gelegt, daß sich diese Prophezeiung tatsächlich erfüllen konnte. Er hatte einen unbescholtenen Zauberer als ihm ebenbürtig markiert und damit zum einzig mächtigen erhoben, der ihn vernichten konnte. Marie Laveau kannte die Gefahr sich selbst erfüllender Prophezeiungen sehr gut. So wußte im Institut niemand, was sie wirklich alles vorhersah, ohne es ihren lebenden Verbündeten zu verraten. Womöglich kannte sie den Ausgang verschiedener Aktionen dunkler Machenschaften, hatte womöglich auch Alternativen erkannt, wenn jemand darüber vorher informiert wurde. Aber daß Marie Laveau die Macht hatte, ausgesprochene Prophezeiungen unerinnerbar im Gedächtnis ihrer einzelnen Zuhörer zu verschließen, das hatte Davidson bis jetzt nicht gewußt. Das war also ein Mittelweg, um wichtige Ausdeutungen früh genug bekannt zu geben, daß auf sie reagiert werden konnte, aber erst, wenn sie sich auch so bereits zu erfüllen drohten. Er wagte nicht, sich vorzustellen, was für dunkle Ausdeutungen noch in seinem Kopf oder den Köpfen anderer Mitarbeiter verborgen sein mochten. Auch wußte er nicht, wo und wie er dem angedrohten Feind entgegentreten konnte. Das einzige, was er tun konnte war, seine Mitarbeiter über die als Träume getarnten Visionen zu informieren und zu beraten, wen Marie meinte. Sicher wollte er dann auch versuchen, den Geist der Voodoo-Meisterin zu befragen, ob dieser nicht ein wenig mehr darüber verraten wollte. Er dachte an die Worte "Baron" und "Herr der Toten". Karibische Voodoo-Anhänger hatten ihren Göttern neben den aus Afrika stammenden Namen auch Namen der weißen Machthaber verliehen. So galt der Sonnen- und Weltenüberwacher Legba als Vater, während ein Gott, der den französischen Namen Baron Samedi erhalten hatte, als Herr der Friedhöfe angerufen wurde, wenn Voodoo-Magier sich an den Überresten toter Menschen bedienen wollten, im Guten wie im Bösen. Er wußte nicht, daß dieser Baron Samedi einen Sohn gehabt haben sollte. Das war eine der ersten Fragen, die er Marie Laveau stellen würde.

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"Sie macht Fortschritte", sagte Eileithyia Greensporn zu ihrer Enkelin. "Sie hat bisher nichts gefunden, was die Verweilzonen in der Erinnerung Lindas vergrößern müßte. Sie ist bereits mit ihr bei ihrem dritten Jahr in Thorntails angekommen, habe ich vom Kollegen der Psymo."

"Du meinst, die australische Kollegin könnte bald an den Punkt kommen, wo Linda zu unserer Schwester wurde?" Mentiloquierte Leda Greensporn. Laut sagte sie: "Ich denke, das Trauma dürfte sie doch noch lange genug aufhalten."

"Lady Roberta schlägt vor, daß wer anderes unsere Schwester auf der letzten Etappe der Aufarbeitung begleitet, ohne es ihr zu sagen", mentiloquierte Eileithyia. "Nun, es gibt einige Kollegen, die vorschlagen, daß das traumatische Erlebnis an sich restlos aus ihrer Erinnerung entfernt wird, da es sich eh nicht mehr wiederholen kann. Doch die Kollegin Barnickle fürchtet, daß es dann zu einer Diskrepanz zwischen Ms. Knowles' Erinnerungen und dem kommt, was andere mit ihr zusammen erlebt haben. Sie könnte Zeugen treffen, die ihr erzählen, was sie erlebt hat. besser ist es, wenn sie mit ihren Erlebnissen fertig wird."

"Ja, aber der Eid zu schweigen", gedankensprach Leda zu ihrer Großmutter.

"wurde noch nicht mit dieser Therapie zusammengeführt", schickte Eileithyia zurück.

"Nun, Ms. Knowles wollte mich wegen Lysithea interviewen. Wäre schade, wenn diese da schon ein Jahr oder mehr alt ist", sagte Leda mit körperlicher Stimme und fügte mentiloquistisch hinzu: "Ist Ireen eine von uns?"

"Du magst sie irgendwie doch, auch wenn sie manchmal sehr enervierend sein kann", erwiderte Eileithyia lächelnd. Nur für Ledas Geist vernehmbar schickte sie nach: "Nein, Ireen ist keine von uns. Lady Roberta hat das überprüft. Aber sie arbeitet daran, Lindas diesbezügliche Erinnerungen nicht hervorzubringen."

"Ich hoffe, daß Ms. Knowles sich erholt. Ich meine, Daianira hat mit ihr manche Auseinandersetzung gehabt. Das muß ich ja nicht wiederholen." Dann mentiloquierte Leda noch: "Ich würde es ja tun. Aber dann müßte ich Ireens Rolle übernehmen. Und das verbieten die Heilergrundlagen, daß eine gerade stillende Mutter Vielsaft-Trank benutzt."

"Das verbieten die Heilergrundlagen", schickte Eileithyia ihrer Enkelin unter die Schädeldecke.

Eigentlich, so dachte Eileithyia, wäre es nicht unpraktisch, die brisanten Erinnerungen durch einen Fidelius-Zauber zu versiegeln oder nachträglich zu sichern. Doch zu Linda Knowles konnten nur in der HPK registrierte Heilerinnen und Heiler, weil sonst die Sicherheitszauber Alarm schlugen. Dies ging Eileithyia durch den Kopf, während sie daran dachte, daß Leda selbst gewisse Sicherheitsmaßnahmen ergriffen hatte, um nicht doch von der Wiederkehrerin überfallen zu werden, die befand, daß Lysithea besser doch nicht hätte geboren werden dürfen. Abgesehen davon traute sie Ledas Kameradinnen zu, daß diese sich dafür revanchieren könnten, daß sie, Leda, eine erwiesene Gehilfin Anthelias zur Sprecherin der Ungeduldigen angelobt hatte. Sie dachte dabei vor allem an Daianiras frühere Schulkameradinnen, von denen einige den Ungeduldigen zugetan waren. Ihr fielen Gerüchte ein, daß Larissa Swann, eine von Daianiras guten Bekannten, nicht wie allgemein verbreitet von Springschnappern gefressen worden war, sondern wegen was anderem so schwer erkrankt war, daß ihre eigene Tochter sie noch einmal in sich aufgenommen und als ihre Tochter wiedergeboren haben sollte. Daianira hatte Leda gegenüber solche Andeutungen gemacht, daß das Tragen und aufziehen geistig wohl schon entwickelter Kinder ja nichts wirklich neues war. Doch solange sie, Eileithyia, keine Handhabe hatte, daß Peggy Swann die üblichen Anmelde- und Zulassungsbestimmungen für eine Iterapartio-Lebenserneuerung umgangen haben mochte, konnte sie das nicht als sicher veröffentlichen. Das stimmte sie in gewisser Weise alarmiert, obwohl sie nicht wußte, warum.

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"Vergiss es, Mabel. Ich komme ganz sicher nicht nach New Orleans", knurrte Gordon Stillwell ins Telefon. Seine Cousine war doch nicht mehr ganz dicht, ausgerechnet da wollte die ihre Hochzeit mit diesem Nachkommen dieses Sklaventreibers Portland feiern, wo die unberufene Königin gewohnt hatte?

"Ich weiß, dein Großvater hat euch Bengels immer das Märchen vom Kampf der Voodoo-Könige erzählt, Baron Dimanche gegen Marie Laveau und daß die Laveau wegen ihrer großen Kinderschar gegen diesen Totenbeschwörer gewonnen hat und deshalb über Jahrzehnte die unangefochtene Voodoo-Königin von New Orleans wurde", hörte er Mabels amüsierte Stimme aus dem Telefonhörer. "Aber unser Großvater war kein Mitstreiter von Dimanche."

"Samedi, Mabel. Sams- nicht Sonntag. Baron Samedi, der Hüter der Friedhöfe."

"Meister der Totenruhe und der Untoten, und so weiter, Gordy. Aber das ist doch nur dummes Zeug, Märchen aus Afrika, wenn du das so willst. Opa Mathiew hat ja immer behauptet, von diesem Samstagsbaron abzustammen und daß der Geist dieses Heidengottes in jedem seiner Söhne weiterlebe. Glaubst du, du wärest der Nachfahre eines Voodoo-Gottes?"

"Ich halte nur die Tradition aufrecht, daß unsere Familie nie wieder in New Orleans wohnen soll, Mabel. Ob ich mich als Enkel oder Urenkel von Baron Samedi ansehe oder nicht ist da völlig gleich. Du kennst ja Opas Testament."

"Ja, daß der oder diejenige, welcher es wagt, in fünfzig Kilometern Umkreis von Marie Laveaus angeblichem Grab zu siedeln alles verlieren soll, was er oder sie von der Familie besitzt. Ich sage dir mal was: In zwei Jahren haben wir das Jahr 2000. Da passen solche Gruselsachen nicht mehr hin. Ich habe Ronin lieb und will mit ihm in New Orleans wohnen und wenn's geht noch ein paar Babys hier kriegen. Wenn ihr meint, wegen Opa Mathiew nicht zur Hochzeit kommen zu dürfen, dann bleibt also schön weit weg, damit Mariechen euch nicht in die Nase beißen kann."

"Du nimmst das zu locker, Mabel. Opa Mathiew hat's eindeutig erklärt, daß damals zwei Lager bestanden und er zu dem gehörte, daß für die Entmachtung Laveaus eintrat. Marie hat danach einen Fluch ausgesprochen, daß die Söhne und Töchter des Tänzers nie mehr in ihrem Reich glücklich würden."

"Und du, ein sonst so gefühlsfreier und nüchtern denkender Banker, glaubst an sowas? Bringt denn das Geld?"

"Haha, Mabel", schnarrte Gordon zurück. "Abgesehen davon, daß die in New Orleans einen heftigen Voodoo-Tourismus betreiben und eine Menge Geld damit machen, gibt es genug Beweise für die Existenz der Voodoo-Kräfte."

"Ja, durch Nervengifte zu teilweise Hirnamputierten Tröpfen verunstaltete Menschen, die erst vom Gift scheintot gemacht und vergraben wurden, um dann als echte Zombies wieder ausgebuddelt zu werden und wegen der Gehirnschädigung nur noch das zu tun, was ihnen wer sagt, Gordy. Das ist alles schon lange bekannt. Und Marie Laveau muß auch mit jeder Menge Tricks gearbeitet haben, um ihre angebliche Macht zu erhalten. Immerhin haben mehrere Bands Lieder über sie gesungen, und New Orleans ist durch sie zu einem Wallfahrtsort für Gruseltouristen geworden. Na und? Kommst du jetzt immer noch nicht am dreißigsten Juli?"

"Weder ich, noch Bruce noch Simon, Mabel. Gib's zu, daß du ja auch nur deshalb da wohnen willst, weil du da vor deinem Dad, Onkel James, sicher bist. Der glaubt ebenfalls daran, daß Marie Laveaus Magie noch wirkt. Ich kann's nicht erklären, wieso ich, ein Geldmensch, an Zauberei glauben soll. Aber irgendwie passieren ja immer Sachen, die kein Wissenschaftler erklären kann. Ich fürchte, du wirst mit diesem Idioten da unten im Sumpf von Bayoo verrotten, bevor das erste Jahr rum ist. Viel Spaß dabei!"

"Wenn dich wer so reden hört, Gordon, könnte man echt glauben, du ließest dich von solchen Schauergeschichten leicht einwickeln. Wenn also wer zu dir kommt und dir sagt, er habe einen Fluch auf dich gelegt, und du würdest den nur los, wenn du ihm eine runde Million überläßt, würdest du das machen?"

"Du quatschst über Sachen, von denen du echt nix weißt, Mabel. Dann verrecke mit deinem piekfeinen Sklaventreiberurenkel in seiner Villa. Ist wohl der Anteil von Ururoma Edwina. Die soll ja die Tochter von so'nem Sklaventreiber gewesen sein."

"Was durch nichts klar belegt werden konnte, Gordon. Aber wenn du meinst, die Familientradition hochhalten zu müssen bleib zu Hause", sagte Mabel und legte auf.

Gordon Stillwell schaltete sein schnurloses Telefon auch aus und legte es weg. Er gab seiner Cousine echt kein Jahr mehr. Sein Opa hatte ihm gezeigt, daß die alten Rituale keine Spinnerei waren. Über ihnen hing das Erbe des Sohnes von Baron Samedi, der im Jahre 1866 gegen die Voodoo-Hexe Marie Laveau gekämpft hatte. Diese hatte seine Todesmagie gekontert und ihn selbst davon zerstören lassen. Seine damals drei Kinder konnten mit seiner Gefährtin Edwina flüchten. Doch immer, wenn sie zurück nach New Orleans wollten träumten sie, daß Marie sie genauso niederkämpfen und vernichten würde wie Ruben. Nach Laveaus offiziell erklärtem Tod im Jahre 1881 hatten Angestellte seines Urgroßvaters die sterblichen Überreste seines Vaters gesucht und gefunden. allerdings habe es dabei immer wieder merkwürdige Zwischenfälle gegeben. Pferde hätten gescheut. Wagenräder seien gebrochen, und der provisorische Sarg, der die Knochen des Besiegten beherbergte, sei immer wieder auseinandergebrochen, bis es gelungen sei, die Knochen mehr als eine Stunde Fußmarsch von New Orleans entfernt zu bringen. Rubens Sohn François hatte aus irgendeiner Eingebung heraus das ganze Skelett in pures Silber fassen lassen. Wo auch immer der das Geld für diesen Aufwand hergenommen hatte. Das derartig aufgewertete Gerippe ruhte nun im zur Familiengruft ausgebauten Keller der Villa, die sich Uropa François beschafft hatte. Heute residierte dort Gordons Onkel James. Doch den Raum, wo das silberne Skelett von Ururopa Ruben liegen sollte, hatte Gordon bisher nie gefunden. Vielleicht war das mit dem versilberten Toten auch wirklich nur dummes Zeug. Doch andere Sachen überzeugten ihn, daß er was Marie Laveau anging besser auf seinen Opa hörte. Er war als siebzehnjähriger mit seiner Schulklasse in die Jazz-Metropole am Mississippi-Delta gereist. Da hatte ihn eine heftige Magen-Darm-Infektion heimgesucht, die ihn innerhalb von drei Tagen fünf Pfund hatte verlieren lassen. Dazu waren noch düstere Träume gekommen, in denen er von durchsichtigen Gestalten durch die Straßen gejagt wurde, vorangepeitscht von einer sehr wütenden Frauenstimme, die ihn angetrieben hatte, aus ihrem Revier zu verschwinden. Selbst Schlafmittel, sonst garantierte Traumtöter, hatten diese Alpträume nicht unterdrücken können. Im Gegenteil. Die letzten Tage der Klassenreise hatte er im Krankenhaus zugebracht, weil er kurz vor einem Kreislauftotalversagen stand. Doch als seine Eltern darauf bestanden hatten, ihn mit einem Ambulanzflugzeug nach Virginia zurückzubringen, war die Krankheit schlagartig und restlos von ihm abgefallen, als habe er nur mal eben einen lästigen alten Mantel in den Müll geworfen. Seitdem glaubte er an Opa Mathiews Geschichte, daß seine Familie von Marie Laveau verflucht worden sei, nie wieder in New Orleans glücklich zu werden. Doch seine Cousine wohnte da schon seit einem Monat. Und die hatte jetzt auch wieder sehr gesund und munter geklungen. Galt dieser Fluch etwa nur für die männlichen Abkömmlinge?

"Die wird da nicht lange leben. Im Zweifel krepiert sie wohl, wenn sie von diesem Sklavenschinderabkömmling den ersten Braten im Rohr hat", knurrte Gordon. Da läutete das Telefon wieder.

"Ja", meldete er sich.

"Onkel James hier. Was macht die Wall Street?"

"Sie brummt noch vor lauter Internetfirmen, Onkel James. Mir gefällt das nicht so recht, daß jeder Garagenbesitzer mit einem kleinen PC schon Firmengründer spielen und dicke Gewinne einstreichen kann", erwiderte Gordon Stillwell.

"Hat Mabel dich auch nach New Orleans eingeladen?" Fragte sein Onkel James.

"Hat sie. Aber seit der Reise damals bleibe ich schön weg von da."

"Wie geht's deiner Mutter?" Fragte Onkel James.

"Nicht so doll, Onkel James. Die Ärzte wissen nicht, was die hat. Krebs ist es nicht, AIDS auch nicht. Aber irgendwas zehrt sie aus. Die sieht so aus, daß sie jeden Tag älter wird."

"Ist sie immer noch im Krankenhaus?" Fragte sein Onkel.

"Ich fürchte, die werden sie da auch erst rauslassen, wenn ihr Herz nicht mehr schlägt und das EEG ganz auf Null gefallen ist. Könnte es auch Maries Fluch sein?"

"nein, das wohl nicht", erwiderte sein Onkel mit verhaltener Stimme. "Die ist zu weit weg begraben, als daß ihre Magie deine Mom noch erreichen könnte. Ich fürchte, sie hat was anderes, und das kann kein Schulmediziner kurieren."

"Und was soll das sein? Greift die wer mit schwarzer Magie oder sowas an?"

"Oder sowas", grummelte James. "Vielleicht ist es besser, du bringst sie zu uns."

"Die will aber nicht zu euch", erwiderte Gordon. "Die hält nix von "dem Geisterhaus", Onkel James", erwiderte Gordon.

"Ist mir gleich, Gordon. Ich schicke euch morgen meinen Privatjet zum John-F.-Kennedy-Flughafen. Du holst meine Schwester aus dieser Quacksalberbude raus und bringst sie zu mir, bevor sie noch in New York verreckt."

"Du kennst die Ärzte. Die sind ganz heiß drauf, rauszukriegen, was mit Mom los ist und würden sie mir nicht überlassen, wenn ich die nicht in ein anderes Krankenhaus verlegen möchte."

"Dann sag denen das, daß du sie verlegst", fauchte Gordons Onkel. "Ich will nicht, daß Selma zwischen diesen seelenlosen Apparaten verreckt, die weiterpiepen, wenn sie schon längst nicht mehr atmet. Ich kläre das mit Andrew."

"Hat der jetzt seine Privatklinik?" Fragte Gordon amüsiert.

"Yup, hat er. Aber er will nicht, daß die ganze Sippe es weiß. Mabel ist eine dumme Gans, die meint, ihr alter Herr sei bescheuert. Wird schon sehen, wie lange die das durchhält."

"Okay, wenn Andrew seinen Kollegen klarmachen kann, daß er Mom behandeln kann bringe ich die in seine Klinik", sagte Gordon.

"Du bringst sie zu uns", bestand Onkel James darauf, seine Schwester in der herrschaftlichen Villa zu haben.

"Geht klar, Onkel James", grummelte Gordon. Dann vereinbarten sie, daß er morgen abend am Flughafen sein und sich dort mit seinem Cousin Andrew und einigen Kollegen treffen würde. Inzwischen sollte der hervorragende Arzt, der sich den Ruf erworben hatte, dem Tod immer wieder sichere Opfer zu entreißen, ein Fax in das Krankenhaus schicken, in dem seine Mutter schon seit einem Monat lag.

"Wahrscheinlich passiert das Mabel da unten auch noch", dachte Gordon und strich sich das schwarze Kraushaar glatt. Das war das Erbe seiner Mutter, ähnlich wie die samtbraune Hauttönung. Seine Mutter galt zwar als reinrassige Afroamerikanerin, doch ihre blauen Augen stammten bestimmt von der Ururgroßmutter, Edwina, die damals mit Ururopa Ruben von ihrem Mann weggelaufen war. Er, Gordon, galt als attraktiv und durch den Reichtum seiner Familie auch von finanziell begüterten Damen hoch geschätzt. Wenn er zurückdachte fand er in jeder Generation einen Männlichen Angehörigen, der außergewöhnliche Talente hatte. Sein Großvater mütterlicherseits war ein begnadeter Anwalt, der aussichtslos erschienene Mordfälle gewonnen hatte, wo es zunächst weder Leichen noch genaue Spuren gegeben hatte. Sein Onkel James hatte eine Privatdetektei aufgemacht, um vermißte Menschen zu suchen und zu finden. Er konnte durch Berührung eines dem vermißten gehörenden Gegenstandes spüren, wo dieser sich aufhielt und wie es ihm ging. Das hatte ihm nicht nur bei seinen Clienten, sondern auch den Hippies der Sechziger großen Anklang verschafft. Sein Cousin Andrew war Arzt und konnte intuitiv für jede noch so komplizierte Krankheit eine gründliche Therapie finden. Er hatte sogar Krebspatienten ohne großen Aufwand helfen können. Tja, und er, Gordon, besaß seit seiner Jugend ein Gespür dafür, welche Verhaltensweise ihm Geld brachte. Er hatte bei seiner Ausbildung zum Bankfachmann Bestnoten erzielt. Die New Yorker Börse hatte ihn als Spezialisten für Aktienentwicklungen engagieren wollen. Doch er hatte lieber seine Privatbank aufgemacht und jonglierte so dezent er konnte mit Firmenanteilen, deren rechtzeitiger Verkauf ihm fast die Börsenaufsicht und eine Anklage wegen scheinbarer Geschäfte mit nur für Eingeweihte bestimmten Daten eingebrockt hatte. Doch sie hatten ihm nichts nachweisen können. Im Grunde litt kein Mitglied seiner Familie unter Geldnot. Auch wenn er nicht wußte, wie sein Urgroßvater François die Knochen seines Vaters versilbern lassen konnte, mußte Gordon zumindest einräumen, daß auch dieser Vorfahre ein geldwertes Talent besessen und genutzt haben mußte.

"Neunundzwanzigster Juli, Mutter aus St.-Mary-Krankenhaus rausholen und in die Villa Samedi bringen", gab Gordon seinem elektronischen Terminkalender ein, was er morgen unbedingt zu tun hatte. Wenn er mal wieder mit Aktien in schwindelerregenden Höhen oder Tiefen jonglierte, um seinem kleinen Geldhaus noch mehr Kapital einzubringen, konnte er leicht vergessen, was er sonst noch tat. Wenn er Notierungen der Weltbörsen sah meinte er immer, in einer Art Rausch oder Trance zu sein. Vielleicht war es auch so etwas, das seine Intuition dermaßen beflügelte, daß er bisher kein einziges Mal danebengegriffen hatte. Als er seinen besonderen Termin für morgen sicher abgespeichert hatte plante er seinen erholsamen Abend. Vielleicht konnte er in einer der von den Besitzern der Platinkreditkarten so bevorzugten Bars was für die Abfuhr des seit Wochen angestauten Triebes ergattern. Seiner Erfahrung nach waren viele Töchter aus reichem Elternhause nur solange zickig, solange sie nicht darauf ausgingen, einen in allen belangen potenten Fang zu machen, am besten noch ein Kind zu kriegen, das zu einer raschen Heirat verpflichtete. Doch Gordon hatte sich für solche Fälle gut abgesichert. Sein Cousin Andrew hatte bei einer Therapiestudien das Mittel gefunden, daß viele Firmen gerne hätten und als "Die Pille für den Mann" auf den Markt werfen wollten. Doch Andrew hatte gesagt, daß diese Kräutermischung nicht synthetisch hergestellt werden konnte und er deshalb das Geheimnis ihrer Zubereitung in der Familie belassen wollte. Wie hätte er auch ahnen können, daß die regelmäßige Einnahme dieses Mittels der Grund dafür war, warum seine Mutter immer kränker wurde.

Der zweistrahlige Privatjet seines Onkels trug Gordon Stillwell und seine sterbenskranke Mutter von New York City nach Richmont, der Hauptstadt des US-Bundesstaates Virginia. Knapp zwanzig Meilen außerhalb der ehemaligen Hauptstadt der konföderierten Staaten Amerikas hatte James Coal als Oberhaupt der Coals das herrschaftliche Anwesen. Sicher, als Abkömmling ehemaliger Sklaven hatte Gordons Onkel immer mit den hier vorherrschenden Anfeindungen zu kämpfen gehabt. Doch irgendwie hatte es James verstanden, den Umschwung in der Meinung für sich auszunutzen und sich als Vermittler zwischen den schwarzen und weißen Bewohnern der Staaten zu präsentieren. Er war einer der wenigen, die nicht daran dachten, die Südstaaten zu verlassen, wie viele andere Afroamerikaner, die die trotz Bürgerkrieg und Martin Luther King immer noch vorhandenen Diskriminierungen nicht länger aushalten wollten.

Ein Ambulanzwagen von Andrew Coals Privatklinik holte Mrs. Stillwell vom Flughafen ab. Mit Blaulicht und Sirene jagte der Krankenwagen durch Richmont und in Richtung des kleinen aber feinen Privathospitals. Doch knapp zwei Meilen davor schaltete Andrews Angestellter die Warnvorrichtungen aus und bog auf eine nicht befahrene Seitenstraße ab. Der Wagen glitt in ein dichtes Waldgebiet, das bereits zum Grundstück der Coals gehörte und dem Eigentümer sowohl Ruhe vor dem hektischen Treiben der Normalos bot als auch als eigenes Jagdrevier zur Verfügung stand. Zwischendurch lud er reiche Leute aus dem Norden und der Ostküste ein, den einen oder anderen Hirsch aus dem Bestand herauszuschießen. Natürlich ließ James Coal sich dieses Vergnügen auf irgendeine Art bezahlen, sei es mit Geld, Informationen oder vertraulichen Hilfsdiensten. Gordon war lange nicht mehr hier gewesen. Eigentlich schon so lange nicht mehr, wie seine Eltern in New York wohnten. Sein Vater war vor fünf Jahren von einem beschaffungskriminellen Drogensüchtigen erschossen worden, weil er den Fehler begangen hatte, zu fein gekleidet in eines der verrufenen Viertel von Manhattan zu gehen. Tja, und jetzt kehrte er zum Stammsitz des talentierten Coal-Clans zurück, um seine sterbende Mutter dort abzuliefern. Dabei hätte er jetzt in New Orleans sitzen können. Morgen wollte seine Cousine Mabel heiraten.

James Coal war ein großer, untersetzter Mann, dessen afrikanischer Hautton eine Spur dunkler als der Gordons war. So war Gordon darauf gefaßt mit "Hallo, Milchkaffee", begrüßt zu werden. Das hatte ihm früher nicht gefallen, wenn seine Eltern ihn mal hierher mitgenommen hatten. Jetzt empfand er diese unterschwellige Abwertung als pure Langeweile.

"Die Ärzte in Manhattan sagen, daß Mom wohl noch bis zum Oktober lebt, wenn nicht bald was gefunden wird, um das aus ihr rauszukriegen, was sie hat. Sie meinten auch, sie hätte vielleicht in Quarantäne gehört. Aber es wurden ja keine Viren gefunden."

"Dann soll sie hier sterben, wo wir geboren wurden", schnarrte James Coal mit seiner sonoren Baßstimme. Er gefiel sich in der Rolle des Clanchefs. Das merkten sein Erstgeborener Andrew und sein Neffe Gordon immer wieder.

"Ich könnte sie zumindest mal von meinen Leuten durchchecken lassen, Poppa", erwiderte Andrew, ein drahtiger Sprößling der Coals, der sonst für sein Durchsetzungsvermögen bekannt war.

"Wenn's was medizinisches wäre hätten die Kurpfuscher in New York das bei der langen und teuren Aufbewahrungszeit schon gefunden, Andrew. Da du ja meinst, das Erbe deiner Vorväter nicht erlernen zu müssen und irgendeinen Zauber herausfindest, um ihre Schwächung zu stoppen, wirst du ihr auch nicht helfen können."

"So, und welcher böse Zauber liegt auf Tante Selma?" Fragte Andrew und fing sich unverzüglich einen sehr strengen Blick seines Vaters ein.

"Liegt doch auf der Hand, Andrew. Das ist der gleiche Zauber, der deine Großtante Norma erledigt hat, weil ihr Sohn, mein mißratener Bruder, mit dreißig Jahren noch kein Kind auf den Weg gebracht hat."

"Alle deine Geschichten schön und gut, Poppa. Aber an diesen Fluch glaube ich genausowenig wie an den von Marie Laveau, daß wir in New Orleans nicht glücklich werden. Was Gordon damals passiert war waren bestimmt Salmonellen."

"Klar, die machen nicht nur Durchfall sondern auch Alpträume, Herr Doktor", knurrte Gordon.

"Schluß damit!" Bellte James Coal. "Selma kommt jetzt ins Haus. Ich habe ihr altes Zimmer hergerichtet. Da kannst du sie gerne an deine Überwachungsapparate anhängen. Vielleicht kannst du ja eine Telemetrie zu deiner Klinik herstellen."

"Du hängst zu sehr an diesen alten Legenden, Pop", erwiderte Andrew verbittert. "Nur weil unsere Vorfahren komische Sachen erlebt haben oder wir alle irgendwie was überdurchschnittliches können muß ich nicht an Magie oder dergleichen glauben."

"Ach, und warum hängst du dann nicht bei deiner undankbaren Schwester in New Orleans und feierst mit ihr und diesem Weißbrotbubi Hochzeit?" Fragte James Coal.

"Weil ich 'nen stressigen Job habe und die Klinik nicht ohne mich läuft, Poppa. Das habe ich dir schon erzählt, daß ich nicht daran glaube, daß wir alle von diesem Voodoo-Baron abstammen, der sich damals mit einer Voodoo-Königin angelegt haben soll."

"Eigentlich schade, das Lindsey dir die Zwillinge geboren hat. Sonst würdest du noch zum Gläubigen", erwiderte Gordon verächtlich. James Coal sah seinen Neffen sehr verärgert an.

"Willst meine Frau wohl gerne beerben, Milchkaffeeknirps. Aber die lebt gesund und glücklich. Ist gerade auf Hawaii wellenreiten."

"Ui, am Nordstrand. Jau! Könnte ich auch mal wieder hin. Aber ich will erst wissen, was mit Mom ist. Wenn Andrew das rausfinden und abstellen kann lohnt sich das wenigstens. Ich habe mein Handy und meinen Laptop mit, damit ich mein Geschäft auch weiter am laufen halte."

"Kannst auch gerne wieder in den Jet einsteigen und nach Hause fliegen oder zu deiner Tante an den Nordstrand", knurrte Andrew. "Mit dem Schlepptop kannst du ja auch von da anderer Leute Geld verjuxen."

"Das unterscheidet mich Geldsack von dir Knochenflicker", erwiderte Gordon schnippisch. James Coal erwiderte darauf nur:

"Du bleibst ein paar Tage hier. Vielleicht geht's deiner Mutter besser, wenn du nicht andauernd mit hohlköpfigen Schlampen rummachst. Und dann solltest du dir überlegen, wen von denen du mal ernst fragen solltest, ob vor Oktober noch eine Heirat möglich ist. Spätestens zu deinem einunddreißigsten am fünften Oktober solltest du deine Familienpflicht erfüllt haben. Sonst mache ich dich für Selmas Tod verantwortlich."

"Mit 'ner Mordanklage oder was? Matrizid oder was?" Spie Gordon seinem Onkel entgegen. Das hätte selbst der große Anwalt in unserer Ahnenreihe nicht beweisen können. Aber ich bleibe hier, weil ich wissen will, ob Andrew noch was findet."

"Kennst doch den Spruch: Wenn du was verloren has' ...", setzte Andrew an. Gordon vervollständigte:

"... dann geh zum Arzt, der findet was." Die beiden lachten über diesen nicht ganz so neuen Spruch. James Coal räusperte sich und deutete auf die Trage, auf der seine Schwester lag. Sie ähnelte in ihrem weißen Nachthemd eher einem Gespenst, so dünn und beinahe durchscheinend wie sie aussah. Andrew waltete seines Amtes und brachte seine Tante ins Haus.

"Aber das mit dem Nachwuchs werden wir noch klären, Jungchen. Auch wenn Selma meinte, einen Bleichling zu heiraten hast du ihre Erbanlagen drin und hast diese weiterzugeben. So will es das Vermächtnis des Barons."

"Ich rede dir nicht in deine Privatsachen rein, Onkel James. Und als erwachsener Mann, wie du selbst angemerkt hast, lasse ich mir auch von dir nicht in meine Privatsachen reinreden. Was Mom hat ist rein biologisch und kommt weder aus dem Urwald, noch aus der Hölle. Und jetzt gehe ich rein und bring meine Sachen unter."

"Gewöhn dir ja einen anderen Ton an, wenn du nicht willst, daß ich dir Beine mache", knurrte James Coal. Gordon überhörte es. Den großen Boss zu geben war ja James Coals Hobby. So ging er durch die hundert Quadratmeter große Halle, deren Decke auf zwei mal fünf schlanken Säulen ruhte. Er verzichtete auf den mit Teakholz ausgekleideten Aufzug und stieg lieber die mit einem flauschigen, grünen Läufer belegte Granittreppe hinauf. Die dienstbaren Geister, die sich nur auf ausdrücklichen Befehl hin sehen ließen, hatten ihm den blauen Salon zum Wohn- und Schlafzimmer hergerichtet. Hier konnte er auch seinen tragbaren Computer aufstellen, den er mit einem Satellitenmodem ans Internet anschließen konnte. Bei ihm kostete jede Sekunde einen Dollar. Und wenn er bedachte, wie viele Stunden er schon untätig hatte verfliegen lassen, mußte er mindestens noch zehntausend George Washingtons für diesen Tag zusammenbekommen.

Abends um acht wurde gegessen, natürlich mehrgängig, wie sich das für den Besitzer einer Villa und seine Gäste gehörte. Andrew hatte zwei Krankenschwestern aus seiner Klinik herbeibeordert, die auf Selma Stillwell aufpassen sollten. Das Gespräch bei Tisch drehte sich um Politik, Sport und die Entwicklung am Aktienmarkt. Gordon genoß es, seinem Cousin ein paar Anlagetips geben zu können, um außerhalb des Klinikbetriebes noch einiges zu erwirtschaften. Ansonsten empfand er den Abend ohne Bars und unverbindlichen Sex als langweilig. Womöglich würde er noch ein wenig arbeiten, wenn Tokio aufmachte und er mit asiatischen Papieren jonglieren konnte.

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Lucas Wishbone sah auf die Uhr. In zwei Stunden lief das Ultimatum ab, welches seine Tante ihm zu stellen gewagt hatte. In einer Stunde jedoch trat sein Gegenplan in die entscheidende Phase ein. Er hatte fast eine Woche gebraucht, um die Kontakte auszureizen, die ihm noch verblieben waren. Der auf wackeligem Posten sitzende Zaubereiminister der USA wollte nicht reumütig zu seiner Tante zurückkehren und sich bei ihr entschuldigen, daß er ihre Anmaßung zu persönlich genommen hatte. Er war immer noch Zaubereiminister und damit sich selbst gegenüber verpflichtet, sich nicht erpressen zu lassen. Er hatte statt dessen angeleiert, daß seine Tante Tracy als seine Spionin in die Reihen der Sardonianerin eingeschleust worden war. Er hatte die Mitteilung nicht durch die Zeitungen laufen lassen, sondern über seine My-Truppe, die Spezialeinheit, die eigentlich alle finsteren Wesen und Zeitgenossen abwehren sollte. Allerdings hatte er die Truppe die Information so geschickt ausstreuen lassen, daß mutmaßliche Nachtfraktionärinnen das irgendwie erfahren haben mußten. Er lancierte auch, daß seine Tante immer in Vielsaft-Trank-Verwandlung operierte. Damit wollte er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Zum einen wollte er seine Tante davon abhalten, ihm weiterhin Ärger zu machen, weil diese ja genug eigene Probleme um die Ohren haben würde. Zum anderen würde er Chaos in den bis dahin so geordneten Ameisenhaufen der Nachtfraktionärinnen bringen und diese damit von baldigen Übergriffen abhalten. Er sah die höhnischen Kommentare noch vor seinem geistigen Auge, als in der Stimme des Westwindes und dem Kristallherold der große Sieg der Schöpferin Valerys über ihre Züchtung ausgebreitet wurde. Wishbones ganze Truppe war auf die Knochen blamiert worden. Nicht nur, daß diese Hexe seinen Leuten entwischt war, sondern auch, daß er Valery nicht hatte vernichten können. Dazu kamen noch diese Unverschämtheiten, er sei der Vater dieses Babys, das die Heilerin Leda Greensporn bekommen habe. Um das eindeutig zu widerlegen hätte er einer Blut- und Haaruntersuchung zustimmen müssen. Das hätte ihn jedoch auffindbar und damit angreifbar gemacht. Nicht nur, daß die Nachtfraktionsschwestern ihn erledigen wollten. Immer mehr Zauberer und Hexen forderten seinen Rücktritt wegen mutwilliger Gefährdung der amerikanischen Zaubererwelt. Die Kobolde von Gringotts wollten seine Entschuldigung nicht akzeptieren, daß er das mit dem eigenen Papiergeld nicht wirklich umsetzen wollte. Nur in seinem Luftschiff konnte er sich vor den Agenten des gringottseigenen Sicherheitsdienstes Dargalgrash sicherfühlen. Ihm war klar, was manchem Zauberer widerfuhr, der gemeint hatte, Kobolde zu bestechen, um die Sicherheitsvorkehrungen in Gringotts auszukundschaften. Was er, Wishbone, vorgehabt hatte war nichts geringeres, als Gringotts überflüssig und damit unnötig zu machen. Das würden ihm die "tausend Augen" nicht verzeihen. Er dachte an Mabel Pole, die Frau seines Vorvorvorgängers Jasper Pole. Sie war von jemandem, mit dem sie sich angelegt hatte, mit einem progressiven Verwandlungsfluch belegt worden und nach und nach zu einer Statue aus purem Gold erstarrt, weil sie wohl zu gierig gewesen war. Kobolde hatten Ihresgleichen schon in flüssigem Gold ertränkt, falls dessen Hitze die Opfer nicht schon in der ersten Sekunde getötet hatte. Angeblich sollte es in Gringotts eine für Zauberer unzugängliche Halle der Verruchten geben, wo die untreuen Kobolde als goldene Mahnmale ausgestellt waren. Aber er war kein Kobold und würde wohl etwas anderes von diesen spitzohrigen Goldsammlern zu befürchten haben. Die einzige Chance für ihn bestand darin, lange genug untergetaucht zu bleiben, bis sich die Kobolde beruhigt hatten. Was die Sardonianerin anging, so setzte er darauf, daß seine Falschmeldung die Anführerin gegen seine Tante aufwiegeln würde. Dann würde er seine My-Truppen losschicken und vielleicht ein paar Minuten zu spät eintreffen, um seine Tante noch zu retten, aber noch rechtzeitig, um die Sardonianerin festzunehmen oder, was ihm noch mehr behagen mochte, auf der Flucht mit dem Todesfluch zu stoppen.

Um alle ihm zugänglichen Berichte über die Sardonianerin und ihre Schwestern verwenden zu können hatte er sich von seinen treuen Hauselfen alle Zeitungen beschaffen lassen, in denen sie mit einer Zeile erwähnt worden war. Dabei war ihm der Gedanke gekommen, irgendwen von der My-Truppe nach England zu schicken, um diesen Ruster-Simonowsky-Bengel Julius Andrews "einzuladen", ihm zu erzählen, was er mit der Sardonianerin erlebt hatte. Doch der Bursche hieß nicht mehr Andrews sondern Latierre, was ihn mit den Southerlands verwandt machte, die auch in den Staaten eine hohe Rangstellung besaßen, vor allem durch Mitglieder im Zaubergamot, dem Ministerium und der Liga gegen dunkle Kräfte. Also verzichtete er besser auf eine Abänderung von Julius' Urlaubsplänen und studierte die Berichte in den Zeitungen. Die Hexenschwestern waren immer in weißen Umhängen aufgetaucht. Die Erbin Sardonias war dabei in Rosa erschienen, wohl um sich als Anführerin zu kennzeichnen. Vielleicht sollte er diese Information ausnutzen, wenn er eine offene Konfrontation mit seinen politischen Gegnern nicht mehr länger hinauszögern konnte. Jetzt erst einmal würde irgendwer von den Nachtfraktionärinnen Wind bekommen, daß Tracy Summerhill gegen sie spionierte. Wie nützlich es doch gewesen war, ein paar Haare seiner Tante aufbewahrt zu haben.

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"Wau, sieht ja für das Alter noch richtig rassig aus", dachte Alwin Shorewood, ein Mitarbeiter der ministeriellen Sondereinheit, als er das Gesicht im Spiegel sah, die blauen Augen, die schlanke Nase und das dunkelblonde Haar. Er fühlte sich zwar immer noch etwas benommen von der heftigen Umwandlung und war sich nicht sicher, ob er die nächsten drei Stunden so locker überstehen könnte, wenn er in einem ihm fremden Körper steckte. Doch das war schon ein Experiment, das einen gewissen Erfolg verhieß. Abgesehen davon mußte er das doch auch mal erleben, wie sich das anfühlte, zumindest für einige Stunden das Geschlecht zu wechseln. Jetzt stand er da, äußerlich und von der Stimme her Tracy Summerhill. Sein Kontakt ins Laveau-Institut hatte ihm verraten, wo sich die schweigsamen Schwestern früher mal getroffen hatten. Sicher war nach Ardentia Truelanes Tod die Zwischenstation nicht mehr so häufig benutzt worden. Doch darauf verzichten würden die ministeriumsfeindlichen Hexen wohl nicht. Was ein guter Verbindungsmann im sonst so verschwiegenen Laveau-Institut doch wert war, dachte Shorewood und prüfte den Sitz seiner Kleidung. Es fühlte sich für ihn etwas befremdlich an, ein Mieder unter dem Umhang zu tragen und nicht dieses beruhigende Stauchen seiner Intimteile in der engen Unterhose zu fühlen. Aber dafür hatte diese Summerhill einen gut erhaltenen Körper. Der Minister hatte ihm eingeschärft, daß seine Tante sich zu gerne als seine Spionin verdingt hätte und bereits Kontakte geknüpft habe. Allerdings habe sie nie rausgelassen, wo das sein sollte. Wishbone hatte sie darauf wohl in Schutzhaft genommen, um sie vor Valery und der Erbin Sardonias zu verstecken. Doch um mehr über die Nachtfraktion zu erfahren wäre es sehr günstig, eine Spionin in deren Reihen zu platzieren. Da Wishbone aber keiner Hexe über den Weg traute, mit der er nicht verwandt war, mußten seine männlichen Mitarbeiter wohl oder übel mit Vielsaft-Trank herumpanschen. Vielleicht erfuhr Shorewood bei dieser aufwendigen Verkleidungsaktion auch noch etwas über körperliche Befindlichkeiten von Hexen. Er war unverheiratet und hielt sich geschlechtlich eigentlich sehr zurück. Aber wenn er bestimmte Sachen am eigenen Leib nachvollziehen konnte ergab sich vielleicht eine Möglichkeit, damit Eindruck zu schinden. Doch erst einmal war der Auftrag dran. Er mußte bloß gut okklumentieren. Da trat sein Kollege Webster aus einem Schrank in der Diele von Shorewood und hielt seinen Zauberstab bereit. "Tut mir leid, Al", sagte er, nachdem er einen Moment auf den sehenswerten Körper Tracy Summerhills geglotzt hatte. Der Verwandelte wollte schon fragen, was seinem Kollegen leid tun sollte, als etwas übermächtiges seinen Kopf traf, darin eindrang und alle Gedanken verwirbelte.

"Das hat der Boss dir leider nicht sagen können", dachte Phil Webster, als er den Gedächtniszauber vollendet hatte. Zwar wußte Alwin Shorewood noch, was er tun sollte, besaß auch die nötigen Informationen für seinen Auftrag, ging jedoch nun vollkommen davon aus, Tracy Summerhill zu sein, für ihren Neffen spionieren zu wollen und ihrer Schwester versprochen hatte, gut auf Lucas aufzupassen. Ein mittelmäßiger Legilimentor würde die Gedächtnisveränderung nicht erkennen oder gar durchbrechen. Außerdem konnte Alwin auch mit der aufgeladenen Pseudoerinnerung als Tracy Summerhill noch alle seine Zauber, die ihn zum Bekämpfer dunkler Zauberkräfte und -wesen gemacht hatten.

Webster wartete nur fünf Sekunden ab, bevor er disapparierte. Sein Kollege trug einen Localisatus-Inanimatus-bezauberten Armreif. Doch das wußte Alwin nicht. Er dachte daran, seinen Neffen Lucas in den nächsten zwei Stunden wichtige Namen liefern zu können und disapparierte.

"Die sollten echt aufpassen, was sie so zurücklassen", dachte die vorgetäuschte Tracy Summerhill, als sie im Waschtrakt einer öffentlichen Damentoilette apparierte. Einige Hexen oder Muggelfrauen hatten sich hier wohl frisiert und dabei Haare ausgekämmt, die auf dem Boden lagen. Tja, die hätten es wissen müssen, daß sowas leicht mißbraucht werden konnte. Mit der aufgepflanzten Scheinidentität der Tracy Summerhill, die der Minister als sehr reinlich und ordnungsliebend beschrieben hatte, rümpfte ihr vorübergehendes Ebenbild die Nase über die schlecht gereinigten Toilettensitze. Wer war denn hier zuständig. Ein einfacher Ratzeputz-Zauber reichte doch schon aus, um hier keine unappetitlichen Spuren zu hinterlassen. Wieso kapierten es gerade die Hexen nicht, daß sie eine Toilette egal wo so sauber es ging hinterlassen sollten, nicht nur die in ihren eigenen vier Wänden. Mission eins war also kein Problem. die Falsche Tracy Summerhill sammelte Körperhaare ein und schickte diese in kleinen Phiolen per Teleportationszauber in das Auffanglager der My-Truppe. Wer wußte schon, wozu man diese Fragmente brauchte. Phase zwei bestand darin, Kontakt mit einer echten Angehörigen dieser Schwesternschaft zu bekommen. Was hatte ein Mitarbeiter des Ministers erzählt? Wenn eine Hexe in den Wasserhahn des zweiten Waschbeckens von links hineinrief: "Wasser trage meine Worte!" konnte sie einer nicht näher bekannten Stelle irgendwo eine Botschaft zuschicken. Wenn sie jetzt hineinrief, daß jemand ihr helfen müsse, weil sie eine Nachricht für die Entschlossenen habe, bräuchte sie nur zu warten, bis jemand kam. Womöglich würde man sie dann überwältigen und fortbringen, weil sie eben nicht in diesem Club drin war. Aber sie hatte vorgesorgt und konnte einen Rufzauber aussenden, der Lucas' My-Truppe auf den Plan rufen konnte. So ging sie zum zweiten Becken von links und sah in den Spiegel. Vielleicht sollte sie ihre Frisur noch einmal in Ordnung bringen und ... Was war das? Sie sah sich selbst zweimal im Spiegel. Doch das andere Spiegelbild sah wütend aus. Jetzt erkannte sie auch, daß die zweite Spiegelung statt eines grünen Seidenumhangs ein kirschrotes Kurzkleid trug. Doch ansonsten glich es ihr auf's Haar genau.

"Was soll denn das werden, wenn es fertig ist?" Hörte die falsche Tracy ihre derzeitige Stimme sehr ungehalten fragen.

"Verdammt, wer sind Sie denn?" Entschlüpfte es dem körperlich und geistig manipulierten Alwin, der glaubte, eine Doppelgängerin von sich selbst zu haben und nicht daran denken konnte, daß er die Doppelgängerin der Fragenden sein mochte.

"Es klingt schon komisch, die eigene Stimme das fragen zu hören", erwiderte die Tracy im roten Kleid. "Was fällt euch Burschen ein, meinen einmaligen Körper nachzumachen und damit wie selbstverständlich herumzulaufen. Das ist kein Spaß!"

"Ihren Körper. Sie haben meinen Körper, sie Hochstaplerin", schnarrte Shorewood. Da sah er in die stahlblauen Augen der Fremden. Unvermittelt sah er sich mit einer anderen Frau zusammen, einen Säugling auf dem Arm haltend, einen Jungen in Thorntails-Schulumhang, wie er von seiner Mutter verabschiedet wurde. Dann fühlte er einen gewissen Druck. Er kämpfte dagegen an und versuchte, seinen Geist zu verschließen. Was fiel dieser Vortäuscherin denn ein, ihr ihre wichtigsten Erinnerungen auszugraben?

"Aha, mit halben Sachen begnügt ihr euch zumindest nicht", knurrte die Tracy im roten Kleid. Die Doppelgängerin im grünen Umhang riß den Zauberstab hoch. Da durchfuhr sie ein Schmerz, der von ihrer Hand durch den ganzen Körper lief.

"Tja, Jungchen, das hast du nicht bedacht, daß ein Schluck von mir in deinem Körper dich dazu zwingt, mich ja nicht anzugreifen. Aber ich kann dich sicherstellen, bis ich weiß, wer du bist und warum du dich auf Damentoiletten herumtreibst wie ein pickeliger Türschlitzspanner im fünften Thorntails-Jahr."

"Verdammt, wer sind sie, verdammt!" Schnarrte Alwin, der ja immer noch glaubte, die echte Tracy zu sein.

"Die echte Tracy Summerhill, du Held. Stupor!" Die Tracy im roten Kleid zielte auf die im grünen Umhang, die noch einmal versuchte, einen Angriff anzubringen, bevor sie unter dem roten Schockblitz zusammenbrach.

"Gedächtnisüberlagerung. Ihr schreckt vor nichts mehr zurück", schnarrte die Tracy Summerhill im roten Kleid. Dann ergriff sie den linken Arm der Doppelgängerin und disapparierte.

Als Alwin vier Stunden später aufwachte, fand er sich in seinem angestammten Körper wieder und wußte auch, wer er wirklich war. "Immerhin so nett, daß dein Kollege, der dir scheinbar so klar bezeichnende Erinnerungen von mir in den Kopf gepflanzt hat einen Umkehrer eingewirkt hat, daß du bei Rückkehr in deinen angeborenen Körper wieder weißt, wer du bist", sagte Tracy Summerhill, die über ihm saß und ihn legilimentierte. Er lag auf einem weichen Bett. Ob er gefesselt war konnte er nicht sehen. Doch als er versuchte, sich aufzusetzen merkte er, daß ihn etwas festhielt.

"Da du jetzt wieder ein strammer Bursche bist und nicht unerlaubt wie ich aussiehst können wir zwei uns mal darüber unterhalten, was du in diesem Muggelklo wolltest und was mein werter Neffe sich dabei gedacht hat, jemanden in meiner Erscheinungsform rumzuschicken. Und jetzt sag bloß nicht, du hättest auf dieser Damentoilette nur gemußt, Bürschchen!"

"Mein Name ist Alwin Shorewood. Ich bin Mitarbeiter zur freien Verfügung des Zaubereiministers der vereinigten Staaten von Amerika", erwiderte Shorewood darauf.

"ja, weiß ich schon. Laß dieses blöde Getue weg, was Muggelsoldaten bei möglicher Gefangennahme zu befolgen haben! Also los, was wolltest du in meinem Körper?"

"Mein Name ist Alwin Shorewood. Ich bin Mitarbeiter zur freien Verfügung des Zaubereiministers der vereinigten Staaten von Amerika", wiederholte Shorewood.

"Muß ich denn wirklich böse werden", seufzte Tracy Summerhill. Shorewood dachte daran, daß diese Hexe da schon Freiheitsberaubung und die Behinderung von ministeriellen Operationen auf dem Gewissen hatte. Allerdings würde die Sache mit dem Vielsaft-Trank und der ihm aufgepfropften Scheinpersönlichkeit eine öffentliche Anklage unmöglich machen. Im Grunde konnte Wishbones Tante da mit ihm alles anstellen, was sie wollte. Doch er versuchte es noch einmal, mit der Antwort Name und Anstellung Eindruck zu schinden. "Ich habe mich mit einem zauber belegt, der mir anzeigt, wenn Haare oder andere abgetrennte Körperfragmente von mir bei einem zauber benutzt werden. Was glaubst du, Alwin Shorewood, woher Lucas meine Haare hatte. Ich hätte vielleicht doch häufiger die Betten frisch beziehen und darum und darunter gründlicher putzen sollen."

"Mein Name ist ..."

"Alwin Shorewood, ich weiß", erwiderte Tracy Summerhill. "Aber was dir wer, vielleicht Lucas, in dein Gedächtnis gepflanzt hat kann ich dir auch in dein Gedächtnis pflanzen. Nämlich, daß du jemand anderes bist und als Feind von Lucas Wishbone den Wunsch hast, ihn umzubringen. Aber ich habe da eine bessere Idee, wie ich dich dazu kriege, mir zu verraten, was mein undankbarer Neffe vorhat und warum er ausgerechnet meinen Luxuskörper dafür verdoppeln wollte."

"Meine Kollegen suchen schon nach mir."

"Ich weiß. Du hast was mit einem Localisatus-Inanimatus-Zauber angehabt. Ich habe die Kleidung unmagisch vernichtet, in der du meine Formen verhüllt hast. Melo kannst du hier auch nicht, weil ich mit jemandem dafür gesorgt habe, daß nur Blutsverwandte hier hinmentiloquieren oder von hier nach draußen mentiloquieren können. Was wolltest du in dieser Bedürfnisanstalt für Muggelfrauen?"

"Muggelmädchen beglotzen, was sonst", knurrte Shorewood.

"Hmm, dann sollte ich dich vielleicht in eine der Toilettenschüsseln verwandeln und da installieren, bis du genug nacktes Mädchenfleisch mitbekommen hast. Aber ich habe gesagt, ich habe da was besseres." Mit diesen Worten ging Tracy Summerhill aus dem Raum, in dem Shorewood gefangen war. Alwin fragte sich, warum die Hexe ihm nicht Veritaserum einflößte oder ihn unter den Imperius-Fluch zwang. Womöglich ging sie davon aus, daß er beidem widerstehen würde. So blieb ihr entweder nur die Folter oder die Verwandlung in etwas unangenehmes. Als Toilettenschüssel weiterzuexistieren war bestimmt eine interessante Strafe für Spanner, dachte Shorewood. Aber jetzt fragte er sich in der Tat, woher der Minister die Haare seiner Tante hatte und warum er sie als Spionin bei den Nachtfraktionärinnen einschleusen wollte?

"So, Honey. Ich bring dir jetzt was bei, daß dich sicher sehr beeindrucken wird", sagte Tracy Summerhill, als sie mit einer großen Kristallflasche in das Schlafzimmer zurückkehrte. Sie setzte sich neben das Bett, das mit einem Fesselzauber belegt war, der Shorewood an allen Körperanhängseln fest mit dem Bett verband. So konnte er nicht einmal den Kopf bewegen, als die Hexe mit ihrem Zauberstab einen silbern leuchtenden Faden aus der mit einer Art flüssigem Mondlicht gefüllten Flasche wickelte und diesen dann gegen seine Schläfe tippte, worauf der Faden in seinen Kopf hineinglitt und wie Wasser von einem Schwamm darin eingesaugt wurde. Shorewood hatte diese Art von Erinnerungsübertragung schon oft benutzt und argwöhnte eine gezielte Persönlichkeitsveränderung. Doch was er dann in einer Flut in ihm freiwerdender Erinnerungen erlebte war was anderes. Er meinte, Tracy Summerhill zu sein, wie sie mit ihrer Schwester redete und wie sie auslotete, ob der von dieser angebetete ähnlich empfand. alle diese Erlebnisse flossen so in ihn ein, daß er auch die damit einhergehenden Gefühle empfand. Sie trichterte ihm also nicht nur reine Sinneserfahrungen ein, sondern auch die damit verbundenen Empfindungen. Heftiger wurde es, als er sich daran erinnerte, wie Tracy Summerhill nach dem Tod ihrer Schwester erst fürsorgliche und dann immer leidenschaftlichere Empfindungen für ihren Neffen Lucas empfand, bis sie diesen soweit hatte, sich mit ihr einzulassen und eine sexuelle Beziehung zu ihr zu knüpfen. Er empfand die Wonnen der Liebesakte, die Tracy mit dem jetzigen Zaubereiminister erlebt hatte, als würde er selbst von einem geschlechtlichen Höhepunkt zum nächsten gelangen, auch wenn die körperlichen Empfindungen befremdlich waren. Jedenfalls erfuhr er auf diese Weise, was zwischen seiner Überwinderin und seinem Chef tatsächlich vorgefallen war. Schwindelig von den ihm fremden Erinnerungen keuchte er, wohl auch, weil sein Körper auf die dem Geist zugeführten Erinnerungen reagiert hatte.

"So, Honey, jetzt hast du alles von mir drin, was Luke und ich für herrliche Sachen erlebt haben. Also verrate mir jetzt, was das mit dem Vielsaft-Trank sollte!"

"Du hast deinen Neffen verführt, um ihn erpressen zu können, du Flittchen. Kannst du dir nicht denken, warum der das so drehen wollte, daß du für ihn gegen die Sardonianerinnen arbeitest?"

"Weil er davon ausgeht, daß die mich mal eben umbringen, wenn die meinen, ich wolle gegen sie spionieren oder Anschläge auf ihre Ranghöchsten ausführen", schnarrte Tracy. "Pech nur für ihn, daß ich mich durch einen Körperresonanzzauber abgesichert habe und erkannte, daß jemand meinte, mich nachmachen zu müssen und wo derjenige gerade war. Wolltest du nur anleiern, daß die bösen Schwestern meinen, ich hätte was gegen sie unternommen oder wolltest du in meiner Erscheinungsform sterben, um mich für tot erklären zu lassen?"

"Kein Kommentar", schnarrte Shorewood, der sich jedoch nicht von den leidenschaftlichen Erinnerungen freimachen konnte, die ihm Tracy Summerhill eingepflanzt hatte. Sie liebte ihren Neffen. Sie hatte ihn dazu gebracht, ihr Liebhaber zu sein, freiwillig und ohne magische Manipulation durch Liebestrank, Verwirrungszauber oder Imperius-Fluch. Ja, sie wollte sogar ein Kind von ihm kriegen. Das alles wußte er jetzt und fühlte, wie bedrückend dieses Wissen war. Wenn Wishbone sein Gedächtnis untersuchte, um zu erfahren, wo er solange geblieben war ... Sie hatte ihn wertlos gemacht. Sie hatte ihn enttarnt und gleichermaßen mit für ihn gefährlichen Erinnerungen aufgefüllt. Er fühlte jede ihrer Bewegungen wie seine, empfand die anregenden Schauer und Wallungen nach, die die Berührungen des Ministers an und in ihr ausgelöst hatten. Wenn Wishbone oder ein Kollege aus der Truppe diese Erinnerungen in seinem Geist fanden war er erledigt. Ja, auch, daß Tracy Summerhill geschlußfolgert hatte, Wishbone wolle sie wegen ihrer eigenmächtigen Aktion mit Spikes und Thornhill umbringen oder wen anstiften, das zu tun, ohne zu wissen, welchen Gefallen er oder sie Wishbone damit tat, war eine Erinnerung zu viel. Er erkannte, daß Wishbone wahrhaftig den Tod seiner Tante geplant hatte, einen Tod, der ihm sogar eine Möglichkeit gab, zwei Fliegen mit einer Klappe zu erledigen. Zum einen war er die für ihn gefährliche und lästige Geliebte los, die ihn ruinieren konnte. Zum anderen konnte er dann offen zum Vergeltungsangriff auf die Nachtfraktionärinnen blasen, die seine geliebte Tante ermordet hatten.

"Na, woran denkst du, Süßer?" Fragte Tracy Summerhill.

"Der Minister wird sein Ziel erreichen und die Sardonianerin erledigen. Ihre Körperfragmente helfen ihm, jemanden in die Reihen der Nachtfraktionärinnen einzuschleusen."

"Dazu muß er erst einmal wissen, ob du Fühlung mit den Gegnerinnen aufgenommen hast. Solange er das nicht weiß, wird er keine weiteren Kopien von mir in Auftrag geben. Du kannst froh sein, daß ich nicht zu den fiesen Schwestern gehöre. Sonst hätte ich dich längst meiner Sprecherin ausgeliefert. Vielleicht hätte die befunden, daß du für die Hexenbande wunderbare Dienste leisten könntest. Schon mal vom Contrarigenus-Fluch gehört?"

"Du meinst, die hätten mich ganz und für immer ..."

"Zu einem hübschen Mädchen gemacht und dabei ganz sicher auch geklärt, für wen du deine Fähigkeiten einsetzt, Alwin", erwiderte Tracy Summerhill. "Hmm, sogesehen keine schlechte Idee. Ich kann den Fluch leider nicht. Sonst würde ich vorschlagen, ich schicke dich als deine eigene Schwester zurück in diesen Waschbeckenraum und laß dich da machen, was du vorhattest. Nur daß dann nicht ich bei denen dumm auffalle."

"So oder so hast du dem Minister, deinem Bettwärmer, die Tour versaut, du Sabberhexe. Wie sollen wir jetzt an dieses Biest rankommen, daß uns diese Valery eingebrockt hat?"

"Zumindest nicht so, daß wer meint, in meinem Körper herumlaufen zu müssen. Das darf nur ein ungeborenes Kind von mir. Und jetzt komm mir nicht mit dem Spruch, du hättest nur Befehle ausgeführt."

"Was hast du jetzt vor. Zurückschicken kannst du mich nicht. Wishbone wird wen anderen finden, der als du rumläuft und den Auftrag erledigt."

"Und ihr meint, diese Sardonianerin ist so dämlich, nicht zu erkennen, daß ihr sie veralbern wollt? Ich habe dich doch schon erwischt, trotz Vielsaft-Trank und Scheinerinnerungen. Die Erbin Sardonias ist da wesentlich versierter als ich. Und genau deshalb wollte ich Lucas nicht hingehen lassen, als die ihn einlud, der Vernichtung ihrer eigenen Züchtung zuzusehen. Wenn er meint, mich deshalb von dieser Kreatur ermorden lassen zu müssen ist er undankbarer, als ich befürchtet habe. Ich habe ihm ein Ultimatum gestellt, sich zu entschuldigen. Er hat dich losgeschickt. Damit hat er jede weitere Möglichkeit verdorben, sich friedlich mit mir zu einigen. Du bist nur ein kleiner Fisch, den ich ins Wasser zurückwerfe, wenn die Wellen hoch genug schlagen. Schlaf schön und denke daran, daß ich in diesem Bett sehr schöne Stunden erlebt habe!" Mit diesen Worten hielt sie ihren Zauberstab über den Gefangenen und murmelte die Formel für einen Zauberschlaf. Tracy Summerhill legte als Weckereignis fest, daß sie ihm einen Artikel aus der Zeitung vorlas, der sich um sie und Lucas Wishbone drehte. Dann mentiloquierte sie ihren Neffen an: "Die Zeit ist rum, und du hast nicht die Größe gehabt, dich bei mir zu entschuldigen, Luke. Dein Spielchen, mich den Sabberhexen der Sardonianerin vorzuwerfen ist aufgeflogen. Ich behalte deinen Abgesandten Alwin Shorewood, der mal wissen wollte, wie sich das mit meinen drallen Brüsten anfühlt einstweilen bei mir, bis ich genug von ihm über deine Machenschaften weiß. Bis dahin denke drüber nach, daß man weder die eigene Tante, eine Geliebte oder überhaupt eine Hexe wütend macht. Du hast alle drei gleichzeitig wütend gemacht. Such dir besser was, was mindestens zehntausend Meilen von hier weg ist, bevor die Sardonianerin oder die wütende Zaubererwelt dich zu fassen kriegt!"

"Du Schlampe", war eine wütende Antwort Wishbones. "Keiner wird dir glauben, was immer du erzählst."!

"Die werden mir aus der Hand fressen, Honey. Aber vielleicht bin ich noch mal gnädig und gewähre dir Zuflucht, wenn dir die ganze Welt um die Ohren fliegt."

"Darauf verzichte ich", hörte sie die Gedankenstimme ihres Neffen und Liebhabers. Sie schmunzelte. Nur für sich dachte sie: "Die Zeit wird kommen, Honey. Dich will außer mir niemand wirklich noch haben."

__________

Anthelia saß im Weinkeller der Daggers-Villa und grinste mädchenhaft, als sie am neunundzwanzigsten Juli in den beiden Zaubererzeitungen und dem Magazin Hexen Weltweit las, daß Tracy Summerhill bedauerte, daß ihr Neffe keine Zeit mehr für sie habe und sie besorgt sei, daß er nicht mehr zu ihr zurückkäme. Angeblich habe sie damals, wo ihre Schwester bei einem magischen Unfall gestorben sei, beschlossen, zu Lucas wie eine Mutter zu sein, dann aber erkannt, daß er kein Kind mehr war und sich als Frau in ihn als Mann verliebt und erfreut festgestellt, daß er ihre Anbandelungsversuche nicht nur akzeptierte, sondern höchst erfreut und leidenschaftlich auf sie einging. Die Erbin Sardonias mußte lachen, als diese Tracy Summerhill in für Damen gerade noch statthafter Weise beschrieb, daß der gerade amtierende Minister sehr froh war, daß sie ja eine registrierte Animaga war und so in seiner Nähe hatte leben können, um ihn den Stress seines Berufes abzubauen helfen konnte.

T. S.: Wenn Sie meinen, meinem Neffen und mir Unzucht durch Inzucht vorwerfen zu müssen und daß wir zwei genau wußten, daß wir das nicht an die Öffentlichkeit kommen lassen durften fragen Sie mich natürlich, wieso ich jetzt damit herausrücke. Ganz einfach, weil ich will, daß Lucas Wishbone weiß, daß ich ihn immer noch liebe und begehre und er jederzeit zu mir zurückkehren mag, selbst wenn ihm das das Ministeramt kosten sollte. Wir haben nichts im Sinne der Zauberergesetze verbotenes getan. Ich bin nicht seine Schwester und auch nicht seine Mutter oder Tochter. Nur zwischen diesen verwandtschaftlich nahen Personen darf keine geschlechtliche Beziehung stattfinden. Cousinen oder Tanten haben schon früher ihre männlichen Verwandten ehelichen und gesunden Nachwuchs von ihnen hervorbringen dürfen. Ich habe unser Verhältnis nur verschwiegen, weil ich weiß, daß einem Minister oder einer Ministerin nach dem Treiben des wilden Southerland sehr ungern außereheliche Verhältnisse gestattet werden. Meine Verwandtschaft mit Minister Wishbone hätte da noch ihr übriges getan, ihn davon abzuhalten, sein Amt auszuführen. Da ich jedoch fürchten muß, daß ihm alles über den Kopf wuchs und sehr darum bange, daß er sich deshalb das Leben nehmen könnte, enthülle ich Ihnen gegenüber unsere seit fünf Jahren bestehende Beziehung.

S. W.: Fürchten Sie nicht, daß Ihnen der Minister Verleumdung vorwerfen mag, weil sein Ruf dadurch geschädigt wird?

T. S.: Darauf lasse ich es ankommen, weil Verleumdung nur dann gegeben ist, wenn jemand etwas unwahres wider besseres Wissen äußert, das geeignet ist, einen anderen gesellschaftlich herabzuwürdigen oder ihm berufliche Möglichkeiten zu verderben. Ich scheue mich nicht, vor einem Zauberergericht auszusagen, wann ich meinen Neffen zum Liebhaber gewann und wie genau sich dieses Verhältnis vollzog. Allerdings sehe ich ein, daß ich mich bis zu einer derartigen offiziellen Vorladung an einem sicheren Ort verstecken muß, an den eine Eule nur gelangt, die von jemandem geschickt wurde, dem ich vertrauen kann.

S. W.: Sie erwähnten, daß Sie von der Reise nach Europa abgesehen bis heute andauernden Unauffindbarkeit des Zaubereiministers in seiner Nähe waren und das von Ihnen erwähnte Verhältnis fortsetzten. Wie kam es, daß keine Hexe oder ein Zauberer davon erfuhr?

T. S.: Miau! Ich bin seit meinem zwanzigsten Lebensjahr registrierte Animaga. Ist zwar schon einige Dutzend Sommer her, ist aber immer noch gültig. Jeder Zauberschüler hätte das in der Liste der zwanzig in ganz Amerika registrierten Animagi nachlesen können, und die relevanten Abteilungen im Ministerium haben sogar die Details meiner Animagus-Erscheinungsform. Ich war mir also jederzeit bewußt, daß Lucas Wishbone wegen mir gefragt werden könnte, wenn sich jemand im Ministerium die Mühe gemacht hätte, die Listen einzusehen. Ich muß mich für das, was ich mit Minister Wishbone erlebt habe nicht schämen und auch nicht entschuldigen.

S. W.: (Ms. Summerhill verwandelte sich vor meinen Augen in eine schwarz-goldene Katze und wieder zurück.): In dieser Erscheinungsform konnten Sie also im Ministerium leben. Ich erfuhr, daß Minister Wishbone eine solche Katze bei sich hatte. Aber dann hat er sicher die betreffenden Einträge magisch versiegeln lassen, wie es amtierenden Zaubereiministern möglich ist. Somit hätte niemand Ihnen auf die Schliche kommen können.

T. S.: Hmm, jetzt verstehe ich, warum mein Neffe und Lebensgefährte so sicher war, daß niemand mich verdächtigen würde, mehr als eine Kuschelkatze zu sein. Davon hat er mir nichts erzählt. Gehört vielleicht doch eher zu den Ministeriumsinterna.

S. W.: Eigentlich nicht, weil nach der Bluewater-Affäre vor fünfzig Jahren diese Maßnahme ergriffen wurde, um amtierende Minister und ihre Verwandten zu schützen, falls sie in Animagus-Form flüchten oder versteckt bleiben müssen.

T. S.: Ach, wo Lorne Bluewater Minister war und vor Grindelwaldianern flüchten mußte, aber nicht aus dem Ministerium herauskam und sich in eine Schabe verwandelte, als die er sich hatte registrieren lassen?

S. W.: Ach, Sie kennen diesen Vorfall. Ja, die betreffenden Umstürzler konnten deshalb wegen Mordes belangt werden. Allerdings wurde danach die Versiegelungsmöglichkeit eingerichtet, dernach ein amtierender Minister sich oder Anverwandte zeitweilig aus der Registratur herauslöschen kann, bis ihm jemand im Amt nachfolgt. Dann haben Sie also für alle sichtbar im Ministerium gelebt. Trotzdem könnte der Minister finden, Sie wollten ihn ruinieren, ihn lächerlich machen. Haben Sie wirklich keine Angst vor rechtlichen Folgen?

T. S.: Absolut nicht, Ms. Whitecastle. Ich will nur klarstellen, daß ich weiterhin zu dem Zauberer Lucas Wishbone stehe und möchte, daß er, falls er sein Amt niederlegen muß, weiß, daß mein Haus für ihn offensteht und er dort von allem ausruhen kann, dem er sich dieses Jahr hat stellen müssen.

S. W.: Nun, er könnte Ihre Aussage zum Anlaß nehmen, seine Abneigung gegenüber Hexen in öffentlichen Stellungen zu verschärfen. Haben Sie keine Angst, daß Sie zum Ziel böswilliger Hexen und Zauberer werden, die über sie auf den Minister Druck ausüben möchten?

T. S.: Ich wäre naiv, es nicht zu befürchten. Deshalb wende ich mich ja an Ihr Magazin, weil ich nur hier, wo ich Sie getroffen habe, vorübergehend Schutz vor bösartigen Zeitgenossen habe und jede von ihm zu mir fliegende Eule oder jede von mir zu ihm fliegende Eule abgefangen werden könnte und er deshalb nicht erfahren könnte, daß ich immer noch sehr viel für ihn empfinde.

S. W.: Ja, aber die Frage, ob bösartige Zeitgenossen Sie als Druckmittel benutzen ist damit ja erst recht offen.

T. S.: Wie erwähnt werde ich mich gleich nach diesem Interview an einen von mir gesicherten Ort begeben und dort auf meinen Geliebten warten, falls dieser mir nicht mitteilt, daß er seines Amtes wegen weiterhin versteckt bleiben muß.

S. W.: Danke für das Interview

T. S.: Bitte sehr.

"Jetzt ist dieser Hexenhasser erledigt, selbst wenn diese Behauptung erstunken und erlogen sein sollte", grinste anthelia. "Wer wird ihn noch für integer oder wahrheitsliebend halten? Vielleicht hat er diese haarsträubende Offenbarung auch in Auftrag gegeben, um mich dazu zu verleiten, diese Tracy Summerhill anzugreifen, in meine Gewalt zu bringen oder zu töten, um Vergeltung für die Schikanen gegen die Hexenheit zu üben."

"Höchste Schwester, wir haben Dido gefunden", hörte sie Donatas Gedankenstimme. Anthelia legte das Interview bei Seite. Sylvia Whitecastles Apfelbäckchengesicht, das auf dem Foto von ihr mit Tracy Summerhill prangte, verzog sich zu einem warmen Lächeln.

"Komm mit ihr in unseren Versammlungsraum!" Schickte die Führerin des Spinnenordens zurück. Endlich hatten sie Dido Pane wiedergefunden. Daianira hatte sie vor ihrer Reise zur Insel der hölzernen Wächterinnen in Zauberschlaf versenkt, aus dem nur sie sie wieder hätte erwecken können. Da Anthelia trotz unmittelbarer Nähe zu den Ereignissen nicht mitbekommen hatte, wo Daianira Dido versteckt hatte, hatten Donata und die anderen nach ihr suchen müssen. Man mußte Daianira lassen, daß sie wußte, jemanden verschwinden zu lassen. Das Problem war jetzt nur, daß Dido nicht aufwachen konnte, solange Daianiras Stimme nicht die einer erwachsenen Frau war. Eine magisch nachgeahmte Stimme würde den Schlafzauber nicht durchbrechen, weil dieses nun in Windeln steckende Weib darauf geachtet hatte, daß die Trägerin ihrer Stimme fest davon überzeugt sein mußte, sie zu sein. Das hatte Anthelia leider erst erfahren, als Leda Greensporn Donata Archstone darüber informiert hatte, daß die bei ihr untergekommene Erzrivalin ihr gestanden hatte, das junge Hexenmädchen wohl erst in zwanzig Jahren aufwecken zu können. Doch Anthelia hatte da einen Plan, wie sie den Schlafzauber brechen konnte.

Donata Archstone, eine unauffällige, altersmäßig nicht eindeutig festzulegende Hexe mit graubraunem Haar, apparierte. Diesmal trug sie einen mintfarbenen Umhang. Sie hatte sich die schlanke, jedoch schon halb erblühte Junghexe Dido Pane mit Tragegurten um den Körper geschnallt. Anthelia half ihr, die schlaff und fast wie tot wirkende Schülerin auf den Steintisch zu legen, auf dem Anthelia vor nun drei Jahren und einigen Wochen in diesen, ihren jetzigen Körper eingefügt worden war.

"Wie willst du einen auf Stimme und Willen abgestimmten Zauberschlaf brechen, wenn die Trägerin der Stimme gerade wiederverjüngt wurde?" Erkundigte sich Donata.

"Ich setze darauf, daß Daianira sie mit Namen ansprach, als sie sie in den Schlaf zauberte. Das heißt, der Zauber wirkt auf eine Dido Pane ein. Nun wissen wir beide, daß Dido nicht als Mädchen geboren wurde. Also brauche ich nur den Prozess für einige Minuten umzukehren, dem sie ihr Leben als unsere Schwester verdankt und hoffen, daß damit der Schlafzauber von ihr abfällt."

"Was macht dich so sicher, daß Daianira nicht einfach nur "Schlafe ein und bleibe schlafend, bis ich dich mit meiner Stimme beim Namen Rufe" befohlen hat, höchste Schwester?"

"Der simple Umstand, daß nichts einen Zauber auf einen Menschen oder ein Tier stärker wirken läßt als die Einbeziehung des wahren Namens, das erste, was einem im Leben ins Gedächtnis gesprochen wird und wodurch sich ein Mensch am stärksten identifiziert. Nun gut, drehen wir für fünf Minuten mal den von mir vollzogenen Einberufungszauber für Dido um."

Anthelia vollführte den Contrarigenus-Fluch mit allen Stufen, denen ihr eigener Körper unterworfen worden war, bevor sie darin erwachen durfte. jetzt hoffte sie, daß sie Dido Pane aufwecken konnte, indem sie sie in Ornatus Pane zurückverwandelte, wenngleich die Zeit im Mädchenkörper Ornatus' Selbst weitestgehend ausgelöscht hatte. Als sich in einem silbernen Licht Didos Körper auflöste und dann als schlachsiger Junge wiederentstand zuckten blaue Funken um ihn herum. Der Körper bebte. Dann riß er die Augen auf und stieß einen Schreckensschrei aus. "Scheiße, was war das denn für'n Traum. Ich war'n Mädchen und mußte bei einer ... Oh, Drachenmist!"

"Wer bist du?" Fragte Anthelia, die tunlichst darauf achtete, den für einige Minuten zurückverwandelten telekinetisch auf dem Tisch festzuklammern.

"Verdammt, wie hast du das gemacht. Ich bin Ornatus Pane verdammt noch mal! hast du mich echt in ein Mädchen verwandelt? Ich habe echt geglaubt, ich wäre eins."

"Siehst du, Schwester Donata?" Mentiloquierte Anthelia der Sprecherin der amerikanischen Nachtfraktionsschwestern.

"Du mußtest fliehen, weil der mordgierige Magier Tom Riddle, der sich Voldemort nannte, dich töten wollte, weil du zu Lohangio Nitts gehörtest. Da ich nur Hexen bei mir aufnehmen darf habe ich befunden, daß du mit deinem neuen Leben auch ein besseres Los erhalten sollst, was deine körperlich-seelische Beschaffenheit angeht. Ich habe dir nur deine frühere, unzureichende Erscheinungsform gegeben, damit ich dich aus dem Bann meiner mittlerweile anderweitig beschäftigten Konkurrentin befreien konnte, die in meiner Abwesenheit auf dich aufpasste."

"Ich habe echt gedacht, geträumt zu haben. Man, das ist fies. Ich will kein Mädchen sein. Ich will nach Hause zu Mum und Dad", quängelte Ornatus Pane.

"Die halten dich für tot. Glaub es mir. Als unsere Schwester lebst du besser als als Handlanger eines mittlerweile aus der Welt getilgten Schlagetots. Denn der, vor dessen Namen ihr alle solche Angst hattet, ist nicht mehr."

"Ey, Lady Anthelia, so heißt ihr doch. Kann ich nicht einfach vergessen, daß ich diese Dido war?"

"Warum. Was war so unangenehm daran?" Wollte Anthelia wissen.

"Die Bauchschmerzen jeden Monat und was noch so da dranhing", erwiderte Ornatus, der begriff, daß er eben nicht geträumt hatte. Anthelia und Donata lachten. "Als Dido hast du das auch als unangenehm aber als wichtig für deinen Körper empfunden. Ich weiß auch, daß Dido noch in dir ist und wieder sein will, was sie war und sich freuen wird, wieder bei uns zu sein."

"Ganz sicher nicht. Ich will das nicht mehr", schnarrte Ornatus. Doch Anthelia schüttelte den Kopf und belegte den für wenige Minuten zurückverwandelten mit einem Erstarrungszauber. Sie prüfte, ob außer diesem noch ein Zauber wirkte, stellte fest, daß dem nicht so war und machte die Rückverwandlung ungeschehen.

"Abgedreht", erwiderte Dido, als der Erstarrungszauber von ihr gewichen war. "Ich habe für ein paar Momente gedacht, ich sei ein Junge. Komische Sache das."

"Stimmt, daß ist komisch", erwiderte Anthelia und gebot Dido, sich noch ein wenig auszuschlafen, um den Körper wieder auf einen üblichen Tag-Nacht-Rhythmus einzustellen. Auch sie würde gleich in ihr magisch gesichertes Gemach gehen und dort acht Stunden durchschlafen, um ihrem Gürtel der zwei Dutzend Leben zu erlauben, genug Kraft zu sammeln, um sie gegen zweiundzwanzig Todesarten zu schützen.

"Höchste Schwester, ich fürchte, es könnten einige sein, die vermuten, wer die kleine Lysithea früher war und finden, mich ablösen zu müssen, bis sie wieder groß genug ist, um sich als Daianira zu enthüllen", flüsterte Donata. Anthelia wies darauf hin, daß sie nicht flüstern müsse. "Aber die ganzen Yankeegeister und Daggers?"

"Habe ich für unbestimmte Zeit in Einzelhaft gesperrt. Sie fielen mir lästig, als ich mit Patricia und Tyche überlegte, ob Leda Greensporn wirklich nichts gegen uns unternehmen würde, sobald sie ihr zugeflogenes Kind entwöhnt hat. Da haben Patricia und ich die ganze Spukbande in leeren Flaschen festgesetzt und einstweilen in einem unbenötigten Raum mit Dauerklangkerkerbezauberung exiliert. Vielleicht bleiben sie da auch. Geister können vielleicht wahnsinnig werden, aber nicht verhungern."

"Deshalb ist es hier so ruhig", stellte Donata fest. Anthelia grinste.

"Jetzt, wo du die Anführerin der Entschlossenen bist, besteht immerhin die Möglichkeit, noch mehr Schwestern aus Daianiras alter Truppe zu mir zu führen. Das letzte Jahr hat uns in unserem Plan zurückgeworfen. Na ja, immerhin müssen wir weder den Waisenknaben, noch die mir entglittene Valery Saunders weiterfürchten."

"Du hast auch gehört, daß einige von Valerys Kindern wieder zu Menschen wurden und jetzt im Bewußtsein, mal Entomanthropen gewesen zu sein in der Welt herumstreunen?"

"Ja, ich hörte über diverse Kontakte davon, daß mindestens zehn von denen herumlaufen. Drei hat das Ministerium erwischt, als sie ohne Zauberstäbe Feuer gemacht haben. Die wurden in die Mysteriumsabteilung verbracht, um zu ergründen, ob ihre Magie permanent ist oder abklingt."

"Und um herauszufinden, wie du Valery erschaffen hast, weil sie glauben, daß Spuren deines Wandelzaubers an ihnen hängen geblieben sind."

"Das dürfte Valerys Fresslust verfälscht haben. Denn soweit ich weiß sind alle die offenbar zu weit von der Vernichtung entfernten Abkömmlinge früher Muggel gewesen. Die Magie, die Valery in sich hineinschlang, dürfte sich auf ihre intelligenten, früher Menschen gewesenen Sprößlinge verteilt haben. Das mögen die ruhig überprüfen."

"Könnte sein, daß die deshalb permanente Magie in sich haben, weil die früher Hexen und Zauberer gewesenen bei deiner Vernichtungsaktion restlos ausgelöscht wurden."

"Nun, ich denke, über fünfhundert von tausend Anteilen der einverleibten Magie dürften bei der Vernichtung unwiederbringlich entladen worden sein. Mich würde selbst interessieren, warum einige ihrer unfreiwilligen Kinder wieder zu vollständigen Menschen wurden und dabei noch ein gewisses Zauberkraftpotential behalten konnten. Na ja, wenn sie Spürsteine auslösen erheischt das Ministerium sie früher oder später alle", erwiderte Anthelia. Donata schüttelte den Kopf.

"Das ist gerade der Punkt. Die von denen gewirkte Magie unterscheidet sich von der von Zauberern. Sie wirken ähnlich wie Hauselfen und Kobolde, deren Zauberwirkung nur in der Nähe von minderjährigen erfaßt werden kann, weil auf diesen die Spur liegt."

"Verstehe", erwiderte Anthelia grinsend. "Dürfte dem auf Schutz und Sicherheit bedachten Zaubereiministerium Unbehagen bereiten, daß Menschen mit unaufspürbarer Magie zauberstablose Zauber bewirken können. Womöglich werden die diese neuen Fähigkeiten ausnutzen wollen und je länger sie dem Zugriff entwischen können um so besser zu verhüllen lernen, wo und auf wen oder was sie Zauberkraft ausüben. Womöglich habe ich unbedacht und gänzlich unbeabsichtigt eine dritte Sorte Menschen entstehen lassen. Daher interessiert, ja betrifft es mich sehr, Schwester Donata, daß ich über diese ehemaligen Söhne und Töchter Valerys unterrichtet bleibe, wenn du das mit den dir nun verfügbaren Verbindungen bewerkstelligen kannst."

"Alle rufen nach Wishbones Rücktritt. Seine Tante mütterlicherseits ... Ach, du hast die Hexen Weltweit von heute. Dann könnte es dich sehr amüsieren, was Ms. Tracy Summerhill freimütig geäußert hat."

"Das hat es schon", erwiderte Anthelia. "Aber wo du, eine Kundige der Strafverfolgungsabteilung, gerade auf dieses Thema kommst, trifft es zu, daß Ministerinnen oder Minister alle magischen Besonderheiten zeitweilig unnachschlagbar machen können?"

"Das trifft zu. Die ehemalige Zaubereiministerin Greengrass ist eine Animaga, die aus einem mir nicht klaren Grund als Beerkshier-Sau registriert ist. Die hat nach dem in dem Interview da erwähnten Bluewater-Fall ihre Registrierung magisch versiegelt, will sagen, die Einträge in allen relevanten Listen, auch die in den Zauberschulen der Staaten, bis zu ihrem Amtsende unnachlesbar gemacht."

"Und wer das vorher schon wußte wußte es dann immer noch?" Wollte Anthelia wissen.

"Das schon. Aber das waren dann meistens Ministerialbeamte aus der Strafverfolgungsabteilung, dem Ausschuß gegen den Mißbrauch der Magie und der Tierwesenbehörde, die bei Unfug machenden Animagi auch zuständig ist", erklärte Donata. Anthelia nickte.

"Ich habe eigentlich Zeit. Komme ich ohne groß aufzufallen an alle Listen registrierter Animagi und Animagae weltweit?"

"Die Listen sind Ländersache. Nur wenn ein im Ausland registrierter Animagus hierzulande aktiv wird kann ein Aktenabgleich beantragt werden, um zu klären, ob der hier aufgefallene Animagus in seinem Herkunftsland bereits vermerkt wurde", erwiderte Donata fast wie eine altgediente Beamtin klingend.

"Dann muß ich das eben über unser Netz zusammentragen", bemerkte Anthelia dazu. Dann fragte sie Donata, was sie von dieser Liebesbeichte Tracy Summerhills hielt.

"Welchen Grund sollte eine Tante haben, ihren Neffen derartig bloßzustellen, wenn es nicht stimmt?" Fragte Donata zurück.

"Ja, aber welchem Zweck dient diese Enthüllung deiner Meinung nach, Schwester Donata?"

"Dem, den Minister komplett zu demontieren und ihn so aus allen Verpflichtungen herauszuholen, die ihn zur Unauffindbarkeit verurteilen. Sie will ihn wieder in ihrem Bett haben, höchste Schwester. So liest sich das für mich."

"Dann sollten wir ihn ihr bringen und mit ihr durch die Ringe der Walpurgisnacht verbinden, wie es meine Landsleute tun, um die Besenherrin mit ihrem Auserwählten Besenbegleiter zu verbinden", erwiderte Anthelia darauf. Dann wollte sie noch wissen, ob Donata die kleine Lysithea schon außerhalb der Zeitung zu Gesicht bekommen hatte.

"Leda hat sie mir bisher nicht vorgeführt, weil es wohl auffiele, wenn ich in ihr Haus käme oder sie zu mir zitiere", entgegnete Donata.

"Tja, hast du keine Angst, daß die Kleine deinen Rang beanspruchen könnte?"

"Du etwa, höchste Schwester?"

"Nein, nicht wirklich. Im Grunde ist sie jetzt so, wie ich sie im November schon haben wollte. Ihr müßt nur aufpassen, daß niemand dahinterkommt, wer sie früher war. Ich gehe davon aus, daß Leda Greensporn schon darauf achten wird, sie nicht mit anderen mentiloquieren zu lassen. Sie wird aus der Sache mit der Insel gelernt haben."

"Was hättest du gemacht, wenn der dich und Daianira betreffende Zauber nicht umgekehrt worden wäre, höchste Schwester?"

"Die Frage hat mich auch immer wieder beschäftigt. Womöglich hätte ich es riskiert, daß dieses Weib mich gebiert und nach dem verfehlten Sanctuamater-Zauber vielleicht den Lacta-Deditionis-Zauber wirkt, um mich doch noch zur fügsamen Tochter zu machen. Vielleicht wird leda diesen Zauber verwenden."

"Das ist der, der einer Säugenden Gewalt über den gibt, der von ihr gesäugt wird, egal ob Kind oder Erwachsener. Steht in Potentia Matrium", erschauerte Donata. Dann straffte sie sich und sagte ganz entschieden: "Du oder Daianira hätten diesen Zauber sicher verwendet. Aber Leda wird ihn als Heilerin nicht verwenden, sofern sie ihn überhaupt kennt, zumal er durch sich selbst durch jede andere Hexe wieder aufgehoben oder umgekehrt werden kann."

"Du kennst diesen Zauber also", erkannte Anthelia. Donata nickte und rechtfertigte ihr Wissen mit ihrer Arbeit in der Strafverfolgungsabteilung. Die beiden Hexen grinsten. Mit dieser den freien Geist verachtenden Bezauberung konnte eine stillende Hexe einem Säugling über lange Zeit schier unauslöschliche Anweisungen erteilen, sofern diese nicht als Befehl, sondern als Wunsch oder Vorschlag geäußert wurden. Denn einen Befehl, der das eigene Gewissen belastete, hätte ein bereits entwickelter Geist erkannt und einen Widerstand dagegen aufgeboten, der nur durch den Imperius-Fluch restlos ausgeräumt werden konnte. Sie waren sich beide einig, daß Leda Greensporn diesen Zauber nicht benutzen würde, zumal er die Anwenderin körperlich sehr leicht erschöpfen konnte und obendrein die Heilerstatuten zur Unversehrtheit von Körper und Geist eines Menschen verletzte. Anthelia scherzte, daß Tourrecandide diesen Zauber dann ja hätte verwenden können, wenn sie ihr Gewissen damit beruhigen konnte, sich die sonst so gefährliche Daianira gefügig machen zu können.

"Sie hat sie aber nicht behalten", erwiderte Donata. "Aber wo du das erwähnst, höchste Schwester, ist es sicher ratsam, sicherzustellen, daß Leda ihr Baby nicht zu lange aus den Augen läßt, bevor wer meint, es in ihrem Sinne beeinflussen zu müssen, falls du es dir nicht überlegst und es ihr wegnimmst."

"Wie erwähnt erachte ich das, was Lysitheas früheres Ich in diesem Körper nun empfindet als gerechtfertigte Strafmaßnahme für den Versuch, wider meine Pläne vorzugehen, nachdem sie mir mit den anderen Sprecherinnen zumindest Burgfrieden zugesichert hat. Möge sie in ledas fürsorglicher Obhut aufwachsen und zu einer einsichtigeren jungen Hexe heranreifen, die in zwanzig Jahren vielleicht erkennt, warum mein Weg der bessere ist als der, den sie für richtig hielt!"

"Soll ich alle Schwestern zu mir rufen und offiziell befehlen, daß keine von ihnen Ledas Kind anrührt oder gegen meine Interessen zu beeinflussen versucht?"

"Damit alle, die es noch nicht wußten mit der Nase darauf gestoßen werden, daß an diesem Kind mehr ist als der Umstand, daß sein Vater unbekannt bleibt?" Fragte Anthelia. "Nein, so sehr mich die Vorstellung auch beunruhigt, daß jemand die kleine Lysithea gegen uns beide verwenden könnte, so sehr hat mich ihr und mein Schicksal gelehrt, nicht sofort voranzupreschen, wenn etwas scheinbar unausweichliches ansteht. Ich denke, wenn das kleine Mädchen auf eigenen Beinen stehen wird, sollte es von seiner Mutter gelernt haben, nicht unnötig aufzufallen. Bis dahin wird das öffentliche Interesse an ihr verwehen wie Nebel im Herbstwind."

"Wie du meinst, höchste Schwester", erwiderte Donata.

"Gut, nachdem wir dies geklärt haben ist es wohl Zeit für mich, den nötigen Schlaf zu nehmen", erwiderte Anthelia. Für Donata hieß das, sich nun zu entfernen. Sie verabschiedete sich und disapparierte. Anthelia las noch ein paar Zeilen zu dem Interview Tracy Summerhills. Sie grinste und fragte die als Farbfoto abgedruckte Hexe mit den stahlblauen Augen: "Warum bist du noch keine von uns, Schwester?" Natürlich bekam sie darauf keine Antwort.

__________

Jetzt war er schon zwei Tage in der Villa Samedi. Die erste Nacht hatte er gar nicht schlafen können, weil er immer meinte, das mechanische Konzert der Lebenserhaltungsgeräte zu hören, die seine zwischen Ohnmacht und Dämmerzustand schwankende Mutter am Leben hielten. Außer daß er sich mit seinem Onkel James immer über seine Familienplanung und seinen Lebenswandel zankte passierte auch nichts weiteres in diesem protzigen Bau hier. Er genoß die Spaziergänge im grundstückseigenen Wald, der von den angestellten Forstarbeitern auf dem Zustand eines früheren Urwalds gemäßigter Breiten gehalten wurde. Nutzholz wuchs hier nicht. Im Oktober und November würden wieder einige Jäger durch die Wälder streifen oder sich auf die zehn Hochsitze platzieren, um Rot- und Schwarzwild vor die Flinten zu bekommen. Vielleicht kam sein Onkel mal wieder darauf, über dubiose Quellen einen Löwen oder Tiger in diesen Wald zu bringen, der eine besondere Jagdbeute darstellte. Allerdings hatte er vor zehn Jahren fast einen Riesenärger mit den Behörden bekommen, weil einer der illustren Jagdgesellen geplaudert hatte und Onkel James das zum reinen Jagdvergnügen auszusetzende Raubtier klammheimlich außer Landes hatte schaffen lassen.

Die zweite Nacht brach an. Würde er heute wieder meinen, die piependen, zischenden und klappernden Geräte zu hören, an denen seine Mutter hing? Doch die war mindestens fünfundzwanzig Meter weit von ihm entfernt. Vier dicke Türen schlossen zwischen ihr und ihm. Er hatte seinen Laptop erst ganz ausgeschaltet, als er zu müde war, um die Zahlen und Buchstaben auf dem Flüssigkristallbildschirm klar unterscheiden zu können. Gordon Stillwell schlüpfte in sein Bett und gab sich der Ruhe hin, die dieses Haus erfüllte. Es war eine trügerische Ruhe, dachte er. Morgen würde sein Onkel wieder versuchen, ihm die Krankheit seiner Mutter in die Schuhe zu schieben. Falls er damit nicht aufhörte, würde er keine dritte Nacht hier zubringen, schwor sich der Betreiber einer kleinen aber umsatzstarken Privatbank. Denn er hatte es nicht nötig, sich wie ein unmündiger Bengel maßregeln zu lassen, auch wenn sein Onkel die eine oder andere Million mehr auf dem Konto hatte als Gordon.

Die Dunkelheit kroch in sein Zimmer. Er lag mit offenen Augen unter der dünnen Sommerdecke und lauschte. nein, er wollte die medizinischen Apparate nicht hören. So dachte er an Musikstücke, die er in den letzten Tagen gehört hatte und die in seinem Kopf herumgeisterten, wenn er duschte oder spazieren ging. So fand er nach einer halben Stunde in den Schlaf.

War es ein Traum oder Wirklichkeit? Er meinte, in absoluter Dunkelheit durch die mit dicken Teppichen ausgelegten Flure der Villa zu wandern, immer hin und her, über die Granittreppen mit den Tropenholzgeländern von Stockwerk zu Stockwerk hinauf und hinunter. Wie ein Tiger im Käfig fand er keine Ruhe. Er durchwanderte das herrschaftliche Haus, ohne einen Funken Licht zu brauchen. Wie ein nachtaktives Raubtier fand er immer seinen Weg, ohne gegen Wände oder Möbel zu stoßen. Lautlos beging er die Räume, die nicht als Schlafzimmer ausgelegt waren. Er betrat den weitläufigen Salon, der gleichermaßen ein Ballsaal sein mochte, durchwanderte die Bibliothek mit ihren mehr als drei Meter hohen Regalen, die mit Büchern aus allen Literatur- und Sachgebieten beladen waren. Doch ihn interessierte kein Buch. Ihn interessierte nur das Wandern im Haus. Eine innere Unruhe hielt ihn an, nie länger als eine Minute in einem Raum zu verweilen. So schlich er wie ein rastloser Schatten mehrmals durch das Haus. Das ganze Haus? In die Kellerräume gelangte er trotz diverser Versuche nicht. Schwere Stahltüren, elektronisch und mechanisch verrammelt, verwehrten ihm den Zutritt zu den geheiligten Schätzen der Coals, zu denen neben einem umfangreichen Weinangebot auch Kunstwerke gehörten, die nur bei feierlichen Angelegenheiten den Gästen präsentiert wurden, um Eindruck zu schinden und Neid zu schüren. Was nützte einem viel Geld, wenn es keiner mitbekam? Auch jetzt, wie oft schon zuvor, stand Gordon Stillwell vor der massiven Tür, die dem Tresor seiner Bank das Wasser reichen konnte. Drei Patentschlösser und ein Fingerabdruckerkennungssensorfeld hielten den Kellerzugang verschlossen. Gordon wußte, daß nur sein Onkel James und sein Cousin Andrew als zutrittsberechtigt gespeichert waren. Selbst die Dienerschaft, die in einem der Villa angegliederten Nebengebäude schlief, kam nicht dort hinunter. Drei Etagen Keller waren für den Bankbesitzer aus New York unerreichbar. Irgendwie verstörte ihn das, als sei er ein durstiges Tier, das Wasser witterte, aber nicht herankam oder fürchten mußte, beim Trinken von Raubtieren angegriffen zu werden. Irgendwann wurde diese Unruhe, dieses Verlangen, durch diese Tür da zu gehen immer größer. Die Wanderungen waren wohl doch nur Ablenkung von diesem einen, immer drängender werdenden Wunsch. Wie konnte er die Schlösser öffnen? Sein Onkel hatte die Schlüssel und war zutrittsberechtigt. Doch der schlief hinter seiner einbruchssicheren Schlafzimmertür, die nur mit Handabdruck von innen geöffnet werden konnte. Das war die Kehrseite des Reichtums, sich selbst wie ein Häftling hinter festen Mauern und verschlossenen Türen zu verbergen, um Neider und Habenichtse abzuhalten. Aber wie kam Gordon in den Keller? Er mußte da runter! Er mußte in die steinernen Eingeweide dieser prunküberladenen Villa, dem weithin sichtbaren Trotz eines Nachfahren der alten Sklaven gegen die immer noch schwarzenfeindlichen Weißen, die meinten, Geld zu haben sei allein ihr Vorrecht. Er warf sich gegen die vier Zentimeter dicke Stahlplatte. Doch die würde nur eine Panzerfaust durchschlagen können. Das Verlangen wuchs weiter. Und was war das? Da flüsterte doch jemand vor ihm. "Komm zu mir! Hol mich hier raus!" Gordon fühlte, wie der Drang, durch diese Tür zu gehen durch diese beinahe unhörbaren Forderungen verstärkt wurde.

"Komm zu mir! Hol mich hier raus!" Zischte die unerkennbare Stimme aus Richtung der Kellertür. Gordon fragte sich nicht, wieso er diese Stimme überhaupt hörte. An und für sich waren die Kellerräume fast schalldicht. Selbst ein darin abgefeuerter Schuß würde nicht aus der Villa hinausklingen. Nun klebte Gordon an der Tür wie ein Eisennagel an einem immer stärker wirkenden Elektromagneten. Der Drang war nun so groß, daß er meinte, sterben zu müssen, wenn er nicht durch diese dicke Tür da durchkam. Er keuchte und schnaufte. Die geflüsterten Forderungen wurden etwas lauter. Dann erwachte er schweißgebadet.

Minutenlang lag Gordon in seinem Bett und fragte sich, was das für ein Traum gewesen war. Er wollte in den Keller, weil da wer zu ihm gesprochen hatte? Das kam ihm doch sehr merkwürdig vor. In dem Keller wohnte niemand. Bewegungsmelder und temperaturkontrolleinheiten waren die einzigen aktiven Dinge dort unten. Bewegungsmelder, dachte Gordon. Wäre es ihm in diesem Traum gelungen, die Panzertür zu öffnen und hinunterzusteigen, hätte er schon nach wenigen Schritten Alarm ausgelöst. Sein Onkel wäre von einer für den Einbrecher nicht bemerkbaren Vorrichtung geweckt worden und hätte dann entscheiden können, ob er die beauftragte Sicherheitsfirma informierte, die innerhalb von wenigen Minuten die Villa erreichen konnte, um einen über alle Außensicherungen hinweggelangten Einbrecher zu ergreifen. Doch was sollte dieses Flüstern in seinem Traum? Da unten konnte wirklich niemand sein, von dem sein Onkel nichts wußte. Hieß es nicht, daß dort das ganz in Silber eingefaßte Knochengerüst von Ururgroßvater Ruben irgendwo eingemauert war? War es der Geist des Sohnes von Baron Samedi, der ihn aufforderte, ihn aus dem Keller herauszuholen? Nach seinen Erlebnissen in New Orleans akzeptierte er die Vorstellung von übernatürlichen Erscheinungsformen. Doch wenn da unten wirklich der ruhelose Geist seines Vorfahren spukte, warum kam der nicht aus dem Keller? Geister waren doch nichtstofflich und konnten deshalb alle Materie durchdringen. Wie konnte man einen Geist einsperren? Er wußte es nicht. Doch er war sich sicher, daß die Anhänger des Voodoo Zauber kannten, mit denen sie die Seelen anderer Leute bannen konnten, ob die der Lebenden oder der Toten. Hatte jemand das gewußt, daß Ururgroßvater Ruben nach seinem Tod nicht aus dieser Welt verschwunden war und ihn durch Magie gezwungen, am Ort seiner Gebeine zu bleiben? Dann war die Kellertür nicht das wirkliche Hindernis, dachte Gordon. Wer immer den Sohn Samedis an seinen Bestattungsort gebannt hatte, hatte sicher wirksame Zauber in Kraft gesetzt, die eine Befreiung verhindern würden. Er war weder Voodoo-Priester noch Schamane oder sonst eine Form magisch begabter Mensch. Doch wo er jetzt so einfach so an Zauberei und Geister dachte, erinnerte er sich an die Vorhaltungen seines Onkels, er habe durch seine Weigerung, einen Sohn zu zeugen, bevor er das einunddreißigste Lebensjahr vollendete, den langsamen Tod seiner Mutter zu verantworten. Das war nur ein merkwürdiger Alptraum, dachte Gordon deshalb trotzig. Das hatte nichts mit Magie, sondern nur mit einer im Schlaf frei herumwirkenden Phantasie zu tun, was er da im Schlaf erlebt hatte. Vielleicht wirkten diese ständigen Vorhaltungen so auf ihn. Vielleicht war er doch nicht so hart im Nehmen, wie er immer gedacht hatte. Damit mußte er fertig werden. Oder er mußte dieses übergroße Haus bald verlassen. Doch er wollte nicht gehen, bevor er nicht geklärt hatte, was an dem Gerücht dran war, daß sein Ururgroßvater dort unten bestattet war.

Die verbleibenden zwei Stunden bis zum allgemeinen Aufstehen nutzte Gordon, um die japanische Börse zu überwachen und ihm instinktiv ergiebig erscheinende Papiere einzuhandeln und die, die er für demnächst im Wert sinkenden hielt, abzustoßen, was seinem Geldhaus einen Gewinn von 100.000 Dollar einbrachte. Den Tag verbrachte er neben Spaziergängen und Transaktionen über gesicherte Internetverbindungen in der Bibliothek, wo er die Familienchronik zu Rate zog, um mehr über Leben und Tod seines Urahnen zu erfahren. Zwischen 1859, wo Ruben einen Sklavenaufstand auslöste und den Berichten über sein schwarzmagisches Duell mit Marie Laveau klaffte eine Lücke von über zehn Jahren. Warum hatte sich Ruben Coal den Ruf eines Totenbeschwörers, Zombiemeisters oder Voodoo-Hexers erworben? Das ging aus der Chronik nicht hervor. Es wurde nur detailliert geschildert, wie sein Sohn nach Marie Laveaus offiziellem Tod nach New Orleans reiste und die sterblichen Überreste seines Vaters suchte, fand und in die ehemalige Gouverneursvilla außerhalb von Richmont schaffte. Sehr konzentriert las er den Abschnitt, der beschrieb, wo genau die versilberten Knochen im untersten Kellergeschoß verborgen waren. Er meinte, ein dreidimensionales Koordinatensystem vor seinem inneren Auge zu sehen, in dem sich wie ein Modell das herrschaftliche Haus mit seinen Ober- und Untergeschossen projizierte. Immer wieder las er diesen Absatz, bis er meinte, den Aufbewahrungsort der Knochen auf Anhieb zu finden. In dieser seiner Geldhandelstrance ähnelndem Zustand fand ihn sein Cousin Andrew.

"Na, die alten Geschichten haben es dir wohl angetan, Gordon, wie?" Holte ihn Andrews Stimme aus der beinahe rauschartigen Verfassung zurück. Einen Moment lang war Gordon wütend, weil er so abrupt aus diesem Zustand gerissen wurde. Doch dann grinste er nur.

"Hast du Ururopa Rubens Knochen schon gesehen, Andrew? Für einen Arzt müßte das doch aufregend sein", sagte Gordon Stillwell.

"Laut der alten Chronik wurden die in einem kleinen Raum abgelegt und der Raum zweifach zugemauert. Offenbar hatten die Bewohner der Villa Angst, der Geist des alten Totentänzers könnte dem Skelett noch innewohnen und sich von der Silberumhüllung nicht beeindrucken lassen. Du hast bestimmt die Behauptungen gehört, daß Silber und Gold magische Metalle sind, die magische Barrieren durchdringen oder Fabelwesen wie Werwölfe und Vampire töten können. Kann sein, daß unser Uropa deshalb meinte, seinem Vater einen silbernen Überzug über die Knochen verpassen und seinen Schädel innen wie außen mit Silber bedecken zu müssen."

"Würde dich das nicht interessieren, zu klären, ob der alte Totenpriester echt hier im Keller versteckt ist?" Fragte Gordon herausfordernd. "Ich meine, du könntest am Gerippe doch untersuchen, woran der gestorben ist, oder?"

"Dazu müßte ich, falls der echt da unten liegt, erst die Silberumhüllung lösen, was die Struktur der Knochen angreifen kann. Abgesehen davon bin ich eher Neurologe und Hämatologe, als an über hundert Jahre alten Knochen Leben und Tod ihres Hinterlassers nachvollziehen zu können. Wenn irgendwo noch Blut von ihm in einer Konservendose aufbewahrt würde, würde mich das interessieren."

"Verstehe, du glaubst nicht echt, daß der alte Ruben da unten versteckt ist", erwiderte Gordon verwegen grinsend. "Du hältst also dieses Buch hier für totalen Schwindel."

"Da wo der angeblich sein soll ist keine auffällige Mauer, die auf einen weiteren Raum hindeutet. Die Wände sehen alle gleich aus", erwiderte Andrew.

"Warst du echt schon da unten?" Fragte Gordon.

"Seitdem ich von Poppa für Zutrittsberechtigt befunden wurde und die Chips für die Beruhigung der Alarmmelder unter der Haut habe habe ich mich da unten schon genau umgesehen", erwiderte Andrew.

"Du hast dir Chips implantieren lassen wie ein Zootier?" Fragte Gordon. Andrew grinste und wischte sich beiläufig über Bauch und Nacken. "Örtliche Betäubung. Ich merke von denen nix, weil die in Silikonkissen verborgen sind. RFID-Technik, der neueste Schrei der computergestützten Überwachung."

"Nett, du bist also zutrittsberechtigt gechipt", erwiderte Gordon spöttisch. "Hast du keine Angst, daß dir wer die Chips aus dem Körper schneidet und damit in den Keller runtergeht, um Onkel James' teuersten Rotwein zu trinken?"

"Erst einmal muß jemand mit meinen Fingerabdrücken da runter. Der Abtaster mißt gleichzeitig die Temperatur und peilt an, ob Blut durch meine Finger gepumpt wird, um sicherzustellen, daß mir keiner die Finger abschneidet, um Zutritt zu kriegen. Erst wenn die Schlösser geöffnet sind und ich den Fingerabdruckleser passiert habe springen die speziell kodierten RFID-Leser an, die bis auf drei Meter Abstand wirken. Abgesehen davon verrate ich keinem, wie viele Chips ich trage. Die Lesefelder sind so scharf begrenzt, daß alle Chips in einem engen Bereich zugleich erfaßt werden können. Ist der Abstand zu groß, bleiben die Alarmsysteme scharf und melden jeden Eindringling Weiter. Wer also da runter will muß mit Poppa oder mir zusammengehen, um das kurze Zeitfenster der unterdrückten Alarmsysteme auszunutzen. Wieviele Sekunden das sind verrate ich keinem, auch dir nicht", erwiderte Andrew. Gordon nickte.

"Habt ihr da unten Rembrandbilder oder Goldbarren gebunkert?" Fragte Andrews Vetter.

"Neh, Platinbarren und ein ganzes Zimmer voller Mingvasen, zwei Splitter vom Kreuz Jesu und je einen Kanister mit tiefgefrorenen Eizellen und Spermatozoiden von Preisrindern und Rennpferden", scherzte Andrew. "Abgesehen von den geheimen Unterlagen zum Kennedy-Mord. Aber wer die zu klauen versucht jagt sich selbst in die Luft."

"Neh is' klar", erwiderte Gordon amüsiert. "Und das keiner ein paar Pfund Silber um alte Knochen klauen könnte macht euch deshalb auch nichts aus?"

"Es haben uns schon einige gefragt, ob das stimmt, daß da unten ein versilbertes Skelett vergraben sei. Aber Poppa meint dann immer, daß das nur behauptet werde, weil keiner wissen dürfe, daß wir da unten die Mumie vom ersten Pharao überhaupt aufbewahren, von dem wir in tausenden Generationen abstammen. Dann hören die Leute schon auf zu fragen."

"Ich würde gerne mal da runtergehen. Aber so wie dein Vater gerade mit mir klarkommt wird der mir das sicher nicht erlauben", seufzte Gordon.

"Echt? Du brauchst dem nur anzubieten, was wertvolles von dir da unten einzubunkern, das du selbst nicht aus der Hand geben möchtest, bis es im entsprechenden Raum ist. Du bist nicht der einzige, der Wertanlagen anderer Leute bunkert und aufbewahrt."

"Soso, dein Vater macht mir also Konkurrenz", erwiderte Gordon, der diese Mitteilung höchstinteressant fand.

"Kein Geld, weil die Leute ihm da alles mögliche erzählen könnten. Aber die Originale von Schaltplänen von Mikrochips, Formeln von neuen Medikamenten und Materialproben neuer Kunststoffe, die nicht in bekannten Banken gelagert werden sollen", erwähnte Andrew. Offenbar machte es dem Arzt nichts aus, sehr vertrauliche, ja sogar schon geheime Einzelheiten an seinen Cousin weiterzugeben. Gordon sog diese Mitteilungen förmlich auf. Dann meinte er:

"Hmm, wenn ich eine Festplatte mit allen Daten meiner Privatkunden bei euch lagern könnte wäre ich beruhigt, weil ich nicht sicher sein kann, daß mir nicht doch der Rechner abstürzt oder wer von meinen Mitarbeitern sich von drinnen ins System hackt und dann die dabei erbeuteten Daten verscherbelt. Wenn ich eine externe Platte mit allen Daten bei euch unterstellen kann könnte ich eine Totallöschungssoftware installieren, die bei unautorisiertem Datenzugriff alle Daten unbrauchbar macht oder die Daten verfälscht, daß sie nicht mehr stimmen. Ginge das?"

"Hast du so eine Festplatte mit?" Fragte Andrew.

"Klar, im Zubehör meines Laptops. Sie ist dreifach Passwortgeschützt, so daß sie nur in Verbindung mit meinem tragbaren Rechner oder dem Zentralrechner meiner Bank abrufbar ist", erwähnte Gordon. Andrew nickte und meinte dann:

"Poppa nimmt aber Lagergebühren, die sich nach dem Wert richten, was gelagert wird. Wie wertvoll sind die Daten da drauf?" Fragte der junge Arzt.

"Wer die Daten hat kann mal eben eine halbe Milliarde Dollar rausholen", flüsterte Gordon. Andrew zuckte zusammen.

"Und mit so'ner vollen Geldbombe gehst du auf Reisen?" Fragte er verstört.

"Das ist die Kunst, Andrew, ganz arglos zu bleiben, wenn man mit potentiellen Riesensummen unterwegs ist. Nur wer das weiß könnte auf die Idee kommen, es mir wegzunehmen."

"Hmm, ein halbes Prozent im Jahr für den geschätzten Wert des Lagergutes, das würde dich bei dem, was du da gerade erzählt hast zwei komma fünf Millionen Dollar im Jahr kosten. Wie würdest du das deinen Kunden und Onkel Sam gegenüber erklären, wofür du das Geld ausgibst?" Fragte Andrew im Flüsterton. Gordon schmunzelte und erwiderte, daß er seinen Kunden gegenüber aussichtsreiche Auslandsinvestitionen anführen und dem Finanzministerium gegenüber von Währungsschwankungen mit Auslandspapieren sprechen würde. Über entsprechende Bankverbindungen könnte er seinem Onkel die Lagermiete unauffällig überweisen, am besten über mehrere Banken in der Karibik in kleineren Beträgen. Als Bankier wußte er ja schon, wie man Geldströme steuerte, von deren Quelle und Ziel niemand was wissen sollte. Gordon setzte auf die Geldgier seines Onkels. Wenn der zweieinhalb Millionen im Jahr mehr einstreichen konnte, würde der seine haarsträubenden Vorhaltungen wohl vergessen.

"Ich kläre das mit Poppa. Wenn der findet, daß er sich die Sache anhören will ruft der dich dann in seinen Besprechungsraum", sagte Andrew.

Gordons Plan ging auf. Die Neugier und der Drang, in die geheiligten Untergeschosse der Coals zu gehen, hatten ihn bluffen lassen. Natürlich schleppte er keine Festplatte mit hochbrisanten Daten herum, die noch dazu diesen hohen Geldwert besaßen. Er würde die externe Platte, auf der er mit mehreren Passwörtern gesicherte Archive von den Börsenbewegungen der letzten zwei Jahre gespeichert hatte im Keller unterstellen und in einem Monat wieder zurückfordern. Das bißchen Geld, was sein Onkel dafür bekam holte er locker mit einem Coup auf dem Internetmarkt wieder heraus, wenn er gewinnträchtige .com-Aktien kaufte und im Warentermingeschäft gegen Öl oder andere wertvolle Güter eintauschte. So hatte er schon aus tausend Dollar eine Million machen können.

Gordon tat so, als wundere er sich über die unvermittelte Freundlichkeit, die sein Onkel James ihm beim Abendessen angedeihen ließ. Kein Wort über Gordons Lebenswandel, seine nicht eingelösten Familienpflichten oder Verdächtigungen, er könne mit dubiosen Leuten Geschäfte machen. Statt dessen unterhielt er sich mit Gordon über die demnächst anstehenden Vorhaben und ließ sich beraten, an wen er sich für zusätzliche Geldmittel wenden konnte, um nicht in den Ruch der Vetternwirtschaft zu geraten. Abschließend wollte er Gordons Festplatte sehen. Gordon erwähnte natürlich, daß er die Passwortsicherung nicht freischalten wolle, weil das ja sein Betriebsgeheimnis sei. James Coal durfte nur sehen, daß auf dem externen Massenspeicher mehrere über fünfzig Megabyte große Dateien abgelegt waren. Gordon erklärte ihm dann noch, warum er die Platte immer dabei hatte und jetzt, wo er gehört hatte, daß er die schön weit weg von New York bunkern könne, lieber doch sicher verwahren wolle. Dann sprachen sie über den geschätzten Wert der Dateien und wie Gordon das Geld überweisen konnte. Gordon sicherte sich ab und fragte, ob er den Lagerraum gleich für ein Jahr anmiten müsse oder jederzeit die Platte zurückfordern könne. Um seinem Onkel nicht den Eindruck zu geben, das externe Speichergerät gleich morgen wieder aus dem Keller holen zu wollen sagte er, daß er wohl für die nächsten fünf Jahre bezahlen wolle, allerdings nicht in zu großen Beträgen. So machten die beiden einen informellen Mietvertrag, der monateweise bezahlt wurde und eine Kündigungsfrist von einer Woche für den Mieter und einen Monat für den Vermieter enthielt. Gordon Stillwell sagte dann noch, daß er die Platte gleich morgen Früh in den Keller bringen wolle. Sein Onkel meinte, er könne diese alleine hinunterbringen. Gordon bestand jedoch darauf, einen Schlüssel zu dem Lagerort zu haben und die Platte selbst dort unterbringen zu können. Bei der Gelegenheit wollte er sich einige Skulpturen ansehen, von denen seine Mutter gesprochen hatte. Da meinte James Coal, daß er mit seinem Neffen gleich hinuntersteigen wolle, es aber sonst keiner mitbekommen dürfe und sie deshalb warten mußten, bis die Dienerschaft in ihren Räumen war. .

So gingen die beiden um kurz vor Mitternacht zu jener Stahltür, die Gordon an seinen Tresor in New York denken machte. "Magnetische Schlüssel", meinte James, als er drei verschiedene Schlüssel unter seinem Seidenhemd hervorzog und damit die Schlösser entsperrte. Darauf ertönte ein rhytmisches Pingen aus einem winzigen Lautsprecher rechts neben der Tür. James Coal legte alle fünf Finger der rechten Hand auf rote Markierungen unterhalb des dritten Schlosses. Einige Sekunden War es still. Dann klackerten elektrische Verschlüsse, und mit leisem Summen schwang die Tür nach außen. Automatisch ging das Neonlicht an und beschien flackernd eine nackte Steintreppe. "Mir direkt folgen, Gordon. Die Überwachungssysteme registrieren mich mit einer Begrenzung von zwei Metern." Gordon folgte seinem Onkel. Er wußte, daß unsichtbare Barrieren in den Wänden auf unerwünschte Eindringlinge lauerten. Die Tür fiel nach zehn Sekunden von selbst zu.

Gordon hatte darauf bestanden, bis ins dritte Untergeschoß zu gehen, um dort einen der kleineren Safes zu benutzen, die mit Fingerabdruckerkennung ausgestattet waren. Durch mehrere mit Servomotoren betriebene Stahltüren ging es unter die Erde. Jede Türöffnung schaltete das Licht ein. Die Überwachungschips unter der Haut von James Coal signalisierten der Überwachung, die Beleuchtung eingeschaltet zu lassen, solange er in den Räumen herumlief. Sie wandelten durch schmale Gänge mit Schließfächern und Türen. Im Grunde hatte James Coal hier einen eigenen Banktresor mit Kundenschließfächern, erkannte Gordon. vor einer Reihe senkrecht aufeinanderstehender Stahlkästen blieb James Coal stehen und legte die Finger seiner rechten Hand auf rote Markierungen. Da klackte es, und die Tür des zweiten Faches von oben sprang auf. Gähnende, glitzernde Leere zeigte Gordon, daß nichts in diesem Fach aufbewahrt wurde. Er nahm die Festplatte aus seiner gefütterten Tragetasche und legte sie ohne Anschlußkabel in das Fach hinein. Dann ließ er seine Fingerabdrücke registrieren, indem sein Onkel mehrere Zahlenbefehle in eine Membrantastatur wie bei einem Geldautomaten eintippte. Dann drückte er die Tür zu. Gordon konnte sie leicht wieder öffnen, indem er seine Fingerkuppen auf die roten Sensormarkierungen legte. "Biometrie ist sicherer als jede Kombination. Und nur durchblutete Finger können meine Schlösser öffnen", verkündete James Coal stolz. "Was nützt ein Netzhauterkenner, wenn man das passende Auge brutal aus dem Kopf des Berechtigten herausschneiden kann? Gleiches gilt für Fingerabdruckerkenner, die man mit nachgemachten Fingerabdrücken oder abgetrennten Fingern austricksen kann. Ich habe mir die Sicherheit meiner Schätze schon was kosten lassen."

"Hast du auch Ururopa Ruben so abgesichert?" Fragte Gordon scherzhaft.

"Den klaut keiner. Andrew hat dir bestimmt erzählt, daß der hier nicht ist. Aber er ist hier."

"Das glaube ich nur, wenn ich den mal sehen kann."

"Klar. Aber der ist eingemauert. Ich habe den mit hochenergetischen Röntgentastern geortet, als ich wußte, wo sie ihn eingemauert haben. Aber ich zeige dir gerne, wo der Raum ist."

"Warum nicht, wo wir schon mal hier sind und die Geisterstunde gerade angebrochen ist", erwiderte Gordon. Er klang amüsiert. Doch innerlich war er sehr aufgeregt. Er war im Keller. Er war in der Nähe des geheimen Gelasses. Er wollte die sterblichen Überreste seines Ahnherren sehen, zumindest aber in der Nähe sein. Da war es ihm, als höre er wieder jenes Flüstern, das ihn im Traum erreicht hatte. "Komm zu mir! Hol mich hier raus!" Beinahe hätte Gordon gefragt, ob sein Onkel es auch hörte. Doch er beherrschte sich gerade so noch. Doch je näher sie dem Ort kamen, den Gordon am Nachmittag genau ermittelt hatte, desto lauter hörte er die Aufforderungen. Jetzt meinte er auch, eine tiefe, hohl aus den Wänden und Räumen klingende Männerstimme zu erkennen. In ihm flammte jenes Verlangen auf, daß ihn in der Nacht im Traum hatte umgehen lassen. Er war auf dem Weg zu Ruben Coal.

"Da ist die Mauer, hinter der der versilberte Voodoo-Lord schläft", grinste James Coal. "Besser, wir bleiben hier nicht zu lange. Es heißt, daß er aufwacht, wenn jemand länger als eine Minute vor seiner Tür steht und weiß, daß er dahinter liegt. Es soll eine uralte Prophezeiung Marie Laveaus geben, die behauptet, daß wer seine Leiche holt und aufbewahrt eines Tages seinen Geist aufweckt und dann tun muß, was der alte Totentänzer ihm befiehlt. Also faß bloß die Mauer nicht an!"

"Wieso nicht?" Fragte Gordon. "Sieht aus wie eine gewöhnliche Mauer. Wer sagt mir denn, daß dahinter echt eine Totenkammer ist?" Er trat rasch an seinem Onkel vorbei und klatschte mit der rechten Handfläche kräftig auf die kalte, lotrecht errichtete Mauer. Der Stein fühlte sich kalt an, und er konnte keinen Hall von einem Hohlraum hören. Sein Onkel erschrak heftig, als Gordon die Mauer berührte. Eine Sekunde stand er wie gelähmt da. Dann wollte er seinen Neffen zurückreißen. "Du bist da!" Rief unvermittelt eine Stimme durch die Mauer, als wäre sie überhaupt nicht vorhanden. Gleichzeitig zuckte James Coal zusammen wie von einem Stromschlag getroffen. Der Hausbesitzer klappte zusammen wie ein Taschenmesser. Jetzt erst bemerkte Gordon, daß sein rechter Zeigefinger die Mauer noch berührte. Schnell zog er die Hand zurück und starrte auf seinen Onkel, der am Boden lag und unregelmäßig atmete. "Laß ihn und komm endlich zu mir!" Drang diese Stimme in Gordons Verstand ein. Ja, er hörte sie nicht mit den Ohren, sondern empfing sie direkt unter der Schädeldecke. Mit der Aufforderung überkam ihn ein unwiderstehliches Verlangen, sich gegen die Mauer zu werfen. Er zögerte keine Sekunde und sprang die Wand an. Doch was war das? Es flimmerte um ihn herum, als er kurz davor war, gegen die Mauer zu prallen. Dann stürzte er nach vorne, durch eine mindestens einen Meter dicke Barriere aus grauem Nebel. Er fiel auf Hände und Knie und stieß sich nach Vorne ab. Dann stand er mitten in der Dunkelheit. Er wollte zurück. Doch eine unnachgiebige Steinwand hinderte ihn.

"Komm richtig zu mir!" Erklang die Stimme, die ihn schon in der letzten Nacht zu sich gerufen hatte. Gordon richtete sich auf und blickte in die Finsternis. Ein leises, metallisches Klimpern erklang. Er zog seinen Bleistift mit eingebauter Lampe und knipste diese an. Der dünne, weiße Lichtstrahl wurde erst von einer dunkelgrauen Wand teilweise zurückgeworfen. Doch dann sah Gordon im Widerschein der winzigen Lampe, daß vor ihm ein hoher Holzstuhl stand. Und auf diesem Stuhl saß, den dünnen Strahl der Lampe beinahe blendendhell reflektierend, ein silbernes, vollständiges Skelett. Gordon erstarrte, als er das glitzernde Gerippe mit seiner Lampe beleuchtete. Die Knochen waren durch keine Bänder oder sonstige Halterungen aneinandergefügt. Dennoch blieb die knöcherne Gestalt vollständig und aufrecht auf dem Stuhl. Der silberne Schädel war Gordon zugewandt. Er sah in die dunklen Augenhöhlen, aus denen heraus ein schwaches, blaues Licht glomm. Gordon dachte zuerst an eine Streuung des Lichtes und knipste für einen Moment die Lampe aus. Doch das blaue Glimmen blieb. Zwei dunkelblaue Schimmer schwebten in der Höhe, wo der Schädel auf den oberen Halswirbeln saß. Schnell knipste Gordon seine Lampe wieder an. Da klappte der zahnlose Unterkiefer des Schädels mit leisem, metallischem Knirschen nach unten. Der skelettierte rechte Arm hob sich mit leichtem Knirschen. Das konnte nicht wahr sein, dachte Gordon. Doch er sah es. Er kniff sich in den linken Arm und fühlte den Schmerz. Er träumte nicht.

"Komm zu mir, mein unwürdiger Nachfahre und gib mir die Rechtfertigung für dein jämmerliches Leben!" Klang aus dem Schädel die Stimme eines alten, aber willensstarken Mannes. Gordon fühlte, wie dieser Befehl ihn nach vorne trieb. Die blauen Lichter in den Augenhöhlen des silbernen Schädels wurden stärker, fingen den Blick seiner Augen ein und hielten ihn fest. Gordon trat noch einen Schritt nach Vorne. Gleich würde er mit dem silbernen Skelett zusammenstoßen, dessen rechte Fingerknochen sich ihm entgegenstreckten.

"Du wolltest deine Pflicht nicht erfüllen, hast meinen Zauber mißbraucht, um deinen eigenen Reichtum zu mehren und kannst sogar zusehen, wie deine Mutter stirbt, weil du meinen Segen verleugnest, den ich damals über Bradfords Weib sprach, um jedes in ihr werdende Kind zu stärken, daß es und seine Nachfahren gegen die Sklavenhalter kämpfen können. Aber dafür wirst du mir jetzt helfen, mich aus der Verbannung zu befreien, die Marie Laveau mir auferlegt hat. Nur ein kinderlos gebliebener Nachfahre kann dies tun, nachdem mich die alte halbweiße Kröte in meinem Körper gebannt hat und wollte, daß ich erst in das Reich der Geister eintrete, wenn dieser restlos zu Staub wurde. Aber das wurde er nicht. Gib mir nun deine Hand und laß uns Leben und Tod vereinen!" Gordon konnte sich nicht dagegen wehren, daß seine rechte Hand roboterhaft auf die ihm entgegengehaltene Hand des Skeletts zusteuerte und sich hineinlegte. Gordon fühlte eine sengende Hitze, als seine Finger die versilberten Knochen trafen. Ein Schmerz jagte ihm durch den Arm und explodierte wie ein Feuerball in seinem Körper. Er schrie auf. Dann fühlte er, wie etwas aus ihm herausgezogen wurde, hörte über die Wellen des Schmerzes hinweg ein Klappern und Knacken, als würden Holzstücke gegeneinandergeschlagen. Er fühlte, wie er nach unten gezogen wurde. Doch da wurde er herumgerissen. Er konnte sich nicht bewegen. Er meinte, sein Kopf würde von allen Seiten zusammengedrückt und etwas verbiege seinen Rücken. Dann fühlte er einen wuchtigen Stoß von hinten. Wieder durchpulste ihn eine Welle des Schmerzes. Er fühlte einen ungeheuren Druck in Kopf, Brust, Bauch und allen Gliedern, als wolle etwas ihn von innen zum Platzen bringen. Dann ebbte der Schmerz ab. Statt dessen hörte er in sich die Stimme des Alten, dessen versilberte Knochen er gefunden hatte.

"Wir sind nun eins. Dein Fleisch und Blut bekleidet meine in gedigenem Silber erhaltene Knochen, mißratener Nachfahre. Du und ich sind nun eins, um mein Erbe anzutreten. Wenn du schon mein Fleisch und Blut nicht mehren wolltest, so wird dein Fleisch und Blut mir helfen, die Erben der halbweißen Hure zu vernichten und die Nachkommen der weißen Schinder in meinen Dienst zu zwingen." Gordon wollte gerade was entgegnen. Doch da überkam ihn eine Flut von Bildern und Geräuschen. Er sah sich vor einem Feuer Tanzen. Hörte sich singen, wobei er um tote Männer tanzte, die er mit seinem Messer erstochen hatte, wie die Toten wieder aufstanden und ihre lebenden Kameraden überfielen, bissen und kratzten, ihr Blut tranken und damit zu Ihresgleichen machten, wodurch die Macht ihres Schöpfers immer größer wurde. Er bekam mit, wie er mehreren Weißen die Herzen aus dem Brustkorb schnitt, die durch die Magie seines Gesangs weiterschlugen, bis die Körper aufstanden und sich ihm und seinem Ahnen opferten. Er erfuhr, wie er danach versucht hatte, ein kleines Städtchen zu erstürmen und dabei seine Truppe aus Toten in einem plötzlich entfachten Feuersturm verlor. Später erfuhr er, daß ein Magier der Weißen ein verheerendes Feuer beschworen hatte, um die wandelnden Leichen zu vernichten. Doch alle Suche nach diesem Widersacher war vergebens geblieben. Er hatte daraufhin versucht, die wahrhaft gläubigen und empfänglichen auf seine Seite zu ziehen und war mit dieser Mischlingsfrau Marie Laveau aneinandergeraten, die zu diesem Zeitpunkt schon mehrfache Mutter war und die Kraft ihrer erweiterten Blutlinie beschwor, um seine Magie des Totengottes zu bannen. Sie hatte Legba, den Hüter der Tore beschworen, ihn nicht leben und nicht sterben zu lassen, bis jeder Knochen in ihm zu Staub geworden sei. Sein eigener Todeszauber war von ihr auf ihn zurückgeprallt und hatte ihm das Fleisch von den Knochen gebrannt. Hilflos lag er da, in seine Knochen zerfallen, wurde von Maries Handlangern in einem Faß begraben, wo er verrotten sollte. Im Dunkeln war die Zeit für ihn zu einem Nichts geworden. Als er wieder sehen und hören konnte wußte er, daß sein Sohn ihn gefunden hatte. Doch weil dieser bereits einen Sohn hatte und Maries Fluch ihn bannte, konnte er nichts weiter tun, als außerhalb von New Orleans in den Träumen des Sohnes fordern, seine Knochen unverwitterbar einzuschließen. Er war in diesem kleinen Gelaß auf einen Stuhl gesetzt worden, die Knochen durch dünne Bänder gehalten. Doch diese waren verwittert, und so verbrachte er die Dunkelheit auf dem Boden, unfähig, sich zu bewegen. Seine Hoffnung war, daß einer kommen würde, der nicht daran dachte, die Ahnenlinie zu verlängern. Wie lange hatte das gedauert? Doch endlich war der Nachfahre da, der lieber mit Hab und Gut und der Lust anderer Leute herumspielte als die erhabene Blutlinie zu verlängern. Dieser Mann hatte ihm die Kraft gegeben, sich wieder aufzurichten. Und jetzt waren sie beide eins.

"Wir sind gefangen", dachte Gordon. "Dein Zauber funktioniert wohl nicht mehr."

"Das wirst du sehen", erhielt Gordon eine Antwort. Dann dachte er wie von selbst daran, sich umzudrehen, die zu Boden gefallene Bleistiftleuchte aufzuheben und den Stuhl anzuleuchten. Davor lag ein bleiches, in einzelnen Knochen auseinandergefallenes Skelett. "Solange deine Knochen in diesem Raum sind kann mich selbst der gewaltsame Tod nicht aufhalten", hörte Gordon die Stimme, die seiner immer ähnlicher wurde. Er erkannte, daß er mächtig war. Er erkannte, daß er gesündigt hatte. Doch er fühlte sich erhaben, ihm, dem großen Vorfahren, einen so wichtigen Dienst erwiesen zu haben. Die Macht des Sohnes Samedis war in ihm. Sie war seine Macht. Damit würde er die Welt der Weißen aus den angeln heben und die Sklaventreiber selbst zu niederen Tieren machen, die lebenden und die Toten. Was war da eine Mauer, die ein Vorfahre errichtet hatte? Er berührte die dicke Wand, die unter seinen Fingern weicher und weicher Wurde und schritt einfach durch sie hindurch. Nun, wo seine Magie wieder einen lebenden, durchbluteten Leib erfüllte, konnte er das Element der Erde unterwerfen und jedes davon gebildete Hindernis überwinden. So trat Gordon Stillwells fleischlicher Körper aus der Mauer aus. Am Boden lag James Coal in einer tiefen Ohnmacht.

"Er hätte mich nicht aufhalten dürfen", dachte Gordon und wunderte sich keinesfalls, seine Gedanken wie von zwei Gehirnen zu empfinden. Die Verschmelzung mit den Überresten und dem Geist seines Vorfahren war beinahe vollendet. Eine kurze Berührung am Kopf des Ohnmächtigen ließ diesen wieder aufwachen.

"Na Gott sei Dank!" Sagte James. "Ich dachte schon, es zieht dich durch die Wand in die Hölle. Hast du jetzt genug an die Mauer geklopft?"

"Ja, habe ich, Onkel James", erwiderte das, was von Aussehen und Stimme her Gordon Stillwell war.

"Okay, dann machen wir besser, daß wir hier wieder rauskommen", sagte James Coal.

Sie gingen zusammen durch die Gänge zurück zur Treppe und verließen den gesicherten Keller. Gordons und Rubens Geist waren nun fest miteinander verbunden, weil die Knochen des Totentänzers immer besser mit ihrer lebenden Umhüllung zusammenfanden. Gordon begleitete seinen Onkel bis vor das Schlafzimmer des Hausherren, wo er sich von diesem verabschiedete. Gordon sah noch, wie sich die Tür schloß. Er ging leise durch das Haus und suchte das Zimmer auf, in dem seine Mutter lag.

Selma Stillwell lag an die ganzen Geräte angeschlossen, mit denen ihr Neffe Andrew sie verbunden hatte. Keine der von Andrew angestellten Krankenschwestern war im Raum. Das lag wohl daran, daß die Anlagen eine Fernmeldevorrichtung besaßen, die bei akuten Abweichungen Alarm gab. Gordon schloß die Tür von innen und nahm Aufstellung vor dem Krankenbett. Um gänzlich frei und unbehindert zu sein mußte er seine Mutter töten, damit die Verbundenheit zwischen ihr und seinem Körper, die trotz der Entbindung über ihrer beider Blutfluß bestehen blieb, nicht gegen ihn benutzt werden konnte. Es war einfach, die lebenserhaltenden Apparate einfach auszuschalten. Gleich würde Andrew alarmiert herbeistürmen und sehen, was mit seiner Tante passierte. Gordon krabbelte gewandt unter das Bett und wartete. Ja, da kam Andrew auch schon, weil die Lebensüberwachung Unregelmäßigkeiten meldete. Bevor Andrew jedoch erfaßte, was passiert war zog ihm jemand die Beine weg. Er stürzte hin. Gordon fuhr nun ganz unter dem Bett hervor und legte dem Vetter die Hände auf die Stirn. Schlagartig erstarrte Andrew und blieb liegen. Dann begann Gordon vor ihm zu tanzen und einen bedrohlichen Singsang von sich zu geben. Ton für Ton, Bewegung um Bewegung sog er Andrew damit immer mehr Lebenskraft aus dem Leib. Die unheimlichen Kräfte wahrer Magier aus den Savannen Afrikas wirkte durch Tanz und Gesang. Andrew konnte sich nicht mehr bewegen. Seine Glieder erlahmten. Seine Gedanken wurden immer träger. Er dämmerte unter den magischen Lauten dahin. Das letzte, was er noch fühlte, war die zunehmende Kälte, die seinen Körper nach und nach erfüllte. Dann versank er in unendlicher Schwärze und Bewußtlosigkeit. Gordon betrachtete den Vetter, der immer schwächer wurde. Er fühlte, wie etwas aus diesem herausströmte und sog es wie frische Luft in sich ein. Er fühlte, wie Andrew sich noch einmal wehrte, bevor die Essenz seines Lebens, sein Geist, seine Seele, gewaltsam aus dem Körper gezogen wurde und wie von einem Strudel angezogen in Gordons Körper einfloß, wo sie zerfloß. Mit einem weiteren Atemzug blies er das, was er Andrew entzogen hatte in leere Luft aus. Dann wurde er still. Die alte Kraft war noch nicht versiegt. Und mit Andrews Leben hatte er noch mehr Macht gewonnen. Da hörte er den langen Ton. Das EKG-Gerät zeigte an, daß das Herz seiner Mutter gerade aufgehört hatte, zu schlagen. Gordon empfand weder Trauer noch Schuld. Er mußte noch mehr Leute töten, wenn er frei und unbehelligt seinen Weg gehen wollte.

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Alwin Shorewood erschien am Morgen des dreißigsten Juli im Hauptquartier der My-Truppe. Damit löste er einen Meldezauber aus. Dieser rief Kollegen des seit Tagen vermißten herbei. Weil sie zunächst davon ausgehen mußten, daß Shorewood unter dem Imperius-Fluch stehen konnte, betäubten sie ihn ohne Vorwarnung und trugen ihn in einen Verhörraum. Eine der Wände war so bezaubert, daß sie in eine Richtung durchsichtig war. Auch wurde der an ihr auftreffende Schall in den hinter ihr liegenden Raum verpflanzt, ohne sich abzuschwächen. So konnten Minister Wishbone und der Leiter der My-Truppe Spikes verfolgen, wie Shorewood auf einem Kettenstuhl aus der Betäubung aufgeweckt wurde.

"Ihr seid echt tolle Kollegen", grummelte Shorewood. "Sitzt Wishbone oder Spikes hinter der Wand?"

"Sie haben uns Fragen zu beantworten", sagte Thornhill, der damals in Wishbones Gestalt die Vernichtung der Entomanthropenkönigin mitbekommen hatte. "Warum kommen Sie jetzt erst zurück und was ist mit Ihnen passiert?"

"Was passiert ist möchte der Minister bestimmt nicht in der ganzen Abteilung rumgehen lassen", erwiderte Shorewood verdrossen. "War auf jeden fall nicht das, was er gerne hätte."

"So, und was sollte das sein, Alwin?" Fragte Thornhill unbeeindruckt. "haben Sie Kontakt zu den schweigsamen Schwestern bekommen oder nicht?"

"nein, habe ich nicht. Jemand fand mich vorher und nahm mich gefangen, um mir was ganz pikantes vorzuführen", erwiderte Shorewod. Thornhill bestand darauf, daß Shorewood antwortete. Der lachte nur und sagte dann: "Gut, steht ja in der Zeitung. Madam Summerhill, deren Haare ihr mir gegeben habt, um mich als sie Kontakt mit der NF aufnehmen zu lassen, hat einen Zauber gewirkt, der sie zu dem führt, der ihre Körperform annimmt. Abgesehen davon, daß das schon fies ist, als Mädel rumzulaufen war das wohl auch ziemlich kurzsichtig, nicht zu fragen, ob die gute Dame damit einverstanden war, ihre Erscheinungsform zu benutzen." Danach berichtete er, was Tracy Summerhill ihm offenbart hatte und das er den Minister schön grüßen sollte, und daß ihr Bett noch für ihn gemacht sei, wenn er es leid sei, Minister zu sein. Thornhill glaubte ihm nicht und flößte ihm Veritaserum ein. Nachdem er Shorewood durch intime Fragen auf die Wirkung des Trankes getestet hatte, ließ er sich die Geschichte noch einmal erzählen. Shorewood erwähnte, daß Tracy Summerhill ihre Liebeswonnen in sein Gedächtnis übertragen hatte. Thornhill legilimentierte den Kollegen und erkannte, daß er tatsächlich die Wonnen Tracy Summerhills in seinen Erinnerungen trug. Er fand keinen Hinweis auf einen Gedächtniszauber außer dem, der nach Abklingen des Vielsaft-Tranks ebenso verklungen war. Wishbone, der hinter der Bild- und Schallverpflanzungswand saß, schäumte vor wut. Seine Tante hatte ihn ausgetrickst und einen seiner Mitarbeiter total intime Sachen ins Gehirn gepflanzt. Jetzt mochte dieser Bursche wissen, daß dieses Weib ihn rumgekriegt hatte und ihn als ihren Liebhaber gehalten hatte, fünf Jahre lang, eintausendachthundertfünfundzwanzig Nächte, von denen über die Hälfte in körperlicher Liebe verbracht wurden. Anstatt eine Nachtfraktionärin zu kontaktieren trug er nun die Leidenschaften Tracy Summerhills mit sich herum. Kein Wunder, daß ihn das sehr verstörte. Dann sagte Shorewood noch:

"Ich soll dem Minister auch sagen, daß die zeit abgelaufen sei. Wenn er nicht innerhalb von zwei Tagen sein Amt niederlege würde sie ihn finden und mitnehmen, wohin ihr keiner folgen könne. Er gehöre ihr, und sie werde ihn nicht länger so weitermachen lassen, bis ihn die Schweigsamen oder sonst wer umbringe.

"Schreiben Sie meine Tante zur Fahndung aus. Die ist doch wahnsinnig, zu behaupten, ich wäre ihr Liebhaber und hat Shorewood Scheinerinnerungen ins Gedächtnis gepflanzt!" Schnarrte der Minister.

"Mit welcher Begründung, Sir?" Fragte Spikes.

"Das sie im Auftrag der Nachtfraktion auf mich angesetzt war, mich zu manipulieren und bei Wertlosigkeit zu töten. Wenn sie sich wehrt gilt die Sondererlaubnis, wie sie gegen die Erbin Sardonias verfügt wurde."

"Sie meinen, wir sollen ... Ihre Tante ... töten?" Fragte Spikes beklommen.

"Nur, wenn sie sich der Festnahme widersetzt und zu disapparieren versucht", erwiderte der Minister. "Falls möglich, überwältigen sie sie und verbringen sie in eine Zelle von Doomcastle, jedoch im Verbund von Körper und Seele. Ich will von ihr wissen, wer sie auf mich angesetzt hat."

"Wie Sie wünschen, Herr Minister", erwiderte Spikes, während Shorewood von Thornhill wieder betäubt wurde.

"Kann Ihre Tante sie mit einem Blutrufzauber Sanguivocatus aufspüren?" Fragte Spikes den Minister. Dieser erbleichte. Doch dann sagte er:

"Im Moment wohl nicht, weil sie mich sonst schon längst damit zu finden getrachtet hätte. Aber sie könnte ihn erlernen und dann gegen mich einsetzen, wie dieser Julius Andrews ihn damals mit der seligen Jane Porter zusammen verwendet hat und wodurch Didiers Straflager in Frankreich aufgespürt werden konnten. Wer wach ist oder in einem traumtoleranten Schlaf ruht kann damit aufgespürt werden."

"Es kommt darauf an, wie weit Sie weg sind, Sir. Wenn Sie nach Australien reisen würden ..."

"Wo mich die werte Kollegin Rockridge so tadelnd angeguckt hat, als ich mit den anderen zusammen in Potsdam war?" Fragte der Minister. "Die alle haben mich so angesehen, als gehörte ich auch auf die Anklagestühle ihrer Gerichte. Abgesehen davon dürfte es sich mittlerweile bei den Kobolden herumgesprochen haben, daß ich versucht habe, Papiergeld ohne deren Überwachung in Umlauf zu bringen. Ich denke, das beste, was mir von denen blühen kann ist, daß ich in Gringotts kein Verlies mehr habe, sobald ich die USA verlasse. Ich habe es nur deshalb noch, weil das Abkommen mit denen sie zwingt, jedem, der einen Schlüssel für ein Verlies hat, solange seine Wertsachen dort aufzubewahren, bis er ohne Erben stirbt oder auswandert."

"Was wollen Sie dann machen, Sir?"

"Das was ich schon immer wollte, die Erbin Sardonias zum Abschuß freigeben", sagte der Minister. "Und weil ich davon ausgehe, daß sie meine Tante gegen mich einsetzt, muß ich davon ausgehen, daß sie ihr den Aufspürzauber Sanguivocatus beibringen kann. Es gilt also, ihr zuvorzukommen."

"Und wie genau?" Fragte Spikes.

"Muß ich noch ausarbeiten. Vielleicht läßt sie sich in eine Falle locken. Was ist mit den Haarproben, die Shorewood vor seinem Verschwinden hergeschickt hat?"

"Stammen von sieben verschiedenen Frauen. Ob das alles Hexen sind können wir nicht ermitteln", erwähnte Spikes.

"Ist egal", erwiderte der Minister. "Schenken Sie an sieben Leute Vielsaft-Trank für eine Stunde aus, in dem für jeden eine ausreichende Menge einer Probe steckt. Wenn dabei Hexen waren, werden wir so erfahren, wer sich da alles herumgetrieben hat. Dann haben wir zumindest in der Richtung einen Teilerfolg zu verbuchen", erwiderte der Minister.

"Und was machen wir mit dem Ultimatum? Nehmen wir es ernst?"

"Ich fürchte, das müssen wir, Spikes", erwiderte der Minister. Dann lächelte der derzeitige Leiter des Zaubereiministeriums. Spikes wollte wissen wieso.

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Die Kraft, mit der Gordon Stillwell im Verbund mit Ruben Coals Geist Andrew getötet hatte, konnte auch dazu benutzt werden, die nun seelenlose Hülle mit dunkler Magie wiederzubeleben. Das tat Gordon auch. Seine Mutter war nicht durch seine Magie gestorben und sollte auch tot bleiben. Andrew erhob sich nach mehreren Beschwörungen und wankte mit ausdruckslosem Blick zur Tür. Da flog diese auf, und James Coal stand im Türrahmen.

"Wer singt hier unheilige Lieder?" Stieß er aus, bevor er seinen Sohn sah, der auf ihn zugetorkelt kam. James Coal erbleichte. Gordon stand reglos neben dem Bett mit seiner toten Mutter.

"Andrew, du bist ..." James Coal erkannte einen Moment zu spät, was mit seinem Sohn passiert war. Da krallte sich der wandelnde Tote bereits an ihm fest und schlug ihm die noch unverwesten Zähne in den Hals. Gierig sog der Untote seinem früheren Vater das Blut aus, um sich mit weiterer Lebenskraft anzureichern und dabei seinem Erzeuger den Keim des seelenlosen Daseins einzupflanzen. Fast ausgeblutet fiel James Coal zu boden, keuchte und wand sich. Die Saat des Zombies pulsierte bereits in seinen Adern, würde ihn erst töten und dann entseelt wiedererstehen lassen. Gordon verfolgte die schwarzmagische Metamorphose mit gespannter Aufmerksamkeit. Wie schnell würde sein todgeweihter Onkel sich wieder erheben? Er wartete, bis James Coals letzter Lebensfunken erloschen war. Ab da lief die Zeit. Es dauerte mehr als drei Stunden, bis James Coal sich erhob und taumelnd den Raum durchquerte, um vor seinem Meister zu stehen. Gordon Stillwell alias Ruben Coal erkannte, daß es schon praktischer war, die von ihm getöteten mindestens einen Tag lang unberührt zu lassen, um die Saat der Untoten besser in anderen aufgehen zu lassen. Er brauchte jetzt nur zu denken, was er den beiden befehlen wollte. "Geht in das Haus der Diener und macht sie zu Euresgleichen!" Morgen würde er seinen neuen Hofstaat mit sich nehmen und dieses Haus dem Erdboden gleichmachen. Wohin wollte er zuerst, nach New Orleans? Besser war es, wenn er zunächst einige Wochen verschwunden blieb und heimlich seine Armee vergrößerte. Dann, wenn er mindestens hundert untote Diener hatte, wollte er an die alte Wirkungsstätte Marie Laveaus zurückkehren und deren Erben jagen.

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Eileithyia Greensporn sah die knapp achtzig Jahre jüngere Heilerin Sigourney Springlight an, die in der Mutter-Kind-Abteilung der Honestus-Powell-Klinik arbeitete, aber auch eine Zeit lang in der psychomorphologischen Abteilung tätig gewesen war. Sie gehörte genauso wie die renommierte Geburtshelferhexe zur gemäßigten Mehrheit der schweigsamen Schwestern.

"Ich verstehe, was unser Problem ist, Schwester Eileithyia", sagte die noch junge Heilerin mit dem kastanienbraunen Kurzhaarschnitt und den veilchenblauen Augen. "Wenn die Kollegin Barnickle morgen bei Lindas letzten drei Lebensjahren ankommt bekommt die mehr mit, als es gut für uns ist. Aber die Therapie darf nicht unterbrochen werden, wenn wir Linda heilen wollen."

Eileithyia holte aus ihrem Schreibtisch eine kleine Phiole, in der mehrere rostrote Locken zu erkennen waren. "Deshalb wirst du morgen, wo du deinen Kurzurlaub antrittst um deine Verwandten in Nebrasca zu besuchen, tatsächlich einige hier von in eine große Flasche VST füllen um immer genug davon zu trinken, um die Therapie mit Linda so weiterzuführen wie geplant. Wenn sie an die Punkte kommt, die mit uns zu tun haben erwähnst du einfach, daß du gerade deshalb ihre behandelnde Heilerin seist, weil du eine Mitschwester aus Australien bist", erwiderte die hundertsechzehnjährige Hebammenhexe. "Du kennst die australische Gesamtsprecherin?" Fragte sie dann noch. Sigourney nickte. Dann wandte sie ein, daß es gegen die Heilerrichtlinien verstoße, eine Kollegin vorübergehend außer Gefecht zu setzen und noch dazu mit Vielsaft-Trank ihren Körper zu kopieren. Eileithyia nickte und sagte dann:

"Wenn wir wollen, daß Linda geheilt zu uns zurückkehrt und wir auch wollen, daß keiner erfährt, daß sie eine von uns geworden ist und wer außer ihr noch dazugehört, müssen wir, wie leider zu oft nötig, die bestehenden Regeln vorübergehend vergessen. Du mußt sie ja nicht töten. Zauberschlaf und eine Gedächtnisbehandlung, die sie denken macht, Linda erfolgreich zu Ende therapiert zu haben sind die einzigen wenn auch starken Eingriffe in ihre Unversehrtheit. Lady Roberta hat jedoch angeführt, daß unser aller Ziel das rechtfertigt, einen Menschen vorübergehend aktionsunfähig zu machen, sofern er danach unbeschwert weiterleben kann."

"Wo soll ich Ireen aufbewahren, während sie schläft?" Fragte Sigourney Springlight.

"Da du ihr Zimmer hier in der HPK benutzen mußt bringst du sie am besten zu meiner Enkelin Leda nach Hause und holst sie dort wieder ab. Ich mache dir zwei Portschlüssel dafür."

"Portschlüssel? Werden die nicht gemeldet?"

"Abteilungsleiter haben eine Sondergenehmigung, Portschlüssel zu erzeugen, Sigourney. Es ist dabei unerheblich, von welchem Punkt der Klinik aus du ihn benutzt. Ich melde ihn bei der Registrierung an, weil ich meine Enkelin während der Nachgeburtlichen Erholungsphase vielleicht noch einmal herholen muß."

"Leda gehört zu Donatas Schwestern. Die wird mich fragen, was ich bei ihr will und warum ich Ireen dort ablege."

"Ich mentiloquiere ihr, daß Lindas Genesung und unsere Geheimhaltung miteinander vereint werden müssen. Sie wird dann keine weiteren Fragen stellen."

"Wie geht es ihrer kleinen Tochter?"

"Wunderbar. Leda sagt, sie habe einen kräftigen Zug am Leib und würde ihr alle durch die Schwangerschaft angegessenen Speckreserven heraussaugen. Sie müsse aufpassen, immer genug zu trinken, um nicht auszutrocknen und könne sich vorstellen, nach der Laktationsphase zehn Kilogramm leichter zu sein als vor der Schwangerschaft. Offenbar meint die Kleine, schneller groß werden zu können, wenn sie bald das dreifache trinkt, was eine Neugeborene sonst an Milch aufnimmt." Eileithyia grinste beinahe wie ein kleines Mädchen. Sigourney nickte nur und fragte, ob sie dann besser noch Nutrilactus-Trank mitnehmen sollte.

"Leda kommt durch den FMT noch zurecht", erwiderte Eileithyia.

Als Sigourney Springlight den zum Dauerklangkerker bezauberten Besprechungsraum von Großheilerin Greensporn verließ hatte sie ihre Gewissensbisse abgeschüttelt. Wenn die australische Kollegin, mit der sie nur einige Male zusammengetroffen war, Lindas Zugehörigkeit zu den Schweigsamen ergründete, wären sie alle hier ein Fall für Wishbones geheime Kampftruppe, die im Moment jede Hexe als potentielle Sardonianerin betrachtete. Sie trug ein knallrotes Taschentuch in ihrer Umhangtasche. Es war ein auf eine bestimmte Uhrzeit abgestimmter Portschlüssel, der genau um halb zwölf diese Nacht in Aktion treten würde. Bis dahin mußte sie Kontakt mit Ireen aufnehmen, sich mit ihr an einem Ort treffen, den niemand sonst um diese Zeit aufsuchte und sie mit einem Schlafzauber überrumpeln, der schon bei den ersten zwei Sekunden jede geistige Gegenwehr unterdrücken konnte.

Als Sigourney tatsächlich mit Ireen Barnickle um kurz vor zehn im Trakt der hier wohnenden Heilerinnen zusammentraf schaffte sie es, die australische Kollegin in ein Gespräch über die Auswirkungen von vorgeburtlichen Erlebnissen auf die spätere Lebensführung zu verwickeln. Da Unterhaltungen auf den Fluren gegen die Hausordnung verstießen nahm Sigourney Ireens Einladung an, sie in das ihr zur Verfügung gestellte Zimmer zu begleiten. Dort sprachen sie noch einige Minuten lang über pränatale Traumata oder perinatale Prädestinationen. Dabei wurde auch erwähnt, daß Leute, die fast in ihrem Fruchtwasser ertrunken waren, weil sie übertragen waren eine unbändige Angst vor Wasser oder engen Räumen entwickeln konnten. Als Ireen Andeutungen machte, langsam zu Bett gehen zu wollen, grüßte Sigourney zum Abschied. Dabei zog sie jedoch ihren Zauberstab und setzte den Schlafzauber an. Ireen, von dieser Attacke einer Kollegin komplett überrascht, kam nicht mehr dazu, ihren eigenen Zauberstab zu nehmen, um den auf sie einströmenden Zauber abzuschütteln. Tatsächlich dauerte es keine zwei Sekunden, bis sie taumelte und dann zu Boden sank. Sigourney vollendete den Schlafzauber und legte fest, daß Ireen wieder aufwachen sollte, wenn ihr gesagt wurde, daß Linda geheilt und entlassen sei. Dann würde Sigourney ihr noch einen Gedächtniszauber auferlegen, der sie denken machte, die Therapie mit Linda Knowles vollendet zu haben.

Sigourney achtete kurz vor dem Zeitpunkt des Portschlüsselzaubers darauf, daß Ireen mit zwei Fingern Kontakt zum Taschentuch hatte. Dann erfolgte der magische Ortswechsel durch einen Strudel aus Farben und Geräuschen direkt in ein gemütliches Gästezimmer. Dort saß eine Hexe mit entblößtem Oberkörper auf einem gepolsterten Lehnstuhl und hielt ein gerade wenige Wochen altes Baby in den Armen, daß gierig an der linken Brust sog.

"Oh, ich wußte nicht, daß du hier bist, Schwester", sagte Sigourney. "Aber ich bin froh, dich nicht wecken zu müssen."

"Die Kleine ist unersättlich. Aber das freut mich", sagte Leda Greensporn mit einem warmen Lächeln. "Meine Großmutter hat mir mitgeteilt, warum du mit unserer Kollegin herkommen mußtest. Du kannst sie in das Bett legen. Ich habe es für sie bezogen."

"Ein richtiger Wonneproppen ist die Kleine. Nicht daß die in einem Monat schon zwanzig Kilo wiegt."

"Dafür, daß sie am Anfang sehr verhalten getrunken hat ist sie jetzt wohl auf den Geschmack gekommen", erwiderte Leda. Die kleine Lysithea hielt inne und verdrehte den Kopf. Ein paar Tropfen Milch klebten ihr an den Lippen. Ihre Wangen waren durch das Saugen stark ausgeprägt.

"Ja, ich weiß, gucken zu viele zu", säuselte Leda. "Keinen Hunger mehr?" Sie klopfte vorsichtig auf dem Rücken ihres Kindes herum, bis es einmal und dann noch einmal aufstieß. "So, jetzt darfst du schlafen, Lyssy", sang Leda mit erhöhter Stimme und trug die Kleine aus dem Zimmer. Sigourney sah dabei das rosarote Stoffband am linken Arm des Säuglings. Sigourney wußte nicht wozu das dienen sollte. Denn Leda war ja sechs Stunden nach der Geburt gleich wieder in ihr Haus zurückgekehrt, um sich dort besser zu erholen als auf der Mutter-Kind-Station der HPK. Doch das ging sie nichts an, weil Eileithyia Ledas Hebamme war und womöglich auch sicherstellen wollte, daß Leda und dem Kind keine Nachstellungen passierten. So kümmerte sie sich um die ihr auferlegte Angelegenheit. Sie legte die im tiefen Zauberschlaf liegende Ireen in das Gästebett, deckte sie zu und verließ das Zimmer. Sie verabschiedete sich noch von leda Greensporn, die ihr Kind in einer Wiege untergebracht hatte und diese sanft schaukelte, bis die kleine Lysithea die Augen schloß und schlief.

Um Mitternacht wirkte der Portschlüssel noch einmal, um Sigourney in die HPK zurückzutragen. Er setzte sie in ihrem eigenen Zimmer ab. Selbst Portschlüsselspürer konnten nur in einem Bereich von fünfzig Metern genau ermitteln, wo ein eintreffender Portschlüssel auftauchte. Keiner würde also mitbekommen, daß Eileithyias Portschlüssel nicht auf ihr Sprechzimmer abgestimmt war.

Der Plan der beiden heilkundigen Hexenschwestern wurde in den nächsten Tagen ausgeführt. Sigourney verließ am frühen Morgen ihr Zimmer, disapparierte vor der Klinik und reicherte eine große Flasche Vielsaft-Trank, die zwanzig Dosen fassen konnte, mit genug Haar von Ireen Barnickle an, um eine beinahe kristallklare, bläuliche Lösung hinzubekommen, die ähnlich wie Zitronensäure schmeckte. Sigourney mußte sich erst daran gewöhnen, einige Zentimeter länger und dafür mindestens zehn Kilo leichter als vorher zu sein. In weiser Voraussicht hatte sie Ireens Unterkleidung und Umhang mitgenommen. Die einzige Schwierigkeit bestand darin, unbemerkt in die Klinik zurückzukehren, weil die Innenräume appariersicher waren. Doch dafür hatte Eileithyia schon gesorgt, indem sie die im Foyer postierte Hexe zu sich rief und zu angeblichen Problemen mit den Patientenakten befragen wollte. So konnte Sigourney in den vierzig Sekunden, die der Aufnahmeschalter unbesetzt blieb, vor der Klinik apparieren, durch das Foyer laufen und sich in den Trakt der Heilerinnen begeben, wo sie wie die anderen hier wohnhaften erst zum Speisesaal ging, um zu frühstücken. Danach suchte sie Linda Knowles auf und befragte sie, was sie von der Sitzung gestern noch in Erinnerung hatte. Damit wußte Sigourney, wo sie mit der Therapie weitermachen sollte. Lindas Zugehörigkeit zu den schweigsamen Schwestern konnte also geheimgehalten werden.

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Thornhill wunderte sich ein wenig, als er am Morgen des ersten Augustes mit dem Zaubereiminister zusammentraf, der leicht verstört wirkte. Sein Chef befahl ihm, ihn zu einem Geheimtreffen mit dem Leiter des Koboldverbindungsbüros zu begleiten, da die Kobolde trotz der Rücknahme der Papiergeldausgabe noch verärgert waren und nach Entschädigung schrien.

"Warum holen Sie den nicht zu sich in das fliegende Versteck?" Fragte Thornhill.

"Weil er einen Kobold mitbringen will, der mit uns unterhandelt. Und ich will keinen Kobold hier im Versteck haben, weil die merken, ob sie auf festem Boden stehen oder in der Luft sind und darüber hinaus ein zugvogelgleiches Orientierungsvermögen besitzen. Die werden dann zwar nicht an mich herankommen, wenn ich wieder hier bin. Aber sie würden beschließen, daß ich nicht mehr an mein Verlies darf, weil ich ja nicht mehr auf dem Boden der Staaten zu finden sei. Darum treffen wir uns mit dem in Montana."

"Wie Sie meinen, Sir", erwiderte Thornhill.

Ein Hauself des Ministers apparierte mit ihnen beiden in der Nähe von Helena, der Hauptstadt von Montana. Die Sommersonne ließ die umliegenden Berggipfel in weißgelbem Licht erstrahlen. Der Minister befahl dem Elfen, ihn in genau zwei Stunden wieder abzuholen. Das unterwürfige Zauberwesen verbeugte sich tief und disapparierte mit scharfem Knall. Thornhill sicherte mit dem Zauberstab, ob sich im Umkreis von hundert Metern andere Menschen herumtrieben. Dann zeichneten beide Holzstühle und warteten.

"Wann wollte unser Verbindungsmann kommen?" Wollte Thornhill wissen. Der Zaubereiminister sah auf seine Uhr und meinte, daß sie sich schon um fünf Minuten verspäteten. Thornhill sprach sofort aus, daß es auch eine Falle sein könne und suchte nach anderen Lebewesen.

"Ich habe mit Pete selbst gesprochen, als ich im Hauptquartier der My-Truppe war. Er machte nicht den Eindruck, daß er uns in eine Falle locken würde. Aber Sie können ja Abwehrzauber aufbauen, wenn sie das möchten, Mr. Thornhill."

"Hätte ich schon längst tun sollen", sagte Thornhill und stand auf, um ineinandergreifende Schutz- und Abwehrzauber aufzurufen. Er wollte gerade mit "Campana Repellenda" eine unsichtbare Abwehrglocke gegen feindliche Wesen und bösartige Zauber errichten, als aus dem Nichts heraus drei Gestalten in weißen Umhängen auftauchten und Zauberstäbe schwangen. Thornhill konnte den Schutzzauber nicht mehr zu Ende wirken. Ihm fiel zu spät ein, daß ein Apparitionswall wohl besser gewesen wäre, als die drei Gestalten in weißen Kapuzenumhängen schon mit Zauberflüchen auf sie eindroschen. Eine Frauenstimme sagte:

"Minister Wishbone. Widerstand ist sinnlos. Unsere Herrin will Sie haben, tot oder lebendig. Wenn Sie sich nicht wehren lassen wir Sie leben." Thornhill erkannte jetzt, daß die drei Angreifer eigentlich Angreiferinnen waren. Wishbone und er griffen sofort mit Flüchen und Gegenflüchen an. Doch die drei parierten die Angriffe. "Lebendig wird eure wiederliche dunkle Lady mich nicht kriegen! Sagt der das!" Rief Wishbone, als er der, die ihn angerufen hatte, eine Feuerschlinge überzuwerfen versuchte. Doch diese wirbelte einmal herum und trieb den lodernden Flammenring als Feuerwalze auf Wishbone zurück, der sie gerade noch mit einem Aufhebungszauber zerfallen ließ. Bunte blitze fegten durch die Luft. Thornhill wollte den Minister ergreifen, um mit ihm zu disapparieren. Doch eine der beiden anderen Hexen schickte einen blauen Flammenstrahl zwischen ihm und dem Minister hindurch. "Disapparieren wird dir nichts mehr nützen. Ich habe dich mit einem unsichtbaren Markierungszauber erwischt", sagte die anführerin dem Minister, der Anstalten machte, zu disapparieren. Dieser sah sich nun in großer Bedrängnis, weil sein Begleiter und eigentlich auch Leibwächter von zwei Hexen zugleich beharkt wurde. So konnte Thornhill nur sehen, wie die Anführerin den Minister mit Fessel-, Schock- und Erstarrungszaubern zu erwischen trachtete, bis Wishbone in wilder Entschlossenheit "Avada Kedavra!" Rief. Ein grüner Blitz fegte aus Wishbones Zauberstab. Doch die Hexe, die er treffen wollte, tauchte blitzartig nach links unten ab, so daß der tödliche Fluch wirkungslos über sie hinwegsirrte und unschädlich in der ferne verklang. Eine von Thornhills Gegnerinnen nutzte die auf seine Gegnerin konzentrierte Aufmerksamkeit des Ministers aus und erwischte ihn mit dem Bewegungsbann. Thornhill wollte es ausnutzen, um die zweite Gegnerin auszuschalten, als die Anführerin des Überfalltrios ihrerseits den tödlichen Fluch ausrief. Thornhill wollte sich in letzter Verzweiflung zwischen die Hexe und den gerade unbeweglich dastehenden Minister werfen, als der grüne Todesblitz bereits sein Ziel fand. Der Erstarrungszauber verging in einem silbernen Funkenschauer, als der Minister jeder Kraft beraubt zu Boden stürzte. Thornhill landete auf dem Bauch, als zwei Schocker zugleich über ihn hinwegfauchten.

"Die Herrin will seinen Kopf", schrillte die Anführerin und trat an den niedergestürzten Minister heran. Thornhill beschloß die drei zumindest daran zu hindern, den Leichnam Wishbones zu entführen oder zu verstümmeln. Er versuchte es mit weiteren Flüchen, die drei auf Abstand zu zwingen. Doch er merkte, daß auch er gegen drei Gegnerinnen zugleich nicht lange standhalten konnte.

"Willst auch sterben, Hexenfeind?" Schnarrte eine andere Stimme als die, die er schon gehört hatte. "Kannst du haben." Thornhill sah die drei auf ihn zielenden Zauberstäbe. Wenn die alle drei den Todesfluch aufriefen war er erledigt. Doch er versuchte es mit "Malleus Lunae" und schaffte es, zwei der drei zurückzuwerfen. Die dritte rief bereits "Avada", als Thornhill gerade noch zur Seite hechten konnte. Der grüne Blitz brauste knapp einen halben Meter an ihm vorbei und berührte den Boden, worauf mit einem dumpfem Knall eine weiße Dampfwolke daraus hervorquoll und ein feiner, rotglühender Riß im Boden klaffte. Der tödliche Fluch zerstörte alle unbelebte Materie, auf die er traf, wohingegen er Lebewesen tötete, ohne eine Verletzung zu verursachen.

"Jetzt mach ich dich tot, Mörderin", knurrte Thornhill und zielte auf die Hexe, die erkannte, daß sie nun alleine vor ihm stand. Anders als der Minister wollte Thornhill mindestens eine der drei Lebendig fangen, um sie zu verhören. Da überkam ihn eine Woge unbändiger Glückseligkeit. Damit hatte er nicht gerechnet und war somit nicht darauf eingestellt, dem nun in seinem Geist hallenden Befehl zu widerstehen. "Verschwinde mit dem Torso deines Herren und verkünde, daß wir Vergeltung für alle unsere Schwestern geübt haben." Thornhill vermochte unter der Einwirkung des Fluches nicht mehr zu denken. Doch irgendwas war am Klang dieser Stimme merkwürdig. Doch zuerst konnte er nicht weiter darüber sinnieren, weil er unverzüglich im Bann des Unterwerfungszaubers auf Wishbones Leiche zuschritt. Die Hexe, die ihn unter den Imperius-Fluch genommen hatte vollführte eine hiebartige Bewegung mit dem Zauberstab, worauf ein flimmernder Strahl wie ein von schräg oben einschlagender Blitz quer durch den Hals des niedergestreckten Ministers drang und ihm den Kopf vom Rumpf trennte. "Accio Kopf!" Hörte Thornhill noch. Der Abgetrennte Kopf des Ministers flog, eine Schleppe aus Blut und Gehirnflüssigkeit hinterlassend, auf seine Mörderin zu und landete in ihrer freien Hand. Thornhill nutzte die Gelegenheit nicht aus, sie nun zu überwältigen. Der ihm aufgezwungene Befehl trieb ihn an, den enthaupteten Leichnam des Ministers mit einer Hand zu ergreifen und sich in die Disapparition hineinzudrehen, um im Hauptquartier der My-Truppe zu landen, wo er sofort Meldung machte. Sofort rückten mehrere Dutzend My-Truppler aus, um die drei Hexen noch vor der Flucht mit Wishbones Kopf zu erwischen. Doch die drei waren bereits fort. Die Henkerin von Lucas Wishbone hatte ihre Gehilfinnen irgendwie mitgenommen. Nachforschungen erbrachten, daß ein nicht angemeldeter Portschlüssel ausgelöst worden war, dessen Ziel im Tal des Todes in der Mojave-Wüste war. Doch als My-Truppler dort auftauchten waren die drei Attentäterinnen bereits auf andere Weise geflüchtet.

Die Nachricht von Wishbones Ermordung im Auftrag der Erbin Sardonias wurde sofort vom Zaubereiministerium verbreitet, um die magische Bevölkerung dazu aufzurufen, sich an der Suche nach den Attentäterinnen zu beteiligen. Es stellte sich heraus, das der Leiter des Kobold-Verbindungsbüros selbst von einem Imperius-Fluch einer Hexe dazu gezwungen worden war, den Minister in die Falle zu locken. Der Ort war deshalb gewählt worden, weil dort sonst niemand um diese Tageszeit auftauchen würde.

Am Abend gab es Extraausgaben des Kristallherolds und der Stimme des Westwindes. Linda Knowles, die erst seit wenigen Stunden als Geheilt aus der psychomorphologischen Abteilung der Honestus-Powell-Klinik entlassen worden war, suchte Eileithyia Greensporn in ihrem Haus auf. Dort trafen auch Lady Roberta Sevenrock, die Sprecherin aller schweigsamen Schwestern Nordamerikas und die ehemalige Strafverfolgungsleiterin Donata Archstone ein, die ebenfalls zu den Schweigsamen gehörte.

"Wenn sie das war ist sie jetzt ganz und gar wahnsinnig", schnaubte Roberta Sevenrock. "Damit hat sie sich und alle, die ihr nachlaufen zu Vogelfreien erklärt."

"Tja, und uns gleich dazu, weil wir auch nicht alles erzählen dürfen, was wir wissen", seufzte Eileithyia Greensporn. Linda Knowles nickte. Eine gewisse Angst beschlich sie. Worauf hatte sie sich da eingelassen, als sie den Schweigsamen beitrat? Dann meinte Donata Archstone:

"Glaubt ihr das echt, Schwestern? Sicher hat Wishbones Politik uns arg zu schaffen gemacht. Aber so dumm hat sich Sardonias Erbin bisher nie verhalten, offene Vergeltung an einem Minister zu üben, der ohnehin schon politisch schwer angeschlagen war. Es war doch nur eine Frage der Zeit, wann Wishbone sein Amt zur Verfügung hätte stellen müssen. Wir dürfen davon ausgehen, daß Sardonias Erbin das wußte und bestimmt nicht so unbeherrscht oder mordgierig zugeschlagen hätte. Abgesehen davon ist ihr bestimmt nicht daran gelegen, uns Hexen tatsächlich zu Feindinnen der Zaubererwelt stempeln zu lassen, wie Wishbone es ja versucht hat. Glaubt ihr also ehrlich, daß sie Wishbone ermordet hat?"

"Das sagst du wohl, weil du diese Kanallie verehrst", schnarrte Eileithyia Greensporn. "Denkst du, ich hätte es nicht von meiner Enkelin, wem du wirklich nachfolgst?"

"Warum habt ihr mich dann nicht ausgestoßen und ohne Wissen über euch meinem Schicksal überlassen?" Fragte Donata unbeirrt klingend zurück. "Woher nimmt deine Enkeltochter die Unverfrorenheit, mir zu unterstellen, ich sei eine Gehilfin der Erbin Sardonias?"

"Weil genug Zeuginnen mitbekommen haben, wie du damals mit ihr, Anthelia, in eurer kleinen Versammlungshöhle aufgetaucht bist und das Duell gegen Daianira mitverfolgt hast", erwiderte Roberta Sevenrock ruhig. "Und um deine Frage vollständig zu beantworten, Schwester Donata: Ich habe dich deshalb nicht aus unserer Gemeinschaft ausgestoßen, weil ich nicht will, daß die Nichte einer Blutsäuferin leichtes Spiel mit dir hat. Abgesehen davon bist du für uns zu wichtig, um dich auszuschließen. Aber ich warne dich hiermit: Solltest du offen gegen eine von uns oder unsere Angehörigen vorgehen, wirst du die gute Bobbie Sevenrock von ihrer dunkelsten Seite kennenlernen. Das schließt auch alle gerade ungeborenen oder neugeborenen Kinder von uns ein."

"Wir streiten uns?" Fragte Donata. "Dann hat Wishbones Politik ja doch ihr Ziel erreicht. Nur weil ich sage, daß die Sardonianerin nicht so dumm ist, einen derartig offenen Vergeltungsschlag zu führen und Wishbones Ansichten damit zu bestärken, muß ich noch lange nicht danach trachten, ihr nachzulaufen und alles und jeden umzubringen, auf das sie deutet."

"Ich weiß, daß die Sardonianerin ihre erfolgreich angeworbenen Bundesschwestern mit einem Fluch belegt hat, der jeden Verrat sofort bestraft und Verräterin und Zeugen des Verrats auf der Stelle tötet", sagte Roberta Sevenrock. "Daher werde ich nicht riskieren, daß irgendwer hier von uns, die diesem Fluch unterworfen wurde, uns alle vernichtet. Und ich muß auch erkennen, daß dein Einwand berechtigt ist, Schwester Donata. Sie wäre nicht so dumm, einen Zaubereiminister zu ermorden und Zeugen zu hinterlassen. Das ist es, was mich an der ganzen Geschichte schon irritiert."

"Soll ich Thornhill interviewen?" Fragte Linda Knowles.

"Wenn du dich wieder gut genug fühlst, Linda", sagte Roberta Sevenrock. Die Reporterin mit den besonders feinen Ohren nickte und bat darum, die Sitzung verlassen zu dürfen. Roberta wies sie darauf hin, daß sie übermorgen zum Hauptversammlungsraum der Schwesternschaft kommen möge, wo sämtliche Bundesschwestern sich beraten sollten, wie sie mit dieser Nachricht umgehen sollten.

"Verhaltet euch bis dahin unauffällig! Taucht nicht unter, wenn ihr nicht unmittelbar von Wishbones Leuten angegriffen werdet!" Befahl Roberta Sevenrock noch. Dann entließ sie ihre herbeizitierten Mitschwestern.

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Lorena Forester las die Meldung im Westwind und auch das kurzfristig anberaumte Interview mit dem Leiter der Strafverfolgungsabteilung und dem Tatzeugen. Als dann noch erwähnt wurde, daß Milton Cartridge bis zu einer Neuen Ministerwahl aus dem Ruhestand zurückgeholt worden war, weil zwischen den Zeilen angeklungen war, daß Wishbone womöglich unrechtmäßig ins Amt gekommen sein könnte, schickte sie eine Eule zu ihrer gerade in Frankreich weilenden Tochter Brittany. Das mußte die und ihre Gastgeber auch sehr interessieren, weil der junge Zauberer Julius Latierre bereits zweimal mit der mutmaßlichen Anstifterin des Ministermordes zusammengetroffen war. Denn, so fiel der Lehrerin für die Pflege magischer Geschöpfe ein, dieser Mordanschlag paßte nicht zu dem, wie sie die Sardonianerin einschätzte. Das war eher eines Lord Voldemort würdig. Und selbst der hatte immer heimliche Anschläge ausführen lassen und meistens keinen Zeugen zurückgelassen, sofern er nicht wollte, daß jeder wußte, daß er etwas angestellt hatte.

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Die Meldung von der Ermordung Wishbones überlagerte das Auftauchen von einem blau leuchtenden Vampir in den Staaten. Zachary Marchand, der im Auftrag des Zaubereiministers in der Bundesermittlungsbehörde FBI tätige Muggelstämmige, war in den Fall der blauen Vampire eingeschaltet worden, obwohl es ihn eher interessierte, die flüchtigen Ex-Kinder Valery Saunders zu fangen. Mittlerweile wußte er, daß es ihrer dreißig geben mußte. Und alle konnten ohne Zauberstab apparieren, Fernbewegungskräfte oder Elementarbeeinflussungen ausüben. Was würde eine Kriminelle wie Lolita Henares mit diesen Superkräften anfangen, wenn sie wußte, daß niemand aus der Zaubererwelt sie so leicht aufspüren konnte. An und für sich mußten sämtliche Gold- und Geldreserven der Staaten mit Meldezaubern belegt werden, die die Führerin der Zorras und ihre Nichte Marisa bei der Überwachung ankündigten. Und jetzt die Meldung von Wishbones Ermordung. Marchand hatte den auf Sicherheit pochenden Minister eigentlich nie so recht leiden gemocht. Doch seitdem er fast von Nyx und ihren Vampirkindern erwischt worden war hielt er doch etwas mehr von Abwehrmaßnahmen gegen Kreaturen wie diese.

"Cartridge kommt zurück", dachte er. "Der hatte sich Nyx zur Feindin gemacht und hätte fast sehr alt ausgesehen, wenn ihm diese Sardonianerin nicht unerwünschte Hilfe geleistet hätte. Nyx war angeblich von ihrem Erzfeind Volakin gefangengenommen oder getötet worden. Doch ihre Kinder lebten noch. Und die Solex-Folie, die die Vierbeins erfunden hatten, würde diesen Blutsaugern weiterhin helfen, sich unauffällig zwischen arglosen Menschen zu bewegen wie Werwölfe. Der Traum mancher Vampirlords und -ladies, durch Werwolfblut gegen Sonnenstrahlung unempfindlich zu werden, war von Muggeln verwirklicht worden, die Vampire nur aus Büchern und Filmen kannten. Doch jetzt galt es wohl, die Sardonianerin zu stellen, die dem amerikanischen Zaubereiministerium den Krieg erklärt hatte. Sicher, ein kalter Krieg war ja schon lange zwischen ihr und der globalen Zauberergemeinschaft im Gang. Doch jetzt hatte sie die letzte Grenze überschritten. Wer immer mit ihr paktierte konnte nun ohne großes Bremborium getötet werden. Es ärgerte ihn, daß Wishbones Saat dadurch noch besser aufging, nur noch Zauberer in öffentlichen Ämtern zu belassen. War es das wirklich wert, den Minister umzubringen?

"Kenne ich eine, die ich interviewen könnte?" Fragte sich Marchand. Doch er wußte keine, die er fragen konnte. So blieb ihm nur, weiterhin den Wächter in der Muggelwelt zu spielen und zuzuschlagen, wenn er eine von denen zu fassen bekommen konnte. Doch dann fiel ihm Jane Porters Tod wieder ein. Die nach außen hin heimelige Großmutter hatte versucht, eine Spionin innerhalb des Laveau-Institutes zu enttarnen und hatte dabei einen verheerenden Fluch ausgelöst, den die Sardonianerin wohl in weiser Voraussicht auf ihre Mitschwestern gelegt hatte. Wer also eine von denen erwischte jonglierte mit mehreren großen Flaschen Nitroglyzerin. Vielleicht meinte die skrupellose Gegnerin, daß deshalb niemand ernsthaft ihren Mitschwestern nachjagen würde, weil das einem Selbstmordkommando gleichkam. Dann konnte sie natürlich jeden auf offener Straße totfluchen lassen, der ihr nicht in den Kram paßte. Noch mehr, jeder, der von ihr nicht behelligt wurde, lud sich unfreiwillig den Stempel auf, aus ihrer Gnade heraus zu handeln. Er dachte an die mittelalterlichen Könige und Kaiser in Europa, die sich als Herrscher aus Gottes Gnaden bezeichnet hatten. Was für eine fragwürdige Gnade wäre es, solange leben und öffentlich arbeiten zu dürfen, solange man dieser Furie nicht ins Gehege kam? Das wollte er gerne mit jemanden diskutieren, die nur als Beobachterin und nicht Beteiligte der Zaubererwelt galt. So verfaßte er eine elektronische Nachricht an Martha Andrews in Paris. Dort war es bereits früh am Morgen des zweiten Augustes. Zachary dachte daran, daß sie und er vor genau zwei Jahren in der Gewalt von Hugo Laroche und seinem zahmen Frankenstein-Transvestiten waren. Mit schaudern dachte er daran, daß er heute immer noch in dieser Kugelmaschine in hyperoxygenierter Flüssigkeit schwimmen könnte, wenn seine Kollegen ihn nicht so rasch da herausgeholt hätten. Im Gegensatz zu Martha war ihm die Brutalität dieser Einkerkerung nicht bewußt geworden, weil sie ihn mit einer Betäubungsspritze gerade so noch daran gehindert hatten, einen Befreiungszauber anzuwenden. Martha hatte indes mehr an diesem Trauma zu knabbern gehabt. Doch irgendwie hatten sie es in den Griff bekommen. Sie hatte ihm bis heute nicht erzählen wollen, wie genau.

Hallo Martha!

Für den Fall, daß du oder deine magischen Mitmenschen es erst in einigen Tagen erfahrt möchte ich dir das lieber jetzt schon schreiben. Unser auf Schutz und Abschottung bedachter Minister Lucas Wishbone ist ermordet worden, als er mit einem Begleiter angeblich mit einem Verbindungsmann zu den Betreibern unserer Staatsbank sprechen wollte. Der Begleiter konnte entkommen. Besser, sie haben ihn entkommen lassen, damit wir erfahren, wer ihn umgebracht hat. Es waren scheinbar Anhängerinnen dieser Dame, der dein Sohn zweimal über den Weg gelaufen ist und der du es gemeinerweise verdanken mußt, daß Julius noch lebt. Offenbar wollte die ein Exempel statuieren, nachdem Wishbone ihre Macht in den Staaten beschränkt hat. Aber damit hat die sich garantiert ein Eigentor geschossen, weil jetzt erst recht alle hinter ihr und ihren Mitschwestern herjagen werden. Ich wurde bereits gefragt, wie ich ihr beikommen kann. Jedenfalls ist Milton Cartridge wieder Minister. Den haben du und Julius ja in VDS getroffen. Vielleicht lassen sie da die Jubiläumsfeier in zwei Tagen ausfallen. Mir persönlich schmeckt das nicht, daß nach diesem Anschlag die Stimmung gegen Frauen unserer Welt in den Staaten noch mehr unterkühlen wird. Erinnert mich an die McKarthy-Zeit, wo die Staaten angeblich von tausenden Kommunisten bevölkert wurden, vor allem aus Künstler- und Akademikerkreisen. So was ähnliches könnte diese dumme Pute mit ihrem Mordanschlag auslösen.

Wie geht es Julius jetzt. Ich habe ja erst nach der Vernichtung des britischen Massenmörders erfahren, daß er vorzeitig schon mit dieser wilden Rotblonden verheiratet wurde. Bist du jetzt schon Oma? Gut, könnte dir zu privat sein, diese Frage zu beantworten. Aber ich möchte gerne wissen, was dein Sohn angestellt hat, um schon so früh vom Markt genommen zu werden. Ich meine, der hätte ruhig noch ein paar Jahre warten können, finde ich. Aber der würde mir dann natürlich vor den Kopf knallen, daß ich nicht sein Vater bin und bloß nicht so tun sollte, als würde ich das mal sein. Bestell ihm aber gerne schöne Grüße von mir!

Vielleicht können wir uns ja mal in unserer Geburtswelt treffen, um über so vieles zu quatschen.

Bis dahin!

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Linda Knowles war froh, wieder frei handeln zu können. Nach den Tagen in der HPK und der langen Reise durch ihre bisherigen Erlebnisse hatte sie über vieles nachdenken müssen. Sie hatte Glück, daß diese Heilerin Barnickle zur selben Gruppe gehörte wie Lady Roberta Sevenrock und Eileithyia Greensporn. Denn erst als sie aus der betreffenden Rückschau aufgewacht war und erkannte, welche Gefahr sie da heraufbeschworen hatten, wäre das für Wishbone und seine Hexenjäger ein gefundenes Fressen geworden. Um so heftiger traf sie die Meldung, daß der bei über neunzig Prozent der US-amerikanischen Zaubererwelt in Ungnade gefallene Lucas Wishbone von Anthelias Hexenschwestern ermordet worden war. Wie konnte sie mit dieser Nachricht umgehen? Durfte sie dazu überhaupt etwas schreiben? Es ärgerte sie ein wenig, daß sie daran dachte, sich mit Roberta Sevenrock beraten zu müssen, über wen oder was sie schreiben sollte. Außerdem fühlte sie ein gewisses Unbehagen, Anthelia könnte sie noch einmal heimsuchen. Sie wunderte sich eh, daß sie Ireen Barnickle nicht verraten hatte, daß die Sardonianerin eine Animaga war. Vielleicht blockierte der ihr aufgehalste Verratsbestrafungsfluch Anthelias jede unfreiwillige Preisgabe dieser wichtigen Kenntnis. Doch wenn Anthelia wirklich Wishbones Mörderin war, mochte sie Wert darauf legen, es groß in die Zeitung zu bringen, warum sie das getan hatte. Denn sonst hätte sie ja wohl dafür gesorgt, daß niemand es verriet.

"Linda, am zweiten August Treffen mit Siedlersprecher Hammersmith wegen Jubiläumsfeier in VDS", klang eine flüsternde Stimme aus Lindas kleiner Handtasche. Das war ihr Notizbuch mit Terminerinnerungszauber. Wenn sie mit roter Tinte etwas hineinschrieb, wisperte es ihr am betreffenden Tag die zu beachtende Begebenheit zu.

"Den kriegen wir morgen, Pabbles", wisperte Linda. Das Notizbuch besaß außer dem Terminerinnerungszauber keine weiteren magischen Eigenschaften und konnte daher nicht auf ihre Antwort reagieren. Linda war jetzt wichtiger, den alten und neuen Zaubereiminister zu erwischen, bevor die Konkurrenz vom Kristallherold ihre zeitweilige Abwesenheit noch länger ausnutzen konnte. So begab sie sich ins Zaubereiministerium, wo sie zunächst von mehreren Sicherheitszauberern durchsucht wurde. Sie bestand jedoch darauf, daß für eine gründlichere Leibesvisitation eine Sicherheitshexe herbeigeholt werden sollte. Immerhin habe sie ein Recht auf Schutz ihrer Intimsphäre vor fremden Männern.

"Befehl von Strafverfolgungsleiter Spikes. Niemand kommt hier ohne gründliche Untersuchung durch, schon gar nicht, wenn er eine "Sie" und auf dem weg zum Minister ist", blaffte Carl Woodnail sie an, ein schrankbreiter Zauberer mit ziegelrotem Scheitel und kleinen, dunkelbraunen Augen.

"Ms. Knowles hat einen Termin bei meinem Gatten", sagte eine Frauenstimme hinter Linda. "Wir werden trotz der angespannten Lage keine weiteren Einschränkungen der vorher geltenden Rechte zulassen."

"Wußte nicht, daß Minister Cartridge Sie als meine Vorgesetzte angestellt hat", knurrte Woodnail. "Die Dame hier gehört genauso durchsucht wie alle, die von außen kommen und mit Minister Cartridge reden wollen. Und wenn die Vorschriften sagen, daß sich jeder hier gründlich zu durchsuchen hat gilt das auch für Jede."

"Wollen Sie ernsthaft noch mehr Unmut unter den Hexen auslösen und dieser Fanatikerin noch mehr Sympathisanten zutreiben, Carl?" Stieß die Hexe mit sehr strenger Stimme aus. Linda stand derweil ganz ruhig da. Sollte Godiva Cartridge doch die Lage klären.

"Ich habe meine Vorschriften, Mrs. Cartridge. Abgesehen davon hat Ihr mann weder die Geschlechtsbeschränkung für Ministeriumsangestellte aufgehoben, noch Ihre Einsetzung als meine Vorgesetzte bekanntgegeben. Daher sind Sie mir gegenüber nicht weisungsbefugt", erwiderte Woodnail. "Und Sie, Ms. Knowles, gehen jetzt mit meinem Kollegen in die kleine Kammer und legen Ihre Kleidung ab, damit wir sie auf verdächtige Dinge an oder in ihrem Körper untersuchen können. Verweigern Sie dies weiterhin, verschwinden Sie am besten gleich wieder in Ihr Büro oder nach VDS."

"Sie genießen das wohl", grinste Linda. "Wievielen Hexen haben Sie auf diese Weise heute schon unter das Mieder oder den Unterrock geblickt, Mr. Woodnail?"

"Da ist die Tür", deutete Woodnail auf die Tür der Untersuchungskabine. "Und da ist der Kamin", setzte er mit einer entsprechenden Zeigebewegung fort. "Sie haben die Auswahl, Ms. Knowles."

"Haben Sie mich schon durchsucht?" Fragte Mrs. Cartridge den Zauberer. Woodnail schüttelte heftig den Kopf. "Sie sind mit demMinister zusammen eingetroffen", sagte er.

"Dann müssen Sie mich wohl auch durchsuchen. Dann werde ich meinem Gatten mitteilen, daß Sie und Ihre Mitarbeiter die geschlechtliche Selbstbestimmung von Hexen mißachten und Ihre derzeitige Rangstellung zu voyeuristischen Aktivitäten mißbrauchen", sagte Mrs. Cartridge. Woodnail verzog das Gesicht. "Das sind Anweisungen, die seit Minister Wishbones Amtsantritt beachtet werden, solange sich wichtige Ministerialbeamte hier aufhalten, Ma'am. Die kann ich nicht ignorieren", verschanzte sich Woodnail hinter seinen Anweisungen.

"Auch wenn gilt, über Tote nichts wenn nichts gutes, so muß ich Sie offenbar darauf hinweisen, daß eine Untersuchung seiner Amtsführung ansteht. Längst nicht alles, was er anordnete erscheint im Einklang mit den Gesetzen unserer magischen Gemeinschaft. Also geben Sie Ms. Knowles bitte den Weg frei oder untersuchen uns beide! Was dann die entsprechenden Konsequenzen hat", sagte Mrs. Cartridge. Linda blieb weiterhin ruhig.

"Dann müssen wir Sie wohl beide untersuchen, Ma'am. Im Moment gilt, daß jede Hexe verdächtig ist", sagte Woodnail. Da erschien aus einem der Fahrstühle der wiedereingesetzte Zaubereiminister Milton Cartridge und eilte auf die Sicherheitstruppe zu. "Ah, da bist du, Godiva. Oh, Ms. Knowles ist auch schon da. Ich bin auf dem Weg nach New York, um mit dem Chef von Gringotts USA zu sprechen, daß wir keine weitere Absicht verfolgen, eigenes Geld zu drucken. Sie dürfen mich begleiten, falls Sie möchten", sagte der neue Minister. Linda nickte. Woodnail schüttelte den Kopf und wies seinen obersten Chef darauf hin, daß immer noch die Sicherheitsregeln galten.

"Wenn Ms. Knowles mich im Auftrag dieser Fanatikerin auch noch ermorden wollte hätte sie sich bestimmt nicht um einen offiziellen Termin bemüht, Carl. Immerhin haben Wishbones Mörderinnen ja auch keinen Termin mit ihm vereinbart, oder?"

"Dieser Logik kann ich mich nicht unbedingt anschließen, Sir", erwiderte Woodnail. "Dann lassen Sie uns bitte auch mitkommen, um Sie vor Anschlägen zu schützen."

"Das akzeptiere ich, Carl", ging Cartridge darauf ein. "Sie und Shorewood kommen mit mir!"

"Shorewood. Wieso ausgerechnet der?" Fragte Woodnail.

"Weil er ein guter Außendienstmitarbeiter und kampferfahren ist, schreibt mein seliger Vorgänger. Fordern Sie ihn bitte an!"

"Ähm, der ist zur besonderen Verwendung freigestellt worden, Sir. Ich habe keine Adresse von ihm, unter der ich ihn erreichen kann. Da müssen Sie ihn selbst anfordern, Sir", gab Woodnail verlegen zurück.

"Gut, dann möchte ich Vincent Mellows als zweiten Schutz haben", sagte der Minister. Woodnail nickte und winkte seinem Mitarbeiter, er möge den angeforderten Begleiter holen. Zwei Minuten später reisten der neue Zaubereiminister, Linda Knowles und die beiden Sicherheitszauberer Woodnail und Mellows durch den Kamin in das Büro des Koboldverbindungszauberers in New York. In dieser Stadt befand sich auch die größte Filiale von Gringotts. Die Kobolde führten von dort aus die Zaubererbank für die vereinigten Staaten. Linda bekam nach den nötigen Unterhandlungen, die der Minister öffentlich machen wollte die Gelegenheit, ihn zum Mordanschlag auf seinen Vorgänger und zu seinen ersten Maßnahmen zu befragen. Der neue Minister bekräftigte, daß er die Anti-Hexenvorschriften seines Vorgängers zurücknehmen würde und die früheren weiblichen Mitarbeiter in ihren alten Positionen wieder anstellen würde. Ob diese eine Verdienstausfallsentschädigung erhalten würden müsse er einzeln prüfen lassen.

"Wie empfinden Sie es, jetzt wieder Minister zu sein, wo sie wegen der Vampirkrise fürchten mußten, so oder so in Ungnade zu fallen, Sir?" Wollte Linda wissen.

"Sie meinen, man hätte besser wen anderen bitten mögen, dieses offenbar hochgefährliche Amt zu übernehmen, Ms. Knowles? Den Eindruck hatte ich in der Tat. Doch andererseits rufen gerade sehr viele amerikanische Hexen und Zauberer nach einer Wiederherstellung der früheren Politik. Wishbones markige Ankündigungen, alles besser und vor allem sicherer zu machen erwiesen sich ja leider als maßlose Übertreibungen oder schlimmer, als nicht eingelöst. Was er tat war, allen Hexen das Vertrauen zu entziehen. Etwas, wogegen ich bei meinem Wahlkampf entschieden Einspruch erhob. Sicher, was ich in der Angelegenheit Broomswood tun mußte bereue ich nicht und werde es auch nicht zurücknehmen. Aber die Maßnahmen, um eine trügerische Sicherheit herzustellen gingen auf Kosten unserer Freiheiten und führten nicht nur zur unnötigen Isolation gegenüber unseren Verbündeten, sondern auch zur Gefährdung unseres inneren Friedens. Das war ein genialer Nährboden für die Sardonianerin. Vielleicht hätten wir die Möglichkeit besessen, das Treiben dieser Brutkönigin ohne sie zu beenden, wenn das Ministerium sich nicht mit allen friedliebenden Zauberern und Hexen der Welt angelegt hätte. Es ist wertlos, über einen ausgeschütteten Kessel zu klagen. Doch wir besaßen zu wenig Kenntnisse über die Entomanthropen und hätten durchaus kompetente Experten aus Übersee befragen müssen. Abgesehen davon, was in Frankreich selbst vorging, wäre es sicher möglich gewesen, Berichte über die ersten Auftritte dieser Ungeheuer einzusehen und auszuwerten. Diese Chance wurde verspielt. Damit haben wir der Sardonianerin das Feld überlassen, die als die einzige hier verfügbare Expertin schalten und walten konnte wie sie wollte. Das Massaker von Cloudy Canyon hätte nicht passieren dürfen, und die von Ihnen bezeugte Vernichtungsaktion gegen die unbeherrschbare Brutkönigin hat das Ansehen des Ministeriums noch mehr geschwächt. Es ist mir völlig klar, daß die Sardonianerin der Auffassung anhängt, einfach so tun zu dürfen, was ihr einfällt. Sollte sich erweisen, daß sie tatsächlich den Tod von Lucas Wishbone verschuldet hat, so liegt es daran, daß sie meint, ihren Willen auch weiterhin ohne Widerstand durchsetzen zu können."

"Und trotzdem möchten Sie allen bisher beschäftigten Hexen die Rückkehr in ihre Anstellungen anbieten, Sir?" Fragte Linda Knowles.

"Ja, ich höre heraus, daß Sie einen Widerspruch vermuten. Aber dem ist nicht so. Die überwiegende Mehrheit aller Hexen ist gegen eine Zwangsherrschaft durch eine Minderheit von Hexen, die behaupten, ihr Geschlecht sei von Natur aus dazu besser geeignet, das Zusammenleben von Menschen zu regeln. Ich darf doch nicht einfach alle Hexen dafür ausgrenzen, nur weil sie Hexen sind. Das wird in einigen arabischen Staaten und dem Iran so gehalten, daß magisch begabten Mädchen eine umfangreiche Zaubereiausbildung und der Eintritt in öffentliche Ämter verwehrt wird. Unser Land ist auf der Idee der Gleichheit aller Menschen begründet, schwarz oder weiß, Muggel oder Magier, Hexe oder Zauberer. Die Diskussion um den Wert der Wahrsagekunst erwähnt immer wieder die sich selbst erfüllende Prophezeiung. Der Begriff ist Ihnen bekannt?"

"ja, ist er, Sir", bestätigte Linda Knowles leicht nickend. Ihre Flotte-Schreibe-Feder notierte unbeirrt mit, was gesagt wurde.

"Gut, dann erkennen Sie und höchstwahrscheinlich auch Ihre Leserinnen und Leser, wie fatal es wäre, alle Hexen weiterhin zu verdächtigen, irgendwann mal gegen die geltende Gesellschaftsordnung aufzubegehren und einen Umsturz durchzuführen. Wenn jemand andauernd gesagt bekommt, er oder sie sei bereits verdorben und gefährlich und schlägt ihm oder ihr alle Türen vor der Nase zu, so ist diese Person leichter für Anwerbungsversuche echter Krimineller empfänglich. Insofern muß ich als Minister darauf ausgehen, allen unbescholtenen Mitgliedern der magischen Gemeinschaft freien Zugang zu allen angestrebten Tätigkeiten zu gewähren. Unschuldig bis zum Beweis der Schuld. Dieser einfache und doch so schwerwiegende Grundsatz muß wieder gelten. Sonst erhalten wir eines Tages tatsächlich jene befürchtete Rebellion der Hexen oder Muggelstämmigen oder von wem auch immer. Ich habe die ersten Berichte nach dem Sturz des britischen Massenmörders studiert, die mein seliger Vorgänger in seinem Schreibtisch hatte. In Großbritannien rufen die Muggelstämmigen nach Vergeltung. Es ist schwer, die vorher gültigen Gesetze unbeeinflußt anzuwenden. Ich will nicht haben, daß wir hier in den Staaten sowas ähnliches kriegen. Sollte es der selbsternannten Erbin Sardonias in den Sinn kommen, auch mich in wenigen Tagen oder Wochen zu ermorden, so will ich ihr keine Grundlage bieten, dafür Sympathien zu ernten."

"Nun, aber es sieht doch jetzt so aus, als habe Wishbone doch mit seiner Politik, so ungerecht sie zu mir und anderen Hexen auch war, nicht unrichtig gehandelt, wenn ihn die Erbin Sardonias deshalb umbringen ließ oder selbst ermordet hat. Könnte man Ihnen nicht Feigheit vorwerfen, daß Sie allen Hexen wieder ihre Rechte zurückgeben, ohne jede einzelne zu überprüfen?" Wollte Linda Knowles wissen.

"Wie erwähnt wäre es ungerecht, die Unschuldigen zu bestrafen, weil ein paar wenige gegen die Gesetze verstoßen", erwiderte der Minister. "Ja, gut, es wird Leute geben, die laut nach Einzelprüfungen schreien und eine generelle Aufhebung der Arbeitsbeschränkungen für Hexen als Schwäche ansehen. Doch lieber lasse ich mir Schwäche oder auch Feigheit vorwerfen, als mein Gewissen mit weiteren Unterdrückungsmaßnahmen zu belasten. Wenn ich etwas aus dem kurzen aber blutigen Konflikt mit Nyx und Ihresgleichen gelernt habe, dann ist es die Erkenntnis, daß man einen schlafenden Drachen nicht aufwecken sollte. Es ist besser, nur die einzelnen Fälle zu verfolgen, statt eine ganze Gruppe zu beeinträchtigen."

"Ob Sie dann noch lange Minister bleiben dürfen?" Fragte Linda herausfordernd.

"Ich lege es nicht darauf an, noch einmal mehrere Jahre zu amtieren, Ms. Knowles. Ich bin nur zeitweilig mit dem Amt betraut und werde mich bald einer Wahl stellen. Wer dann meint, mich für meine Entscheidungen aus dem Amt wählen zu müssen mag dann entscheiden, wer mir nachfolgt oder nicht. Bis dahin gilt es, die überhohen Wogen zu glätten und unser beschädigtes Ansehen im In- und Ausland wiederherzustellen", erwiderte Minister Cartridge. "In dieser Eigenschaft werde ich in den kommenden Tagen, wenn hier alles in geordneten Bahnen läuft, mit meinen Kollegen im Ausland zusammentreffen und über Verbesserungen unserer weltweiten Zusammenarbeit sprechen. Wann genau das ist möchte ich der Öffentlichkeit nicht vorher mitteilen."

"Was werden Sie tun, um die Mörderin Ihres Vorgängers zu bestrafen?" Fragte Linda Knowles.

"Nun, wir haben ihre Personenbeschreibung. Wie genau nach ihr gefahndet wird möchte ich zum Schutz der darin einbezogenen Mitarbeiter nicht veröffentlichen", erwiderte Cartridge. Linda versuchte zwar, doch noch mehr herauszuholen. Doch der Minister schwieg darüber beharrlich. So bedankte sie sich bei ihm und kehrte von New York aus nach Viento del Sol zurück.

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"Die glauben also wahrhaftig alle, ich habe diesen Cretin umbringen lassen, um mich dafür zu rächen, daß er uns Hexen so schlecht behandelt hat", schnaubte Anthelia, als sie am dritten August die Stimme des Westwindes und den Kristallherold las. Dazu hatte sie sich auch noch den britischen Tagespropheten, den französischen Miroir Magique und dessen neues Konkurrenzblatt Temps de Liberté beschafft. In den europäischen Zeitungen stand der Mordanschlag als erste Nachricht im Auslandsteil. Beileidsbekundungen anderer Zaubereiminister wurden wiedergegeben und die Zusammenarbeit bei der Fahndung nach der Mörderin angeboten. Interessant fand sie das, was dieser Gilbert Latierre in seiner Zeitung schrieb.

Alle reden davon, daß der US-Zaubereiminister Wishbone von der Hexe umgebracht wurde, die sich als Sardonias Erbin bezeichnet. Aber bringt der das was? Der getötete Minister hat versucht, alle Hexen aus Ämtern und Würden herauszudrängen. Sicher hat er damit bewußt oder unbewußt auch Mitschwestern der bezeichneten Hexe aus seinem Ministerium ausgeschlossen, die ihrer angebeteten Anführerin dadurch wertlos wurden. Aber Wishbone hatte noch andere Feinde. Da waren die Kobolde, denen er das Geldmonopol der Zaubererwelt streitig machen wollte. Da waren die magischen Händler und Herbergsbesitzer, die erhebliche Umsatzeinbußen zu verzeichnen hatten, weil Minister Wishbone den Reise- und Handelsverkehr von und nach Nordamerika unterbunden hat. Und dann dürfen wir auch nicht vergessen, daß Wishbone diesen Zaubererhasserinnen von der Broomswood-Akademie ganz gehörig das Leben vermiest hat, die zwar nicht für die selbsternannte Nachfolgerin Sardonias sind, ihr diesen Mord aber wunderbar in die Schuhe schieben können. Abgesehen davon kann man der neuen Sardonianerin zwar eine Menge vorwerfen. Aber daß dazu auch große Dummheit gehört wäre mir neu. Sicher, ich habe diese Hexe bisher nicht kennengelernt und lege es wie wohl die meisten von Ihnen nicht darauf an, diese Bekanntschaft zu machen. Aber nach meinen bescheidenen Kenntnissen, die ich den Berichten und Aussagen verschiedener Leute entnehme, die mit ihr zu tun bekamen, ist sie absolut nicht dumm. Warum sollte sie also einen Zaubereiminister ermorden oder ermorden lassen, durch dessen Tod dessen Ansichten eher gestärkt werden, daß Hexen gefährlich und vertrauensunwürdig sind? Damit bekäme die ihre Bundesschwestern doch nicht wieder in Amt und Würden. Die müssen sich doch jetzt erst recht fürchten, wegen was auch immer angeklagt und womöglich abgeurteilt zu werden. Ich kann nur hoffen, daß die amerikanische Zaubereiverwaltung nicht die Grausamkeit der Muggel nachmacht und Hexen öffentlich verbrennen läßt. Wenn sie wirklich Wishbones Tod befohlen oder selbst herbeigeführt hat, wäre es doch ziemlich plump und wertlos, auch nur einen Tatzeugen zu hinterlassen. Die Magie erlaubt - das wissen wir leider aus Großbritannien zu gut - mißliebige Menschen spurlos verschwinden zu lassen, ohne daß jemand Tat und Täter beschreiben kann. also, bisher weiß niemand, ob die unstrittig gefährliche Hexe Lucas Wishbones Tod verschuldet hat. Aber ich kann mir das nicht vorstellen, daß sie es hat. Vor ein paar Tagen ging der Temps de Liberté ein Artikel zu, demnach Lucas Wishbone eine langjährige Liebesbeziehung zu seiner Tante gehabt haben soll. Vielleicht hat besagte Tante ihren untreuen Liebhaber einschüchtern wollen und mit einigen Freundinnen was angestellt, was den Minister hat sterben lassen. Dann wäre es auch eine scheinbar schöne Sache, es einer bereits erwiesenen Verbrecherin zuzuschreiben. Bei der Gelegenheit wäre es trotz verschiedener Entrüstungen aus den Staaten kein Verbrechen, wenn ein Neffe mit seiner Tante ein glückliches Leben mit gemeinsamem Schlafzimmer führt. Meine selige Ururgroßtante väterlicherseits war zugleich auch meine Urgroßmutter. Also was soll es? Wir können den amerikanischen Kollegen nur wünschen, nicht in einem überängstlichen Verfolgungswahn zu verfallen, den Janus Didier bei uns an den Tag gelegt hat. Wo das hingeführt hat wissen wir hier ja leider alle noch zu gut. Mehr zu hoffen oder zu verlangen steht weder mir noch dem französischen Zaubereiminister zu, dessen Aussage zum Attentat gegen Wishbone Sie bitte auf Seite 8 ff. nachlesen möchten.

"Wahrhaftig, die gesunde Aufsässigkeit der Latierres und die gute Auffassungsgabe sind erhalten geblieben, auch wenn meine Tante alles daransetzte, sie auszurotten", stellte Anthelia lächelnd fest, nachdem ihre Wut über diese Vorwürfe verraucht war. Irgendwer hatte Wishbone umgebracht, der ja sowieso politisch erledigt war. Und irgendwer hatte es als eine brillante Idee verstanden, es so hinzustellen, daß sie, Anthelia, diesen Anschlag befohlen oder ausgeführt habe. Dieser Gilbert Latierre hatte ja recht, daß sie von einer derartigen Tat nichts hatte, wenn sie einen Zeugen und Spuren hinterließ. Allerdings stand den lautstarken Rufen nach unverzüglicher Vergeltung das Interview des neu eingesetzten Ministers Cartridge entgegen, der allen Hexen Frieden und Wiederherstellung ihrer vorherigen Rechte zusagte, sofern sie sich nicht gegen die Gesetze zum Schutz der magischen Allgemeinheit und der Muggelwelt vergingen. Das konnten noch interessante Tage und Wochen werden, dachte Anthelia. Sollte sie zu Linda Knowles oder einem anderen Vertreter der Zeitungen hingehen und offen beteuern, nicht Wishbones Mörderin zu sein? Keiner würde ihr das glauben. Dann fragte sie sich, ob Wishbone nicht selbst seinen Tod in Auftrag gegeben hatte. Er hätte mit dem Imperius-Fluch zwei oder drei Untergebene zwingen können, Vielsaft-Trank zu schlucken, um als rachsüchtige Hexen aufzutreten. Dazu paßte jetzt auch der Versuch Wishbones, seiner Tante zu unterstellen, für Anthelias Sache gearbeitet zu haben. Je mehr sie darüber nachdachte, desto deutlicher erschien es ihr, daß Wishbone versucht hatte, sie gegen diese Tracy Summerhill auszuspielen. Lag dem etwa daran, daß sich beide gegenseitig umbrachten? Dann hätte er mindestens eine Widersacherin aus dem Weg und könnte die vielleicht geschwächte Gegnerin erledigen, wenn er noch am leben gewesen wäre. Gewesen wäre? Anthelias Wut über die Vorwürfe und Racherufe in den Zeitungen verrauchte nun völlig und machte einem Gefühl großer Erheiterung und Überlegenheit platz. Wishbone hatte sie alle genarrt. Er hatte seine Ermordung inszeniert, lebte aber noch, wenngleich wohl sicher an einem unortbaren, von Fernbeobachtungszaubern abgeschirmten Ort, um zu warten, ob seine Saat aufging. Würde er dann irgendwann wieder aus dem Versteck hervorkommen und heimlich seine Mitarbeiter wieder anleiten, als Schattenminister sozusagen, nicht als offizieller Gegenminister, wie es dieser Phoebus Delamontagne in Frankreich war? dessen Amtszeit hatte sie im Schoß Daianiras verpaßt. Es galt, zu prüfen, ob der vorgewiesene Leichnam tatsächlich der dieses Widerlings Wishbone war. Falls nicht, so würde sie ihm wohl nicht gestatten, zu triumphieren. Den Tod eines Feindes bedauerte sie nicht. Aber wenn ihr jemand diesen Tod zuschreiben wollte, obwohl sie ihn nicht verursacht hatte, damit man sie noch mehr jagte und haßte, dann durfte sich das nicht für denjenigen auszahlen.

"Du wolltest, daß ich deine Tante heimsuche und für dich vom Leben zum Tode befördere, Lucas Wishbone. Vielleicht ist das eine sehr gute Idee", dachte Anthelia. Sie ahnte ja nicht, daß die Vorkommnisse um Wishbones gewaltsamen Tod sie daran hindern sollten, auf weitaus größere Gefahren zu achten.

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hank Wallace hatte Angst. Seit zehn Jahren schon war er der Pilot der Coals und hatte für diese diverse Flüge in die unterschiedlichsten Länder unternommen. Er war sogar mit dem Learjet in Ländern gelandet, deren Regierungen auf sehr wackeligen Füßen standen. Immer hatte er damit rechnen müssen, von einer Boden-Luft-Rakete vom Himmel geholt zu werden oder von regierungsfeindlichen Truppen oder einfachen Räuberbanden überfallen zu werden, die das im Flugzeug mitgeführte Vermögen in Goldbarren rauben wollten. Doch was ihm jetzt aufgeladen wurde war grauenvoller als eine Stinger oder alptraumhafter als maskierte Banditen und Rebellen mit Maschinenpistolen. Dabei hatte es so harmlos angefangen.

Am Morgen des vierten Augustes hatte Gordon Stillwell, der Neffe von James Coal, am Flughafen angerufen und darum gebeten, mit dem Learjet zurück nach New York geflogen zu werden. Wallace hatte gefragt, ob das mit Mr. Coal abgeklärt sei, weil die Maschine dem Onkel des Bankbesitzers gehörte. Gordon Stillwell hatte behauptet, es sei im Sinne seines Onkels. Per E-Mail hatte James Coal dann bestätigt, den Flug nach New York und die Rückführung der Maschine zu genehmigen. Wallace hatte den Jet dann auftanken und flugbereit machen lassen. Doch als die silbergraue Strecklimousine von James Coal dann die Sicherheitsbarrieren passiert hatte und vor dem zweistrahligen Privatflugzeug hielt erstarrte Wallace. Erst stieg Stillwell in schnieker Geschäftsleuteaufmachung aus. Dann jedoch schoben und wanden sich acht Personen aus dem Auto, von denen der Pilot bis dahin nie geglaubt hatte, daß es sie wirklich gab. Erst hätte er sie für volltrunkene oder schlafwandelnde Männer und Frauen gehalten. Doch die beinahe roboterhaften Bewegungen und die ausdruckslosen Augen der Insassen jagten ihm einen Heidenschrecken ein. Sie wankten erst auf die Maschine zu, gewannen dann jedoch auf Stillwells Gesten hin an Geschwindigkeit. So schnell konnte kein Mann im Vollrausch oder im Bann einer harten Droge laufen. Dann war Stillwell bei ihm und sah ihn mit durchdringendem Blick an.

"Du bringst mich und meine Diener nach New York. Du meldest alles beim Tower wie gehabt. Weigerst du dich oder gibst versteckte Mitteilungen weiter, stirbst du", sagte Stillwell mit einer unverkennbaren Entschlossenheit. Indes griffen die wie seelenlose Wesen wirkenden Begleiter Stillwells nach dem Geländer der ausgefahrenen Leiter und hangelten sich wortlos in den Jet hinein. Als letzte tauchten zwei Männer auf, die Wallace das Blut in den Adern gefrieren ließen. Es waren James Coal und sein Sohn Andrew. Beide wirkten so apathisch oder willenlos wie die sechs anderen, die gerade an Bord gingen. Mr. Wallace sah James Coal an und rief ihn an. Doch der Besitzer des Jets gab keine Antwort von sich. Stillwell grinste. "Er hört nur das, was ich ihm zu hören erlaube", sagte der Bankmensch, der als einziger über seinen eigenen Willen, ja sein eigenes Leben zu verfügen schien. Wallace erinnerte sich daran, wie er als Halbwüchsiger jene reißerischen Videos über blutgierige Untote gesehen hatte. Irgendwann hatte er erfahren, das Menschen in einem scheinbar todesähnlichen Zustand versetzt und als gehirngeschädigte Sklaven eines böswilligen Voodoo-Priesters wiedererwachen konnten. Doch die da, die gerade in seine Maschine stiegen, waren keine solchen Gehirnkrüppel. Stillwell sah Wallace lauernd an. James Coal enterte gerade mit einer Folge von marionettenhaften Hangelbewegungen seinen Privatjet.

"Das kann es doch nicht geben", stammelte Wallace. Doch Stillwell schüttelte den Kopf.

"Los, einsteigen! Du meldest die Maschine klar und holst dir die Starterlaubnis! Tust du es nicht, bist du tot", drohte Stillwell und deutete mit seinem rechten Zeigefinger auf den Brustkorb des Piloten. Dieser sah nun selbst fast so bleich aus wie jene, die gerade ohne auch nur ein Wort der Begrüßung oder Absprache in der Passagierkabine platznahmen. Wallace fühlte, wie von Stimme und Blick des einzig lebenden Mitreisenden eine große Macht ausging. Er erkannte, wie sinnlos es war, hier und jetzt Widerstand zu leisten, auch wenn er eine Handfeuerwaffe besaß. Stillwell trieb den Piloten mit einer zur Eile treibenden Handbewegung an, seinen Platz im Cockpit einzunehmen. Der Pilot hoffte für einen winzigen Moment, daß Stillwell oder wer er auch immer sein mochte zu den leichenhaften Mitreisenden in die Passagierkabine gehen würde. Doch der setzte sich in den Sessel des Copiloten, der nur bei längeren Flugstrecken mitflog und schloß die Tür. "Leiter einfahren! Tür verriegeln!" Zischte Stillwell dem Piloten zu. Dieser gehorchte fast wie ein Automat. Als die Maschine dann verschlossen war griff er zur Kopfhörer-Mikrofon-Kombination des Funkgerätes und meldete die Ankunft seines Passagiers und die Abflugbereitschaft. Er erhielt Starterlaubnis in zehn Minuten. Wallace dachte daran, daß ab jetzt auch die pflichtgemäß installierten Flugschreiber aufzeichneten, welche Bewegungen die Maschine machte und hoffte auf den Stimmenrekorder im Cockpit, der Funk- und Pilotenunterhaltungen mitschnitt. Sollte er diesen Flug überleben und freikommen, so wollte er diese Aufzeichnungen der Polizei geben. Doch der Gedanke, eine Ladung echter Zombies nach New York zu fliegen quälte ihn. Vielleicht sollte er unterwegs einen alles beendenden Absturz bauen, um diese Kreaturen nicht in die pulsierende Megastadt hineinzulassen.

"Denk nicht an Heldentaten", knurrte Stillwell, als Wallace die Triebwerke anließ und die Maschine zum Rollfeld bugsierte. "Ich könnte dich locker am Steuer ablösen. Was mein seliger Onkel nicht weiß ist, daß ich eine Prüfung für diese Vögel bestanden habe. Deine Knarre würde dir auch nichts bringen. Selbst wenn du mich damit erschießen könntest würden meine Diener mich umgehend rächen."

"Wer sind Sie?" Fragte Wallace mit einem kurzen Auflodern von Mut.

"Auch wenn der Spruch abgegriffen ist: Dein schlimmster Alptraum."

"Was haben Sie mit Mr. Coal angestellt?" Versuchte Wallace herauszufinden. Stillwell grinste unhörbar und erwiderte darauf:

"Das ist nicht dein Ding, daß zu wissen. Würde eh deinen Verstand übersteigen. Bring uns nun nach New York und komm nicht auf irgendwelche Husarenstücke! Ach ja, rechne auch nicht damit, daß der Stimmenaufzeichner was hergibt, wenn wir gelandet sind. Wenn dir an deinem Leben was liegt wirst du das schön für dich behalten, was du gerade erlebst.""

"Der Pilot erfuhr vom Kontrollturm, daß er nun starten solle. So blieb ihm erst einmal nichts anderes, als die Maschine auf die Piste zu steuern, zu beschleunigen und abzuheben. Der Gedanke, über Funk um Hilfe zu rufen war von einem sehr eindringlichen Blick seines unheimlichen Copiloten im Keim erstickt worden.

So wußte niemand in Richmont, daß eine unheimliche Gefahr für die gesamte lebende Menschheit gerade mit Kurs John-F.-Kennedy-Flughafen in den fast wolkenlosen Himmel über Virginia stieg.

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Der Rauch war wie ein Rufsignal. Auch, wenn die Villa in einem grundstückseigenen Wald verborgen war, verkündete der dichte, graue Qualm, daß dort etwas nicht stimmen konnte. Bob Wakefield, einer der Waldarbeiter der Familie Coal, deutete auf den wabernden Rauch, der von dort kam, wo das Haus seines Arbeitgebers stand. "Will, ich fürchte, da brennt es bei den Coals!" Rief er seinem Kollegen zu. Dieser blickte von dem sich durch überwucherndes Unterholz fressenden Sägeblatt auf. "Echt?!" Rief er zurück und stoppte die knatternde Motorsäge. Als er den immer dichteren Qualm sah stockte ihm für einige Sekunden der Atem. Dann griff er sofort zu seinem Mobiltelefon. Da die Villa einen eigenen Sendemast besaß, um jedes Funkloch zu vermeiden, hätte Bobs Kollege will Burke eigentlich sofort eine Verbindung bekommen müssen. Doch sein Gerät meldete, kein Netz zu erreichen. "Mist, der Strom für den Sender muß weg sein", schnaubte Will und versuchte, einige Meter weiter vom Haus weg einen anderen Funkmast zu erreichen. Doch offenbar fing der dichte Wald die Signale ab. Er bekam immer noch kein Netz. Sein Kollege Wakefield deutete auf den Qualm, der immer dichter wurde. "Das wird immer schlimmer. Am besten wir suchen unseren Wagen und fahren wohin, wo du ein Netz kriegst."

"Da könnte noch wer drin sein!" Rief Will verärgert, weil er sich so hilflos fühlte. In diesem Augenblick blitzte es durch die Bäume weißblau auf, und wie eine zweite, aufgehende Sonne glühte ein orangeroter Feuerball. Sie sahen, wie glühende Brocken in den Himmel flogen. Anderthalb Sekunden nach dem Aufblitzen wummerte der dumpfe Knall einer mächtigen Explosion gegen ihre Ohren. Der Feuerball flackerte und stürzte wieder in sich zusammen. "Jetzt bestimmt keiner mehr", stellte Bob Wakefield betreten klingend fest. Dann erkannten die beiden Waldarbeiter, in welcher Gefahr sie selbst schwebten.

Erst waren es nur schemenhafte Leuchterscheinungen. Dann sahen die beiden Arbeiter die Flammen, die zwischen den Bäumen züngelten. In dem Moment segelte laut zischend ein wie eine Fackel loderndes Holzstück herab und steckte die dünnen Zweige der Bäume in Brand. Die Explosion mußte eine Feuerwalze von verheerender Hitze in den Wald geworfen haben, die die wegen des Sommers ohnehin fast ausgetrockneten Bäume sofort entzündeten. Den Rest erledigten die aus der Brandquelle herausgeschleuderten Trümmer.

"Scheiße! Weg hier!" Rief Will Burke, als rings um sie herum neue Feuer aufloderten. Funken flogen, verpufften an noch zu feuchten Stämmen und Ästen, trafen jedoch das Reisig und entflammten dieses. Die beiden Forstarbeiter ließen ihr Werkzeug fallen und rannten los. Sie wußten, daß es um ihr nacktes Leben ging. Die einzige Chance war der knapp zweihundert Meter entfernt geparkte Jeep, mit dem sie am frühen Morgen hergekommen waren. Weitere Feuernester leuchteten auf. Da wo die Villa mal gestanden haben mußte erhob sich bereits eine lodernde Wand. Weitere Funken fegten heran, prallten an den Stämmen ab oder sähten neue Brände. Die beiden Waldarbeiter hatten das noch nie erlebt, wie schnell sich ein Waldbrand ausbreiten konnte. Sie hatten auch nie damit gerechnet, sowas in Virginia zu erleben, wo es schon brütendheiß werden mußte, um einen Wald anzuzünden. Doch sie kannten Bilder aus dem Fernsehen. Sie wußten, daß ein brennender Wald für jeden, der sich darin aufhielt zur tödlichen Falle wurde, wenn es nicht gelang, gegen die Windrichtung unverbranntes Land zu erreichen. Doch um den Jeep zu erreichen mußten sie quer zur Windrichtung laufen. Zu Fuß würden sie dem Feuer nicht entgehen, wußten die beiden, denen es immer heißer wurde. Mittlerweile wehte auch beißender Qualm von den entfachten Brandherden herüber und drohte, ihnen den Atem zu rauben. Wo war dieser verdammte Jeep? Noch hundert Meter. Will stolperte über eine Wurzel und schlug der Länge nach hin. Doch keine Sekunde später war er bereits wieder auf den Beinen und hetzte weiter, hinter seinem Kollegen Bob her, der im Funkenregen und Qualmnebel versuchte, den verborgenen Halteplatz für die Waldarbeiter zu sehen. Als er im Feuerschein etwas glitzern sah jubelte er, um gleich laut zu husten, weil er eine Ladung Rauch in die Lungen bekommen hatte. Will holte seinen Kollegen ein. Sie wetzten auf den Geländewagen zu, der noch vom Feuer unerreicht dastand. Die letzten Meter keuchten und husteten die beiden Männer. Doch mit übermenschlicher Anstrengung schafften sie es, im immer dichter werdenden Brodem ihr Fahrzeug zu erreichen und sich hineinzuhangeln. Will kramte hektisch nach dem Zündschlüssel. Als er ihn nach ewig erscheinenden vier Sekunden fand und aus der wetterfesten Waldarbeitermontur fischte, leuchtete ihnen die Feuerwand in Richtung der Villa bedrohlich hell entgegen. Will stieß den Zündschlüssel ins Zündschloß und drehte. Doch der Motor gab kein Lebenszeichen von sich. Wieder und wieder versuchte Will, den PS-starken Antrieb in Gang zu setzen. Doch dieser versagte ihm und seinem Kollegen den Dienst.

"Scheiße! Was ist mit der Karre?!" Rief Bob von aufkommender Panik getrieben.

"Die Mühle zickt rum, Bob. Ich krieg die nicht zum laufen, verdammt noch mal!" Schnaubte Will und versuchte erneut, den Motor zu starten. Doch es kam kein Geräusch aus der Antriebsmaschine. Da machte Bob eine grauenhafte Entdeckung. "Scheiße, die Batterie fehlt, Will!"

"Was?!!!" Entfuhr es Will. Dann sah er die gähnende Leere, dort wo die große, kraftvolle Autobatterie eigentlich hätte sein müssen. Irgendwer hatte die mehr als zwanzig Kilo schwere Kraftzelle aus dem Jeep gestohlen und die beiden Arbeiter damit zum Tode verurteilt. Denn ohne die Batterie war auch das im Wagen eingebaute CB-Funkgerät wertlos. Um sie herum eroberte sich der Waldbrand immer mehr Raum, forderte Baum und Strauch zum Opfer. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die beiden wackeren Waldarbeiter vom Feuer umzingelt und dann gnadenlos eingeschnürt und erfaßt würden. Blieb nur noch die Flucht zu fuß?

"Raus und den Weg lang, solange da noch kein Feuer ist!" Befahl Will und hechtete vorbildlich aus dem fahruntüchtigen Jeep hinaus. Bob stürzte sich gleichfalls aus dem Geländewagen und jagte seinem Kollegen nach. Doch der immer dichter werdende Rauch und die langsam unerträgliche Hitze belasteten die beiden Männer immer mehr. Sie meinten nach zehn Metern, schon zweihundert Meter gelaufen zu sein. Bob glaubte, daß in seinen Lungen selbst auch ein Feuer loderte. Doch der Überlebenswille und die Panik peitschten ihn voran. Sie rannten nur mit den Augen auf den immer mehr eingenebelten Weg blickend. Sie mußten den Wald verlassen, bevor die Flammen sie unausweichlich umschlossen hatten. Noch könnten sie nach links in ein unverbranntes Waldstück ausweichen. Doch der Weg war die einzige schnelle Fluchtroute. Dann sahen die beiden, wie vor ihnen ein flackerndes Licht tanzte. Es war rechts und links vom Weg. Ein brennendes Stück vom Haus her mußte weiter geflogen sein, als Will und Bob gedacht hatten. da breitete sich auch schon eine Wand aus Flammen und Funken vor ihnen aus. Weißer und grauer Qualm eilte ihnen mit wie Gespensterarmen nach ihnen greifenden Schwaden entgegen. Die beiden wußten, daß sie verloren hatten. Doch sie rannten weiter, mitten hinein in die Barriere aus Qualm und Feuer. Der Rauch und die Hitze entzogen ihnen die zum Laufen nötige Luft. Sie husteten, keuchten, stolperten, taumelten und stürzten. Sie blieben am Boden, wo die Luft noch atembar war. Sie krochen entschlossen weiter. Ihre schwer entflammbare Kleidung wehrte die ihnen entgegenfliegenden Funken ab. Doch sie fühlten die mörderische Hitze. Das Knistern und Knacken des Feuers wurde immer lauter. Eine Musik der Vernichtung, ihr Abschiedslied in diesem Leben. Doch noch kämpften Bob und Will gegen das ihnen zugedachte Ende an. Sie robbten schnaufend auf dem immer heißer werdenden Weg dahin. Er war gerade breit genug, um Geländewagen und Trucks passieren zu lassen. Doch hoch über ihnen ausgreifende Baumkronen loderten auf und verloren glimmende Stücke ihrer vergehenden Zweige. So ergoss sich ein immer stärkerer Regen aus glimmender Asche auf den Weg vor den beiden. Sie griffen beim Kriechen immer wieder in sengende Reste hinein und zuckten schmerzhaft zusammen. Doch immer noch waren sie nicht erledigt. Sie krochen weiter, Brandblasen an den Händen, Ruß auf der Kleidung und Rauch in den Lungen. Dann begann sich vor Bob die immer wilder lodernde Wand zu drehen. Die Geräusche in der Glut brechender Zweige und Äste wurde zu einem immer stärkeren Rauschen. Er hörte sein Herz immer lauter in seinen Ohren pochen. Noch ein letzter Zug seiner Arme schob ihn weitere zwanzig Zentimeter nach vorne. Dann sank er kraftlos auf dem Boden hin, auf ihm landete glühende Asche. Sein Kollege schaffte nicht einmal einen weiteren Meter mehr. Er zuckte noch einmal. Dann blieb er ohnmächtig liegen. Die Gnade der Rauchgasvergiftung ersparte ihnen die Höllenqualen des Verbrennens. Als die Glut stark genug wurde, um ihre Haare zu entzünden, und als selbst die schwer entflammbare Kleidung der Hitze nicht mehr widerstehen konnte, holte sich der Brand die Opfer, die verzweifelt versucht hatten, ihm zu entkommen. Erst als amerikanische Feuerüberwachungsstellen den brand auf dem Privatgelände der Coals registrierten und Löschmannschaften ausrückten bekamen die zuständigen Behörden Meldung davon. Doch sie kamen zu spät, um den privaten Waldbesitz der Coals zu retten. Erst einen Tag später, am fünften August, gelang es Feuerwehrleuten und Brandermittlern, den eigentlichen Brandherd zu erreichen. Da, wo vor einem Tag noch ein herrschaftliches Haus gestanden hatte, klaffte ein am Rand ausgefranster Krater. In diesem stapelten sich die Trümmer des von einer wuchtigen Explosion gesprenten Hauses. Die Nebengebäude waren bis auf die Grundmauern niedergebrannt und verkohlt. Die Suche nach sterblichen Überresten verlief erfolglos. Niemand hatte sich zum Zeitpunkt der verheerenden Explosion in diesem Gebäude aufgehalten. Als der vor Ort ermittelnde Polizeioffizier Captain Louis Westinghouse erfuhr, daß am Morgen des Brandausbruches die Privatmaschine des Grundstückeigentümers Richtung New York gestartet war, fragte er sich, ob der damit abgereiste Neffe des Besitzers was mit dem Feuer zu tun haben mochte. Laut Flugplan wurde lediglich erwähnt, daß der Pilot der Maschine den Auftrag hatte, einen Passagier zum John-F.-Kennedy-Flughafen zu bringen. Es wurde jedoch nicht erwähnt, um wen es sich handelte.

"Dreister geht's wohl nicht", dachte Westinghouse, der schon einen konkreten Verdacht hatte. Doch weil ihm die Beweise fehlten mußte er zunächst mit seinen Verdächtigungen hinterm Berg halten. Das ärgerte ihn sichtlich. Doch wenn er James Coal eine Brandstiftung in Tateinheit mit Versicherungsbetrug anhängen wollte, brauchte er hieb- und stichfeste Beweise, keine Indizien. Dieser schwarze Geldprotz hat zu gute Freunde im Land, um ihm ohne schlüssige Hinweise am Zeug flicken zu dürfen.

"Captain, wir haben zwei Tote gefunden, zirka vierhundert Meter von hier auf dem Fahrweg für Forstarbeiter. Der Kleidung nach waren es zwei Angestellte von Flanigans Forst- und Parkpflegedienst, die Coal für seinen Privatwald beschäftigte", meldete Lieutenant Spalding, ein gerade dreißig Jahre alter Untergebener des Captains.

"Dann gibt das noch fahrlässige Tötung", schnarrte Westinghouse. Spalding sah seinen Vorgesetzten verdutzt an. "So'ne Villa explodiert nicht einfach, Buck. Wenn wir raushaben, wie das passiert ist, müssen wir rauskriegen, ob das der Eigentümer oder ein ihm feindlich gesinnter Zeitgenosse war."

"Sie tippen auf Versicherungsbetrug?" Fragte Spalding. Der Captain nickte bestätigend. "Hmm, dieser Coal hatte viel Geld. Ich weiß nicht, ob der das nötig hatte, sein Hauptquartier niederzubrennen."

"Dann müssen wir das herausfinden, ob er das nötig hatte, Buck", knurrte der Captain. "Ich will wissen, wer in dem Privatjet von ihm gesessen hat und ob der Vogel nach der Landung in New York zurückbeordert wurde oder immer noch da geparkt ist."

"Sollten wir dann nicht gleich die Feds einschalten, Sir?" Fragte Spalding. Westinghouse verzog erst das Gesicht. Die Leute vom FBI in gerade erst anlaufende Ermittlungen einzuschalten kam einem Schwächeeingeständnis gleich. Doch er war schon zu lange Polizist, um sich an kleinlichem Stolz zu klammern. Wenn hier wirklich ein Verbrechen vorlag, dem mindestens zwei Menschen zum Opfer gefallen waren, und der Täter besaß Mittel, mal eben quer durch die Staaten oder sogar aus diesen hinauszufliegen, mußte er die Jungs aus dem J.-Edgar-Hoover-Gebäude ins Boot holen. Die hatten nun einmal die besseren Mittel, solchen Gangstern hinterherzujagen. Abgesehen davon galt bei Staatsgrenzen überschreitenden Verbrechen eh deren Zuständigkeit. "Okay, Buck. Ich rufe vom Wagen aus das Büro in Richmont an, damit die sich mit ihren New Yorker Kollegen kurzschließen. Erst einmal geht es nur darum, zu klären, wer in dem Jet war. Bis dahin sollen die Feuerwühler hier noch klären, was wann wo und wie heftig explodiert ist. Falls wir mutwilliges Verhalten nachweisen können, dürfen die Feds die Leute aus dem Jet kassieren. Dann können wir gerne die Zuständigkeit klären."

"Verstanden, Sir", erwiderte Spalding und suchte die Brandermittler auf, die darum bemüht waren, alle Spuren zu sichern, ohne vielleicht übersehene Spuren zu verwischen. Westinghouse eilte zu seinem Wagen und ließ sich über verschlüsselten Funk eine Telefonverbindung mit der FBI-Niederlassung in Richmont schalten. der leiter des Büros sagte ihm umgehende Unterstützung zu, als er erfuhr, was passiert war. Westinghouse schloß nicht aus, daß der Hausbesitzer bereits tot war. Um so wichtiger sei es, die Insassen seiner Privatmaschine ausfindig zu machen.

Wenige Minuten später telefonierte Steven Chandler, der Leiter des FBIs in Virginia, mit seinem Amtskollegen in der Stadt New York.

"Die Flugroute haben wir in zehn Minuten", versicherte der Direktor in New York. "Sind die Passagiere als Verdächtige oder nur als zu informierende zu sehen?"

"Der Captain aus der Provinz klang so, als würde er die Leute lieber festnehmen als nur informieren. Aber ich denke, der wagt das nicht, weil noch nichts konkretes vorliegt. Also erst einmal nur finden und beobachten."

"Geht klar, Mr. Chandler", bekräftigte der Leiter der Niederlassung New York.

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Peggy Swann saß wieder in ihrem kreisrunden Haus mit dem silbernen Dach. Sie war noch ganz berauscht von der gesehenen Quodpotpartie. Gerne hätte sie mit dem Jungzauberer Julius Latierre gesprochen, der mit seiner unverhofft früh angetrauten Begleiterin Mildrid und den Foresters in der Ehrenloge gesessen hatte. Doch Larissa hatte ihr geraten, ihn besser unbehelligt zu lassen und statt dessen mit der gemalten Ausgabe von Lady Medea zu reden, solange die Bewohner von VDS noch das große Straßenfest feierten, das zum Anlaß des einhundertfünfzigsten Gründungstages stattfand.

"Der Junge ist bereits verheiratet?" Fragte die in rotem Kleid gemalte Medea von Rainbowlawn. "Interessant. Das haben mir meine Quellen bisher verschwiegen. Was sich daraus für die lebenden Schwestern ergibt kann ich noch nicht genau befinden. Aber wir sollten das sorgfältig bedenken, daß der Junge nun von einer mächtigen Zaubererfamilie beschützt wird."

"Donata wird das sicher ihrer echten Anführerin weitermelden", schnarrte Larissa. Äußerlich und von der Stimme her war sie gerade zwei Jahre alt. Doch in ihrem Körper wohnte eine bereits lebenserfahrene Hexe, die nur gezwungen war, ihr körperliches Dasein völlig neu anzufangen.

"Und ihr denkt nicht, daß Donata nicht genau im Sinne der Entschlossenen handelt, wenn sie den Frieden zwischen euch und Anthelia sicherstellt?" Fragte Medea.

"Frieden?" Fragte Peggy. "Was für ein Frieden soll das sein, wenn wir von einer Fanatikerin heimlich geführt werden, die uns Hexen in Gefahr bringt?" Fragte Peggy Swann, die zugleich Mutter wie Tochter Larissas war.

"Glaubt ihr ernsthaft, Anthelia, die bisher so bedacht aus dem Hintergrund heraus agierte, habe den Tod dieses Hexenfeindes Wishbone befohlen oder durch eigene Macht herbeigeführt?" Fragte Medea. "Derartig kurzsichtig wird niemand sein, die sich aus Daianiras Obhut lösen und diese statt dessen zur Tochter ihrer Base machen konnte. Die Einfachheit eines solchen Anschlages und die weithin verbreiteten Verdächtigungen sprechen für männliche Gewalt."

"Ihr meint, Wishbone habe seinen eigenen Tod befohlen, um uns nachträglich zu schaden?" Fragte Larissa mit ihrer Kleinkindstimme.

"Oder ihn vorgetäuscht", vermutete Medea. Larissa grinste ihre leibliche Mutter an. Offenbar hatte sie derartiges auch schon erwähnt.

"Könnte sein. Wer unter dem Einfluß von Vielsaft-Trank steht und stirbt, verbleibt in der angenommenen Körperform", grummelte Peggy Swann. "Aber dann muß der Körper innerhalb von einem Monat bestattet oder verbrannt werden, weil die Verwesung dann mit zehnmal höherer Geschwindigkeit einsetzt. Das hat Lady Daianira zumindest herausgefunden."

"Steht es nicht im Kristallherold, daß Wishbones Torso morgen auf dem Friedhof seiner Familie väterlicherseits beerdigt wird?" Fragte Larissa schnippisch. Medea sah aus ihrem Bild heraus auf die beiden Hexen herunter.

"Wir müßten ein Stück der Überreste haben, um sie in einen Vielsaft-Trank zu geben. Vielleicht zeigt uns der Farb- und Konsistenzumschlag, ob bereits eine Verwandlung stattgefunden hat", hoffte Peggy. Larissa nickte.

"Dann müssen wir an die Leiche ran, bevor diese vergraben oder in einem magischen Grabmal verschlossen oder gar kremiert wird, falls sie es nicht schon wurde", sagte Peggy.

"Es stand nirgendwo, wo sie ihn haben, um gerade Leute wie uns daran zu hindern, mit den sterblichen Überresten noch was anzustellen, bevor er begraben wird."

"Dann müssen wir ihn aus dem Grab holen oder suchen, wo sein abgetrennter Kopf ist", knurrte Peggy. "Falls Anthelia nichts mit seiner Ermordung zu schaffen hat, brauchen wir sie nicht zu fragen. Falls doch, wird sie uns den Kopf nicht freiwillig herausrücken."

"Vielleicht sollte eine von euch morgen der Beerdigung beiwohnen", sagte Medea. Beide lachten darüber. Dann sagte Peggy:

"Wir haben derzeitig keinen Vielsaft-Trank hier, um jemanden vorzutäuschen, der dort unbehelligt herumlaufen kann. abgesehen davon weiß ich nicht, ob Larissa dadurch nicht Schaden nimmt, sollte sie den Trank einnehmen, weil sie ja durch den Iterapartio-Zauber neues Leben erhalten hat. Und ob ich, obgleich ich sie erfolgreich getragen, geboren und entwöhnt habe nicht auch einen bitteren Preis für eine derartige Verwandlung zahlen muß weiß ich nicht. Vielleicht kann ich unsichtbar dort hingehen."

"Dies vergiss besser gleich, Mom", erwiderte Larissa. "Wenn die auf Leute lauern, die der Familie schaden wollen, werden sie Feindeserkennungszauber wirken. Insofern so oder so keine brauchbare Idee, sich dort einzuschleichen."

"Zu meiner Zeit waren die Feinderkennungszauber noch zu kontern", schnaubte die gemalte Hexenlady.

"Tja, aber seitdem haben die Menschen Amerika und Australien besiedelt, diverse Erfindungen gemacht und Schulen wie Thorntails und Redrock gegründet", entgegnete Larissa vorwitzig. "Sie werden Friedenszauber und Feinderkennungszauber aufrufen, um die Familie zu schützen. Diese Zauber können nur mit Gewalt gebrochen werden. Das wiederum würde Cartridge und seine Leute darauf stoßen, daß wir uns an Wishbone oder seiner Familie vergreifen wollen. Lassen wir das also besser bleiben!" Peggy stimmte dem zu. Auch wenn sie es mal wieder entrüstete, daß Larissa sich als Wortführerin aufspielte und damit aus der ihr zugedachten Rolle fiel, wußte sie, daß es jetzt nichts brachte, sie daran zu erinnern, wer Mutter und wer Kind war. Doch wenn Larissa nicht bald aufhörte, sich mehr herauszunehmen, als ihr durch die Wiedergeburt zugedacht war, mußte Peggy das Verhältnis zu diesem kleinen Mädchen neben ihr neu bewerten.

"So bleibt uns nur, abzuwarten", erwiderte Medea.

"Ich denke, in zwei Wochen, wenn die temporären Schutzzauber verklungen sind, können wir es wagen, Wishbones Grab zu öffnen", sagte Larissa. Doch Peggy widersprach ihr heftig.

"Nachdem was in Hogwarts passiert ist haben die Zauberer und Hexen gelernt, meine Tochter. Der Emporkömmling Riddle hat vor Harry Potter und hunderten von Zeugen damit geprahlt, jenen unberechenbaren Zauberstab aus Dumbledores Grab gestohlen zu haben." Medea machte eine Kopfbewegung, die bei dreidimensional existierenden Wesen ein Nicken sein mußte. Zusetzlich sagte die gemalte Hexenführerin:

"Ich entsinne mich, daß McGonagall und Shacklebolt Dumbledores Grab mit zusetzlichen Schutz- und Meldezaubern belegt haben, um eine neuerliche Grabschändung zu vereiteln. Ich muß also davon ausgehen, daß das, was Wishbones Leichnam sein kann oder nicht, mit gleichwertigen Sicherungen versehen wird." Die beiden natürlich bestehenden Hexen nickten widerwillig. Dann sagte Peggy:

"Warum verlieren wir uns in der Frage, ob wir Wishbones Tod aufklären sollen. Wenn Anthelia ihn umgebracht hat, hat sie ihn umgebracht. Wenn nicht, dann wird ihr daran gelegen sein, die wahren Hintergründe herauszufinden."

"Lassen wir sie also machen, Mom!" Schnarrte Larissa.

"Sagen wir es so, wir setzen Donata unter druck, daß wir uns nicht als Helfershelferinnen einer Mörderin verdächtigen und jagen lassen wollen. Wenn Anthelia den Mord auf dem Gewissen hat, soll Donata sich entscheiden, für wen sie eintritt. Falls Anthelia Wishbone nicht umgebracht hat, soll Donata sie dazu treiben, das klarzustellen, sofern ihr nicht schon selbst daran gelegen ist."

"Falls die nicht wunderbar damit leben kann, als Ministermörderin und Schrecken der amtlichen Zaubererwelt zu gelten", feixte Larissa. Doch Peggy glaubte das nicht. Anthelia würde es wohl ganz groß rausbringen, wenn sie den Minister wirklich hätte töten lassen. Aber sie akzeptierte die Absicht, Donata unter Druck zu setzen, um die Wahrheit herauszufinden.

__________

Das Büro war groß und mit luxuriösen Möbeln vollgestellt. Vier blaue und ein schwarzer Ledersessel mit hohen Rückenlehnen und extragepolstertem Kopfbereich gruppierten sich um einen majestätischen Schreibtisch aus Eichenholz mit dunkelblauer Lederbespannung. Neben den für Chefzimmer üblichen Gerätschaften wie Computertastatur, -monitor und Faxgerät standen hier drei Telefone, die von Farbe und Anordnung her wie eine Verkehrsampel wirkten. Das signalrote Telefon galt hierbei als das, auf dem die dringenden Anrufe einliefen oder getätigt wurden. Das Gelbe war für die Verständigung mit dem leitenden Personal, sowie mit Vorzugskunden, die noch nicht die Wichtigkeit Rot erlangt hatten, aber schon einträglicher waren, als die Presseleute und Kleinkunden, die mit dem grasgrünen Telefon abgefertigt wurden, sofern die im Vorzimmer postierte Sekretärin überhaupt wen darauf umschaltete und nicht schon vorher abwimmelte. Eigentlich hatte Gordon Stillwell sich noch ein goldenes Telefon für ganz besondere Partner oder Kontakte in die Politik zulegen wollen. Doch mit dem Ampelmodell war er dann doch zufrieden. Wer ihn auf dem roten Apparat anrief kannte die direkte Durchwahl und mußte nicht an seiner wackeren Sekretärin vorbei. Aus diesem hocherlauchten Kreis war gerade jemand am anderen Ende. Martin Unterwieser aus Zürich, sein heißer Draht zum Bankenparadies Schweiz. Gordon hörte sich die Alarmbotschaften an, daß sein "Finanzseismometer" erste Erschütterungen des in den letzten Jahren so in Fahrt gekommenen Internetmarktes ermittelt hatte. Kaufen, Halten oder Abstoßen? Das war jetzt die Frage. Stillwell mußte auf diese ihm jetzt so sinnvoll wie ein Hausgrundstück auf dem Jupiter vorkommende Frage eine Antwort geben, die seinen zürcher Kontaktmann nicht argwöhnen ließ, was Stillwell seit einigen Tagen wirklich umtrieb. Das unheimliche, das ihm innewohnte, drängte danach, endlich eine große Armee aufzustellen. Doch Gordons verbliebener Verstand hatte deutlich erkannt, daß jedes unvermittelte Verschwinden unnötige Neugier auslösen würde. Vor allem, wenn doch wer wegen der abgebrannten Villa ermitteln würde. Eigentlich rechnete er bereits seit seiner Landung in New York mit Anfragen der Polizei oder einer Benachrichtigung. Das Schweigen in dieser Angelegenheit trog. Das wußte Stillwell und sein neues Ich, Ruben Coal. Wenn sie Macht über möglichst viele Menschen erringen wollten, dann mußten sie ihre bisherigen Kräfte vereinen. Gordon wollte sich als Geldbeschaffer und Besitzer diverser wichtiger Kontakte behaupten, während Ruben in den Nachtstunden seine dunkle Macht benutzte.

"Ich gebe dieser Sparte gerade noch ein oder zwei Jahre, Martin. Dann zerplatzt die Seifenblase. Aber wenn wir jetzt auf Teufel komm raus abstoßen, was wir haben, würden wir am Ende anderswo verluste machen. Deshalb tauschen wir nur ein paar Aktien aus", sprach Stillwell in den Telefonhörer und erläuterte seinem Gesprächspartner in Übersee, wie sie vor dem möglichen Zusammenbruch noch mehrere Millionen herausziehen konnten. Den großen Schlag wollte er demnächst landen, wenn er alle in den Staaten angelegten Werte zu Geld machte und dieses Geld über Zürich auf die Kaiman-Inseln umleiten würde.

"Dann sprechen wir uns in zwei Tagen wieder, Gordon?" Fragte Unterwieser. Stillwell bestätigte das und verabschiedete sich.

"Schon bald wird euch allen alles Geld nichts mehr nützen, Sklaventreiberkinder", scholl es in Stillwells Kopf. Gordon fühlte, wie die unheimliche Präsenz sich wieder stärker hervordrängte. Wieder fühlte er es in allen Fasern, daß er nicht mehr dafür leben durfte, anderer Leute Geld zu rangieren, zu häufen und zu verteilen. Bald schon mußte er aufbrechen, um den Rachefeldzug gegen die weißen Unterdrücker und gegen die Erben der unseligen Königin beginnen.

"Lucy, wenn Bennings noch einmal anruft legen Sie ihn mir auf Gelb! Könnte doch wichtig werden", sprach Stillwell in das Mikrofon der Gegensprechanlage. Lucy Peters bestätigte die Anweisung. Dann erinnerte sie ihren Chef daran, daß um drei Uhr nachmittags das Treffen mit den Fondmanagern von der Charleston-Bank für gewerbliche und landwirtschaftliche Grundstücke angesetzt war. Die hatten ihm den Ankauf von Krediten angeboten, um ihre eigenen Finanzen wieder flottzumachen. Gordon Stillwell hatte derlei schon häufiger erworben, um die Schuldner dann noch stärker strampeln zu lassen. Sein großer Traum war es vor dem Zusammentreffen mit Samedis Sohn gewesen, die Schuldscheine von kleinen Ländern in die Hände zu bekommen, um die kleinen Staaten für sich arbeiten zu lassen. Doch diesen Traum konnte er jetzt auf andere Weise erfüllen. Geld brauchte er jetzt nur noch, um beweglich zu bleiben. Denn eines hatte ihm der Transport von acht seelenlosen Dienern gezeigt: Wer wollte, daß keine Fragen gestellt wurden, mußte sehr gut zahlen. Und wer wollte, daß die Leute auch nichts weitererzählten mußten noch besser zahlen. Immerhin bunkerte er die acht hingemordeten und vom Fluch der rastlosen, aber ihrem Meister gnadenlos ergebenen Verwandten und Diener in einem Lagerhaus, das er sonst nur für die Übernahme brisanter Güter buchte, die nicht offiziell transportiert werden konnten.

Kurz vor zwölf Uhr Mittags schrillte das rote Telefon. Stillwell nahm ab und meldete sich.

"Paxton hier, Sir", meldete sich eine aufgeregte Männerstimme. Dann kam das Codewort "Eilauftrag", was Stillwell den an das rote Gerät angeschlossenen Zerhacker einschalten ließ. Dann sprach Paxton weiter. "Die Feds sind an Ihnen dran wegen dem Haus Ihres Onkels in Virginia. Das Haus ist restlos niedergebrannt und hat dabei noch einen halben Wald mit eingeäschert. Könnte sein, daß Hoovers Jungs Sie wegen Erbschaftsangelegenheiten befragen könnten."

"Wie bitte?" Fragte Gordon scheinbar sehr erschrocken. Doch ein hinterhältiges Lächeln umspielte seinen Mund. Paxton, sein sachter Faden im Netz der Kriminalbehörden, wiederholte seine Warnung. "Mein Onkel?" Fragte er scheinheilig besorgt. Als er die Meldung erhielt, daß niemand in dem Haus gewesen sei, es aber im umliegenden Waldstück zwei Tote gab tat er sehr erschüttert und erwähnte, daß er sich gerne mit den Leuten vom FBI unterhalten würde, wenn diese bei ihm anriefen. Paxton erwiderte, daß er nur bescheidgeben wollte. Natürlich dürfe Gordon Stillwell nichts unternehmen, bis er von irgendwem erfuhr, daß sein Onkel, sowie seine anderen Verwandten wohl in einem verheerenden Brand ums Leben gekommen seien.

Jetzt war Stillwell alarmiert. Denn wenn das FBI schon an der Sache dran war, dann wurde auch ermittelt. Wegen simpler Erbschaftsangelegenheiten standen Hoovers Mädchen und Jungen nicht auf. Er dachte daran, daß er ja vorher mit seinem Privatjet gestartet war. Diesen Flug hatte er ja anmelden müssen. Von da an wäre es ein kurzer Weg, die offiziellen Insassen zu ermitteln. Würde die Ermittlungsbehörde ihm Brandstiftung vorwerfen? Höchstens dann, wenn sie konkrete Spuren hatten. Doch Stillwell grinste. Er hatte die Explosion der Villa durch ein schwarzmagisches Ritual der Sonne ausgelöst. Erst wenn genug Sonnenstrahlen auf das Haus fielen, hatte es zu brennen begonnen. Die Explosion war dann mehrere Minuten später erfolgt. Die würden sich am Brandherd dumm und dämlich suchen, wenn sie Spuren von Zündern oder Sprengstoff suchten. Nichts konnte mit ihm in Verbindung gebracht werden. Er würde die FBI-Leute einfach herumsuchen lassen. Doch unterschätzen durfte er die auch nicht. Er hatte einen Zeugen, der durchaus gefährlich werden konnte, Hank Wallace. Zwar hatte der Pilot für seinen Flugdienst neben der Drohung, ihn heimzusuchen und umzubringen auch ein Fürstliches Honorar für seine Verschwiegenheit erhalten. Doch wer wußte schon, was die Feds ihm anboten, um ihn zur Aussage zu bringen. Immerhin hatte er sich von Hank Wallace eine Blutprobe und ein Haar besorgt. Damit mußte er ihm nicht persönlich auf die Bude rücken. Hier hatte er weder die Ruhe, noch war er unbeobachtet genug, um das entsprechende magische Ritual durchzuführen, um den Piloten aus sicherer Entfernung zu quälen oder zu töten. Dieses Treffen mit den feisten Nadelstreifenbonzen aus Charleston, die ihm die fällig werdenden Schulden einfacher Bauern anbieten wollten, war zu wichtig für die Aufrechterhaltung seiner Tarnung. Doch abends würde er Hank Wallace bearbeiten, nichts auszusagen und qualvoll zu sterben, wenn er den Leuten vom FBI schon was verraten hatte. Aber nein, er konnte sich diesen Piloten ganz einfach vom Hals schaffen und dabei noch ein paar überneugierige FBI-Agenten von der Erdoberfläche verschwinden lassen. Aber dann, so wußte er, mußte er zusehen, unsichtbar und unaufspürbar zu werden, bis er stark genug war, offen gegen seine Feinde zu kämpfen.

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"Das ist nicht euer Ernst, daß ihr da eine Riesenexplosion mit Krater und Waldbrand habt, aber bis heute nicht rauskriegt, wie die ausgelöst wurde", bellte Direktor Jason Cutter, Leiter der FBI-Zentrale in New York. Seine beste Außeneinsatzagentin Samantha Brownlow war anwesend, als er mit dem FBI-Direktor in Richmont sprach.

"Sieben Tage ist das jetzt her. Dieser Gordon Stillwell landete ganz ungeniert auf dem John-F.-Kennedy-Flughafen und hat sich da mit einem gepanzerten Transporter abholen lassen. Das alleine würde schon reichen, ihn zu verdächtigen, irgendwas wertvolles bei Seite geschafft zu haben, bevor der Brand ausbrach. Aber wir konnten ihn nicht festnehmen, solange kein konkreter Verdacht auf ihn fiel. Nachher hat der etwas wertvolles von seinem Onkel in seine eigene Bank transportiert und ist ansonsten unschuldig wie ein Junge vor dem ersten Schultag. Wenn Sie schon nicht sagen können, was die Explosion ausgelöst hat, dann verraten Sie mir bitte, was sie als Auslöser ausschließen können!"

"Also im wesentlichen sind ein Propangas- und ein Heizöltank explodiert. Aber die Überreste der Behälter weisen darauf hin, daß die nicht die Menge enthalten haben können, um gleich ein so großes Loch in den Boden zu reißen und zwanzig Quadratmeilen Wald niederbrennen zu lassen. Jedenfalls wissen wir, daß weder ein Kurzschluß, noch gezielt angebrachter Sprengstoff die Explosion ausgelöst haben. Wir wissen auch, daß im Haus selbst wohl kein genauer Brandherd entdeckt werden konnte. Irgendwie muß sich das Feuer gleichmäßig über das ganze Haus verteilt haben. Aber jetzt fragen Sie mich bitte nicht, wie sowas geht! Ohne Brandbeschleuniger kann selbst der gewievteste Feuerteufel sowas nicht hinkriegen."

"Hat er oder sie aber offenbar getan", erwiderte Cutter. Sein Kollege in Richmont bestätigte es mißmutig. "Wir müssen das noch genau klären. Wenn es ein Brandmittel war, das nach der Entzündung keine chemisch auswertbaren Reste mehr hinterläßt, hätten wir da einen sehr ausgefuchsten Brandstifter am Werk. Ich kann zumindest verbindlich sagen, daß das Feuer und die Explosion nicht durch fahrlässigkeit oder schadhafter Elektroinstallationen oder -gerätschaften ausgelöst wurde. Falls Ihnen das ausreicht, ermitteln Sie gegen diesen Gordon Stillwell. Abgesehen davon suchen wir immer noch nach dem Besitzer, James Coal. Im Haus und im Wald konnten keine sterblichen Überreste gefunden werden. Die beiden Toten waren die Forstarbeiter, die überstehendes Unterholz von den Waldwegen beschneiden sollten."

"Ein Brand, der ein Haus auf einen Schlag erfaßt, ohne sich von einem bestimmten Punkt her auszubreiten gibt es nicht. Das wäre dann ja ein echter Feuerteufel, der was von der Höllenglut selbst auf das Haus losgelassen hätte", scherzte Cutter sehr verdrossen. "Womöglich war es ein gasförmiges Brandmittel, das im richtigen Gemisch die Entzündung herbeigeführt hat, ein Wasserstoff-Sauerstoff-Gemisch zum Beispiel."

"Hätte entsprechende Behältnisse hinterlassen müssen, Kollege Cutter. Wir sind weder blind noch nachlässig", erhielt er von seinem ranggleichen Kollegen zurück. Cutter nickte. Wäre ja auch wirklich armselig gewesen, einen Tank mit Wasserstoff, der so eine Explosion auslösen konnte zu übersehen. So blieb der Verdacht auf Brandstiftung zwar bestehen, aber ohne konkrete Indizien und ohne konkrete Zielperson. Denn wenn der Villenbesitzer selbst nicht aufgefunden wurde, so hätte der sein Haus selbst abfackeln können und sein Neffe Gordon Stillwell würde völlig zu Unrecht beschuldigt. Cutter hatte sich schlaugemacht. Stillwell verdiente mit seiner kleinen aber erfolgreichen Bank jeden Monat an die zehn Millionen, obwohl Börsenaufsicht und Finanzamt, ja sogar die für die Währungssicherheit zuständige Abteilung der Präsidentengarde immer wieder versucht hatten, ihm unlautere Geschäftsmethoden anzuhängen. Stillwell besaß die gesellschaftliche Natur einer Teflon-Pfanne. An ihm schien nichts hängen zu bleiben, egal wie intensiv man ihn ausforschte. Auch stellte sich die Frage, welchen Nutzen er haben sollte, das Waldhaus seines Onkels niederzubrennen, ohne seinen Onkel und dessen Kinder gleich mit umzubringen. Vielleicht hatte James Coal selbst mit dem Feuer und der Explosion zu tun und hatte seine Familie und sich in Sicherheit gebracht, nicht ohne seinem Neffen vorher noch was wichtiges anzuvertrauen oder, was auch leider schon vorgekommen war, ihn als Opferlamm beziehungsweise Sündenbock zu präsentieren. Jedenfalls war die Sache eine FBI-Angelegenheit. Denn bei den Möglichkeiten von Onkel und Neffen mußte die Bundesermittlungsbehörde an der Sache bleiben, um sofort in anderen Bundesstaaten in Aktion zu treten oder gar mit ausländischen Behörden zusammenzuarbeiten.

"Die Kollegen in Richmont treten also auf der Stelle", sagte Samantha Brownlow, eine 1,80 Meter große, schlanke aber athletisch wirkende Frau, die leicht für ein Topmodel gehalten werden konnte. Diesen trügerischen Eindruck bestärkten die hellblauen Augen der FBI-Agentin und die hohen Wangenknochen.

"Ich weiß nicht, was bei denen los ist, Sam. Das sind doch keine Idioten. Oder passiert denen in Virginia zu wenig, als daß die sich auf dem laufenden halten müßten."

"Das denke ich auch nicht, Direktor Cutter. Ich kann mir eher vorstellen, daß jemand mehrere hundert Brandsätze zeitgleich gezündet hat. Die Explosion dürfte zudem einen exakten Brandherd kaschieren", sagte Samantha Brownlow. Ihre helle Stimme hätte einer Operndiva angestanden.

"Wir beobachten diesen Gordon Stillwell noch eine Weile und sehen, ob er sich verdächtig macht. Für ein Abhören seiner Telefonanschlüsse fehlt mir aber leider noch die konkrete Rechtfertigung", erwiderte Cutter. "Kostet uns zwar Personal. Aber wenn wir damit einen heimtückischen Anschlag aufklären können ..."

"Es bleibt dabei, daß das Büro weiter für diese Sache zuständig ist?" Wollte Samantha wissen. Ihr Chef bestätigte das durch Nicken. "Dann schlage ich vor, wir binden alle Brandsachverständigen und Experten für scheinbar unlösbare Vorkommnisse mit ein."

"Sie denken da nicht zufällig an diesen Burschen aus New Orleans, dem nachgesagt wird, er kenne sich mit okkulten Sachen aus?" Fragte Cutter verhalten lächelnd.

"Nun, offenbar haben wir es hier mit einer Tat zu tun, bei der der oder die Täter sich angestrengt haben, keine Spuren zu hinterlassen oder es mysteriös aussehen zu lassen. Da würde jemand, der sich mit allen Tricks von zauberkundigen und Anhängern finsterer Glaubensgemeinschaften beschäftigt sicher was finden, was routinierte Leute übersehen haben", rechtfertigte Sam Brownlow ihren Vorschlag.

"In Ordnung, Sam. Ich sehe, ob ich den Kollegen in Richmont überzeugen kann, diesen Experten anzufordern", sagte Cutter und ließ sich erneut mit der FBI-Zentrale in Virginia verbinden. Sein Amtskollege war nicht sonderlich begeistert, als er den neuen Vorschlag hörte.

"Wozu soll das gut sein, wenn in New Orleans nichts mit unserem Fall zusammenhängendes anliegt?" Wurde Cutter gefragt.

"Weil die da dauernd mit Leuten zu schaffen haben, die so tun, als wären es echte Hexen und Zauberer und den Leuten durch ihren Hokuspokus das Geld oder gleich die Seele aus dem Hemd ziehen", wußte Cutter die passende Antwort. Sein Gesprächspartner willigte murrend ein, die Kollegen in der Stadt am Mississippidelta einzubeziehen und den Wunderknaben nach Richmont zu bitten.

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Der neunte August begrüßte die Bewohner von New Orleans mit dunstigem Himmel. Zachary Marchand saß in seinem Büro, wo er im Grunde Abstand von der Zaubererwelt nehmen konnte, solange sie nicht in die Welt der Magielosen hineinstrahlte. Jeden Tag hatte er damit gerechnet, daß diese Sardonianerin sich melden und den Mord an Wishbone zugeben oder energisch bestreiten würde. Doch sie hatte sich nicht gerührt. Zumindest hatten die Zeitungen von nichts Wind bekommen. Und auch im Ministerium herrschte eine bange Angespanntheit, ob Cartridge nicht der nächste sein mochte, der den Hexenschwestern zum Opfer fallen sollte.

"Zach, Old Weiny hat wieder was von sich hören lassen", vermeldete Zacharys Chef Wilberforce. Zachary Marchand nickte. Rupert Weinberger, der Sohn eines vor den Nazis geflohenen Deutschjuden, hatte sich in den letzten anderthalb Jahren in vier Bundesstaaten als Drogenschmuggler hochgearbeitet und sich mit einflußreichen Clans aus Südamerika zusammengetan. Er galt als kultiviert und hochintelligent, konnte aber auch gnadenlos brutale Entscheidungen fällen. Manchmal sehnte Zach die Zeit eines Hugo Laroche zurück, selbst wenn er diesem Verbrecher eine seiner schmachvollsten Niederlagen zu verdanken hatte.

"Hat man wieder einen kleinen Kurier erwischt oder was?" Wollte Zach wissen.

"Nein, der feine Herr ist von den Kollegen der guardia Civil in San Sebastian erkannt worden, als der sich mit einem mutmaßlichen ETA-Führer getroffen hat. Könnte sein, daß Old Weiny jetzt auch in Terrorismus investiert oder in den Waffenhandel einsteigt."

"Und die spanischen Kollegen haben die beiden nicht kassiert?" Fragte Marchand verbittert.

"Sie wollen erst wissen, ob die ETA demnächst wieder was vorhat. Es war in den letzten Jahren verdächtig ruhig um diese Separatisten", erwiderte Wilberforce.

"Wenn Weinberger echt Laroches Erbe werden will, bringen es die aus Krankenhäusern abgezweigten Medikamente und das Kokain aus Peru und Kolumbien allein nicht. Die wollen also erst wissen, was bei denen passieren soll. Vielleicht sollten wir einen Haftbefehl gegen Weinberger erwirken und ..." Wilberforces Telefon läutete. Marchand nickte seinem Chef zu und machte Anstalten, das Büro zu verlassen, damit Direktor Wilberforce in Ruhe und ohne Zuhörer telefonieren konnte. Die Anzeige im Apparat verriet, daß es ein Anruf im FBI-eigenen Hochsicherheitstelefonnetz war, das nur die Niederlassungen in größeren Städten und das Hauptquartier benutzten. Die dreistellige Ziffernfolge am Ende verriet, woher genau der Anruf kam. Wilberforce sah Zachary an und hielt ihn mit einer Handbewegung zurück. "Richmont, Virginia. Da wohnt Weinbergers jüngere Schwester Rebecca", sagte er, bevor er den Telefonhörer abnahm. Er wechselte einige Sätze mit dem Kollegen in Richmont. Dann nickte er und deutete auf Zachary Marchand. "Da haben Sie Glück, der betreffende Agent ist gerade bei mir im Büro. ... Hmm, na ja, als Experten für unerklärliche Phänomene würde ich ihn nicht anpreisen. Zumindest möchte ich dies nicht offiziell tun. ... Hmm, und Ihre Mitarbeiter haben alle Möglichkeiten erwogen? ... Ja, das spricht allerdings für einen bislang unerklärten Vorgang. ... Ich kann ihn zu Ihnen schicken oder gleich ans Telefon holen. ... Kein Problem!" Er reichte Marchand den Hörer. Der FBI-Agent meldete sich und hörte sich an, was der Direktor der FBI-Niederlassung Richmont auf dem Herzen hatte. Eine Villa war mit einem Großteil des um sie angelegten Waldgrundstückes verbrannt, regelrecht explodiert. Allerdings waren weder ein eindeutiger Brandherd, noch Spuren von Sprengstoff gefunden worden. Das alarmierte Zach schon. Denn die moderne Brandermittlung konnte Feuer und Explosionen heute sehr gut nachvollziehen. Dann hörte er, daß der Eigentümer des Hauses unauffindbar war. Der Neffe des Hausbesitzers sei einige Tage zuvor mit seiner todkranken Mutter angekommen, um sie seinem Vetter zur ärztlichen Behandlung anzuvertrauen. Allerdings sei nur dieser Neffe nach New York zurückgekehrt. Er werde dort von den Agenten vor Ort überwacht.

"Nun, den Krater von dem Brand anzusehen brächte mir wohl nicht mehr viel ein", sagte Marchand. "Haben Sie schon im HQ nachgefragt, was wir über diese Familie Coal in den Datenbanken haben?"

"Eine der wenigen reinrassig afroamerikanischen Familien, die nach dem Ende des Bürgerkrieges nicht nur in den Südstaaten blieben, sondern dort noch gegen alle Widerstände zu Vermögen und Ansehen gelangen konnten. Die Kollegen im Hauptquartier haben uns natürlich alle Daten geschickt, die sie hatten. Allerdings gibt es da eine Lücke zwischen 1840 und 1882. Zumindest haben diese Leute keine Verbindung zu Sekten oder terroristischen Gruppierungen oder dem organisierten Verbrechen. Auffällig ist nur, daß in jeder Generation ein Mann aufwuchs, der durch überdurchschnittliche Fähigkeiten viel Geld verdienen konnte", erfuhr Marchand. Als ihm die Talente der aktenkundigen Familienangehörigen aufgezählt wurden bimmelte in seinem Kopf eine leise Alarmglocke. Als er dann erfuhr, daß sowohl Andrew Coal, wie dessen Cousin Gordon Stillwell in ihren Berufen unfehlbar und überragend waren, blinkte vor seinem geistigen Auge noch eine gelbe Warnlampe auf. Er erkundigte sich, ob aus der Zeit vor der Informationslücke bekannt sei, woher die Familie kam, bevor sie in die Sklaverei getrieben wurde.

"Stimmt, das ist eine interessante Sache. Der Vater von Ruben Coal, dem letzten aus der Linie, der noch als Sklave auf einer Plantage in der Nähe des verbrannten Städtchens Hillcrest gearbeitet hat, stand im Ruf, ein Hexendoktor zu sein, meinetwegen auch Urwaldarzt, Medizinmann oder Schamane. Ich weiß nicht, wie die korrekte Bezeichnung lautet. Jedenfalls geht aus einigen Unterlagen von Plantagenbesitzern hervor, daß dieser Ruben damit gedroht hat, ihm mißliebige Stammesangehörige mit einem Fluch zu belegen. Vielleicht hat der was ähnliches aufgezogen wie Ihre Marie Laveau."

"Voodoo?" Fragte Marchand keineswegs amüsiert.

"Vooddoo oder was auch immer. Aber ich denke mal, das beruhte ja ganz auf Einbildung. Wer glaubte, verflucht zu sein, fühlte sich eben unwohl oder verhielt sich so tolpatschig, daß ihm oder ihr nichts gelang."

"Ich kenne diesen Effekt", erwiderte Marchand leicht ungehalten. Dann sagte er: "Nun, ich kann zu Ihnen herüberkommen und mir den Krater ansehen. Aber wenn das schon einige Tage her ist sehe ich keine große Chance, die Brandursache herauszufinden. Aber ich habe einige Erfahrung mit den okkulten Vorstellungen und Riten früherer Sklaven. Falls Sie da noch was wissen möchten ..."

"Sie glauben also, die Vergangenheit dieser Familie könnte die Ursache für den Brand sein?" Fragte der Direktor in Richmont zurück. Marchand überlegte einige Sekunden. Dann antwortete er:

"Ich schließe zumindest nicht aus, daß jemand diese Vergangenheit benutzt, um uns auf eine falsche Spur zu führen. Deshalb sollten wir genug darüber wissen, um scheinbar so brisante Dinge einzuschätzen. Sie erwähnten da eine Stadt, die verbrannt sein soll. Was war das für eine Stadt?" Er erfuhr, daß sie Hillcrest geheißen habe und von 1820 bis 1859 bestanden hatte. Dann sei aus einem unerfindlichen Grund Feuer ausgebrochen, habe die ganze Stadt in Schutt und Asche gelegt und jeden dort getötet. Irgendwie muß den Leuten dieser Ort dann unheimlich vorgekommen sein. Niemand habe seitdem versucht, dort wieder ein Haus aufzubauen. Hillcrest existiere heute nur noch in spärlichen Aufzeichnungen und Briefen dort lebender Bürger. Marchand nickte und antwortete seinem Gesprächspartner am Telefon, daß es schon merkwürdig sei, daß die Familie Coal zweimal im Zusammenhang mit mysteriösen Bränden erwähnt wurde. Vielleicht sollte er sich Hillcrest oder den mutmaßlichen Ort, wo es mal gewesen war, genauer ansehen. Andererseits interessierten ihn die heute lebenden und gerade unauffindbaren Familienangehörigen eher. So fragte er, ob sie ihn wirklich bei dem abgebrannten Haus haben wollten. Der Leiter der FBI-Niederlassung Richmont verneinte es. Offenbar hatte Zachary Marchand ihn auf eine interessante Idee gebracht. "Da wir aus New York gefragt wurden, ob wir uns mit Ihnen besprechen, können Sie ja bei denen anfragen, ob die schon was neues wissen", hörte er seinen Fernsprechpartner vorschlagen. Marchand bejahte es. In New York war zumindest dieser Gordon Stillwell aufgetaucht, der als wahres Finanzgenie galt."

"Hmm, dann klären Sie das mit den Kollegen in New York!" hielt Richmonts FBI-Direktor seinen Vorschlag aufrecht. Dann durfte Zachary den Hörer wieder an seinen Chef zurückreichen.

"Na ja, zaubern kann Sonderagent Marchand ja leider nicht, auch wenn er sich mit scheinbar übernatürlichen Sachen befaßt. Wenn der Brand schon mehr als fünf Tage her ist ... Ja, machen wir", sagte Wilberforce in den Hörer. Zach Marchand mußte sich sehr anstrengen, weder zu blinzeln noch zu grinsen, als sein Chef erwähnte, daß er nun einmal nicht zaubern könne. Dann endete das Gespräch mit Richmont, um gleich von einem von hier ausgehenden Gespräch nach New York gefolgt zu werden. Dieses Gespräch führte dazu, daß Zach Marchand den Auftrag erhielt, heute noch in die Theater- und Finanzmetropole an der Ostküste zu reisen. Marchand rief mit Wilberforces Erlaubnis die ihm dort bekannte Kollegin Samantha Brownlow an und kündigte seine Ankunft an. Danach durfte er zu sich nach Hause und einige Sachen packen. Weinbergers Spanienreise würde von anderen Kollegen weiterbetreut.

Zachary Marchand fuhr jedoch nicht sofort zu seinem Haus, sondern benutzte die sehr wenigen Leuten bekannte Durchfahrt in eine alt wirkende Straße, in der kuriose Häuser und Geschäfte nebeneinander aufgereiht waren. Wie lange war er nicht mehr im Weißrosenweg gewesen? Er sicherte seinen Wagen gegen unbefugten Zutritt. Seitdem Jane Porter ihm damals verraten hatte, wie sie sein einbruchssicheres Haus doch noch betreten konnte, hatte er auch für seinen Dienst- und Privatwagen gesonderte Schutzzauber ausgeführt, um jeden Einbrecher abzuwehren. Das Ziel des muggelstämmigen Zauberers war das Kontaktbüro des Laveau-Institutes, das im Gebäude der nordamerikanischen Zauberervereinigung untergebracht war. Er mußte mit Davidson selbst sprechen. Dieser hatte seinen Kaminanschluß jedoch nicht öffentlich bekannt gegeben. So blieb ihm nur der umständliche Weg über das Kontaktbüro. Dort hatte gerade ein scheinbar indianischstämmiger Zauberer Dienst, der von Hals bis zu den Hüften in dünnem Pelz gekleidet war und unter seinem Schreibtisch eine bauchige Trommel verstaut hatte, deren Rahmen aus Knochen zu bestehen schien und deren Fell mit merkwürdigen Symbolen verziert war, die Marchand nicht kannte.

"Ah, der Polizist", grüßte ihn der Zauberer im Kontaktbüro, als Marchand sich durch Handauflegen an der Tür und Nennung seines Namens Zutritt erbeten hatte. "Die selige Jane Porter erwähnte mal, daß Sie mit ihr zusammengearbeitet hätten. Achso, ich bin Louis Anore." Marchand schalt sich insgeheim einen blinden Maulwurf. Das hätte er doch gleich erkennen müssen, daß der bronzehäutige Mann da kein Indianer sondern ein Eskimo war. Dann war der womöglich mit schamanistischen Ritualen vertraut. Das erklärte dann auch die Zeremonientrommel unter dem Tisch und warum die nicht aus Holz oder Metall, sondern einem großen Knochen gearbeitet war.

"Hmm, sie hat mir auch mal von einem Schamanen der Eskimos erzählt, der im Institut arbeitet", erwiderte Marchand. "Das sind Sie dann wohl."

"Schamane ja, aber ich bin ein Inuk und kein Eskimo", korrigierte der Laveau-Mitarbeiter. Marchand entschuldigte sich für diesen politisch inkorrekten Ausdruck. Anore räumte ein, daß es auch Völker am Nordpol gab, die sich mit der allgemeinen Bezeichnung Eskimo also Rohfleischesser, nicht so schwertaten wie Lappen oder Inuit. Dann durfte Zach sein Anliegen vorbringen.

"Wir haben in Virginia ein Haus, das ohne von Muggeln nachvollziehbare Ursache explodiert ist und dabei einen Waldbrand ausgelöst hat. Das Haus gehörte einer dunkelhäutigen Familie, die ihre Ahnenreihe bis zu den letzten Sklaven in den Staaten zurückverfolgen kann. Der Hausbesitzer ist verschollen, sein Neffe in New York. Meine Muggelkollegen vermuten, daß es Brandstiftung war, obwohl sie wie erwähnt nichts finden konnten, was Feuer und Explosion ausgelöst hat, aber eben auch keine schadhaften Elektrogegenstände, die Funken hätten sprühen können. Warum ichjetzt hier bin liegt daran, daß die Vorfahren dieser Leute den Ruf hatten, Medizinleute gewesen zu sein oder animistische Magie gewirkt zu haben. Meine Kollegen tun das natürlich als reine Glaubenssache und Suggestion ab, weil sie ja nicht wissen, daß es echte Magie gibt."

"Ja, und weiter?" Fragte der Schamane nach einigen Sekunden. Zachary zählte die ihm erzählten Fakten auf, die im Zusammenhang mit der Familie Coal standen. Anore blieb nach außen hin gefaßt. Doch marchand bemerkte, daß der Laveau-Zauberer wohl sehr konzentriert dreinschaute.

"Und jetzt möchten Sie wissen, ob wir vom LI Unterlagen haben, die das bestätigen?" Fragte er. Zachary nickte. Dann sollte er noch mal die Namen nennen, die er gehört hatte.

"Das interessiert Mr. Davidson sehr dringend", rückte Anore nun heraus. "Wir haben Unterlagen über einen Ruben Coal und einen seiner Söhne. Doch die haben sich unserer weiteren Überwachung entzogen. Jetzt wird mir auch klar, warum."

"Ach, dann ist da was dran, daß diese Leute Magie im Blut hatten oder haben?"

"Eindeutig. Ruben Coal war ein Totentänzer, ihr Euroamerikaner würdet Zombiemeister oder Voodoopriester dazu sagen. Er konnte sich in eine kraftvolle Trance hineintanzen und aus dieser heraus lebendigen Menschen Lebenskraft, ja deren Seele entziehen und sie dann als seine seelenlosen, körperlich toten Untertanen auferstehen und handeln lassen. Die lebenden Toten, die er auf diese Weise erschaffen konnte, gehörten zu der Kategorie der Selbstversorger. Sie konnten also durch den Verzehr von Menschenfleisch und -blut Stärke gewinnen und gleichzeitig Abkömmlinge schaffen, unabhängig von ihrem Standort, was sie von den aus dem Altertum bekannten Inferi unterscheidet, die nur in der Nähe ihres Schöpfers oder an magisch auf sie einwirkenden Orten animiert bleiben."

"hat Ihnen Professor Bullhorn oder Professor Purplecloud sicher so erzählt", erwiderte der Schamane. "Also wir Inuit kennen auch den Zwang zum Nachleben, ein Ritual, das gewaltsam getötete Menschen mit Scheinleben erfüllt und eine gewisse Zeit lang herumlaufen läßt. Allerdings können wir Schamanen diese Wesen auf große Entfernung spüren und ihr seelenloses Dasein durch entsprechende Gesänge beenden, weshalb dunkle Schamanen davon seltenst gebrauch machen und lieber Todesgeister ausschicken, die Opfer heimsuchen. Aber zurück zu Coal. Er war, wie erwähnt, ein Totentänzer. Ob er sich diese Fähigkeit antrainiert hat oder von einem Vorfahren erlernt hat wissen wir nicht genau. Feststeht nur, daß er von irgendwo herkam und versucht hat, Marie Laveau zu töten. Es kam wohl zu einem Ritualduell, bei dem Ruben von den auf ihn zurückprallenden Zauberkräften selbst getötet wurde. Mr. Davidson kann Ihnen dazu mehr erzählen. Ich bitte ihn gleich her." Anore ergriff seine Trommel und zwei aus Knochen geformte Schlegel mit Fellkugeln an den Enden und schlug nur wenige Sekunden lang einen schnellen Rhythmus, wobei er mit leiernder Stimme einen kurzen Gesang ertönen ließ. Marchand fühlte, wie es immer kälter wurde und Wind aufkam. Dann öffnete sich wie von unsichtbarer Hand eines der Fenster, und laut fauchend entfuhr ein Windstoß dem Zimmer, der solange anhielt, wie Anore einen bestimmten Ton sang und dumpfe Takte auf der Trommel anschlug. Dann ebbte der Wind ab.

"Hätte es nicht auch eine Eule getan?" Fragte Marchand.

"Ich vertraue er auf die Worte des Windes als auf die Unversehrtheit von Eulen oder Briefen. Außer einem Freund des Windes kann niemand die Luft einfangen oder zu seinen oder ihren Diensten zwingen. Der Ruf ist so schnell bei Davidson wie eine Eule. Ich gehe davon aus, daß er in zwanzig Minuten bei uns ist. Möchten Sie bis dahin was trinken?" Marchand bejahte dies. Nun holte der Schamane einen Zauberstab hervor und beschwor aus dem Nichts eine bauchige Teekanne und zwei Tassen mit Untertassen. Dann warteten sie Tee trinkend auf den Leiter des Laveau-Institutes.

Nach fünfundzwanzig Minuten traf dieser ein. Marchand sah immer wieder auf die Uhr. In zwei Stunden mußte er am Flughafen sein, um die Maschine nach New York zu erwischen. So berichtete er Davidson in Kurzform, was er Anore erzählt hatte. Elysius Davidson nickte schwerfällig und gestand dem FBI-Agenten, daß er befürchtet hatte, einen derartigen Vorfall berichtet zu bekommen.

"Ihre Vermutung trog Sie nicht, Zachary. Die überragenden Talente, Macht und Reichtum zu erlangen sind ein Ausdruck einer magischen Hinterlassenschaft, die Ruben Coal seinen Söhnen vermacht hat. Er wollte, daß sie, die früheren Sklaven, die neuen Herren würden. Ich erfuhr gerade vor einigen Tagen, daß es eine Prophezeiung gibt, die von einer Rückkehr dieses Ritualmagiers erzählt. Ob diese wirklich stattfindet oder verhindert wurde weiß ich jetzt nicht. Aber es sähe jedem, der diese Magie in sich trägt und zu nutzen gelernt hat ähnlich, sie auch anzuwenden. Ob das Todesritual mit anschließender Erzeugung weiterer Untoter bekannt ist oder nicht, ist erst einmal zweitrangig. Ritualmagie kann von unseren Aufspürsteinen so nicht registriert werden, weil ihre Wirkungsweise anders ist. Sollte aber einer aus der Familie Coal durch den dunklen Segen des Vorfahren erkennen, daß er Rubens Kräfte in vollem Umfang anwenden kann, besteht die Gefahr, daß wir einen neuen Totentänzer kriegen. Als wenn wir durch Sardonias Erbin, die von dieser erschaffenen Brutkönigin oder den Vampiren der Lady Nyx nicht schon genug Unannehmlichkeiten hätten."

"Das heißt, wir müssen den Muggeln zuvorkommen, bevor sie aus Versehen diesen Erben des Totentänzers aufstöbern und zu gemeinen Sachen reizen?" Fragte Marchand.

"Eindeutig, Mr. Marchand", bestätigte Davidson unmißverständlich. "Wenn der Erbe noch frei ist könnte er seine neuen Kräfte als Geschenk und Berufung mißdeuten und das bereits geäußerte Talent, um Macht und Einfluß zu erreichen als Begründung sehen, erst recht Macht und Vorherrschaft zu erringen. Damit würde er zu einer wandelnden, magischen Zeitbombe. Erschreckenderweise kommt dann noch hinzu, daß er diese Kräfte nicht in einem Studium ergründet, sondern durch reines Ausprobieren zu nutzen lernt, also auch ungewollt verheerende Auswirkungen hervorrufen kann. Das ist so, als wenn sie einem Kleinkind ein Erumpenthorn schenken, ohne ihm zu erklären, daß es dieses nicht erschüttern oder zu Boden stürzen lassen darf."

"Hmm, dann stellt sich die Frage, wer der Erbe sein soll", erwiderte Marchand.

"Deshalb trifft es sich günstig, daß Sie einen der potentiellen Kandidaten befragen dürfen. Am besten nehmen Sie Mr. Anore mit."

"Hmm, wird schwierig, ihn zu begründen", sagte Marchand, der jedoch verstand, warum ausgerechnet ein animistischer Zauberer ihn begleiten sollte. Hier ging es nicht um Magie, die auf bestimmten Gesetzmäßigkeiten beruhte, die durch Zauberstabbewegungen und bestimmte Wort- und Gedankenfolgen fast immer gleich wirkte.

"Ich gebe Ihnen eine meiner Federn mit, mit der Sie etwas von Ihrem Blut auf ein Stück Tierhaut malen, das ich Ihnen zeige. Damit kann ich meinen Geist an jeden Ort schicken, an dem Sie diese bemalte Haut mitnehmen. geraten sie in unmittelbare Gefahr und können sich nicht durch eigene Zauberkraft daraus befreien, verbrennen Sie die Feder. Sie wird mich rufen, körperlich bei Ihnen zu erscheinen. Das hohe Ritual der fernen Hilfe kann nicht durch einen Apparitionswall oder andere Wehrzauber unterbunden werden."

"Eine Feder von Ihnen?" Fragte Marchand den Schamanen. Dieser verwandelte sich zur Antwort in ein strahlendweißes Schneeeulenmännchen und zupfte sich mit dem Schnabel eine lange Rückenfeder aus. Diese hielt der Animagus im Schnabel fest und stieg mit lautlosen Flügelschlägen nach oben, segelte auf Marchand zu und ließ die Feder vor ihm niederschweben. Marchand ergriff die weiße Feder mit der rechten Hand. Im gleichen Moment nahm Anore wieder menschliche Gestalt an.

"Nehmen Sie dieses runde Stück Eisbärenhaut hier und bringen sich eine harmlose Wunde an der nicht zum Schreiben dienenden Handfläche bei!" Wies Anore den Besucher an, während Davidson wohl schon darüber nachdachte, wie er seine Leute auf den möglichen Feind ansetzen sollte. Da sah Marchand, wie etwas silberweißes aus der Wand drang. Er stutzte. Er hatte schon Gespenster in Thorntails gesehen und war daran gewöhnt, daß diese durch unbezauberte Wände wie durch Nebel hindurchschlüpfen konnten. Doch die Erscheinung, die einer altersmäßig nicht einzuordnenden, völlig nackten Frau mit langen, dunklen Haaren glich, imponierte ihm sofort. Er hatte den Geist Marie Laveaus bisher noch nie gesehen. Dennoch wußte er, daß es nur ihre Nachtoderscheinung sein konnte, die da zu ihnen kam.

"Ich kam, um euch zu sagen, daß ihr nicht dem Irrtum nachhängen dürft, es nur mit einem ungeübten Erben zu tun zu haben, der in sich die alten Kräfte entdeckt hat und erst damit umzugehen lernen muß. Meine Ankündigung bezieht sich auf den wahren Totentänzer, Ruben Coal selbst, der zurückgekehrt ist."

"So, und wer von denen ist das dann?" Fragte Davidson ungehalten.

"Jener, der das von ihm entfachte Feuer überlebt hat. Seinen Namen kenne ich nicht. Denn er verbarg ihn vor meinem Ritual der Vorhersehung. Doch wenn ihr ihn findet, so seid gewarnt, daß er seine Kräfte kennt und nutzen kann, und daß er mächtiger sein mag als zu seiner ersten Lebzeit. Leider vermochte ich es nicht, seine Nachfahren davon abzuhalten, die Knochen seines Leibes zu bergen, an die ich seinen Geist gefesselt habe. Wenn mein Bann schwächer geworden sein mag, kann er sich einen lebenden Körper unterworfen haben und in dessen Hülle neues Unheil rufen. Er sieht sich als Sohn Baron Samedis, des Herren der Totenruhe. Doch sein Tun ist von dunkler Gier und Sucht nach Vergeltung getrieben. Und so zwingt er Lebende zum Tod und Dienst in seinem Namen. Hütet euch also vor dem Totentänzer. Er kann auch aus der Ferne wirken, wenn er Blut von arglosen Menschen besitzt. Das alte Wissen ist ihm sehr gut vertraut. Er hat versucht, mich damit zu töten. Doch das bekam ihm nicht. Daher wird er wohl auch darauf ausgehen, sich an meinen Nachkommen zu rächen, wenn er nicht weiß, daß ich mich dazu entschlossen habe, in der Welt der Lebenden zu bleiben. Aber dieses Dasein setzt mir Grenzen. Ich kann nicht weiter von meinem Grab fort, als meine Macht damals reichte. Außerhalb dieser Stadt bin ich keine Hilfe. Das wird er zumindest annehmen und daher nicht darauf eingehen, hierher zu kommen, bevor er genug Streiter und eigene Macht hat. Denn mit jedem toten Diener wächst seine eigene Macht."

"Na wunderbar, als hätten wir nicht schon genug übermächtige Feinde", knurrte Zach Marchand. Marie Laveaus Geist antwortete nicht darauf. Sie schwebte auf Zachary Marchand zu und berührte ihn mit ihrer durchsichtigen Hand am Kopf. Er fühlte die Eiseskälte, die eine Geisterberührung ausübte. Doch er konnte sich nicht bewegen. Die in der Welt der Lebenden verbliebene alte Voodoo-Königin strich mit ihrer Geisterhand sachte über Zachs Körper, schien sogar in diesen hineinzugreifen. Denn einen Moment meinte der FBI-Agent, sein Herz müsse zu Eis erstarren oder in seinem Magen läge ein Block aus tiefgekühltem Metall. Die kurze aber höchst unangenehme Berührung seiner Geschlechtsteile jagte ihm einen unbeschreiblichen Schauer durch den Leib. Doch danach konnte er sich wieder bewegen. Marie Laveau sagte dann nur: "Elysius soll dir Dinge geben, die dich schützen." Danach verschwand das weibliche Gespenst in der Wand, aus der es gerade erschienen war.

"Was sollte das denn jetzt?" Bibberte Marchand. Der die gespenstische Liebkosung Maries nicht als besonders beglückend empfunden hatte.

"Sie hat Ihnen erlaubt, als Gast in unser Institut einzutreten. Ihre Berührung ist eine Art Prägezauber. Sie befindet damit, wer als Mitarbeiter oder Besucher zu uns kommen darf", erläuterte Davidson. Marchand nickte schwerfällig.

"Das nette an so Prophezeiungen ist, daß sie immer genug Fragen und Vermutungen übriglassen", schnaubte Marchand. "Der, der das von ihm gelegteFeuer überlebt hat. Das können viele sein oder nur einer."

"Dann prüfen Sie erst diesen Gordon Stillwell, Zachary", erwiderte Davidson verhalten. "Aber nehmen Sie Maries Warnung ernst, daß wir es nicht mit einem Anfänger zu tun haben, sondern mit einem erfahrenen Voodoomagier. Am Besten nehmen Sie noch ein Amulett des Herzens mit, um ihren Körper vor sympathetischen Fernflüchen zu schützen."

"Das mit den Voodoopuppen und Nadeln?" Fragte Marchand etwas verächtlich, obwohl er es eigentlich wissen sollte.

"Das mit den Nadeln ist nicht nötig, wenn er etwas von Ihrem Blut und ihrem Haar hat. Dann kann er mit allem darauf einwirken. Wenn er Ihr Gesicht kennt kann er Ihnen negative Gefühle oder schlechte Träume in den Kopf jagen. Sogesehen sollte ich Ihnen gleich eine Kette der Behütung übergeben, die unsere Voodoo-Experten herstellen. Diese muß mit Ihrem Körper und Ihrem Verstand verbunden werden. Ich bringe Sie also zu uns. Louis, Sie führen mit ihm jedoch noch die Sache mit der fernen Hilfe zu Ende aus!" Der Schamane nickte und leitete Zachary an, wie er mit der Eulenfeder und Blut aus einer leichten Handverletzung ein Stück Eisbärenhaut bemalen mußte, um jene Bilder zu erhalten, die dem Schamanen als innerer Schlüssel für die Reise seines Geistes dienen sollten.

"Ist echt lustig, daß Eisbären keine weiße Haut haben", meinte Marchand. Der Schamane erklärte ihm, daß das dichte weiße Fell ja nur zur Tarnung diente, während die Haut selbst über der schützenden Speckschicht schwarz war, um jede von außen kommende Wärme aufzusaugen. Das kapierte der FBI-Agent. Er wußte schließlich, das dunkle Autos im Sommer innen heißer wurden als helle oder glänzende. Dann brachte Davidson den Besucher aus der Muggelwelt auf einem Harvey-Besen zum Laveau-Institut, wo Marchand eine Stunde lang warten mußte, bis eine dunkelhäutige Hexe ihm eine Kette aus Muschelperlen, Holzstücken und durchbohrten Knochen umhängte, an der ganz unten ein Amulett mit Bildsymbolen hing. Unter einem merkwürdigen Gesang der Voodoo-Hexe fühlte Marchand, wie die Kette wärmer wurde, bis er meinte, sie würde genauso durchblutet wie sein Körper. Erst als die LI-Mitarbeiterin zu singen aufhörte, verschwand dieser Eindruck.

"Du bist nun mit der Kette der Behütung vertraut. Sie wird dich vor dem Gesang des Todes, den bösen Gedanken und dem Zauber des Bildes beschützen, bis Erzuli einen vollen Kreis gelaufen ist."

"Wer soll das sein?" Fragte Marchand, der mit den mythischen Wesen aus dem auch so schon vielfältigen Glauben der Voodoo-Anhänger nichts anzufangen wußte. Als er erfuhr, daß damit nichts anderes als der Mond gemeint war konnte er gerade noch ein Grinsen unterdrücken. Einen vollen Monat, beginnend mit heute? Nein, eine volle Mondbahn, beginnend mit heute. Ein Mondzyklus dauerte ja doch etwas weniger als ein Kalendermonat, wenn nicht gerade Februar war.

"Oha, ich kriege meinen Flug nicht mehr, wenn ich auf Muggelweise zum Flughafen fahre", stellte Marchand nach einem Blick auf seine gute alte Aufziehuhr fest. "Von wo kann ich disapparieren?"

"Ich bringe sie zu unserer Kontaktstelle im Weißrosenweg zurück, von wo sie mit ihrem Gepäck disapparieren können, sofern Sie wissen, wo sie erscheinen dürfen", sagte der Leiter des Laveau-Institutes. Zachary nahm an und ließ sich nach New Orleans zurückbringen, von wo aus er direkt in einer Toilettenkabine am Flughafen apparierte. Ein Besucher dieser notwendigen Einrichtung schnaubte nur: "Mann, war das laut." Zachary tat so, als müsse er sich erst wieder korrekt anziehen. Er drückte die Spülung und verließ die Kabine. Das hatten sie damals eingerichtet, daß er im Zweifelsfall hier oder an anderen öffentlichen Orten der Stadt apparieren oder disapparieren konnte, wenn er schnell zwischen den Welten pendeln mußte. Warum ihm das nicht eingefallen war, als er in den Weißrosenweg wollte entzog sich ihm bei dieser Erkenntnis.

Marchand konnte dank seines Dienstausweises und seines Sicherheitscodes, der ihn als korrekten Inhaber des Ausweises kenntnlich machte die übliche Sicherheitsprozedur umgehen und mit seiner kleinen Reisetasche direkt durch in die Wartezone. Der erste Aufruf seines Fluges war bereits erfolgt. So eilte er mit anderen Nachzüglern durch den ausgefahrenen Tunnel zwischen Gebäude und Flugzeug und nahm aufatmend auf dem ihm zugewiesenen Sitz in der Geschäftsleuteklasse Platz.

In New York angekommen holte ihn seine Kollegin Samantha Brownlow ab. Sie verließen den Flughafen in einem dunkelroten Dodge.

"Ich habe gehofft, dich mal wiederzusehen, Zach", sagte Samantha nun zu ihrem Kollegen. "Ich hörte, du hättest dich gut von Laroches Höllenmaschine erholt. Nicht auszudenken, wie lange er dich da sonst drin gelassen hätte."

"Ich habe von diesem sogenannten BUS-Apparat nichts mitgekriegt, weil mir so'n Transvestit, der für Laroche gearbeitet hat vorher eine Spritze verabreicht hat. Nach dieser Fummeltrine suchen sie ja noch."

"Na ja, aber die Operation und die doch sehr riskante Sauerstoffversorgung ..", erwiderte Samantha. "Gut, ist wohl auch lange genug her, um es vergessen zu dürfen. Wichtig ist nur, daß wir gleich zu Hank Wallace fahren, dem Piloten, der Gordon Stillwell hergebracht hat. Der hat zwar auf unsere Fragen bisher nichts anderes erzählt, als daß er nur Stillwell transportiert hat. Aber vielleicht können wir beide zusammen was erreichen." Zachary nickte.

"Und du bist auch noch nicht beringt", meinte er mit Blick auf Samanthas rechte Hand. "Traumfrauenproblem, wie?"

"Haha, Zach. Die alle halten mich für eine Kollegin von Linda Evangelista. Das führt dazu, daß die einen meinen, ich hätte schon Anschluß gefunden und die anderen finden, mich in ihr Bett holen zu müssen. Na gut, wenn ich denen nicht erzähle, was ich beruflich mache kommen die wohl auf solchen Unsinn. Aber spätestens, wenn ich meine Dienstmarke heraushole kriegen die Meisten ihre Hormone schlagartig in den Griff. Aber du hast ja auch noch niemanden gefunden, oder?"

"Bei meinem Beruf nicht gerade empfehlenswert", tat Zachary so, als sei es kein Ding, Junggeselle zu bleiben. Samantha grinste darüber nur. Sie waren beide in der Ausbildung zu FBI-Agenten gewesen. Er hatte an ihr bewundert, daß sie so sportlich und selbstbeherrscht war. Sie hatte an ihm seine coole Art und sein Wissen über Legenden und Vorstellungen von magischen Welten geschätzt. Fast wäre es zwischen den beiden zu einer sexuellen Beziehung gekommen. Zumindest hatte Samantha signalisiert, dem nicht abgeneigt zu sein. Doch Zachary hatte dieses Angebot so behutsam er konnte zurückgewiesen. Denn er hatte sich damals nach seiner Schulkameradin Laurie Beaumont verzehrt, die davon aber nichts mitbekommen hatte oder wissen wollte. Und jetzt hegte er die Hoffnung, als gereifter Mann mit der ebenso lebenserfahrenen Martha Andrews irgendwie näher zusammenzukommen, vielleicht sogar Tisch und Bett mit ihr zu teilen. Samantha hingegen hatte wegen erwähnten Problems mit ihrem Aussehen beschlossen, sich nicht auf eine feste Bindung einzulassen und lieber Karriere im FBI zu machen. Doch in ihren Augen konnte Marchand dieses verbotene Verlangen sehen, das sie beide immer sehr sorgsam vor den Lehrern und Ausbildungskameraden verborgen hatten. Wenn sie ihn fragte, sollte er da Nein sagen? Sollte er sie vielleicht fragen, ob sie noch mal die alten Zeiten heraufbeschwören sollten? Würde er damit Martha vielleicht betrügen, bevor er mit ihr zusammengesprochen wurde? Doch es gab wichtigeres zu unternehmen, wischte Marchand die Überlegungen mit einem tadelnden Gedanken aus. Es galt, den Piloten und dann diesen Stillwell zu befragen. Doch letzteren wollte Sam nur befragen, wenn sie mehr in der Hand hatten, bevor er meinte, sich absetzen zu müssen oder ihnen mit einem Schwarm von Staranwälten die Zeit stahl, weil sie nichts gegen ihn vorbringen konnten. So war der erste Weg der zu Hank Wallace.

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Anthelia kam nicht an die Leiche von Wishbone heran. Sperr- und Meldezauber spannten sich zu einem undurchdringlichen Netz über das Zaubereiministerium. Der Gedanke, den in tiefem Zauberschlaf liegenden Kobold Picklock aufzuwecken und noch einmal dort hineinzuschicken verflog, als sie erfuhr, daß in der Aufbahrungshalle ein Zauber aufgebaut war, der jeden, der nicht durch die geschmiedete Tür kam sofort erstarren ließ. Selbst Kobolde konnten sich diesem Zauber nicht entziehen. Dennoch wollte sie wissen, ob der Leichnam dort drinnen der echte Wishbone war oder einer, der sich für ihn ausgegeben und damit seinen Tod auf sich genommen hatte. Dann passierte etwas, womit sie nicht gerechnet hatte, und was sie als glücklichen Zufall einordnete.

Außer in den Privaträumen und dem Büro des Ministers wirkten keine Zauber gegen Gedankenbotschaften. Diesem Umstand verdankte Anthelia, daß Sie Zeugin eines mentiloquierten Gespräches zwischen den Geschwistern Annadora und Armin Shorewood wurde, die nach ihrem zwanzig Jahre älteren Bruder Alwin suchten, der hier eigentlich arbeitete.

"Hat dir Spikes auch nix verraten?" Nahm sie telepathisch Armins Frage wahr.

"Mir, einer Hexe? Machst Witze, Armin", erklang ihre Gedankenstimme in seinem Kopf.

"Seit Wishbone von dieser Sabberhexe abgemurkst wurde ist der weg. Wohin?"

"Wenn dir keiner was sagt, mir auch nicht", war die genervt wirkende Antwort seiner Schwester.

"Wir müssen Thornhill fragen. Der war doch mit Al in der geheimen Truppe", schickte Armin zurück.

"Toller Plan", war die Antwort darauf. "Der hält doch auch dicht wie ein zwei Meter dicker Kessel."

"Dann müssen wir den Kessel zum Brodeln bringen, damit zumindest oben was rauskommt", teilte Armin seiner Schwester für die allermeisten hier unhörbar mit.

"Ach ja, und wie?" Fragte Annadora.

"Wir stecken Lino vom Westwind, daß unser Bruder seit Wishbones Ermordung verschwunden ist und wir fürchten, der wäre gleich mit umgebracht worden, aber die hätten seine Leiche nicht rausgerückt, um nicht raushängen zu lassen, daß sie denen so unterlegen waren."

"Bist du bescheuert, so'nen großen Drachen zu rufen? Nachher ist Alwin echt tot", entrüstete sich Annadora. Anthelia hatte ungefähr mitbekommen, daß sie wohl zwanzig Sekunden gebraucht hatte, den Schock dieser Mitteilung zu verdauen. Mittlerweile wußte sie auch, wo die beiden waren. Hoffentlich disapparierten die nicht zu früh.

"Stimmt. Wer sagt uns, daß es nicht so ist. Die sollen uns beiden sagen, ob der noch lebt oder auch tot ist, verdammt noch mal", gedankenschnarrte Armin.

"Gut, dann füttern wir Lino damit", stimmte seine Schwester zu. "Aber jetzt sollten wir machen, daß wir nach Hause kommen. Nachher haben die noch Meldezauber auf den Klos."

"Geht klar. Dann bis gleich in der Lobby!"

"Ihr wollt also zur geheilten und wieder voll einsetzbaren Linda Knowles. DA bin ich dann wohl auch", dachte Anthelia.

Zwanzig Minuten später flog eine große Krähe über die Ortsgrenze von Viento del Sol und flatterte zwischen den Baumkronen herum, scheinbar ziellos. So arbeitete sich der Vogel langsam an das Haus heran, in dem Linda Knowles wohnte. Tatsächlich war die Bewohnerin zu Hause. Überfürsorgliche Leute hatten ihr Haus mit Schutzzaubern umkleidet. Wenn die Krähe dort hineingeriet würde sie wohl schmerzhaft zurückgestoßen, abgesehen davon, daß vielleicht irgendwo Alarm gegeben wurde. Aber ihre Gabe des Gedankenhörens, die sie aus ihrem ersten Leben behalten und nach ihrer zweiten, schmerzlosen Wiedergeburt zurückgewonnen hatte, genügte, um die drei zu belauschen. Ja, Linda Knowles würde es in die Zeitung setzen, was die Shorewoods befürchteten. Da erkannte die in Krähengestalt lauschende Anthelia, wie fünf unsichtbare Zauberer auf Harvey-Besen heransausten. Sie steuerten auf Lindas Haus zu. Sie wedelten mit den Zauberstäben und sprachen Formeln, die Anthelia als Zutrittsbefehl verstand. Ihr Seelenmedaillon, das sich ihrer gegenwärtigen Körpergröße angepaßt und getarnt hatte drängte nicht mehr von dem Haus fort. Anthelia fühlte mit dem Gespür einer langjährigen Hexe, wie die abweisende Magie verschwand. Die Zauberer hatten die Barrieren niedergerissen. Sie stiegen von ihren Besen und wurden sichtbar. Anthelia erkannte fünf in grau gekleidete Mitarbeiter des Ministeriums, die das My-Symbol trugen, also Angehörige der Spezialtruppe Wishbones waren. Doch hatte Cartridge nicht angekündigt, diese Truppe aufzulösen und ihre Mitglieder in die gewöhnlichen Such- und Strafverfolgungstruppen wiedereinzugliedern? Egal! Wichtig war für die Animaga nur, daß sie jetzt näher an das Haus heran konnte. So flog sie auf und segelte in großer Höhe auf das Haus zu. Dabei bekam sie mit, wie die My-Truppler die Haustür mit einem vereinten Öffnungszauber aus dem Weg schlugen. Einer vergaß dabei seinen Geist zu verschließen, so daß Anthelia genau erfaßte, warum die fünf hier waren. Spikes hatte Shorewood bei dessen aufdringlicher Frage nach seinem Bruder heimlich einen winzigen Fetzen Pergament in eine seiner Umhangtaschen geschmuggelt. Dieser war mit Localisatus Inanimatus Bezaubert worden. Damit war es dem Leiter der eigentlich bald aufgelösten Sondereinheit möglich, Shorewood zu verfolgen. Offenbar hatten die grauen Herren mit dem griechischen Anfangsbuchstaben für magie auf der Brust etwas zu verbergen. Doch nur Spikes wußte genau, was.

"Linda Knowles, Im Namen des Zaubereiministeriums erklären wir Sie hiermit für festgenommen", stieß einer der fünf Handlanger Wishbones aus. "Disapparieren ist zwecklos. Wir haben einen Rückhaltezauber um Ihr Haus gelegt", fügte er noch hinzu. Anthelia erkannte, daß dieser Erfüllungsgehilfe da dreist log. Denn um einen Apparitionswall zu erzeugen hätten die fünf einige Minuten Zeit gebraucht, um das Grundstück vollständig damit zu sichern. Sie waren aber gleich nach der Landung auf das Haus losgegangen.

"Was außer unangenehmen Enthüllungen wird mir vorgeworfen?" Fragte Linda Knowles.

"Anstiftung zu einer Revolte gegen das Zaubereiministerium, Konspiration mit einer verbrecherischen Organisation zum Zwecke der illegalen Machtergreifung, Unterstützung jenes Subjektes, das Zaubereiminister Wishbone ermordet hat und Verstoß gegen das internationale Geheimhaltungsstatut."

"Häh?" Stieß Armin Shorewood aus. "Haben Sie'n Wichtel im Hintern oder was?"

"Woher wußten Sie?" Fragte Annadora eingeschüchtert, als einer der fünf Zauberer bereits den Incarcerus-zauber gegen sie losschickte. Das reichte Anthelia. Sie landete unangefochten vor dem Haus. Innerhalb weniger Sekunden hatte sie ihre menschliche Erscheinungsform angenommen. Sie trug über ihrem Medaillon und dem Gürtel der zwei Dutzend Leben den rosaroten Umhang mit Kapuze, den sie als Quasi Uniform der Anführerin ihres Hexenordens ansah. Da die Angreifer die Tür nicht hinter sich zugezaubert hatten konnte sie ebenso unangefochten ins Haus hinein, als sowohl Linda als auch Armin Shorewood dem Incarcerus-zauber unterworfen und von starken Seilen fest verschnürt wurden. Doch einer der fünf Zauberer stand als Wache an der Tür zum Wohnzimmer und riß den zauberstab hoch. Anthelia zielte jedoch schon mit ihrem silbergrauen Zauberstab auf ihn und dachte daran, ihm den zauberstab aus der Hand zu schlagen. So widerfuhr es dem Wachposten, daß eine gnadenlos zuschlagende Kraft ihm den Zauberstab aus der Hand fegte. Er öffnete den Mund, um einen Alarmruf auszustoßen, als Anthelia ihm einen ungesagten Schockzauber auferlegte. Der jedoch war laut und schien im Wohnzimmer wider. Das rief die anderen My-Truppler heraus. "Die Ministermörderin!" Schrillte einer der vier und griff Anthelia mit einem Schocker an. Doch Diese parierte den Betäubungszauber mit einem großen Schild. Krachend prallte der rote Blitz gegen eine Wand und schrammte laut daran entlang, wobei er eine rauchende Rußspur hinterließ. Dann mußte anthelia mehrere Flüche in schneller Folge parieren, bevor sie einen nach dem anderen der vier verbliebenen kampfunfähig machte. Doch der vierte, der Wortführer der kleinen Truppe, disapparierte einfach, bevor er der gefürchteten Widersacherin alleine gegenüberstand. Anthelia grinste verächtlich. Sowas sollte das stärkere Geschlecht sein? Lächerlich!

"So, da habt ihr nicht mit gerechnet, daß ich hier auftauchen könnte, sonst hätte Spikes wohl nicht euch grüne Anfänger geschickt", knurrte Anthelia und bewirkte Einschrumpfungszauber an den vier überwundenen. Von drinnen klang das durch Knebel unterdrückte Protestieren der drei Festgenommenen. Anthelia eilte aus dem Haus. Denn ihr war klar, daß gleich Verstärkung anrücken würde. Es galt also, die Truppe abzuwehren

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"Sie werden uns freie Hand lassen, die Mörderin und ihre Gehilfinnen zu jagen und zu töten, wer immer es ist und wo immer!" Vernahm Cartridge jenen unüberhörbaren und jeden Widerstand niederringenden Befehl in seinem Geist. Wieder und wieder erklang dieser Befehl. Er war eigentlich hergekommen, um die Leute aus der My-Truppe in ihre neuen Pflichten einzuführen. Da hatte Spikes den Zauberstab gezogen und Cartridge eiskalt mit dem Imperius-Fluch erwischt. Cartridge versuchte, sich dagegen zu wehren. Doch die Kraft des Fluches hielt an, und Cartridge konnte sich nicht lange halten. Als Spikes sicher war, daß der neue Minister nicht vorhatte, seine Sondereinheit aufzulösen, fragte er ihn mit scheinheilig unterwürfig klingender Stimme:

"So stimmen Sie uns zu, daß unser Sonderverband zumindest solange bestehen bleibt, bis der Mord an Wishbone gesühnt wurde und alle Verräterinnen und Mörderinnen unschädlich gemacht sind?"

"Natürlich stimme ich Ihnen zu", sagte der Minister, dem man nicht anhörte, daß sein Geist im Bann eines Anderen gefangen war.

"Dann hätte ich gerne ihre Unterschrift, daß die Sonderabteilung My nur Ihnen unterstellt bleibt und von allen anderen Behörden unantastbar bleibt und nur Ihnen berichtet", sagte Spikes. Da apparierte ein Zauberer in grauer Kleidung mit dem My-Symbol auf dem Brustteil. Er wirkte abgekämpft und auf der Flucht.

"Alarm! Die Ministermörderin ist bei Linda Knowles! Hat meine Kollegen ausgeschaltet. Konnte nur noch fliehen!" Keuchte der unverhofft eingetroffene zauberer.

"Bei Knowles in Viento del Sol? Alarmstufe Rot! ! Einheit fünf sofort zum Einsatzort und Zielperson kampfunfähig machen. Zauber zur Herstellung der Finalen Kampfunfähigkeit zugelassen!" Zehn Leute sprangen auf und disapparierten mit erhobenen Zauberstäben. Sie trugen nicht alle ihre graue Einsatzkleidung. Doch die Aussicht, Wishbones Mörderin und die größte Bedrohung der amerikanischen Zaubererwelt zu erledigen spornte sie an.

"Die hat jetzt nur noch höchstens eine Minute zu leben", meinte einer der verbliebenen My-Truppler, während der Minister untätig herumstand und wartete, den Befehl auszuführen, der ihm erteilt worden war.

Die Minute verging. Ihr folgte eine weitere. Zwanzig Zauberer mit Kampferfahrung konnten doch nicht so lange brauchen, um eine einzige Gegnerin niederzukämpfen. Und wenn diese Gegnerin schon längst verschwunden war, hätte sich die Einheit doch wieder zurückmelden müssen. Was ging da vor?

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Mindestens zwanzig Hexen in rosaroten Umhängen standen um das Haus verteilt. Als die Verstärkung eintraf rannte sie in ein Gewitter aus farbigen Blitzen hinein. Es schienen noch mehr Hexen zu werden, die mit hellen Blitzen auf die Verstärkungstruppe einzauberten. Der bloße Verteidigungsreflex drängte die Hilfstruppe dazu, sofort drauf loszuzaubern, auch wenn einige von ihnen ahnen mochten, daß sie es mit einer Vielfachen Nachbildungsillusion zu tun hatten. Doch wer von den Widersacherinnen war echt und wer nicht? Jeder grelle Blitz, jeder Lichtstrahl konnte einen verheerenden Fluch tragen. Die Truppe schleuderte Gegenflüche und setzte mit eigenen Angriffszaubern nach. Die Zauber zischten wirkungslos durch die mit blitzenden Stäben bewaffneten Erscheinungen hindurch und krachten laut gegen die Wand, fraßen Löcher in diese und brachen Stücke heraus. Die Truppe stürmte vor, als sie sah, daß keine der Hexen um das Haus echt war. Dabei fluchten sie auf weitere Erscheinungen ein, die sich im Haus zeigten und grelle Blitze schleuderten.

"Schwester Linda braucht wohl ein neues Haus", dachte Anthelia, als sie alle zwanzig Zauberer mit blitzenden Zauberstäben in das Haus stürmen sah. Sie hatte sich nach erfolgreichem Plurimagines-Zauber flach auf dem Boden unter einem RhododendronGebüsch verborgen gehalten, bis die Truppe die Abbilder passiert hatte. Und das wollten wahrhaftig die besten Abwehrzauberer der vereinigten Staaten sein? Jetzt galt es, die Truppe mit einem Schlag kampfunfähig zu machen. Zwar fühlte sie, wie die Erzeugung von vielen, materielosen Abbildern sie gut ausgezehrt hatte. Doch die Kopfblase mußte sein. Als diese nach nur einer Sekunde um ihrem Kopf entstand robbte sie unter dem Strauch hervor. Während die Truppler im Inneren hofften, unter den dort noch herumlaufenden Abbildern die echte Gegnerin zu erwischen, zog die Führerin des Spinnenordens eine Glasflasche aus ihrem Umhang. Das war eine Vorsichtsmaßnahme, falls sie ihre Gegner nicht durch Magie niederkämpfen konnte und nicht flüchten wollte oder konnte. Anthelia sah mit gewisser Bestürzung, wie bereits erste Flammen aus dem Haus schlugen und hörte die Wörter des Todesfluches. Die da drinnen nahmen jetzt keine Rücksicht mehr. Wenn sie nicht sofort eingriff würden Linda und die Shorewoods sterben. Sie warf den Glasbehälter durch ein gerade zerberstendes Fenster. Laut klirrend zersprang die Flasche im Haus selbst. Eine dicke, blaue Wolke quoll aus dem offenen Fenster. Konzentriertes Rauschnebelgas. Anthelia wartete, bis sie von drinnen keine Geräusche mehr vernehmen konnte. Ihr Gedankenspürsinn zeigte ihr, daß auch die drei Gefangenen dort drinnen der verdichteten Substanz zum Opfer gefallen waren. Der blaue Nebel waberte aus dem Haus heraus und verteilte sich. Er würde wohl noch einige hundert Meter weit wirken, wußte Sardonias Nichte. Doch wen er noch erfassen mochte, störte sie nicht. sie hatte mit einem Schlag eine ganze My-Einheit besiegt, ohne Sardonias Feuerdom oder die Lieder der Vernichtung oder Niederwerfung anwenden zu müssen. Von der Kopfblase geschützt lief Anthelia ins Haus hinein, das bedrohlich knirschte. Sie sah Löcher in den Wänden. Dann erkannte sie, daß ihr Rauschnebelangriff wohl gerade noch rechtzeitig gekommen war, um einen Brand wenn nicht zu löschen, dann zumindest einzudämmen. Die Flammen zischten klein aber hungrig im blauen Dunst. Wenn wieder genug trockene, atembare Luft zur Verfügung stand, würden sie sich zu richtigem Feuer auswachsen. Anthelia nahm darauf keine Rücksicht. Sie rief mit erhobenem Stab einen Aufhebungszauber gegen die nun bewegungslos dastehenden Abbilder ihrer Selbst, die mit einem Schlag verschwanden. An weiteren kleinen Feuernestern vorbei eilte Anthelia in Lindas Wohnzimmer und fand die drei gefesselten am Boden liegen. Das hatte sie davor bewahrt, von verheerenden Flüchen getroffen zu werden, die bereits drei Viertel der Trennwand zwischen Wohnzimmer und Küche zertrümmert hatten. Immer bedrohlicher knarzte und knirschte es in der Decke. Die Wände ächzten. Dort, wo vor einer Sekunde noch keine Risse waren, bildeten sich welche, mal senkrecht, mal schräg. Das Haus war akut einsturzgefährdet. Anthelia mußte die ihrer Meinung nach unschuldigen hier herausschaffen. Das tat sie damit, indem sie die drei Festgenommenen einschrumpfte, nachdem sie Armin den verräterischen Pergamentfetzen abgenommen hatte. Auf knapp Handlänge zusammengeschrumpft glitten die drei Betäubten in die Taschen ihres Umhanges. Dann fiel ihr ein, daß sie die Überwundenen weder dem Feuer noch dem Einsturz überlassen wollte. Spikes hatte sie mal wieder herausgefordert. Sie galt als Wishbones Mörderin, obwohl sie mittlerweile daran zweifelte, ob dieser Feigling wirklich so frei in der Welt herumspaziert war, um sich von wem auch immer umbringen zu lassen. Märtyrertod, womöglich zur Bekräftigung, daß alle Hexen schlecht und verwerflich seien. Das glaubte sie nicht. Sie wäre doch sehr einfältig gewesen, sowas auch nur zu befehlen. Sie hatte Davenport unter dem Imperius und einem Verstärkungstrank wunderbar beeinflussen können. Das hätte sie auch mit Wishbone schaffen können, wenn sie nicht von dieser Besserwisserin Daianira zum Duell gezwungen worden wäre. Nein, sie wollte die Gegner nicht töten. Im Gegenteil. Sie wollte sie öffentlich bloßstellen, als einfältige Draufgänger, die die wichtigsten Regeln für eine Erstürmung vernachlässigt hatten, nämlich die Sicherung, daß ihnen niemand in den Rücken fallen konnte. Die Genugtuung, mal eben fünfundzwanzig sogenannte Kampfzauberspezialisten ohne Hilfe von anderen besiegt zu haben würde diesen Leuten zur Schmach werden. So sammelte sie die Niedergekämpften ein, wobei sie sie nicht einschrumpfte, sondern gleich in Stofftaschentücher verwandelte. Sie hatte von Louisette Richelieu erfahren, daß die Beauxbatons-Lererin Blanche Faucon ihre Tochter auf diese Weise vor dem nun verrottenden Waisenknaben in Sicherheit gebracht hatte. Mit dem Wiederholzauber war das für sie auch keine übergroße Anstrengung, alle fünfundzwanzig in einer halben Minute transportfertig zu haben. Das war gerade die Zeit, die der Rauschnebel benötigte, um durch die Sprenglöcher in Wänden und Fenstern restlos zu entweichen. Langsam richteten sich die leise zischenden Flämmchen zu langen Flammenzungen auf. Anthelia wirbelte auf der Stelle und disapparierte. In dem Moment loderten die Flammen nach oben und berührten den Rauch, der sich schon unter der Decke gesammelt hatte. Mit lautem Knall zündete der Qualm durch und bettete Linda Knowles' Haus in einen orangeroten Feuerball. Das laute Wuff der explosionsartigen Entzündung drang zu den Nachbarhäusern vor. Sofort erschienen Dutzende von Zauberern und Hexen und setzten Wasserstrahlen und Brandlöschzauber ein. Einige richteten ihre Zauberstäbe nach oben und riefen: "Evoco Pluvium!" Das führte dazu, daß über dem Haus erst grauweiße, dann nachtschwarze Wolken aufquollen und mit lautem Platschen kesselweise Regenwasser ausschieden.

"Wer war das?" Fragte Fornax Hammersmith, der Sprecher des Siedlerrates von Viento del Sol, als der Brand gelöscht und das nun krachend zusammenbrechende Haus freigelegt war.

"Leute in grauen Umhängen und mindestens zwanzig Hexen in Rosa!" Rief einer der Nachbarn von Linda Knowles.

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Hank Wallace wußte, daß er nicht mehr lange durchhalten konnte. Er würde gleich diesen beiden FBI-Leuten da erzählen, daß er acht Zombies und einen Voodoomagier transportiert hatte. Dieser Marchand mit dem flachen Kopf und dem nach oben abstehenden blonden Haar löcherte ihn mit Fragen, warum er nicht nachgefragt hatte, ob Mr. Coal den Flug wirklich genehmigt hatte, wo Gordon Stillwells Mutter geblieben sei und ob noch zusätzliche Passagiere und Fracht an Bord genommen wurden. Zwei Stunden dauerte das jetzt schon, und Wallace fühlte, daß er müde wurde. Dann passierte es.

Ein unbändiger Wille, jeden umzubringen, der ihm gerade in Sicht kam, übermannte ihn und gab ihm unvermittelt Bärenkräfte. Er sprang auf und stürzte sich ohne Vorwarnung auf die beiden Feds. Da verließ ihn auch schon das Bewußtsein, und er bekam nichts mehr mit.

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"Marchand sah es in den Augen des Piloten, daß er was zu verbergen hatte. Sam sah es wohl auch. Zachary bedrängte den Piloten von James Coal, konfrontierte ihn sogar damit, daß James Coal wohl getötet wurde. Dabei sah er ein Flackern in den Augen des Mannes. Wußte der das etwa schon? Sicher, die Kollegen mochten ihn schon damit bearbeitet haben. Doch was Marchand jetzt fragte hatten die anderen bestimmt nicht gefragt:

"Hat Stillwell Sie auf irgendeine Art eingeschüchtert, ihn zu fliegen?" Da sprang Wallace aus dem Sitzen auf und durchquerte mit einem Satz das Zimmer. Die beiden Agenten waren hart geschult worden, um plötzlichen Angriffen zu begegnen. Sie sprangen zu beiden Seiten weg, so daß der innerhalb einer Sekunde zum Berserker mutierte Flieger voll zwischen ihnen hindurchstieß. Doch er fing sich ab und bekam einen Stuhl zu fassen. Er holte aus und schleuderte ihn auf Zachary zu, der sich gerade noch wegrollen konnte. Mit lautem Krachen zerschmetterte der Stuhl an der Wand. Marchand fühlte Splitter in seinen Hinterkopf und Nacken eindringen. Dann stemmte der Privatjetpilot den großen Wohnzimmertisch mit einer Hand und rammte ihn vorwärts, genau dahin, wo Sam Brownlow gerade in Kampfstellung ging. Die Agentin entging dem Angriff um Haaresbreite. Da stieß Wallace den Tisch mit beiden Händen gegen Marchand, der aus einem ihm selbst unbegreiflichen Reflex heraus vom Boden absprang und über den ihm entgegenfliegenden Tisch hinwegflog. Der wie rasend reagierende Wallace versuchte, Marchand mit der bloßen Faust vor der Brust zu treffen. Marchand steppte zur Seite und beantwortete den wuchtigen Haken mit einem Karateschlag. Seine Handkante klatschte gegen die Stirn des Piloten. Doch dieser fiel nicht um. Er taumelte nur einen Moment und griff dann mit wilden Fausthieben an. Marchand bekam einen Treffer an den linken Arm und hörte es darin knacken. Dann erst kam der Schmerz. Dieser hagere Mensch da hatte ihm mit einem Schlag den Arm gebrochen. Dieser winzige Moment der Erschütterung machte Zach unaufmerksam. Wallace packte ihn mit einer Hand am Hals und ... zuckte unvermittelt zurück, als habe er einen elektrischen Schlag erhalten. Er wankte und zitterte. Dann stürzte er sich auf Sam Brownlow, die jedoch mit einer schnellen Kombination von Kung-Fu-Tritten und -schlägen den Angriff parierte. Doch der Pilot wurde nur für einen Moment zurückgeschleudert. Er griff an, wollte auch Samantha an die Gurgel gehen. Diese rammte ihm ihr rechtes Bein in den Unterleib. Doch das machte dem Mann nichts aus! Dieser Mann war dagegen unempfindlich. Wallace stieß seine Hände vor. Samantha drosch ihm laut schreiend mehrere Handkantenschläge gegen Bauch und Brust. Doch sie schaffte es nicht, den Angreifer zurückzutreiben. Er machte Anstalten, die Sonderagentin am Hals zu packen.

"Petrificus Totalus!" Rief Zachary Marchand, der seinen Zauberstab aus der versteckten Innentasche hervorgezogen hatte. Wallace zuckte zusammen. Seine Arme und Beine schlugen einen Moment lang zusammen. Doch dann war der Gegner wieder beweglich. Samantha trat ihm nun mit ihrer Fußspitze in die Weichteile. Doch davon wurde der unerwartete Gegner nur einen Meter zurückgetrieben. "Incarcerus!" Hörte sie Zachary, der mit einem Holzstab in der Hand auf den Angreifer zielte. Seile schossen aus dem Stab heraus und peitschten dem Piloten um Körper und Beine. Mit einem urwelthaften Schrei kämpfte Wallace gegen die ihn einschnürenden Seile aus dem Stab an, die sich immer straffer zogen und dann verknoteten. Doch er kämpfte weiter gegen die Seile, die bereits bedrohlich knarrten. "Stupor!" Hörte Samantha noch ein Wort, das ihr total unbekannt war. Ein roter Blitz schoß aus dem Stab Zacharys und traf Wallace. Doch mehr passierte nicht. Wallace brüllte nun wild und laut und stemmte sich gegen die Fesseln.

"Was ist das hier?!" Rief Samantha nun am Rande der Panik.

"Sag ich dir gleich, wenn ich sicher bin!" Rief Marchand und rief noch "Vivideo!" Doch was immer das jetzt machen sollte, Samantha konnte nichts erkennen. "Verdammt!" Entfuhr es Marchand, als der unheimliche Gegner sich bereits aus den Seilen freigesprengt hatte, die seine Oberarme banden. "Per Catenam Incarcerus!" Rief Zachary. Diesmal klirrten finger dicke Ketten aus dem Stab und schmiedeten den Gegner die Arme an den Körper und die Beine zusammen.

"Ist das Zauberei, was du da machst?!" Rief Samantha. Sie zog ihre Waffe und richtete sie auf Zachary Marchand.

"Ja, ist es, Sam", bellte Marchand und sprang zur Seite, um nicht im nächsten Moment eine Kugel abzubekommen. Wallace indes kämpfte nun gegen die Ketten an, spannte diese immer bedrohlicher an, wobei er sich herumwarf. Samantha Brownlow wußte nicht, wer jetzt für sie gefährlicher war. Dann zielte sie auf den Kopf des gefesselten und drückte ab. Krachend spie ihre Smith & Wesson ein tödliches Stahlmantelgeschoß aus, das den Piloten genau zwischen den Augen in den Kopf drang und keine Hundertstelsekunde später zum Hinterkopf hinausschwirrte und in der Wand verschwand. Doch der eigentlich absolut tödlich getroffene Hank Wallace kämpfte weiter gegen seine Fesseln an. Noch einmal schoß Samantha Brownlow. Wieder traf sie den Kopf des Gegners. Doch genau wie beim ersten mal durchschlug die Kugel den Schädel und drang in die dahinter liegende Zimmerwand ein. Vier Wunden klafften im Kopf des nun die erste Kette sprengenden Gegners. Doch es kam kein Blut.

"Spar dir die Kugeln. Der ist schon längst tot", bemerkte marchand und hob seinen zauberstab. Sam Brownlow zielte auf ihn. "Expelliarmus!" Hörte sie noch. Da flog ihr auch schon ein scharlachroter Lichtblitz entgegen und prellte ihr den Revolver aus der hand. Dann sah sie noch einen roten Blitz, der sie am Bauch erwischte und ihr schlagartig das Bewußtsein raubte.

"Okay, Zombie. Jetzt wird das zwischen uns zweien entschieden", knurrte Zachary Marchand und zielte mit dem Zauberstab auf den nun schon die Zweite Kette absprengenden Gegner. "persectum!" Der Stab pfiff von rechts nach links auf Halshöhe des Gegners. Leise ratschend riß ihm Haut und Fleisch vom Halswirbel, knirschte der oberste Wirbel, als er wie von einer unsichtbaren Klinge durchtrennt wurde. Dann fiel der Kopf des Gegners polternd zu Boden. Wallace erstaarrte augenblicklich. Dann stürzte er schlaff wie ein nasser Sack in sich zusammen und krachte auf den Boden. Zachary löste die Fesseln.

"Ich glaube, ich verpasse mir gleich auch noch einen Gedächtniszauber", dachte Zachary Marchand, bevor ihm einfiel, vielleicht doch die Zaubereibehörden zu informieren. Wallace lag nun auf dem Boden. Die aus der Not geborene Enthauptung durch den Abtrennungszauber war auch für diesen zu viel gewesen.

"Leute, wir haben Ärger!" Schickte Zachary eine Gedankenbotschaft in sein eigentliches Hauptquartier. "Zombies in New York. Mußte einen magisch enthaupten. Mußte vor einer Muggelweltkollegin Magie einsetzen. Warte auf Ermittler!" Er gab noch seinen genauen Standort durch. Eine Minute später apparierten drei Ministerialbeamte.

"Zachary Marchand, was hast du angerichtet?" Fragte ihn Augustus Bell, der Leiter der Strafverfolgungsabteilung Sektion New York. Der FBI-Agent gab einen Bericht ab. Dabei fühlte er, wie sein linker Arm immer heftiger schmerzte. Daraufhin erschien noch ein Heiler, der bei der Truppe zur Umkehr verunglückter Magie arbeitete und behandelte den Agenten zweier Welten.

"Jetzt ist es besser."

"Und das ist wirklich ein Zombie gewesen?" Fragte Bell skeptisch und deutete auf die enthauptete Leiche. Zachary erklärte ihm, daß sie den Mann vor wenigen Minuten noch befragt hatten. Doch als dieser unvermittelt zum Amokläufer wurde und der Vivideo-Zauber keine grüne Aura mehr um ihn aufleuchten ließ, war Marchand klar, daß irgendwer den Piloten innerhalb weniger Sekunden aus der Ferne getötet und mit widernatürlichem Leben erfüllt hatte.

"Weiß das LI schon davon?" Fragte Bell.

"Die haben mir wohl das Leben gerettet", erwiderte Marchand, dem jetzt auch einfiel, daß der Untote ihn am Hals zu packen versucht hatte. Dort trug er die Kette der Behütung, die ihn gegen dunkle zauber des Voodoo-Kultes schützte. "Ich bin gewissermaßen in deren Auftrag unterwegs, einen gewissen Voodoomagier zu finden, der von einem berüchtigten Totentänzer abstammen soll. Womöglich hat der aber gut gelernt."

"Mit wem hatte dieser Mann vor seiner Umwandlung Kontakt?" Fragte Bell sehr aufgeregt.

"Mit keinem außer diesem Gordon Stillwell, zu dem wir den armen Mann hier befragen wollten", sagte Marchand. Dann schilderte er, was er über Stillwell und die Coals erfahren hatte.

"Dann müssen wir den sofort festnehmen. Das ist jetzt zaubererweltangelegenheit", befand Bell.

"Das kannst du wohl vergessen, Gus. Der ist bestimmt schon abgetaucht, als er diesen Mann hier mit seinem Zombiefluch erwischt hat."

"Schon unheimlich, jemanden aus der Ferne so heftig zu verfluchen", seufzte Marchand. "Aber wir müssen es ausprobieren, diesen Kerl zu erwischen, bevor der anfängt, noch mehr Menschen zu lebenden Leichen zu machen, falls er das nicht schon längst getan hat."

"Okay, bring mich hin", sagte Bell.

"Und was ist mit meiner Muggelweltkollegin?"

"Willst du sie weiter an der Sache dranlassen oder raushalten?" Fragte Bell.

"Jetzt, wo es amtlich ist besser zweites", erwiderte Marchand.

"Gut, dann wird sie sich daran erinnern, daß dieser Mann da euch erzählt hat, daß er nur diesen Stillwell transportiert hat", sagte Bell kategorisch. Der Heiler ergriff derweilen den rechten Arm und den abgetrennten Kopf der Leiche und packte beides in einen grünen Sack ein, bevor er damit disapparierte. Dann verschwanden die anderen Zauberer außer Bell mit Samantha Brownlow. Diese würde nach erfolgter Gedächtnisbezauberung aus der Betäubung erweckt und sich an einem Ort befinden, den sie für unaufffällig genug halten mußte.

__________

Stillwell schrak zusammen, als eine Woge fremder Kraft durch seine Arme schoß und er seinen durch den Fluch des Rächers von einem Moment zum andren zum untoten Berserker gewordenen Piloten vor sich sah. Er erkannte sofort, daß jemand gegen ihn kämpfte, den Angriff des Toten zurückschlagen konnte. Das hieß, er mußte sich wehren. Doch Seine Gesänge der Vergeltung verpufften ungehört. Er hastete an seinen Computer und tippte schnell drei mehrstellige Codezahlen ein. Dann klickte er auf dem sich darauf aufbauenden Bildschirm einen großen, goldenen Becher an. Dieser leuchtete Auf. Ein viereckiges Feld erschien, in dem drei Paare von Sternchen von zwei Doppelpunkten getrennt waren. Schnell tippte er "00:05:00" ein und klickte auf das OK-Symbol. Da fiel der Becher auf dem Bildschirm um. Stillwell hatte ein Notfallprogramm aktiviert, daß in einer vorher einstellbaren Zeitspanne sein komplettes Vermögen und Eigenkapital von der Bank auf vor mehreren Jahren eingerichteten Geheimkonten überweisen würde. Dann klickte er noch auf eine Regenwolke über einer flamme. Sofort vielen dicke blaue Tropfen aus der Wolke auf die Flamme, die dabei immer kleiner wurde. Diese Darstellung verriet ihm, daß nun alle verräterischen Daten von seinem Rechner hier gelöscht wurden. Die Überweisungszeitschaltuhr tickte ohnehin tief verborgen im Betriebssystem des Bankrechners. In nun noch vier Minuten würde die Überweisungsaktion anlaufen. Er eilte in sein Schlafzimmer, wo er vorsorglich einen gepackten Koffer bereithielt. Er sah noch auf den Computerschirm, ob der Löschvorgang abgeschlossen war. Dann würde sich der Rechner selbst herunterfahren und als ganz harmloser PC übrigbleiben, auf dem nichts verdächtiges installiert war. Doch die Flamme war gerade zur Hälfte niedergesunken. Er mußte also noch warten. Er erinnerte sich daran, daß es damals auch schon Magier gab, die gegen andere Magier kämpften und dabei fremdartige Zauber benutzten. Wenn diese fremden Magier immer noch existierten und ihm so schnell auf die Spur gekommen waren, dann war Eile geboten. Doch wenn er untertauchte, wollte er nicht von der Polizei verfolgt werden, bis er genug Streiter um sich versammelt hatte. Jetzt war die Flamme auf dem Schirm nur noch ein orangeroter, flackernder Querstrich. Da fühlte er etwas wie feine Finger, die über ihn glitten und dann verschwanden. Das in ihm steckende Gerippe des Ruben Coal vibrierte förmlich. Sie hatten ihn bereits im Visier. In dem Moment erlosch der letzte Rest der Flamme, und der Rechner zeigte an, nun herunterzufahren. Da ploppte es. Zwei Männer standen in seinem Wohnzimmer. Einer trug einen braunen Umhang. Der andere trug einen blauen Konfektionsanzug mit Krawatte. Beide hielten Holzstäbe in der rechten Hand. "Gordon Stillwell, Sie sind festgenommen! Keinen Laut und keine falsche Bewegung", sagte der im Umhang.

"Ach ja?!" Rief Stillwell und lachte, als ein roter Blitz gegen seine Brust schlug. Doch er wußte, daß dies nur der Anfang war und die beiden da gleich stärkere Zauber versuchen würden. Er sprang in den Raum zurück, während sein Computer gerade das Beendigungsfenster zeigte. "Stupor!" Hörte er. Doch wieder krachte nur ein roter Zauberblitz gegen seine Brust und blieb wirkungslos. Er fühlte nur, wie seine Knochen leicht vibrierten. "Sterbt", dachte er nun mit den Gedanken Stillwels und Ruben Coals zusammen. Er riß die Hände nach vorne und begann, einen rituellen Tanz aufzuführen. "Petrificus Totalus!" hörte er den im Anzug rufen. Doch nichts passierte.

"Incarcerus!" Erklang vom Typen im Umhang ein anderes Zauberwort her. Gordon sah die auf ihn zufliegenden Seile und fühlte, wie sie sich um seine Arme und Beine legten und ihn fesselten. Dadurch geriet sein magischer Tanz aus der Balance. Um ihn flimmerte die Luft. Blitze schossen aus dem Nichts und schlugen in alle Richtungen davon. Der Zauberer im Umhang bekam einen dieser Blitze frontal gegen den Brustkorb und schrie auf, während sein Umhang aufloderte. Der andere bekam einen Blitz gegen den Kopf. Doch mit lautem Prasseln zerstob die Entladung als silberne Funkenwolke. Dann war das magische Gewitter vorbei.

"Du wirst diesen Tag nicht überleben", schnaubte Stillwell, der gegen die ihn angelegten Fesseln kämpfte. "Andrew, James, bringt ihn um!" dachte er. Da flogen die Schranktüren auf, und zwei Männer, die vom Aussehen her Vater und Sohn sein mochten und in Winterschlafanzügen steckten, torkelten heraus.

"Gus, da sind die beiden!" Rief Marchand seinem Kollegen zu. Wie gut war es doch gewesen, das Haus vorher mit dem Abtastzauber untersucht zu haben. Stillwell hatte dabei eine ungewöhnliche Resonanz erzeugt, und in einem Schrank waren zwei dunkelmagische Schemen in menschlicher Form aufzuspüren gewesen. Also waren das wohl auch Zombies. Hier waren sie richtig. Doch wie diesen Kerl da jetzt festnehmen?

"Gus, die beiden Zombies!" Rief Marchand laut. Dann erst sah er, was mit seinem Kollegen passiert war. Sein ganzer Körper stand in grünen Flammen. Sein Fleisch fiel lautlos vom Körper ab. Offenbar hatte die Magieunterbrechung eine tödliche Entladung freigesetzt, und nur die unter seinem Hemd liegende Halskette hatte ihn zum zweiten mal an diesem Tag vor der finsteren Kraft geschützt.

"Du kannst die nicht alleine bekämpfen, Kerl!" Rief der gegen seine Fesseln ankämpfende. gleich gehörst du doch zu meinen treuen Dienern, Bleichling!"

"Kann nicht jeder aus bestem Ebenholz geschnitzt sein, Gordon", erwiderte Marchand und sprang zurück, weil die beiden Zombies gerade auf ihn losgingen. Doch diese Untoten waren nicht so beweglich wie Wallace. Offenbar waren sie durch die übliche Zombieproduktionsprozedur gegangen, erst vergiftet werden, dann sterbenund dann wieder aufstehen.

"Glaubst du echt, ich lasse mich von zwei besoffenen Kadavern umbringen?" Rief Marchand und schwang den Zauberstab: "Flammurus!" Laut fauchend schnellte eine lodernde Wand aus orangerotem Zauberfeuer vor Zachary empor. Die beiden lebenden Leichen trafen darauf und begannen sofort, wie zwei Fackeln zu lodern.

"Das wirst du bitter büßen", schnarrte der gefesselte, der unvermittelt flimmerte und durchscheinend wurde. Da fielen die Zauberseile von ihm ab und klatschten auf den Boden. Laut lachend kam der Zombiemeister auf Marchand zu. Dabei wischte er seinen brennenden Dienern mit zwei kräftigen Handbewegungen die Flammen vom Körper. Angekohlt und qualmend torkelten die Zombies noch heftiger als vorher zurück. Marchand begann jetzt erst zu ahnen, welche Teufelskraft in diesem Yuppi steckte.

"Deine Feuermauer kann mir nichts tun. Aber ich bringe dich jetzt um, damit meine Diener sich an dir ihre alte Form zurückfressen können." Mit diesen Worten durchschritt der gerade durchscheinende Gordon Stillwell die Flammenwand und ging auf Zachary Marchand zu. Dieser dachte an einen Geisterabwehrzauber und wendete ihn ungesagt an. Doch der Zauber wetterleuchtete nur grün und blau in der durchsichtigen Erscheinung. Sie stoppte zwar, flog aber nicht durch die Flammenwand zurück.

"Nicht gerade uninteressant", fauchte der Gegner und wurde wieder fleischlich. "Aber ich kann auch das abschütteln, wie du siehst, Bleichling!"

"Woher hast du diese Kraft, Gordon Stillwell?" Fragte Marchand, der fühlte, wie die Kette an seinem Hals vibrierte. Offenbar versuchte der Gegner ihm einen ungesagten zauber aufzuerlegen und das ohne Zauberstab. Mit einem derartigen Gegner hatte er es bisher noch nie zu tun bekommen. Ein unangenehmes Gefühl beschlich ihn, daß er tatsächlich keinen Sonnenuntergang mehr würde sehen können.

"Gleich habe ich dich und ..." Zachary Marchand zog die Kette frei und hielt dem Gegner das Amulett entgegen. "Mit schönen Grüßen von Marie Laveau, du Urwaldgespenst!" Rief er noch. Gordon erschrak und verdrehte die Augen. Ein merkwürdiges blaues Feuer glomm darin, das unstet flackerte und beinahe erlosch. Wut machte sich auf dem kaffeebraunen Gesicht breit. Der Fremde wand sich und versuchte, keuchend einen Schritt weiter nach Vorne zu tun. "Du elender Sohn einer weißen Hure!" Preßte er mit schmerzerfüllter Stimme hervor.

"Na, meine Mutter hat mich auf anständige Weise gekriegt", erwiderte Marchand, der fühlte, wie die Kette langsam wärmer wurde. Die in ihr verankerte Magie prallte unsichtbar und unhörbar auf die Magie des übermächtig wirkenden Gegners. "Mit dieser Kette kannst du mir nichts anhaben, Ruben Coal." Der Feind schrie auf und taumelte zurück. "Also doch", dachte Zachary. Marie Laveaus Geist hatte doch behauptet, es sei der echte Sohn des Totengottes Samedi, der auf irgendeine Weise zurückgekehrt sei. Er hatte ihn also schon gefunden, schneller als beiden wohl lieb war.

"Du wirst sterben, bleicher Wurm. Du-wirst-ster-ben!! Ich werde jeden umbringen, den du liebst und dich lebendig im tiefsten Sumpf vermodern lassen", schnarrte der Gegner. Das blaue Feuer in seinen Augen flackerte wild, und er schrie gequält, als leide er gerade unter dem Cruciatus-Fluch. Dann wandte er sich mit einem Ruck um und wurde wieder durchsichtig. Mit einem Sprung war er durch die Flammen und trieb auf die gegenüberliegende Wand zu. Wie ein wahrhaftiges Gespenst verschwand er darin. Sein Schmerzensschrei wurde jäh dumpfer und verebbte dann ganz.

"Kein Geist und kein Mensch", knurrte Marchand. Dann erkannte er, daß die beiden Zombies noch im Raum waren. Er mußte die beiden vernichten, bevor die irgendwem schaden konnten. er sah ihre von der Feuermauer leicht angesengten Gesichter und meinte, sie zu erkennen. Das waren James Coal und wohl sein Sohn Andrew, der Wunderdoktor, der im Ruf stand, selbst abgefallene Köpfe wieder anzunähen. Er sah seinen Kollegen, von dem gerade der letzte Fetzen Fleisch abfiel. Die brennenden Stoffetzen segelten wie Herbstlaub zu Boden und erloschen. Denn der Teppich war aus schwerentflammbarer Faser gemacht und zusätzlich mit Brandunterdrückenden Chemikalien imprägniert. Doch Gus Bell lebte nicht mehr. Diese grauenhafte Tatsache würde Zachary Marchand jetzt verfolgen, wie der Auftritt Ruben Coals. Dann erkannte er, wie die Zombies sich umdrehten und auf das breite Panoramafenster zuwankten.

"Ne ne, ihr zwei seid für draußen nicht anständig genug angezogen", stieß Marchand aus und setzte sie mit zwei dosierten Feuerstrahlen aus seinem Zauberstab in Brand. "Diesmal wischt euer Meister euch nicht mehr das Feuer vom Körper. Friede Eurer Asche!" Die Zombies ließen sich fallen und wanden sich auf dem Boden. Dabei erstickten sie die Flammen. "Mist, netter Versuch!" Knurrte Marchand. Da fiel seine Feuerwand zusammen, weil ein weiterer Feuerelementarzauber sie durchdrungen und aus der Balance gebracht hatte. Nun hatten die beiden Untoten Freie Bahn. Da sie nur Befehlen folgten konnten sie das wohl nicht ... Doch sie hatten sich doch gerade selbst vom Feuer befreit. Da waren sie auch schon unterwegs zu ihm. "Persectum Maxima!" Rief Zach und ließ den Zauberstab auf Halshöhe des ihm nächsten Zombies entlangpeitschen. Ratschend und knirschend löste sich der Kopf vom Hals und kullerte auf dem Teppich entlang. Der enthauptete Zombie stürzte völlig entkräftet zu Boden. Der zweite Untote wankte weiter auf Zach zu, der den magischen Schwertstreich noch einmal führte und auch den zweiten wandelnden Leichnam köpfte. "Den lasse ich mir als Zombietöter patentieren", dachte Marchand, als er ganz alleine in der Wohnung stand. Da schossen unvermittelt blau-grüne Flammen aus den Wänden heraus. Möbel fingen Feuer, und der unter dem Tisch stehende Computer begann zu qualmen. Zachary erkannte, daß Gordon seine Karten noch lange nicht alle aufgedeckt hatte. Womöglich war dieser Zauber der, der das Haus seines Onkels ... Er mußte weg! Gegen Feuer würde ihn die Kette nicht schützen. So disapparierte er, als selbst der bis dahin so feuerfeste Teppich zu qualmen begann.

"Okay, Leute, Gus ist in Erfüllung seiner Pflicht gestorben. Wir haben ein sehr sehr ernstes Problem", keuchte Zachary, als er im Zaubereiministerium bei der Sektion für Strafverfolgung eintraf. Die Leute dort glaubten seinen Bericht erst nicht. Erst als er anbot, die Erinnerungen in ein Denkarium auszulagern waren sie geneigt, ihm zumindest zuzuhören.

Der Bericht Marchands wurde unterbrochen, weil ein Zauberer in grünem Umhang wild an die Tür klopfte und hereinstürmte.

"Die Sardonianerin!" Stieß der Eindringling aus. "Sie hat Linda Knowles Haus überfallen und vernichtet, Linda Knowles entführt und fünfundzwanzig unserer Leute umgebracht", keuchte er.

"Was, die wird langsam größenwahnsinnig", stöhnte Bells Stellvertreter. "Weiß der Minister das schon?"

"Der berät sich gerade mit Mr. Spikes über die Neuordnung der Strafverfolgungsabteilung."

"Soso, Mark. Nun, ich habe auch noch eine Schreckensmeldung für den. Vielleicht ist das ja kein Zufall, daß dieses Weib gerade heute ... Klären wir später", knurrte Marchands Gesprächspartner. Dann sagte er zu Zachary: "Schreib mir alles auf. Du mußt dann aber beeiden, daß das alles so passiert ist!"

"Was ist mit meiner Muggelweltkollegin?"

"Wir sind schon dabei, die Angelegenheit Coal-Stillwell aus den Akten und Gedächtnissen der damit befaßten Leute zu tilgen. Der Typ ist zu gefährlich, um von Muggeln behelligt zu werden."

"Ja, aber dann wird er in der Muggelwelt unbekümmert untertauchen und warten, bis wir ihn wieder aufstöbern. Das kann Jahre dauern, und so viel Zeit habe ich nicht, mit dem fertig zu werden", knurrte Marchand.

"Ach neh, wieso nicht?"

"Weil dieser Talisman hier nur einen Mondzyklus wirkt", knurrte Marchand unbedacht, daß der Zauberer in Grün ja noch im Raum war.

"Und du meinst, dann würde dieser Mistkerl dich aufspüren und umbringen?" Fragte Bells Vertreter.

"Er hat mir den Tod angedroht und auch den für alle, die mir was wert sind. Wenn die Kette nicht mehr wirkt muß ich entweder ganz weit von hier fort sein oder dieser Kerl erledigt sein. Reicht mir schon, daß Nyx mich wochenlang in ein Versteck getrieben hat. Dieser Bastard ist womöglich gefärhlicher als die.""

"Gefährlicher als die Sardonianerin?" Fragte der Bote von eben.

"Er meint die Vampirin, die wohl Zugang zum legendären Mitternachtsdiamanten erhalten hat und ihre Macht dadurch vervielfacht hat", sagte Gus Bells Stellvertreter und womögliche Nachfolger.

"Zach, du weißt es genauso wie ich, daß eine Muggelweltfahndung nichts bringt. Black haben die in England damit nicht gekriegt, und die Sache mit der Abgrundstochter vor zwei Jahren hat auch mehreren deiner Muggelweltkollegen das Leben gekostet."

"Nur, wenn wir ihn einfach in der magielosen Welt herumlaufen lassen, kann er so tun, als sei er völlig harmlos und sich dort wunderbar auf den nächsten Schlag vorbereiten. Abgesehen davon will ich diesen Mistkerl erwischen, bevor der mir über den Kopf wächst."

"Wir lassen die Muggel da raus! Basta!" Schnarrte Marchands Gesprächspartner und deutete dann auf die Tür. "Kläre mit dem LI, wie du weiter gegen dieses Monster vorgehen kannst, Zach. Guten Tag!"

"Du mich auch", knurrte Zachary und verließ das Büro.

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Anthelia war zufrieden. Sie hatte Linda und die beiden Shorewoods gleich nach ihrer Rückkehr in die Daggers-Villa entschrumpft und aufgeweckt und dabei erfahren, daß Armins und Annadoras Bruder zeitgleich mit der angeblichen Ermordung Wishbones verschwunden war. Normalerweise meldete er sich trotz seiner Anstellung bei den My-Trupplern jeden Abend bei seinen Geschwistern. Annadora hatte Anthelia zwar voller ehrlichem Haß vorgeworfen, daß sie doch ihren Bruder auf dem Gewissen habe. Doch Anthelia hatte diesen Vorwurf damit abgeschmettert, daß sie sagte, sie hätte weder Leichen noch Zeugen hinterlassen, wenn sie wahrhaftig Wishbones Mörderin gewesen wäre.

"Er galt als unauffindbar, ja förmlich verschwunden. Hätte ich seinen Tod angeordnet oder selbst herbeigeführt würdet ihr heute noch denken, er sei verschwunden und würde sich nicht mehr aus dem Versteck wagen. Denke darüber nach, warum nur Wishbones Leiche gefunden wurde und nicht die von Shorewood, wenn er bei ihm gewesen sein soll. Soweit ich euren Zeitungen entnahm entkam dieser Thornhill doch und hat verbreitet, ich habe diesen Wishbone ermordet, der zu feige war, sich zu der Verbundenheit mit seiner Tante zu bekennen und zu feige war, sich der Kritik der magischen Mitbürger zu stellen. Denke darüber nach, Annadora Shorewood, wie gelegen ihm die öffentliche Meinung jetzt kommt, er sei gewaltsam umgekommen, noch dazu von mir getötet worden. Jetzt sind sich alle wieder einig, seine Ansichten seien doch die richtigen gewesen. Für wie dumm hältst du mich?"

"Das kann ich nicht beurteilen, Verräterin an der magischen Menschheit", schnarrte Annadora. "Ich weiß nur, daß wegen dir unser Bruder nicht mehr lebt oder unauffindbar verschwunden ist. Willst du uns auch verschwinden lassen?"

"Bring mich nicht auf solche Ideen, Schwester", erwiderte Anthelia. Dann betäubte sie Annadora Shorewood. Die mußte es nicht mitbekommen, wie sie die fünfundzwanzig überwältigten My-Truppler der Öffentlichkeit zurückgab. Linda, Annadora und Armin würde sie heute noch vor der Honestus-Powell-Klinik abliefern, wo man sie auf Gedächtniszauber und dergleichen untersuchen mochte.

Als die Nichte Sardonias dann am frühen Abend im Weißrosenweg auftauchte und den betrunkenen Drachen ansteuerte, konnte sie keiner erkennen, weil sie sich ihr blondes Haar schwarz gefärbt hatte und dunkelgrüne Augen im Gesicht hatte. Erst als sie einen Wäschekorb vor die erstaunten Terrassengäste des betrunkenen Drachens abstellte kehrte sie ihre partielle Verwandlung um und gab sich zu erkennen. Sofort wollten einige ihr mit ihren Zauberstäben einen Fluch aufhalsen. Doch sie lachte nur und rief: "Hier habt ihr eure Schmutzwäsche wieder. Zu Schade für meine Nase und was ich sonst reinhalte." Sie lächelte in die Kameras mehrerer Reporter, die sie durch anonyme Eulenpost hierherbestellt hatte. Dann disapparierte sie einfach.

Linda Knowles erhielt die bedauerliche Nachricht, daß ihr Haus neu aufgebaut werden mußte. Allerdings ging es herum, wer da wirklich zuerst angegriffen hatte. Linda mußte bedauernd einräumen, daß sie fast von Leuten Cartridges entführt worden wäre und wohl nur der Erbin Sardonias ihre Freiheit verdanke. Damit ging Anthelias Saat auf. Denn zeitgleich wurden die fünfundzwanzig verwandelten My-Truppler in ihre lebendigen Originalformen zurückverwandelt.

Minister Cartridge, der bereits eine Gedenkrede für die fünfundzwanzig heldenhaft gefallenen Kämpfer vorbereiten wollte, erfuhr von seinem Boten Lenny, daß die Fanatikerin die scheinbar vernichteten als rosarote Stofftaschentücher vor dem betrunkenen Drachen abgeliefert hatte. Cartridge wußte nicht, was er davon halten sollte. Er mußte die My-Truppe bestehen lassen. Doch diese hatte sich heute geradezu blamiert. Mehr noch, ihm, Cartridge, wurde von Linda Knowles und den Geschwistern eines My-Trupplers namens Alwin Shorewood vorgeworfen, willkürliche Verhaftungen durchzuführen und womöglich noch andere unerlaubte Dinge zu tun. Dem mußte er konsequent entgegentreten. Doch er mußte doch die My-Truppe am Leben halten.

Als er mit seiner Frau Godiva am Abend im Schutz der ministeriellen Gemächer darüber sprach, in welche Lage er da geraten war sagte diese:

"Die spielen mit dir. Die Erbin Sardonias hat die fünfundzwanzig Männer gefangengenommen und einfach wieder freigelassen, um zu zeigen, daß sie es nicht nötig hat, Gegner gleich umzubringen, und die My-Truppe führt ihre eigenen Aktionen durch. Du mußt diese Einheit auflösen und die Mitglieder in ordentliche Anstellungen zurückschicken. Die halten dich doch sonst für zu schwach."

"Ich muß die Truppe erhalten. Sie muß alle Hexen, die Wishbone ermordet haben ausschalten", sagte Cartridge.

"Warum mußt du dafür diese Truppe aufrechterhalten, die unkontrolliert ist?"

"Ich bin ihr Vorgesetzter. Mir müssen sie berichten", erwiderte der Minister.

"Ach ja, und warum haben Sie dir nicht berichtet, daß sie gegen Linda Knowles vorgehen und warum sie die Shorewood-Geschwister verhaften wollten?" Fragte Godiva Cartridge. Nebenan sang ihr gemeinsamer Sohn neben der Tonlage ein Gutenachtlied.

"Klär das mit dir ab, warum du diese unberechenbare Truppe erhalten mußt! Sie war ein Werk Wishbones und meint wohl, ihn rächen ... zu ... müssen." Godiva sah ihn sehr genau an. Warst du einmal mit einem von denen alleine außerhalb des Ministeriums?" Cartridge bejahte es. Godiva nickte und Antwortete: "Verstehe. Ich komm gleich wieder, wenn ich unseren kleinen in den Schlaf gesungen habe."

Es dauerte einige Minuten, bis Godiva Cartridge wiederkam und sich dann neben ihren Mann ins Bett legte. Auch wenn ihre Schwangerschaft schon mehr als ein Jahr vorüber war, wirkte sie noch rundlich und besaß eine große Oberweite.

"Milton, der kleine langweilt sich. Deshalb schläft er nicht so gut. Meinst du nicht, daß ihm jemand fehlt, mit dem er spielen kann?" Säuselte Godiva Cartridge und sah ihren Mann sehr einladend an.

"Ausgerechnet jetzt kommst du darauf?" Fragte Milton Cartridge sichtlich angeregt. Sie lächelte nur und streckte ihren Körper. Ihr Nachthemd rutschte ihr vom Oberkörper. "Warum nicht heute, Milton", wisperte Godiva Cartridge. Ihr Mann sah sie an. Sein Blick wurde immer sehnsüchtiger. Sie öffnete die Arme und lud ihn ein.

Cartridge genoß die darauf folgenden Minuten, die zur Stunde wurden. Godiva war froh, daß er seine alten Vorlieben nicht vergessen hatte. So war es ihr möglich, ihn während der innigen Zweisamkeit leise zu fragen, ob er wirklich aus freien Stücken die My-Truppe erhalten wolle. Als er in den kurzen Pausen erkannte, daß er dies nicht freiwillig tat säuselte sie ihm nur zu: "Tu nur, was du für richtig hältst. Lasse dir nichts anderes mehr einreden, Liebster. Ich möchte, daß du nur noch tust, was dir gefällt." Sie zuckte zusammen, weil er ihr fast vor Gier eine wichtige Körperpartie angeknabbert hätte. Doch als sie beide fertig waren und Cartridge in jeder Hinsicht gesättigt war rollte er sich zur Seite und schlief.

"Diese Drecksbande", dachte Godiva, die sich in der herrlichen Erschöpfung dahintreiben ließ. "Mir meinen Mann mit Imperius zu verhunzen. Aber morgen kriegst du deine Quittung, Justin Spikes."

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Gordon Stillwell alias Ruben Coal war unfaßbar wütend. Nicht nur, daß sie ihm so schnell auf die Spur gekommen waren. Die Erben Marie Laveaus hatten ihm einen unbesiegbaren Gegner entgegengestellt. Er konnte ihn nicht abtasten, ihn nicht berühren und nicht aus der Ferne bedrängen. Sein Bild verschwamm immer, wenn er versuchte, sich auf ihn einzustimmen. Dieser Kerl hatte ihn auch bei seinem wahren Namen genannt und damit seine Macht über ihn verdeutlicht. Zwar konnte ihm auch niemand aus der Ferne gefährlich werden. Doch wenn sie ihn andauernd störten, konnte er sein Ziel nicht erreichen. Er wußte nämlich nicht, ob er nun unsterblich war oder ob das Fleisch, in das er hineingeschlüpft war, unvergänglich blieb oder sein in Silber gehülltes Gerippe eines Tages wieder hervortreten und er wieder unbeweglich irgendwo überdauern mußte. Wenn er seinen Feldzug gegen die Erben Marie Laveaus und die Vernichtung der Sklaventreiber erfolgreich beenden wollte, dann brauchte er jetzt seine Streitmacht. Er mußte untertauchen. Sein Plan, New Yorker Bankbeamte zu seinesgleichen zu machen war nun nicht mehr durchführbar. Nur in den Dörfern oder in Entwicklungsländern konnte er in Ruhe seine Kreaturen erschaffen. In einem Internetcafé, in das er dank seiner neuen Gabe, wie ein Geist durch feste Hindernisse zu dringen eingebrochen war, hatte er sich überzeugt, daß seine Geldübertragung funktioniert hatte. Morgen würden sie ihn wohl suchen, weil irgendwer Gelder von der Bank abgezweigt hatte. Doch mit Onkel James' Privatjet, der nun ganz ihm gehörte, würde er morgen schon ganz woanders sein. Doch er brauchte mindestens noch zwanzig Getreue. Denn eines hatte er gelernt, seine Sklaven waren nicht unverwundbar.

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"Dann wohnst du eben wieder ein paar Wochen bei uns", meinte Alexis Ross, als Zachary Marchand am nächsten Morgen bei ihr im Wohnzimmer saß. "Oder hat dir das nicht gefallen, gegen John zu pokern."

"Wenn ich mehr Geld gehabt hätte, Lex", erwiderte Zachary. "Aber ich habe es satt, mich dauernd zu verstecken, weil so übermächtige Monster hinter mir her sind. Nur ich fürchte, daß Martha Probleme kriegen könnte, sollte dieser Kerl herausfinden, wer ihn da beharkt hat."

"Hast du ihm deinen Namen genannt?" Fragte Alexis ihn.

"Das hätte ich fast getan, wenn ich ihm als normaler FBI-Mensch gegenübergetreten wäre."

"Dann weiß der nicht, wie er an dich rankommen kann. Der wird trotz seiner Supermagie nicht so blöd sein, sich mit hunderten von Zauberern anzulegen. Der wird jetzt wie diese Brutkönigin untertauchen und zusehen, stärker zu werden. Die Liga wurde vom LI informiert, daß wir auf Zombiesichtungen und Ritualmorde aufpassen müssen. Was hältst du eigentlich von dem Ding, daß sich Wishbones Lieblingsfeindin geleistet hat. Ich meine nicht diese kuriose Sache, daß sie ihn umgebracht hätte."

"Der Korb voller Taschentücher?" Fragte Zachary. "Ich hatte nicht die rechte Muße, mir das anzugucken. Aber das muß ja ganz in meiner Nähe passiert sein."

"Erst wollte Spikes so tun, als habe sie mit einer Übermacht angegriffen. Tja, und dann tauchten seine angeblich ermordeten Leute wieder auf. Lino wohnt im Moment bei ihrer Nachbarin Peggy Swann, bei der ich mir auch nicht so sicher bin, ob die immer so brav und unschuldig war wie sie tut."

"Sie ist alleinerziehende Mutter", sagte Zachary Marchand. "Marthas Sohn Julius ist ihr letzten Sommer vorgestellt worden."

"Stimmt, habe ich auch über meine Verbindungen erfahren", sagte Alexis. "Du weißt nicht, was sie von ihm wollte?"

"Die wird ihm schon keinen unzüchtigen Antrag gemacht haben. Schon heftig genug, daß der Junge mit sechzehn schon verheiratet ist. Der weiß doch noch nicht, was ein Mann so fühlen und denken kann."

"Ich denke, Mildrid hat ihm das schon alles gezeigt, was ihm gefällt und was nicht", erwiderte Alexis. "Aber wir hatten es von Sardonias Erbin. Du hältst sie für Wishbones Mörderin?"

"Nicht mehr. Nach den Gesetzen der Logik und nach dem, wie sie vorher schon vorgegangen ist hätte sie Wishbones Unauffindbarkeit ausgenutzt, um ihn für immer verschwinden zu lassen. Erinnert mich an einen Agentenfilm, wo jemand, der sowieso schon für unauffindbar gehalten wurde entführt wurde und seine Telefongespräche von einem Stimmenimitator erledigt wurden. Abgesehen davon hätte sie damit ja gezeigt, wie sehr ihr Wishbones Anti-Hexen-Kurs zusetzt. So bescheuert ist die nicht."

"Nur alle sollen das denken, daß sie das getan hat. Ich fürchte, falls Wishbone noch leben sollte und einen arglosen Mitarbeiter vorgeschickt hat, dann droht ihm Doomcastle. Oder die Sardonianerin erwischt ihn vorher. Was gnädiger ist will ich mal besser nicht beschreiben."

"Lex, Spikes wurde gerade wegen Anwendung des Imperius-Fluches gegen Cartridge verhaftet", verkündete ein gemalter Zauberer mit rotblonden haaren.

"Was?! Justin Spikes? Der gehörte doch dieser Sondereinheit My an, die nur dem Minister Rechenschaft schuldig war. Wieso hat er Cartridge mit diesem Fluch belegt?"

"Gerade wegen dieser Truppe. Er wollte wohl, daß Cartridge sie mit neuen Sonderrechten ausstattet. Offenbar hat der Fluch nicht so gut gehalten. Cartridge hätte fast ein magisch bindendes Abkommen unterzeichnet. Aber da kam ihm diese Sache mit Anthelia und den fünfundzwanzig My-Männern dazwischen", sagte der gemalte Zauberer. "Offenbar hat sich Milton darauf besonnen, daß er doch ein Mann ist. Mit der Frau ... Wau!"

"Goddy ist ein Glückstreffer, auch wenn die erst bei diesen Männerhasserinnen von Pabblenut war", erwiderte Alexis.

"Und, wohnt der Muggelstämmige jetzt wieder bei dir und John?" Fragte der Zauberer auf dem Bild.

"Hi, Taurus. Ich bin nur zu Besuch", erwiderte Zachary Marchand. "Aber ich mußte was mit deiner Nachfahrin bereden."

"Verstehe, wegen dieses Zombiemeisters. Der schüttelt euch an einem Arm durch, wie? Ihr müßt nur rauskriegen, wie man den findet. Dann macht den mit zwanzig Leuten platt, notfalls mit dem Todesfluch. Aber paßt auf, daß ihr nicht in eine Rauschnebelfalle reinrennt!"

"Ha ha, Taurus Southerland. Du hast gut reden", erwiderte Zachary barsch. "Wenn wir den in vier Wochennicht kriegen bin ich vielleicht tot, falls Lex und John mir nicht noch einmal Asyl geben."

"Lex macht das sicher gerne", erwiderte Taurus Southerland. Alexis knurrte nur, daß sie nicht er sei und auch nicht seine Tochter oder Enkeltochter."

"Ja, aber meine Urgroßnichte bist du, und da werden bestimmt ganz tief in dir noch ein paar heiße Momente schlummern, die ausgelebt werden wollen", erwiderte Taurus.

"Dödelheini", knurrte Marchand. Taurus Southerland lachte nur darüber und erwiderte:

"Frag John mal, warum der Lex geheiratet hat! Weil er sich sonst in einer langen Schlange hätte anstellen müssen."

"Ist gut jetzt, Taurus. Du bist ja nur neidisch, weil du derartige Sachen nicht mehr machen kannst. Also Laß uns unser Leben leben!" Erwiderte Alexis Ross sehr ungehalten.

Als Taurus Southerland wieder in der Bilderwelt unterwegs war, um weitere Neuigkeiten einzuholen sprachen Zachary und Alexis noch über die neue Bedrohung und welches Vorgehen gegen Sardonias Erbin angeraten war.

"Den beiden ist schwer beizukommen. Und ich weiß im Moment nicht, wer das kleinere Übel ist, ein rachsüchtiger Urwaldhexenmeister oder eine herrschsüchtige Wiederverkörperung einer fanatischen Zaubererfeindin."

"Koexistenz ist keine Option?" Fragte Zachary rhetorisch.

"Gut, dir wird im Moment Samedis mißratener Sohn gefährlicher als Sardonias Nichte. Vielleicht sollte man beide mal zusammenkommen lassen."

"Das meinst du nicht ernst, Lex", schnarrte Marchand. "Und dann mit dem fertig werden, der oder die übrigbleibt? Alexis nickte.

"Wahrscheinlich werden die beiden sich auch so über den Weg laufen. Sardonias Nichte wird es sich nicht bieten lassen, daß ihr ein alter Voodoo-meister Konkurrenz macht."

"Und der weiß wohl nicht, wem er alles auf die Füße treten kann", erwiderte Zachary Marchand.

"Stimmt", bestätigte Alexis Ross.

_________

Justin Spikes war sich seiner Sache so sicher gewesen. Der Leiter der My-Truppe hatte sich genau an die Absprache gehalten und den Fluch auf Cartridge gelegt, um seiner Kampftruppe die volle Beweglichkeit und Unabhängigkeit zu sichern. Doch bevor Cartridge den magisch bindenden Vertrag unterschreiben konnte, in dem ganz klein gedruckt stand, daß er die Truppe über alle anderen Abteilungsvorschriften erhaben machte, war dieser verpatzte Zugriff gegen die lästig gewordenen Shorewoods passiert, und die Sardonianerin hatte die Gelegenheit ausgekostet, ihnen allen wieder auf der Nase herumzutanzen. Immerhin wollte er heute die Unterschrift unter das Abkommen haben, daß im Zweifelsfall auch die Ablösung des Ministers durch ihn, Spikes, ermöglichte. Und dann, aus heiterem Himmel, waren diese verdammte Archstone und drei weitere ordinäre Strafverfolgungszauberer in seinem geheimen Büro aufgekreuzt und hatten ihn verhaftet. Die Anklage lautete auf Anwendung des unverzeihlichen Imperius-Fluches. Wer zum Donnervogel hatte denn da nicht dichthalten können? Doch als er dann in Ketten dem amtierenden Zaubereiminister vorgeführt wurde, blickte dieser ihn sehr zornig an.

"Ich weiß, ich muß für Sie wie der letzte Schwächling gewirkt haben, damals gegen Nyx und gestern im Konferenzsaal. Aber ich bin kein Schwächling. Ich habe den Fluch abschütteln können, den Sie mir aufgehalst haben. Ihre Kumpane werden gerade alle verhört, wer noch was davon mitbekommen hat. Ihre Anstellung im Ministerium ist hiermit Geschichte, Mister."

"Sie wagen es, mich zu verhaften", schnarrte Spikes. "Die My-Truppe kann ohne mich nicht arbeiten. Und sie muß weiterarbeiten."

"Ja, ich weiß. Das haben Sie mir einzupflanzen versucht. Ich hätte ja auch fast diese schriftliche Vollmacht unterschrieben. Im Grunde muß ich dieser Sardonianerin noch danken, daß sie mich vor diesem ungewollten Fehler bewahrt hat, wenngleich ich fürchten muß, daß sie mich bei einer günstigen Gelegenheit selbst mit diesem Fluch unterworfen hätte. Warum Sie noch nicht im Untersuchungstrakt von Doomcastle sind liegt an zwei Dingen. Ich will wissen, ob Sie aus eigenen Stücken gehandelt haben und falls nicht, in wessen Auftrag. Und kommen Sie mir jetzt nicht damit, selbst unter den Imperius genommen worden zu sein! Ich lasse Sie gerne Veritaserum schlucken, um das herauszubekommen." Spikes erbleichte. Dann stammelte er:

"Sie sind ein Schwächling, Mister Cartridge. Sie lassen sich von Hexen beschwatzen, ihnen mehr Rechte zu geben. Wir müssen erst alle Feindinnen erledigen. Wir können uns nicht von denen herumschubsen lassen. Die My-Truppe ..."

"Ist erledigt!" Bellte Cartridge. "Ihr Auftrag war ohnehin umstritten, ihre Erfolge mehr als zweifelhaft. Oder haben Sie meinen Vorgänger Wishbone beschützen können? Nein! Haben Sie die Sardonianerin davon abhalten können, diese Valery Saunders in eine brandgefährliche Kreatur zu verwandeln? Auch nein! Und was Sie sich erst gestern geleistet haben, indem sie die Geschwister Shorewood verhaften lassen wollten, ohne meine ausdrückliche Anweisung dazu zu erhalten, schlägt dem Faß den Boden aus. Bei der Gelegenheit würde ich Mr. Shorewood gerne selbst einmal sprechen. Wo genau hält er sich auf?"

"Ich beantworte derartige Fragen nicht mehr, Mr. Cartridge. Ich muß wohl anerkennen, daß sie von der Sardonianerin unterworfen wurden. Allein schon daß diese Donata Archstone mich festnehmen durfte sagt mir alles."

"Netter Versuch, Mr. Spikes", erwiderte die Erwähnte lässig. "Es gibt genug Zeugen, die wissen, wo ich gestern und die ganze Nacht war. Immerhin galt es, den Überfall auf Linda Knowles Haus aufzuklären und wieso es möglich war, daß die Sardonianerin mit fünfundzwanzig Kampfzauberern so spielend leicht fertig wurde, wie diese behauptet hat. Immerhin wollen wir selbst ja nicht in so eine Falle reinrennen."

"Sie haben meine Fragen noch nicht beantwortet. Wollen Sie ernsthaft die Seelenhaft in Doomcastle auf sich nehmen, ohne mildernde Umstände geltend zu machen?"

"Phh, mildernde Umstände? Wenn Sie mir wirklich den Imperius-Fluch vorwerfen, gibt es dafür nur eine Bestrafung. Glauben Sie aber nicht daß Sie damit alles für sich in Ordnung bringen, wenn Sie fähige Mitarbeiter verunglimpfen", schnarrte Spikes.

"Fähige Mitarbeiter? Leute, die sich in Geheimhaltung sonnen und ihre Privilegien überziehen? Ich hätte Ihnen im Grunde den Ministerstuhl überschrieben und nur mit ihrer stillen Zustimmung weitermachen dürfen. Und mein Nachfolger hätte sich auch an den Vertrag halten müssen. Ihr Kumpan Thornhill hat vor ihnen auf dem Stuhl gesessen. Der hat uns verraten, wo dieses Unrechtsdokument aufbewahrt wurde. Also für wen sollten Sie mein Amt übernehmen, Mister?"

"Wie gesagt beantworte ich keine Fragen mehr", knurrte Spikes und versuchte, den Minister zu legilimentieren. Doch dieser hatte sich vorsorglich dagegen abgeschirmt. Auch Donata hatte ihren Geist sorgsam verschlossen.

"Das kriegen wir auch so raus, Mr. Spikes. jede Kette ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied. Thornhill hat Kooperation angeboten, und wir kriegen noch raus, wo Shorewood steckt. Das LI hat angeboten, ihn suchen zu lassen, weil es Ungereimtheiten gibt, die er aufklären kann. Einen angenehmen Tag noch!" Damit ließ er Spikes wieder abführen.

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"Soso", erwiderte Anthelia, als Donata ihr nach zwei Stunden Bericht erstattete. "Da treibt sich also ein Voodoomagier herum, der seinen Körper zeitweilig entstofflichen kann. Und der Hexenjäger Nummer eins hat es gewagt, Cartridge unter den Imperius zu zwingen. Shorewood ist immer noch unauffindbar?"

"Die Leute vom Laveau-Institut werden die Geschwister wohl unterstützen, ihn magisch aufzuspüren, wenn er noch lebt", erwiderte Donata Archstone.

"Da sagt ihr was, Lady Donata. Ich glaube nämlich nicht mehr, daß er noch lebt. Ich bin sogar überzeugt, daß er bereits ganz offen beigesetzt wurde."

"Du meinst, Shorewood ist der, der als Lucas Wishbone getötet wurde?"

"Ja, diese Schlußfolgerung erscheint mir die zutreffendste", erwiderte Anthelia. "Wishbone war zu feige, das Martyrium zu suchen. Andererseits wußte er, daß seine Zeit abgelaufen war. Hinzu hat er sich mit seiner Tante und Geliebten verkracht. Leider komme ich an das Haus von ihr nicht heran, sonst hätte ich sie gerne gefragt, ob sie uns Hexen wirklich für so einfältig und auf Gewalt setzend hält. Aber das Cartridge dem Imperius so gut widerstand imponiert mir. Das sollten wir uns besser merken."

"Wenn Shorewood wirklich der angeblich von dir ermordete Wishbone ist, heißt das doch, daß Lucas Wishbone noch lebt", spann Donata Anthelias Gedankenfaden zu Ende. Anthelia nickte. "Hmm, dann kann ich dir den Gang zu Tracy Summerhill abnehmen. Ich frage den Minister, ob er sie vorlädt und ihr anbietet, sie mit dem Sanguivocatus-Zauber nach ihrem Neffen suchen zu lassen."

"Dieser Zauber wirkt nur auf wache Bewußtseine, die gefunden werden wollen, wenn sie gerufen werden", erwiderte Anthelia. "Die selige Mitschwester Ardentia hat es mir harklein erläutert, wie die mit ihr dahingegangene Jane Porter uns unbeabsichtigt geholfen hat, Julius Andrews, der jetzt Latierre heißt als Köder für Halliti auszulegen."

"Ja, aber wenn er gerufen wird muß er doch antworten", erwiderte Donata, bevor sie sich gegen die Stirn schlug und fortfuhr: "Falls er bei Bewußtsein ist. Womöglich mußte er sich auf eine längere Abwesenheit einrichten und hat sich daher in Zauberschlaf versenkt oder versenken lassen, aus dem er erst wieder erwacht, wenn ein bestimmtes Ereignis eintritt oder jemand bestimmtes ihm etwas bestimmtes mitteilt. Damit erklärt sich auch für mich, warum Spikes sich nicht gegen die Vorwürfe verteidigt. Er arbeitet immer noch für Wishbone." Anthelia lächelte.

"Und deshalb soll er uns auch zu ihm führen. Es wäre eine Verschwändung, wenn dieser loyale Gefolgsmann ohne weiteren Nutzen in einem Seelenkerker festgesetzt wird."

"Er ist in Doomcastle. Da kann auch ich ihn nur mit Ministerieller Erlaubnis herausholen, um ihn vor Gericht zu stellen."

"Hmm, womöglich mußte er auch damit rechnen, unabkömmlich zu sein. Vielleicht hat er noch wen in den Plan eingeweiht ... natürlich, die Hexenschwestern, die ich angeblich gegen Wishbone ausgeschickt habe. Das waren bestimmt auch seine treuen Mitarbeiter, die meinten, mit Vielsaft-Trank unser erhabenes Geschlecht annehmen zu dürfen. Allein das gehört schon geahndet."

"Wir müßten herausfinden, ob Spikes wirklich weiß, wie er Wishbone aufwecken kann, wenn dieser wirklich schläft."

"Lasse ihn zu einem weiteren Verhör abholen, an dem du selbst aber nicht teilnimmst. Welcher männliche Mitarbeiter von dir gilt als noch mit Wishbones Zielen verbunden?"

"Thornhill nicht mehr. Aber Hoskins guckt mich immer noch so an, als hätte ich Wishbone ermordet. Würde mich nicht wundern, wenn der auch versucht, mir den Imperius aufzuerlegen. Er weiß nur, daß ich etwas mächtiger bin als er."

"Gut, dann hätte er einen Grund, mit dir alleine zu sein", erwiderte Anthelia verwegen grinsend. "Biete ihm diese Gelegenheit!"

"Und dann?" Fragte Donata. "Wenn du vorhast, heimlich ins Ministerium einzudringen, um ihn zu verhören ..."

"Hat Spikes versucht, Cartridge im Ministerium zu unterwerfen?" Wollte Anthelia wissen. "Mach eine inoffizielle Anfrage daraus, ob die Einrichtung einer Sonderkommission zur Aufarbeitung der Wishbone-Ära Aussichten auf Erfolg hätte. Das wird er sich nicht entgehen lassen. Bestelle ihn dann in ein Haus deiner Wahl, solange er nicht hierher kommt! Dort werde ich ihn dann übernehmen." Donata nickte.

"Wohl wahr, nur so stark wie das schwächste Glied", dachte Anthelia, als Donata sich verabschiedet hatte. "Ihr meint, für euren Herren stark genug zu sein. Doch genau diese Stärke ist eure Schwäche. Aber was mache ich, wenn ich Wishbone gefunden habe. Soll ich ihn auch öffentlich präsentieren. Nein, er würde behaupten, ein Doppelgänger zu sein. nein, wenn er tot und aus der Welt sein will, dann werde ich ihm diesen Gefallen tun. Aber die Gnade des schmerzlosen Todes werde ich ihm nicht gönnen." Dann grinste sie wieder mädchenhaft. "Ich kann ihm eine Gnade erweisen und gleichzeitig jemandem eine Genugtuung liefern. Und was diesen Ruben Coal angeht, so muß ich herausfinden, wie er in diese Welt zurückkehrte. Ich werde es nicht dulden, daß ein Totenbeschwörer meine heeren Ziele unerreichbar macht. Dieser Archaische Magus muß ganz und gar aus der Welt verschwinden. Wenn ich weiß, wie er das angestellt hat, und ob es ein Fluch war, ergründe ich auch, wie ich ihn erledigen kann."

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Ruben Coal alias Gordon Stillwell brauchte keinen Schlaf mehr. Seitdem Gordon mit dem Geist und Knochengerüst des alten Totentänzers vereint war konnte er rund um die Uhr wachen. So war es für ihn auch kein Problem, den letztendlich doch ererbten Privatjet seines Onkels nachs vom Flughafen in New York zu entführen und unter dem Radar durch die gefahrvollen Züge der Rocky Mountains zu lenken, bis diese Anden hießen und dort in der Nähe auf einem freien Feld zu landen. Das gehörte zwar schon einem Bauern. Doch dieser lernte rascher als ihm lieb war, sich nicht mit Samedis Sohn anzulegen. Dabei hatte Gordon auch erfahren, daß er gegen Kugeln immun war, auch wenn er feste Gestalt behielt. Irgendwie schirmte das in ihm verborgene Skelett seines Vorfahren ihn gegen metallische Geschosse oder Klingen ab. Zumindest gehörte ihm jetzt das Feld. Denn der Bauer und seine achtköpfige Familie wurden noch in derselben Nacht zu treuen Gefolgsleuten des Totentänzers.

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Cecil Wellington genoß den Tag und den langen Abend. Darauf hatte er hingespart. Madonnas vierzigster Geburtstag, und er war in Bay City, wo sie geboren wurde und ihre Kindheit verbracht hatte. Er hatte sich mit Fans aus aller Welt dort getroffen und die Königin der Popmusik mit ihren größten und gerade aktuellen Hits gehört. Dabei hatte er verdrängt, daß er dieses Ereignis eigentlich mit seiner früheren Freundin Donna Cramer und seiner leider unauffindbar gewordenen Freundin Laura Carlotti verbringen wollte. Doch als er am Abend, trotz mehrerer Cocktails noch recht nüchtern, mit der gerade achtzehn Jahre alten Gwendoline Fender zu allen Titeln des Hitalbums von 1983 tanzte, dachte er nicht mehr an Donna und Laura. Gwen war schlank, genauso groß wie er und besaß nachtschwarzes Haar und hellbraune Augen. Ihr Lächen hatte ihn gleich angesteckt. Wie es dann kam, daß er gegen drei Uhr Ortszeit erst in ihrem Zimmer und dann in ihrem Bett landete wußte er nicht so genau. Doch sie und er waren vorsichtig, auch wenn Cecils erstes eigenes Mal ein unvergessliches Erlebnis war.

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"Hast du was, Patricia?" Fragte Virginia Hencock ihre Mitbewohnerin, als sie mitten in der Nacht aufstöhnend aufwachte. Doch Patricia hatte keinen Alptraum gehabt. Im Gegenteil. Sie fühlte sich sehr wohl.

"Jetzt gehört er endgültig mir", dachte sie nur. Denn sie hatte Cecil Wellington nicht verraten, daß er, wenn er ihr neues Geschenk annahm, in dem Augenblick ganz und gar von ihr geführt werden konnte, indem er seine erste körperliche Liebeserfahrung gemacht hatte. Von nun an konnte sie noch leichter mit ihm in geistige Verbindung treten, ja, sogar sein Gedächtnis durchstöbern, ohne daß er dies mitbekam. Wie würde sie mit dieser magischen Verbindung umgehen? Immerhin hatte sie ja noch den Auftrag anthelias, auf ihn aufzupassen. Sollte sie ihn mit diesem Mädchen zusammenbringen, das ihn ohne Magie verhext hatte? Oder solte sie einfach abwarten, bis er sich ihr zuwendete. Doch da würde wohl das Medaillon des Inti nicht mitspielen. Es hatte sie als seine Herrin anerkannt, aber nur, weil die ihm eingeprägte Magie darauf abzielte, daß sie, eine gesunde, junge Hexe, einen der letzten lebenden Söhne der Sonne fand und mit ihm Kinder zeugte. Diese Vertragsbedingung gefiel ihr nicht so recht, und sie hoffte, daß das Medaillon ihr nicht eines Tages die Einhaltung dieses Paktes aufzwingen würde. Doch dann dachte sie an Daianira. Die hatte das Medaillon mehr als zwanzig Jahre getragen, ohne von ihm zu irgendwas gezwungen zu werden. Tja, und jetzt durfte die an Schnullern und Nippeln nuckeln, weil sie, Patricia, anthelia zurück in die Welt geholfen und Daianira dafür zum Neuanfang gezwungen hatte.

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Zwei Wochen Urlaub ohne seine Frau. Wie wohl würde es ihm tun, aus dem immer dröger werdenden Eheleben auszubrechen, zumindest nicht jeden Abend endlose Diskussionen mit seiner immer unzufriedener werdenden Frau zu erleben. Die spanische Sonnenküste rief ihn, den vielbeschäftigten, privat jedoch immer trister dahintreibenden Anwalt aus England. Er rief seinen spanischen Kommilitonen aus der Zeit in Oxford an. "Hola Carlos, soy yo", sprach er in den Hörer. Carlos Ramirez antwortete so laut, daß er den Hörer weit vom Ohr forthalten mußte:

"Hola Claudio! que tal?!" Dann wechselten sie zum Englischen über. "Du möchtest also ein paar friedliche Wochen bei uns verbringen."

"Ich muß mal aus Büro und Haus raus, Carlos. Hast du immer noch die Finca an der Costa del Sol?"

"Seguramente, mi Amigo. Das Häuschen wird zwischendurch nur an Honigmonder vermietet. Mach dir also keine Gedanken, wenn das Bett ein wenig breiter ist als für einen gesetzten Ehemann allein auf Reisen nötig wäre."

"Du weißt ja gar nicht, wie dick ich in den letzten zehn Jahren geworden bin vom vielen rumsitzen, Carlos. Vielleicht brauche ich ja ein großes Bett."

"Ey, du bist doch noch verheiratet, oder?"

"Das zumindest noch", erwiderte der Anwalt. "Aber da quatschen wir zwei mal drüber, wenn ich dein Ferienhäuschen betrete. Du suchst noch, oder wirst du gesucht?"

"Ich habe das Suchen aufgegeben, nach dem das mit Eva und Celestina so grausam kaputt ging. Aber da können wir auch drüber reden, wenn wir uns treffen. Wann möchtest du kommen?"

"Wann geht's?" Fragte der Anrufer.

"Wir haben Sommer bis Oktober. Wenn du möchtest ..."

"Ich komme nächste Woche, am zwanzigsten August. Ich seh zu, so gegen Morgen in Malaga zu landen."

"Du kannst auch zuerst zu mir nach Sevilla kommen. Von da aus sind's nur zwei Autostunden, wenn kein Stau ist. Ich habe 'nen Fahrer. Da können wir uns abends in meiner Heimatstadt noch dem Saft des Lebens widmen."

"Gleich am ersten Abend ein Sangria-Besäufnis, Carlos? Da weiß ich aber nicht, ob ich dafür gut genug in Form bin."

"Du hast uns in der Studentenbude alle unter den Tisch gesoffen, sogar Iwan, der als Russe mit Wodka gesäugt wurde. Sowas verlernt man nicht."

"Frag meinen Arzt besser nicht, was meine Leber ihm so erzählt hat, als ich bei ihm war. Deshalb habe ich ein wenig runtergeschraubt. Abgesehen davon mußte ich aufpassen, vor meinem kleinen Bruder und meinem Neffen nicht den Studenten Lustig herauszukehren, wo der Bursche so zu mir aufgesehen hat. Na ja, aber dazu dann, wenn ich bei dir aufsetze. Also Sevilla am zwanzigsten. Ich schicke dir die Daten als SMS."

"Schicke die mir lieber per Mail. Ich habe mein Mobiltelefon in den Ruhestand geschickt, nachdem mir die Telefónica fünfzigtausend Peseten in einem Monat dafür abgefordert hat."

"Apropos, den aktuellen Wechselkurs brauche ich dann noch, bevor die mich bei euch zu heftig abziehen."

"Du wechselst dein Geld bei mir. Ich habe einen Draht zu einer britischen Bank, da kriege ich stabile Kurse."

"Geht klar, Carlos. Also dann, Hasta luego!"

"Bis dann zum zwanzigsten, Claudio!"

"Das der meinen Namen nie richtig lernen konnte, dachte der Anwalt, froh, seine Urlaubspläne nun in trockene Tücher zu packen. Seine Frau würde er einfach vor vollendete Tatsachen stellen. Oder sollte er sie belügen? Nein, wenn er damit anfing hätte sie ein Recht, ihn auch zu beschwindeln. Aber in einer Woche war er unter Spaniens Sonne, würde am Strand liegen oder die arabischen Baudenkmäler besuchen. Vielleicht tat es ihm auch mal ganz gut, was ganz anderes zu erleben. Er dachte an seine Ex-Schwägerin. Wie kam die jetzt zurecht? Aber die Frage durfte er nicht stellen. Schon gar nicht, weil er eigentlich wissen wollte, ob sein Neffe noch anständig zur Schule ging oder das Geld seines toten Vaters verjuxte. Doch die Blöße wollte er sich nicht geben. Das war auch ein Grund, an dem sich so mancher wiederkehrender Zank mit seiner Frau entzündete. Ja, er brauchte Urlaub und mal was ganz anderes.

ENDE

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