DIE SCHRECKENSBRUT DES DOKTOR B.

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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Vorige Story

P R O L O G

Im Ersten Jahr ihres zweiten Lebens hat die wiedergekehrte Hexenmatriarchin Anthelia einige Erfolge, aber auch Mißerfolge erlebt. Mit ihren Getreuen, die wie sie eine Vorherrschaft der Hexen auf der Welt anstreben, hat sie verschiedene Bruderschaften schwarzer Magier gegeneinander aufgehetzt, sich in den Besitz mächtiger Zaubergegenstände bringen können und in dem Jungen Benjamin Calder, den sie später an die Stelle des Senatorensohnes Cecil Wellington setzte, sowie in Virginia Fox, die früher ein Mann namens Alexander Fox war, brauchbare Kundschafter in der Nichtmagischen Welt untergebracht. Ihr gelang es nach einer gefährlichen Suche und hartem Kampf, Hallitti, eine der neun Abgrundstöchter, zu vernichten, wobei sie den Sohn des von dieser abhängigen Richard Andrews, den hochtalentierten Zauberschüler Julius Andrews, als Köder benutzte. Doch ihre Bemühungen, an wirklich mächtige Artefakte aus alter Zeit zu gelangen, schlugen fehl, und sie wäre beinahe dabei umgekommen oder ihrer Macht beraubt zum Leben als Meeresbewohnerin verdammt worden. Zwar hat sie es geschafft, von den Führerinnen der sogenannten Nachtfraktion der schweigsamen Schwestern, Hexen, die ähnliche Interessen wie sie haben, jedoch nicht so konsequent vorgehen wollen wie sie, als heimliche Anführerin akzeptiert zu werden, doch es drohen weitere Gefahren durch den nach mehr als vierzehn Jahren wiedergekehrten Dunkelmagier Voldemort so wie dessen Helfern und Verbündeten. Beinahe hätte sie mit ansehen müssen, wie Voldemort mit einem magischen Schwert, das seinem Besitzer die Macht über alle magischen und nichtmagischen Feuer und Feuerwesen verleiht, seinen Traum von der Absoluten Alleinherrschaft über alle Menschen verwirklicht. Doch Voldemort war sich seiner Sache zu sicher und verlor die mächtige Waffe wieder. Er weiß, daß er eine mächtige Gegnerin hat, gegen die er schon ein magisches Duell verlor, und sein Triumph über sie, daß er das Schwert vor ihr erringen konnte wurde von der Enttäuschung begraben, es wieder verloren zu haben. Dann ist da noch der Ärger, den er sich mit einem möglichen, ihm beinahe ebenbürtigen Partner eingehandelt hat. Kann Anthelia diese Unstimmigkeit ausnutzen? Oder wird sie selbst zum Opfer dieser Streitigkeiten?

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Die unheimlichen Laute klangen in seinen Ohren wie Musik. Schmerzenslaute von Tieren und Menschen, sowie Wesen, die durch sein Dazutun zwischen beiden Daseinsformen überwechselten, Zischen, Brummen und Knurren, Schnauben, Schnarren und Quieken drang aus dem weitläufigen Labyrinth von Gängen, Hallen, Kammern und Verliesen, das sich über fünf Stockwerke durch seine Burg erstreckte, die Basis seines Schaffens, der Ausgangspunkt einer neuen Weltordnung, seiner Weltordnung. Der kleine, gedrungene Mann mit dem schmalen, fast dreieckigen Gesicht grinste dämonisch, als er laute Schreie hörte, als läge eine Frau gerade in den Geburtswehen. Es war ja auch eine Form der Geburt, dachte der Herr dieser verborgenen Festung, nur daß die Menschenfrau, die da schrie nicht gebar, sondern durch einen bereits gut entwickelten Prozess als Königin eines Ameisenmenschenvolkes wiedergeboren wurde. Zwar hatte er auch mit fliegenden Wanderheuschrecken experimentiert, doch die Ergebnisse waren zu seinem Bedauern alles andere als brauchbar, ja sogar ziemlich gefährlich. Anderswo quiekte etwas wie ein überdimensioniertes Meerschweinchen. Das waren seine neuesten Züchtungen im Bereich Wirbeltierhybriden, die er Packratten nannte. Bei diesen Wesen mußte er aufpassen, deren Nachwuchs sofort die achso wichtigen Seelensterne verpassen zu können, damit sie nicht unkontrolliert herumliefen und er sie fernsteuern konnte. Zwar war es ihm noch nicht gelungen, die Empfindlichkeit gegen äußere Elektrizität zu beseitigen, doch bis er seine Züchtungen in die von elektrischem Bremborium überquellende Welt der Magielosen schicken würde, mochten noch einige Monate vergehen. Wenn er mit den Ergebnissen seiner laufenden Versuche ganz und gar zufrieden sein konnte, dann würde er diesem unkrautartig unverwüstlichen Arcadi und seinen Handlangern die Hölle auf Erden bereiten, wenn Arcadi ihm, Doktor Igor Bokanowski, nicht seinen Ministerstuhl überließ.

Ein Mann trat durch die Tür in die kreisrunde Halle, die genau über dem Hauptlabor lag. Außer daß er einen schlichten, grünen Baumwollumhang trug glich er dem Herren dieser Festung bis aufs Haar. Igor Bokanowski sah den Doppelgänger an und grinste überlegen.

Hallo, Siebzehn! Hat Petrov wieder einen von uns erledigt?" Fragte er bösartig lächelnd.

"Ja, Dreizehn", sagte der Doppelgänger. Seine Stimme klang genau wie die von Igor Bokanowski. Doch in ihr lag eine Spur Unterdrücktheit, als dürfe oder könne er nicht frei sprechen.

"Dann heißt Einunddreißig jetzt Dreizehn. Schick ihn zu mir, damit ich ihm das sagen kann!" Sagte Igor mit der Betonung des absoluten Herrschers. Siebzehn nickte und verließ die runde Halle. Gerade ging das Geschrei der sich verwandelnden Frau in ein befreites Jauchzen über. Die Verwandlung war nun vollendet. Igor Bokanowski dachte daran, sie bald in der Nähe von Minsk in einer von weiteren Doppelgängern ausgekundschafteten Höhle auszusetzen. Dort sollte sie die vor Monaten gescheiterte Armee der Ameisenmenschen hervorbringen. Auch sie trug im Nacken einen Seelenstern, eines jener Münzgroßen, schleimig wirkenden Kunstgeschöpfe, die die vollkommene Kontrolle über Geist und Körper des von ihnen besetzten Wesens ausübten, wesentlich fließender als jene grünen Würmer, die Slytherin und seine Anhänger kultiviert hatten und deren Erzeugung in Vergessenheit geraten war, zu recht, wie Bokanowski fand. Denn wer nicht auf den Nacken der von Seelensternen beherrschten Wesen blickte, erkannte keinen Unterschied zwischen einem eigenständigen Wesen und einem seiner Sklaven. Bokanowski wußte auch, daß die von ihm aus Zellen seiner Haut und Haare sprichwörtlich zusammengebrauten Doppelgänger, denen er sein Wissen übertragen hatte, sofort geglaubt hätten, das Original zu sein, wenn er ihnen nicht in der Frühphase die Seelensterne verabreicht hätte. Mit diesen Doppelgängern hielt er nun das russische, polnische und bulgarische Zaubereiministerium in Angst und Schrecken. Immer wenn sie dachten, sie hätten ihn, das Original, tauchte anderswo ein weiterer Doppelgänger auf. Dabei verlor er auf diese Weise rasch gute Kundschafter, und die sich beim Tod ihrer Wirte in grünen Schleim auflösenden Seelensterne nachzuzüchten war auch nicht gerade leicht.

"Im dekadenten Westen feiern die gerade Halloween", dachte Bokanowski, als die ihn umgebenden Geräusche nachgelassen hatten. "Wenn die wüßten, daß ich denen bald richtige Schauergestalten auf den Hals hetzen werde, würden die vor Panik in ihre tiefsten Keller kriechen." Dann dachte er noch an Voldemort. Der hatte doch die Frechheit besessen, vor einigen Wochen dreißig irgendwie abgerichtete Drachen nach Russland zu schicken, wohl um ihm, Doktor Igor Bokanowski, zu zeigen, daß er das konnte. Er würde sich entsprechend revanchieren, falls einer seiner kleinen Lieblinge diesen offenbar unausrottbaren Kerl nicht doch aus der Welt geblasen hatte. Das würde den daran erinnern, daß sie sich besser gegenseitig in Ruhe lassen sollten. Andererseits wollte er auch keinen offenen Krieg mit diesem Zauberer anzetteln. Voldemort war genauso skrupellos wie er und besaß einen scharfen Verstand. Ihn auch noch zurückzudrängen wollte wohl überlegt sein.

"Morgen bringe ich die neue Königin an ihren Brutplatz. Am besten befehle ich ihr erst einmal, zu überwintern, bevor ihre Nachkommen im russischen Winter ...", dachte Bokanowski, als er ein wildes Gebrüll hörte und dann schmerzenslaute von gequälten Wesen. Schmerzenslaute waren ihm zwar vertraut und als Beleg seiner Versuche höchst willkommene Begleitmusik, aber die Laute jetzt gefielen ihm nicht. Er trat an einen Tisch heran, auf dem ein drehbarer Spiegel stand. Er tippte ihn mit seinem knorrigen Zauberstab an, worauf auf der spiegelnden Oberfläche das Bild eines Korridors erschien, durch den gerade struppige, dunkelbraun gepelzte Kugelwesen hüpften wie immer wieder auftippende Gummibälle. Das durfte nicht sein! Die von ihm gezüchteten Mördermuffs durften nicht in den Korridoren herumwuseln! Er drehte den Spiegel leicht beklommen um einige Grad und sah sofort eine Halle, in der Käfige standen, in denen Kreuzungen aus Skorpionen und Flußkrebsen aufbewahrt wurden. Fünf der dunkelbraunen Kugelwesen von der doppelten Größe eines Fußballs ließen gerade ihre mit rasiermesserscharfen Sägezähnen besetzten Zungen herausschnellen und in die Käfige hineinlangen, wo sie mit den auch sehr gefährlich wirkenden Insassen kurzen Prozess machten, sie laut schrillend tranchierten und Häppchenweise herauszogen. Eine weitere Drehung des Spiegels zeigte eine weitere Halle, wo seine Packratten wohnten, bulldoggengroße Biester mit langen, dolchartigen Nagezähnen, die gerade dabei waren, die runden, gliederlosen Eindringlinge abzuwehren. Bokanowski fühlte einen eiskalten und dann sengendheißen Schauer durch seinen ganzen Körper pulsieren. Die Mördermuffs waren außer Kontrolle geraten. Wie waren sie entkommen? Die überdimensionierten Ratten kämpften verbissen. Doch die Mördermuffs wurden nicht weniger. Im Gegenteil. wurde einer getötet, fiel ein anderer in zwei eigenständige Geschöpfe auseinander, die sofort zu fressen begannen und dabei rasch die Standardgröße erreichten. Dann polterte es vor der Tür zur Halle, und er hörte das bedrohliche Gebrumm der von ihm geschaffenen finsteren Abarten der sonst so harmlosen Knuddelmuffs. Dann schnarrte und kratzte es an der Tür. Die Kugelwesen begannen, mit ihren Sägezungen das Massive mit Durolignum-Elixier behandelte Türfutter anzubrechen. Wenn sie jetzt hereinkamen war es womöglich um Igor Bokanowski geschehen. Auch so war es höchste Zeit, die außer Kontrolle geratenen Geschöpfe zu bekämpfen. Er hörte von anderswo weitere Schreie und Kampfgeräusche. Seine ganze Arbeit geriet in große Gefahr. Er hörte nun auch Schreie von Männern, die jedoch nur wenige Sekunden währten. Außerdem kratzte es nun auch an den Wänden.

"Die fressen sich auch durch Mauerwerk!" Fiel es Bokanowski ein. Einerseits fühlte er sich sehr stark, weil er diesen Wesen so viele verheerende Fähigkeiten verliehen hatte. Doch diese Geschöpfe sollten in ihren gesicherten Käfigen bleiben und hätten gar nicht ausbrechen dürfen. Doch jetzt mußte er sie alle töten, bevor sie trotz der festen Tür und der dicken Mauern auch zu ihm gelangen und ihn genau wie seine in der Burg anwesenden Doppelgänger in wenigen Sekunden zu Hackfleisch verarbeiten würden. Er griff zu einem silbernen Trichter, der in einem Regal bereitlag. An und für sich wollte er dieses von ihm erfundene Ding nur einsetzen, wenn er seine Mördermuffs auf die Menschheit losgelassen hatte. Doch jetzt mußte er es einsetzen. Er hielt die breite Öffnung nach vorne, steckte seinen Zauberstab in die schmale Öffnung und sagte "Exsonitus". Darauf begann der Trichter blau zu glühen, und zu vibrieren. Dabei füllte ein immer lauter werdender, beinahe nicht mehr hörbarer Pfeifton den Raum aus, der immer stärker nachhallte. Vier Sekunden lang geschah nichts. Dann, als der vom Trichter ausgehende Ton unerträglich laut war, konnte Bokanowski sehen, wie die metzelnden Mördermuffs erstarrten und dann wie unter heftigsten Krämpfen geschüttelt zuckten und herumwirbelten, bis sie wie angestochene Luftballons zerplatzten. Das Schaben und Kratzen an der Tür und den Wänden hörte auf. Statt dessen knallte es laut von unterschiedlichen Stellen her, auch direkt vor der Tür zur Halle. Fünfzig Sekunden lang hielt der schrille Ton an, krachte und knallte es aus der Burg. Dann wurde es ruhig. Der Ton erstarb, und das blaue Glühen erlosch. Im Umkreis von einhundert Metern lebte nun kein Mördermuff mehr.

"Habt ihr euch eingebildet, ich würde euch so stark machen, ohne euch im Bedarfsfall loswerden zu können?" Schnaubte Igor an die Adresse der nun ausgelöschten Kugelwesen. Er mußte sich arg anstrengen, seine Wut zu züglen. Wieviel Schaden hatten die irgendwie freigekommenen Mördermuffs angerichtet? Er drehte den Spiegel und fand eine Befürchtung bestätigt. Überall, wo Geschöpfe in Gitterkäfigen gefangen waren hatten auch Mördermuffs ihre Opfer gefunden. Die einzigen Überlebenden der ausgebrochenen Kugelkreaturen waren die Seelensterne. Die gerade erst vollendete Ameisenfrau, die Königin eines von ihm gewünschten Staates werden sollte, war wie viele andere Wesen regelrecht zerschreddert worden. Was nicht in den Leibeshöhlen der Mördermuffs gelandet war lag nun auf dem Boden herum.

"Gut, daß ich meine Krawummkäfer in einem anderen Versteck untergebracht habe", dachte Bokanowski. Hätten die Mördermuffs auch diese erwischt wäre die ganze Burg nur noch ein einziger Schutt- und Aschehaufen. Wie konnten diese Wesen so rasch so viel Schaden anrichten? Immerhin waren die Labore mit den Tränken und Unterlagen nicht befallen. Die Kreaturen hatten nur Jagd auf Lebewesen gemacht, wie er, Bokanowski es ihnen angezüchtet hatte. mit wütend funkelnden Augen sah er das Katapult an, mit dem er eigentlich diese so vernichtungswütigen Kugelwesen wie verheerende Geschosse in Siedlungen hineinfeuern wollte. Er mußte herauskriegen, was den Ausbruch der Mördermuffs ermöglicht hatte, wollte er nicht auf diese Kreaturen verzichten, was eigentlich die vernünftigere Lösung wäre. Aber vor allem waren zwei Monate Arbeit vernichtet worden. Insbesondere die Insektenmenschen, auf die er so stolz war, hatten ihm viel Zeit gekostet. Zwar hatte er nun alle notwendigen Unterlagen, um neue Entomanthropen zu erschaffen. Doch ohne eine schlagkräftige Armee von Helfern konnte er die dafür nötigen Menschen nicht in seine Gewalt bringen. Ja, und auch die zu dieser Art Züchtung nötigen Insekten wurden nun, da der lange Winter an die Tür klopfte unauffindbar. Er würde nun vier Monate brauchen, um die ersten Neuschöpfungen anfertigen zu können. Der einzige Trumpf den er noch hatte waren eben jene silbernen Käfer, deren Eigenschaft es war, bei ihrem Tod eine heftige Explosion auszulösen. Jetzt mußte er erst einmal die Überreste der Verheerungen beseitigen, den Grund dafür herausfinden und überlegen, wie er jene Kugelwesen besser kontrollieren konnte. Denn auch oder gerade wenn sie ihm einen herben Rückschlag beschert hatten, wollte er nicht auf sie verzichten. Was er aber zuerst angehen wollte war die Nachzüchtung von Doppelgängern, die er mit den Seelensternen präparieren und dann mit seinem Wissen anreichern wollte, damit sie für ihn an seiner Stelle handelten, ohne sich an seine Stelle zu setzen. Damit würde er bis ins neue Jahr zu tun haben. Aber dann, so schwor er sich, würde er um so heftiger zuschlagen. Immerhin liefen noch sieben Doppelgänger in Osteuropa herum und sponnen Intrigen mit anderen Zauberern, die glaubten, den einzigen und wahren Igor Bokanowski vor sich zu haben.

"Zum Teufel mit Halloween", knurrte er, weil ihm dieser 31. Oktober den übelsten und schauerlichsten Streich seiner langen Arbeit als Zoonekromantiker gespielt hatte. Doch er war ein Wissenschaftler, für den selbst ein so verheerender Rückschlag ein Erfahrungszugewinn war, aus dem sich etwas noch besseres machen ließ als es vorher schon war. Allein die Tatsache, daß seine Mördermuffs ihren Käfigen entkommen waren deutete darauf hin, daß sie einmal losgelassen unhaltbar waren. Nur wer diesen Tontrichter besaß, der den genau ausgeforschten Klang verbreitete, konnte diese Kreaturen loswerden. Das bedeutete für jeden, der mit diesen Kreaturen zu tun bekommen würde den gnadenlosen Untergang. Ganze Städte konnten auf diese Weise entvölkert werden. Denn wenn die Mördermuffs mehr als das zehnfache ihres Gewichtes zu sich genommen hatten, oder ein Exemplar in fünfzehn Metern Umkreis getötet wurde teilten sie sich wie Bakterien und konnten sich genauso unbändig über das Gebiet ausbreiten, in das sie hineingeschickt wurden. Er überlegte sogar, die Wesen nicht Mördermuffs zu nennen, sondern Kugelpest. Moskau würde gnadenlos von diesen Wesen leergefressen, wenn Arcadi ihm nicht seinen Stuhl überließ. Außerdem würde er weitere Armeen von vernichtungsfähigen Kreaturen erschaffen und damit unbesiegbar werden. Vier Monate. Die mußte er also warten, bis er die Insektenmenschen neu erschaffen konnte. Doch davon, daß er gerade einen Großteil seiner Schreckensbrut verloren hatte, durfte niemand etwas erfahren. Deshalb mußte er schleunigst weitere Doppelgänger erschaffen, um das Chaos in Osteuropa auf einer ihm genehmen Stufe zu halten, bis sein Hauptschlag erfolgen konnte.

Vier Stunden dauerte die Beseitigung aller Überreste des Mördermuffangriffs. Dabei fand er auch heraus, wie es möglich war, daß diese Wesen ihm diesen Halloweenstreich hatten spielen können. Die an und für sich bezauberten Schlösser waren aufgebrochen worden. Irgendwie hatten die verdammten Kugelwesen lange genug daran herumgeleckt, bis sie einen Weg herausbekommen hatten, mit ihren Sägezungen immer und immer in die Schließmechanismen einzudringen und diese langsam durchzufeilen, wie ein geduldiger Sträfling die Gitterstäbe seiner Zelle mit einer Feile traktierte. Daran hätte er denken müssen. Die Prallzauber, die die herausschnellenden Zungen davon abhielten, aus den Käfigen hinauszulangen schützten zwar ihn oder sonst wen, den er in den Raum hineingeschickt hatte, doch nicht die Käfige selber. Die Gitter waren zwar mit dem Ferrifortissimus-Zauber hundertfach gehärtet, aber die Schlösser, weil bereits unaufhexbar bezaubert, konnten nicht mit diesem starken Materialbeeinflussungszauber belegt werden.

"Die einfachsten Dinge sind immer die besten", knurrte er, als er die Käfige untersucht und an zwölf der dreißig jene Ausbruchsspuren gefunden hatte. "Ich werde diese Biester in unzerbrechlichen Glaskästen halten, wie die Seelensterne und die Schließmechanismen Außerhalb anbringen. Nur die Frischluftzufuhr muß ich noch genauer durchplanen, damit die mir nicht in den Kästen ersticken. Außerdem werde ich nur fünf neue Mördermuffs züchten. Die teilen sich ja eh, wenn sie genug gefressen haben. Ich muß immer darauf aufpassen, daß sie weniger als das zehnfache Körpergewicht in einem Monat an Nahrung kriegen."

Nach dem Raum für die Mördermuffs besuchte er sein Selbstverdopplungslabor, wo große Glaskolben standen, in die Schlauchleitungen hineinführten und in denen eine rötliche Nährflüssigkeit gluckerte. Er war stolz auf diese Leistung, einfache Körperfragmente innerhalb von nur einer Woche zu voll ausgewachsenen Ebenbildern heranreifen zu lassen. Im Moment waren die Reifungsbehälter unbesetzt. Zum Glück. Denn sonst hätten die marodierenden Mördermuffs auch diess so wichtige Laboratorium verwüstet. Bokanowski griff nach einem Skalpell, tunkte es in eine Lösung, die alle darauf vorkommenden Keime abtötete und schnitt sich mit zusammengebissenen Zähnen einen langen Streifen Haut aus seinem linken oberarm ab. Diesen portionierte er auf einem Gestell in zwölf kleine Stücke und warf jedes davon in einen der Reifungskolben. Die Nährlösung begann nun zu brodeln. Bokanowski tippte die silbernen Ringe am oberen Ende jedes Kolbens mit dem Zauberstab an. In diese Ringe waren Runen der Vielfalt und des Lebens eingraviert und von Bokanowski derartig bezaubert worden, daß die enthaltene Nährlösung die in sie eingebrachten Zellproben zu vollständigen Abbildern seiner selbst heranwachsen ließ. Er sah in einen der so aangeregten Kolben hinein und erkannte, wie das von ihm eingebrachte Hautstück zu einer erst winzigen und dann immer größer werdenden Kugel wurde. Bald würde ein richtiger Embryo daraus entstehen, der dann, durch weitere Nährlösung am Leben gehalten zu einem Baby werden, das jedoch nicht atmen oder trinken mußte, sondern in die Nährlösung eingebettet zum erwachsenen Mann wachsen würde. Erst wenn der so kopierte Körper den Zustand des Originals erreicht hatte, wurde er angeregt, sich zu bewegen und zu atmen. Passierte dies, so war der Doppelgänger ohne Bewußtsein, ja an sich noch ein Baby. Dann versah Igor es mit dem Seelenstern, bevor er seinen Doppelgänger mit konservierten Erinnerungen seines Lebens versorgte, die dann, vom Seelenstern kontrolliert, im Sinne des Originals eingesetzt wurden.

"Wachst und gedeiht meine Söhne", säuselte Bokanowski wie ein Säuglingspfleger, der die ihm anvertrauten Wickelkinder in den Schlaf wiegen will. Dann verschloß er die sich beigebrachte Wunde auf magische Weise, daß nicht einmal eine Narbe zurückblieb. Dann ging er daran, die Verbesserungsideen zu Pergament zu bringen, mit denen er die verlorengegangenen Züchtungen mehr als ersetzen wollte.

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Es wimmelte von Vampiren, Dämonen, Kobolden und Geistern, Hexen und Zauberern, Werwölfen und Zombies. Außerdem trieben sich noch Helden und Schurken aus den bekanntesten Welten der Märchen und Zukunftsdichtungen herum, schritten Cowboys mit breitkrämpigen Hüten in Lederwesten einher, deren Colts am Gürtel im Neonlicht blitzten und mehrere Madonnas tanzten mit Mönchen, Königen und dem Papst. Sogar der amerikanische Präsident war in mehrfacher Ausgabe vertreten. Cecil Wellington gefiel diese Halloweenparty. Es hatte ihn und die Eltern seines Freundes Archibald Livingston eine Menge Überredungskunst gekostet, ihn hier herzulassen. Doch nun war er froh, endlich wieder Halloween feiern zu können. Etwas wehmütig dachte er zwar daran, wie es früher für ihn war, wo Willy der Kleiderschrank immer wieder als Dinosaurier oder Gorilla aufgetreten war. Doch das war ein anderes Leben gewesen. In dem Leben das er jetzt führte hatte er schon genug Halloween-Parties mitgemacht, die aber alle ein Markenzeichen hatten: Spießig bis zum geht nicht mehr. Seine wichtigen Eltern hatten sich immer nur mit wichtigen Leuten umgeben, die in Kostümen wichtiger Leute aus früheren Zeiten gekommen waren, wobei sein Vater gerne als König, Offizier oder Priester aufgetreten war, während seine Mutter die dazu passende weibliche Entsprechung verkörpert hatte, eine Königin Victoria, Marie-Antoinette, Marketenderin oder Nonne. Wenn Cecil als einer seiner Helden seiner Kinderzeit auftrat war das schon fast ein Skandal, weil er nicht immer den Märchenprinzen oder den braven Soldaten spielen wollte. Doch hier war er endlich unter unverkrampften Halloween-Fans. Er hatte seinem Freund Archie gesagt, er solle ihm ein Batman-Kostüm besorgen und damit vor dem Haus seiner Eltern warten, weil sein Vater befand, Cecil habe als George Washington zu gehen, weil er dieses Jahr das Motto ausgegeben hatte, die wichtigsten Präsidenten in der Geschichte der USA auf seiner Party zu versammeln. Der Senator ging natürlich als Ronald Reagan, womit er unterstrich, wie überaus wichtig dieser Präsident seiner meinung nach gewesen war, was Cecil nicht so sah. So hatte es eine heimliche Umkleideaktion im Geräteschuppen der Livingstons gegeben, bevor Cecil im Batman-Kostüm ordentlich klingeln konnte. Archies Cousinen traten als Spice Girls auf, während Archie selbst in einen weiten, schwarzen Umhang gehüllt war und einen ebenso schwarzen Helm mit einer Gesichtsmaske trug, aus der die von einem Tonspeicherchip abgespielten Atemgeräusche Darth Vaders erklangen, wenn Archie das wollte.

"Als mein Dad hörte, als wer ich gehen wollte hat der sich glatt den Galaxisimperator ausgesucht. Mom kann die Star-Wars-Saga ja nicht ab und hat sich deshalb als böse Hexe des Westens angezogen", klang Archies Stimme hohl durch die Maske, die im Vergleich zu ihrem Vorbild genug Luftlöcher enthielt, um nicht zu ersticken.

"Ist schon klar, Lord Helmchen. Dein Dad muß ja jedem zeigen, daß er hier der Boss ist. Und wenn du unbedingt Darth Vader sein wolltest ... Aber lassen wir das", sagte Cecil. "Hast du denn ein Laserschwert mit?"

"Na klar", sagte Archie und zog ein längliches Ding aus Plastik aus dem Umhang, das er rot aufleuchten ließ. Leises Summen erklang. "Das Ding ist genial, Cess. Wenn ich das schwinge bringt das dieselben Geräusche wie im Film." Er schwang das nachgemachte Laserschwert und führte das vor. "Außerdem ist die Macht mit mir."

"Wer's glaubt", dachte Cecil.

"Ey, Arch, du willst mir doch mit dem Ding da nicht den Kopf abschlagen", flötete Maggy, eine der fünf Cousinen des Juniorgastgebers, die als Geri Halliwell verkleidet war.

"Nur dann nicht, wenn du dich der dunklen Seite der Macht unterwirfst und der Rebellion abschwörst", sprach Archie. Seine Stimme klang auf einmal um einige Oktaven Tiefer. Maggy schrak zurück, und Cecil mußte hörbar schlucken. Dann fiel es ihm ein. Offenbar hatte diese Superverkleidung auch einen Stimmverzerrer eingebaut, der den typischen Darth-Vader-Klang nachahmte, egal wer den Helm aufhatte. Doch eher als der technische Trick erschreckte ihn die Behauptung, sie möge sich der dunklen Seite der Macht unterwerfen.

"Finde dich damit ab, Lord Röchel, daß den Frauen die Zukunft gehört. Mädchen an die Macht!" Rief Maggy und erhielt Unterstützung von ihren übrigen Cousinen und Schwestern.

"Die dunkle Seite der Macht ist irelevant. Ihr werdet alle assimiliert! Widerstand ist zwecklos!" Dröhnte eine leicht verzerrt klingende Stimme von hinten. Jetzt schrak auch der mächtige Lord Vader zusammen. Cecil wandte sich um und sah einen Borg der drohend den rechten, scheinbar metallischen Arm ausstreckte.

"Noch so'n Weltraumunhold", knurrte Maggy. "Dann verzieh ich mich besser.

"Yo, Bob, kommt auch gut", lobte Cecil das Kostüm des Klassenkameraden, der als Borg auftrat.

"Hat dein Vater nicht gemeint, ihr solltet alle als Präsidenten oder First Ladies rumlaufen?" Fragte Bog Kowalsky. Wie Archie hatte auch er einen Stimmverzerrer mit, der seine Originalstimme unheimlich absenkte.

"Nicht hier auf der Fete", sagte Cecil. "Da wollte ich so rumlaufen wie ich wollte. Dad ist wegen der Wahl ganz auf Präsidenten ausgerichtet. Er hofft ja, das Dole doch noch rankommt und Bill aus dem weißen Haus jagt. Den Champagner hat Dad schon kühlgestellt. Ich glaube, ich hole mir auch 'ne Pulle, um auf Bills zweite Amtszeit zu trinken."

"Oh, da wird der dich aber in Scheibchen schneiden!" Meinte Archie und wedelte mit dem eingeschalteten Laserschwert von Cecil herum, als wolle er das mit dem zerschnipseln besorgen.

"Spießbürger wie der mosern eh. Wenn Dole nicht den kleinkarierten und rückständigen Krempel macht, ärgern die sich auch", sagte Cecil.

"Bill Clinton fliegt nur aus der alten Hütte in Washington raus, wenn die Borg vorher die Erde finden und alle assimilieren", sagte Bob mit bedrohlichem Unterton. "Also ist Wahlkampf irrelevant."

""Kinder, die Hexensuppe ist fertig", trällerte Mrs. Livingston, die in ihrem Kostüm wirklich furchterregend aussah, zumindest für alle, die noch keine echte Hexe gesehen hatten, dachte sich Cecil. Er mußte sich sehr beherrschen, sich nicht anmerken zu lassen, für wie hirnrissig er das Getue um Hexen und Hexensuppen hielt. zwar fragte er sich schon, was in der scharfen Suppe so drin war, weil er einige der Pilze oder Gemüsesorten nicht herausschmecken konnte, aber wenn er daran dachte, daß hier garantiert keine echten Hexen herumspuken würden, beruhigte er sich. Ja, er fragte sich sogar, ob die Oberhexe Anthelia, die ihm zu diesem Leben und auch zu dieser Party verholfen hatte, Halloween feierte oder das echt nur ein Fest für ausflippende Normalmenschen war. Und wenn sie Halloween feierte, kamen da womöglich echte Dämonen und Vampire hin, die keine Plastikzähne, sondern echte Fangzähne im Mund hatten?

Als um Mitternacht der große Kürbis eintraf, um allen anwesenden unter gruseliger Musik eine schön-schaurige Halloween-Nacht zu wünschen, waren nur wenige noch richtig nüchtern. Selbst Cecil hatte einige Schlucke Cola mit Rum zu sich genommen und vergaß fast, sein Batman-Kostüm wieder gegen den George Washington einzutauschen, bevor der Chauffeur seines Vaters ihn abholte.

"Wenn Sie Ihr eigenes Auto haben sollten Sie besser aufpassen, was Sie trinken", maßregelte der Fahrer den Sohn seines Arbeitgebers. Dieser sagte nur:

"Selbst wenn ich so'n popeligen Golf von Dad kriegen sollte läßt der mich eh nicht damit alleine rumfahren, weil mich ja sonst wer hoppnehmen oder umfahren könnte."

"Ich wollte nicht anmaßend sein", sagte der Chauffeur, dem gerade noch einfiel, daß er nicht für die Erziehung des Jungen bezahlt wurde. Das sollten die erledigen, die den Jungen in die Welt gesetzt hatten.

"Was fiel dir ein, das Kostüm zu wechseln, Bursche?" Herrschte Senator Wellington seinen Sohn an, als dieser ordnungsgemäß im herrschaftlichen Haus bei Harrisburg angekommen war. Cecil, leicht beschwipst und daher nicht mehr so reaktionsschnell fragte, was er meine.

"Denkst du, ich würde dich jetzt noch unbeobachtet rumlaufen lassen, wo wir in der Endphase des Wahlkampfes sind und ich aufpassen muß, daß mir nicht irgendwer von der Lügnerfraktion was skandalträchtiges hinknallen kann. Du repräsentierst mich genauso, wenn du auf einer Party bist. Ich hatte dir ein respektables Kostüm ausgesucht. Und du hast dich hinterrücks in ein Kostüm gezwengt, das einen infantilen Comic-Helden verkörpert. Und jetzt komm mir ja nicht mit dem Spruch, daß die anderen ja auch solche Verkleidungen vorgeführt hätten!"

"Ey, hast du es echt nötig, dich daran hochzuziehen, Dad?" Fragte Cecil, der nun geblickt hatte, daß sein Vater ihn wohl für eine Gefahrenquelle hielt, den ohnehin ungünstig laufenden Wahlkampf noch ärger zu versauen. "Haben die dich zum Kandidaten gegen Bill Clinton aufgestellt? Neh, haben die nicht. Also kann ich anziehen, was zu der Party besser ging, Dad. Außerdem ist Batman ein Vorbild, gutes zu tun, gerade wenn man einen Haufen Geld hat. Oder hat dir das keiner gesagt, daß Batmans Normalo-Ich ein Multimillionär ist, der nur nicht zusehen wollte, wie seine Stadt im Verbrechen versumpft?"

"Der Junge hat recht, Reginald", sagte Mrs. Wellington, die eine passable Nancy Reagan-Karikatur abgab. "Die hatten ihr Party-Motto. Wir hatten unseres. Sei froh, daß der Junge das Kostüm nicht besudelt hat und passabel zurückkam."

"Ja, lass ihm ruhig alles durchgehen, Henriette! Es betrifft ja nicht unsere Zukunft, wenn ich in der Öffentlichkeit Schaden nehme."

"Nur weil ich ein Batman-Kostüm anhatte, Dad? Wenn ich alle, die wie Madonna rumliefen angebaggert oder rumgekriegt hätte bestimmt. Aber nicht nur wegen dem Kostüm", versetzte Cecil frech.

"Ich warne dich, junger Mann! Treibe es nicht zu weit. Außerdem heißt es wegen des Kostüms und nicht wegen dem Kostüm", sagte der Senator. Einer seiner Freunde, der als Abraham Lincoln verkleidet war, fraggte, was passiert sei. Doch der Senator warf nur ein, daß es sich um Familienangelegenheiten handele. Cecil sagte nur, daß er von der Feier sehr erschöpft sei. Sein vater meinte dann noch, er hätte eben nichts trinken sollen. Darauf meinte sein Freund:

"Ey, das sind die richtigen, Reginald. Eine halbe Champagnerflasche austrinken und den Antialkoholiker spielen. Wein trinken und Wasser predigen. Das hast du doch echt nicht nötig, oder?"

"Wie ich meinen Sohn erziehe ist meine Angelegenheit, Charles", knurrte der Senator. Doch sein Freund schüttelte den Kopf.

"Offenbar nicht, weil du sonst kein solches Geschrei darum machen würdest, daß er nicht in dem Kostüm gefeiert hat, das du ihm ausgesucht hast. Es ist Halloween, da fließen alle Grenzen. Abgesehen davon, wenn du meinst, daß Cecil wie du eine öffentliche Person bist, dann erzieht die Öffentlichkeit an dem genauso herum wie du."

Cecil verzog sich. Er war froh, daß er seinem spießigen Vater nicht länger als nötig ausgesetzt war. Wenn er überlegte, wie er vor zwei Jahren Halloween gefeiert hatte und da noch heftiger zugeschüttet nach Hause gekommen war. Sein Vater hatte ihm nur einen Eimer neben das Bett gestellt und gemeint:

"Egal wie du dich am nächsten Morgen fühlst, Benny, mecker bloß nicht rum! Wenn du meinst, unbedingt jetzt schon wie ein Mann saufen zu müssen, steh das auch durch wie ein Mann!"

Cecil dachte wieder an Anthelia. Letztes Jahr um diese Zeit hatte er bei ihr in ihrer verdammten Hexenvilla zugebracht, in einer Art Koma, bis er sich in seinem jetzigen Körper und Leben wiedergefunden hatte und froh sein konnte, nicht als Straßenmädchen oder Wickelkind neu anfangen zu müssen. Mit dieser beruhigenden Vorstellung, nur einen erzkonservativen, übermoralischen Ersatzvater zu haben, schlief er ein.

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Ardentia Truelane amüsierte sich. Sie saß mit ihren Kollegen und Kolleginnen vom Laveau-Institut bei einer gemütlichen Halloween-Party zusammen und unterhielt sich mit Leuten wie Beryl Corner, die ab morgen als ordentlich ausgebildete Fachkraft zur Suche nach dunklen Artefakten und Fluchabwehr im Institut arbeiten würde, nach dem ihre drei Ausbildungsjahre heute abgeschlossen waren. Ihre Mentorin und Partnerin, Jane Porter, freute sich über den erfolgreichen Abschluß ihrer jüngsten Kollegin und strahlte mit den hundert in Kürbissen steckenden Kerzen um die Wette. In ihrem bunten, geblümten Kleid wirkte sie wie eine Anhängerin der Hippie-Bewegung der Sechziger. Ihr Markenzeichen, den Strohhut, hatte sie wie ihren Warmwolleübermantel in ihrem Büro gelassen.

"Noch einmal meinen Glückwunsch, daß du's geschafft hast, Beryl", sagte Ardentia. Wie sie war Beryl schlank, besaß einen Blonden Haarschopf, der sogar eine spur heller war als das weizenblonde Haar Ardentias und strahlte mit ihren tiefgrünen Augen alle an, die ihr zum Abschluß der Ausbildung gratulierten.

"Danke, Ardentia. Waren echt drei knochenharte Jahre", erwiderte Beryl. "Hätte nicht viel gefehlt, und ich wäre in die Spiele-und-Sport-Abteilung rübergegangen."

"Nana, Honey, das wolltest du mir doch nicht wirklich antun, dich hinter einen Schreibtisch zu hocken und dich mit selbstherrlichen Vereinsfunktionären oder hochgejubelten Spielern und auf Gewinn ausgehenden Besenfabrikanten herumzuärgern", lachte Mrs. Porter. "Außerdem weißt du, daß du immer zu mir kommen konntest, wenn was nicht lief wie es sollte."

"Ja, aber Sie hatten doch genug um die Ohren, Jane", sagte Beryl. Ardentia nickte.

"Das haben wir ja leider alle, genug um die Ohren. Insbesondere jetzt, wo das mit den Drachen passiert ist und die Russen Probleme mit diesem Bokanowski haben."

"Das mit den Drachen ist ja zu unserem großen Glück erst einmal aus der Welt, nachdem was Mr. Davidson uns berichtet hat", sagte Ardentia Truelane. Wie auch die Mitglieder der Liga zur Abwehr dunkler Kräfte hatten die Mitarbeiter des Marie-Laveau-Institutes kurz nach dem Überfall eines anscheinend mordlüsternen Drachens auf einen Flugzeugträger der Muggel erfahren, was sich an Bord des Kriegsschiffes ereignet hatte. So wußten sie, daß der in England nicht beim Namen genannte Schwarzmagier Lord Voldemort mit einem flammenden Schwert in der Hand auf einem peruanischen Viperzahn reitend das Schiff heimgesucht und einige Marineinfanteristen ermordet hatte, bevor ihm der Drache das Schwert entwinden und damit flüchten konnte. Ardentia wußte auch, daß der Drache kein gewöhnliches, nur seinen Instinkten folgendes Ungeheuer war. Zwei sogenannte Magiermythen hatten sich an diesem Tag grausam bestätigt. Zum einen der, daß es doch die sagenhaften Hinterlassenschaften aus dem alten Reich gab, welches in ägyptischen und griechischen Schriften Atlantis genannt wurde, und zum zweiten die bis dahin selbst für die Welt der Zauberer zu phantastische Erwähnung eines Zauberers, der sich gegen einen peruanischen Viperzahn gestellt hatte, um diesen seinem Willen zu unterwerfen und dabei anscheinend von diesem getötet worden war, in wahrheit jedoch durch den Zauber, den er aufgerufen hatte mit dem Drachen verschmolz und so zu einem mächtigen Geschöpf zu werden, das Drache oder Mensch sein konnte. Bis zum Angriff auf den Flugzeugträger waren beide Erzählungen für höchst unwahrscheinlich gehalten worden. etwas für unmöglich zu halten wagte in der Zaubererwelt niemand.

"Die Tatsache, daß dieser Voldemort diesen Gegenstand gefunden hat zeigt, daß wir höllisch aufpassen müssen, ob noch andere alte Artefakte auftauchen, beziehungsweise, wo sie sich befinden. Wir wissen, daß die Auseinandersetzung der letzten großen Herrscher von Atlantis den Untergang ihres Landes und eine weltweite Flutkatastrophe ausgelöst hat. Wir dürfen nicht darauf zählen, daß Leute wie Voldemort oder Bokanowski, mit dem die Russen im Moment ihre liebe Not haben, davor zurückschrecken, diese alte Macht neu zu entfesseln, vielleicht sogar die Substantia non Grata zu erzeugen, die das Tausendsonnenfeuer entzündet", sagte Jane Porter. Beryl und Ardentia nickten betroffen. Jane hatte was ausgesprochen, an das viele der Wissenden nicht einmal zu denken wagten. Die Stimmung am Tisch sank beinahe unter den Gefrierpunkt. So sagte Jane:

"Doch darüber reden wir besser morgen erst wieder, wenn wir uns mit der Strafverfolgung beraten, was im Bezug auf den Gegenstand und seinen Verbleib zu tun ist. Wir können im Moment froh sein, daß Voldemort dieses Ding nicht mehr hat, um Feuer und Feuerwesen zu beeinflussen."

"Stimmt, heute sollten wir sowas nicht bereden", erwiderte Beryl. Doch sie wußte, daß die mit Halloween verbundene Einstandsfeier den Auftakt für ein Leben in ständiger Sorge um die Sicherheit der Welt war, ja jeder Tag der letzte ihres Lebens sein konnte. Doch das galt für jeden anderen hier und da draußen genauso. Selbst die, die sich nicht berufen fühlten, gegen schwarze Magier und gefährliche Monster zu kämpfen mußten damit rechnen, durch irgendwas oder irgendwen ganz unerwartet getötet zu werden.

"Wie geht es Ihrer Enkelin Gloria, Jane", sprach Ardentia ein angenehmeres Thema an.

"Die kommt weiter gut klar", sagte Jane Porter lächelnd. "War nur etwas betrübt, weil diese schlimme Sache passiert ist, das mit den Morgensternbrüdern und Madame Odin und ihrer Enkeltochter", seufzte sie noch. Sie wollte weder Beryl noch Ardentia verraten, wie stark sie selbst von den Ereignissen erschüttert worden war. Sie hatte das Hexenmädchen Claire ja kennenlernen dürfen und wußte, wie stark die Beziehung zwischen ihr und Julius Andrews gewesen war, dem Jungen, den Jane Porter wie einen Enkelsohn zu lieben gelernt hatte. Sie bangte darum, ob er sich nach dem vorangegangenen Schicksalsschlag und nun auch noch dem Verlust seiner Verlobten fangen und ein neues, unbeschwerteres Leben würde führen können. Sie war froh, daß Gloria, ihre sonst in England lebende Enkeltochter, gerade in Beauxbatons war, wenn er jemanden suchte, der oder die mit ihm über alles sprechen wollte, was ihm auf dem Herzen lag.

"Irgendwie habe ich heute wohl ein Talent für unangenehme Sachen", meinte Ardentia und quälte sich ein Lächeln ab. Jane Porter erwiderte darauf nur:

"Sie wollten nur wissen, wie es meiner Enkelin geht, Ardentia. Das ist an sich nichts unangenehmes."

"Ja, aber ich hätte mir denken müssen, daß sie immer noch an dem Schicksal des Jungen Julius Andrews interessiert sind und ihn die Ereignisse wohl auch betroffen haben, die sie erwähnt haben", sagte Ardentia. Jane Porter nickte sachte.

"Er ist genauso betroffen wie die übrigen Schüler der Beauxbatons-Akademie", sagte sie nur.

Um wieder auf angenehme Gedanken zu kommen plauderte Jane mit den beiden jüngeren Hexen über die letzten Sportereignisse. Die neue Quodpot-Saison hatte angefangen, und die Viento del Sol Windriders hatten sich bereits einen passablen Punktevorsprung herausgespielt. So verging der Halloweenabend, und als um Mitternacht Elysius Davidson allen Mitarbeitern noch eine schöne Heimreise wünschte verabschiedete sich Ardentia Truelane von Beryl und sagte:

"Morgen früh werden Sie dann wohl alleine arbeiten dürfen. Wissen Sie schon, was Mr. Davidson Ihnen geben will?"

"Weiß ich noch nicht", sagte Beryl. "Ich hoffe nur, ich muß nicht gleich gegen Drachen oder andre Monster kämpfen", sagte Beryl. Jane meinte dazu nur:

"Du kannst jetzt ohne Netz arbeiten, Honey. Aber wenn du etwas hast, was du alleine nicht schaffen kannst, komm ruhig zu mir!"

"Danke, Mrs. Porter", sagte Beryl dazu noch. Dann verließen die Teilnehmer der Party das Institut und kehrten in ihre Häuser zurück. Jane Porter traf keine zwanzig Minuten später im Weißrosenweg ein. Ihr Mann Livius war jedoch noch nicht zurückgekehrt. Auch er war zu einer Halloweenfeier eingeladen worden. Der Kristallherold, die Zeitung, für die er arbeitete, nutzte Halloween immer um Spenden für die Organisationen schuldlos in Not geratener Hexen und Zauberer zu sammeln, ähnlich wie sie es zu Weihnachten taten. Sie nahm den Zweiwegespiegel, der sie mit ihrer Enkeltochter Gloria verband und prüfte, ob sieschon wach war. Tatsächlich erschien Glorias Gesicht keine halbe Minute später im Glas des Handspiegels.

"Hi, Gran! Bin vor fünf Minuten geweckt worden. Debbie Flaubert ist manchmal ziemlich unerbittlich. Die hat die Descartes-Mädchen mit einem Wasserstrahl aus dem Zauberstab geweckt, weil die nicht sofort aus den Federn gesprungen sind. Ich habe gestern abend noch versucht, dich zu erreichen, um dir zu erzählen, was wir statt Halloween hier erlebt haben, aber du warst nicht da."

"Stimmt, ich mußte für das Institut was recherchieren, bevor unsere alljährliche Fete anfing", antwortete Jane Porter. Dann fragte sie neugierig: "Was hast du denn erlebt, wo die kein Halloween feiern. Sag jetzt bloß nicht, jemand hätte irgendwen verzaubert!"

"Öhm, nein, sowas ist nicht passiert, Oma Jane. Wir haben uns im Zauberwesenseminar über Zwerge unterhalten. Diese Mildrid Latierre, von der ich gehört habe, die wäre wohl immer noch hinter Julius her, hat erst einen Vortrag über Zwerge gehalten. Dann erzählte uns ihre Oma väterlicherseits, eine echte Exilzwergin, wie sie das Leben bei den Zwergen kennengelernt hatte und warum sie sich aus dem Staub gemacht hat. Dabei kam es wohl zum Krach mit Madame Maxime, wegen der Ausdrücke, die sie verwendet hat. Jedenfalls sehr interessant."

"Soso, da habt ihr statt Halloween die archaischen Sitten der Zwerge mitbekommen. Ich hörte, daß in der französischen Zaubererwelt eine echte Zwergin herumläuft, die einen Zauberer geheiratet und von dem mehrere Kinder bekommen hat. Diese Mildrid ist also die Enkelin einer Zwergin. Du sagtest, die wäre hinter Julius her gewesen. Bis wann?"

"Wohl bis Julius mit Claire diesen Corpores-Zauber gemacht hat, Oma Jane. Als Claire dann durch den Blutrachefluch getötet wurde hat sich Millie, wie sie sich von allen hier nennen läßt, ziemlich zurückgenommen. Julius sieht im Moment auch nicht so aus, als suche er eine Nachfolgerin für Claire."

"Und das bekümmert dich, daß er das nicht tut?" Fragte Jane Porter verschmitzt grinsend. Gloria errötete leicht an den Ohren. Dann sagte sie kühl:

"Oma Jane, wenn ich jemals mehr für Julius empfunden habe als Freundschaft, dann ist das jetzt so oder so gelaufen. Ich denke nicht, daß Julius so schnell neuen Anschluß sucht, und wenn dann wohl eher bei älteren Mädchen."

"Ach, und das wurmt dich, Glo?" Bohrte Jane Porter nach.

"Da muß ich dir doch nicht jetzt was zu erzählen, Gran. Ich denke nur, wegen der Sache mit der Abgrundstochter ist Julius nicht mehr sonderlich begierig, sich in das Geplänkel junger Mädchen reinziehen zu lassen und sucht, wenn er mal irgendwann aus dem tiefen Loch herauskommt, in das Claires Tod ihn gerissen hat, eher nach jemandem, die etwas ruhiger drauf ist und Zeit hat und nicht auf Biegen und Brechen Anschluß sucht, nur um vor ihren Freundinnen die erwachsene Frau raushängen zu lassen. Julius ist häufiger mit den Montferre-Zwillingen im Kurs für Verwandlung oder Zauberkunst. Belisama hat mir mal erzählt, die würden den irgendwie aufmuntern, die Zauber der höheren Klassen zu lernen. Könnte sein, daß der sich für eine von denen entscheidet. Und noch einmal auf deine leicht gemeine Frage zurückzukommen, Oma Jane: Eher hätten andere Mädchen hier Grund, sich gewurmt zu fühlen, wenn Julius sie nicht mehr anguckt. Ich habe keine Probleme mit ihm. Wir sind gute Freunde und das ist auch nicht schlecht."

"Gut, Glo, ich will jetzt auch nicht über Julius reden. Wenn es was gibt, was ich von ihm wissen muß, dann spreche ich selbst mit ihm. Ich komme gerade von unserer Halloweenfeier. Beryl hat ihren Bildungsabschluß gefeiert. Ich hoffe, der Boss jagt die nicht gleich am ersten Tag in den tiefsten Dschungel."

"Ach, dann mußt du ja nicht mehr die Anstandshexe spielen, Oma Jane. Wird dir das dann nicht langweilig?"

"Bestimmt nicht. Es gibt mehr Arbeit als uns lieb ist."

"Dann ist Voldemort auch in den Staaten aufgetaucht?" Fragte Gloria.

"Dazu ob oder ob nicht darf ich dir nicht erzählen, Kind, weil das Sachen berührt, die geheim sind", erwiderte Jane Porter. "Es ist halt so, daß durch seine Rückkehr vieles im Argen liegt, nicht nur bei uns. Das so angesehene Zauberer wie die Morgensternbrüder sich dazu haben hinreißen lassen, eine ehrbare Hexe und ihre weibliche Verwandtschaft mit dem Blutrachefluch anzugreifen hat mich sehr erschüttert, besonders nachdem ich hörte, daß Claire dabei gestorben ist. Wir müssen aufpassen, daß wir uns von unserer Angst nicht zu schlimmen Taten treiben lassen wie sogenannte Präventivschläge oder Vergeltungen. Gut, daß Bläänch Julius beigebracht hat, daß Rache kein Mittel ist, um entstandene Schäden auszugleichen. Ich hoffe nur, es passiert nicht doch noch was, daß ihn aus der Bahn wirft."

"Ich kann nicht mehr machen als da zu sein, wenn er jemanden sucht, Oma Jane. Aufdrängen will ich mich nicht", erwiderte Gloria.

"Das verlange ich auch nicht von dir. Sei einfach nur da!"

"Ich muß raus aus dem Schlafsaal. Belisama könnte sonst fragen, was ich so lange hier zu suchen hatte", sagte Gloria.

"Dann bis zum nächsten Mal, Honey", sagte Mrs. Porter. Glorias Gesicht verschwand aus dem Spiegel. Danach griff Mrs. Porter jenen Zweiwegspiegel, mit dem sie früher Julius Andrews erreichen konnte, bevor seine Hauslehrerin ihm den Spiegel abgenommen hatte. Sie sprach hinein: "Blanche Faucon!"

Etwa eine halbe Minute später erschien das gestreng dreinschauende Gesicht Professeur Faucons im Glas.

"Was möchten Sie, Mrs. Porter?" Fragte sie kühl.

"Ich wollte Ihnen nur mitteilen, Professeur Faucon, daß sich das mit Voldemort und dem atlantischen Artefakt wohl bestätigt hat. Swifts Behörde hat die überlebenden Soldaten des Drachenangriffs auf den Flugzeugträger verhört und von allen unabhängig erfahren, daß er auf einem peruanischen Viperzahn angeritten ist, ein brennendes Schwert in der rechten Hand haltend. Der Drache hat sich das Schwert aber geschnappt, als der Fehlgeleitete mit den Marines beschäftigt war und ist damit weggeflogen."

"Das kann nicht sein, Mrs. Porter. Wenn er wirklich dieses brennende Schwert gefunden und an sich gebracht hat, dann hätte ihm der Drache widerstandslos gehorchen müssen und keineswegs Eigeninitiative entwickeln können."

"Das hat dieser Voldemort sich wohl eingebildet, als er ausgerechnet mit Diego Vientofrio ausprobierte, wie gut er ihn kontrollieren kann. Es stimmt also, daß der Peruaner wohl bei Versuchen, Drachen zu unterwerfen, mit einem peruanischen Viperzahn fusioniert ist und dessen Gestalt und Unverwüstlichkeit, aber seine eigene Intelligenz und Willensstärke zusammengefügt hat. Das hat jener, der sich daran ergötzt, daß ihn die meisten nicht beim Namen zu nennen wagen nicht überlegt. Offenbar wollte er ein Exempel statuieren, nachdem er die dreißig Drachen nach Russland geschickt hat."

"Von denen keiner wiedergekommen ist, Mrs. Porter", sagte Professeur Faucon. "Meine Kontakte in Russland haben mir berichtet, daß die dreißig marodierenden Drachen durch irgendwas oder irgendwen zur Explosion gebracht wurden. Wir müssen annehmen, daß dies das Werk des gleichfalls hemmungslos menschenverachtenden Zauberers Igor Bokanowski war, der im osteuropäischen Raum den Anspruch auf die höchste Stellung der dunklen Magier erhebt. Mag sein, daß es bald zu einem Krieg zwischen Voldemort und diesem Bokanowski kommt. Wie auch immer der verläuft oder ausgeht ist das kein Anlaß zur Freude für uns."

"Zumal Voldemort das Schwert nicht mehr hat. Wenn dieser Diego Vientofrio es ihm wegnehmen konnte, könnte er rausbekommen, wie es zu gebrauchen ist und damit zum Herren aller Drachen und Feuerquellen werden."

"Ein infernalisches Szenario", erwiderte Professeur Faucon sichtlich betrübt. "Aber ein Drache kann wohl kaum ein Schwert führen."

"Es heißt, er habe gelernt, zwischen der Drachengestalt und seiner angeborenen, menschlichen Gestalt zu wechseln, Blää... Öhm, Professeur Faucon. Dann könnte er doch irgendwann herausfinden, wie er das Schwert einsetzen kann. Wir brauchen uns also gar nicht sicher zu fühlen, nur weil Voldemort das Schwert nicht mehr hat. Außerdem mache ich mir immer noch Sorgen wegen dieser Hexenschwestern, die Hallitti vernichtet haben. Meinen Sie immer noch, die Anführerin, die Julius legilimentiert hat sei eine Wiedergekehrte?"

"Hundertprozentig, Mrs. Porter. Ich weiß nur nicht, wer genau es ist. Im Moment kommen zwei in Frage: Sardonia oder ihre Nichte Anthelia. Nachdem, was ich selbst beim Occlumentie-Training des Jungen herausfinden konnte, bewohnt diese Hexe den Körper von Bartemius Crouch Junior, den sie durch den Contrarigenus-Zauber ihren Bedürfnissen angepaßt hat. Es bot sich wohl an, weil dieser Zauberer bereits als tot galt und das englische Zaubereiministerium in unter Cornelius Fudge ihn in seiner panischen Hast, bloß keine Hinweise durchsickern zu lassen, der, der sich Voldemort nennt sei wieder zurückgekehrt, von einem Dementoren hat entseelen lassen und ihn dann dann wohl versteckte. Offenbar unterhält diese Schwesternschaft sehr gute Verbindungen in das britische Zaubereiministerium."

"Sardonia, die dunkle Matriarchin? Bläänch, öhm ... Professeur Faucon meine ich, das würde ja bedeuten, daß wir irgendwo auf der Welt eine Hexe herumlaufen haben, die diesem Irren aus England mindestens ebenbürtig ist. Wollte die nicht die Herrschaft über die ganze Welt und die Führung der Menschheit durch die Hexen erzwingen, eine matriarchialische Diktatur?"

"So ist es, und wir in Frankreich nennen ihren Namen heute immer noch nur sehr leise und mit dem gebotenen Ernst. Aber es könnte auch Sardonias Nichte Anthelia sein, die es auf eine mir bisher unbekannte Weise vollbracht hat, ihren eigenen Tod zu überwinden, womöglich ihre Seele in einem Artefakt auslagern konnte, bis die Zeit günstig war, einen neuen Körper zu besetzen. Sardonia hat sich in ihrer letzten Schlacht mit Dementoren übernommen, soviel wissen wir hier. Ihre Nichte ist jedoch noch mehr als fünfzig Jahre Lang in England aktiv gewesen. Aber ich erzähle Ihnen da nichts, was Sie nicht selber nachlesen können. Warum ich vermute, daß es eine dieser beiden Dunkelhexen sein muß? Meine Tochter und ich konnten die Spuren rekonstruieren, die der legilimentische Einblick jener Hexe in den Geist von Julius Andrews hinterlassen hat. Außerdem hat sie ihm gesagt, er wisse von ihr genug, daß er sie erkennen würde, wenn sie ihm wieder begegnen würde. Das läßt darauf schließen, daß sie einmal sehr bekannt war. Daß sie Bartemius Crouches Körper bewohnt ist offenkundig, weil dieser dem Fehlgeleiteten verfallene Zauberer keine Schwester oder andere jüngere Verwandte hatte und ein Dementor ihm die Seele ausgesaugt hat, wie meine Kollegin McGonagall mir sofort schrieb, als das trimagische Turnier vorbei war. Ein entseelter Leib, der noch lebt, enthält alle Gedächtnisinhalte. Ihm fehlt nur jeder Daseinsfunke, um diese Erinnerungen zu nutzen. Außerdem eignet er sich hervorragend für die dauerhafte und uneingeschränkte Inbesitznahme durch eine andere Seele, bot sich also jener Wiederkehrerin in doppelter Hinsicht an. Nun verfügt sie über das im Gehirn eingefrorene Erinnerungsvermögen des jungen Crouch und damit über die Bande um Voldemort, soweit Crouch dies miterlebt hat. Außerdem weiß sie auch das, was dieser Crouch in Hogwarts erfahren hat, als er die Rolle dieses Moody spielte, um Harry Potter durch das trimagische Turnier zu bugsieren, damit er dem sogenannten dunklen Lord in die Hände fällt."

"Hört sich plausibel und phantastisch zugleich an", sagte Jane Porter, die sich eines gewissen Schauderns nicht erwehren konnte. "eine Frage dazu, wenn Sie gestatten: Wieso erzählen Sie mir erst jetzt davon? Sie wollen mir doch nicht etwa erzählen, Sie hätten dies alles jetzt erst herausgefunden."

"Ich bitte mir einen höflicheren Tonfall aus, Mrs. Porter. Warum ich Ihnen das jetzt erzähle liegt daran, daß ich zunächst sicherstellen mußte, daß meine Vermutungen mehr als blanke Vermutungen sind. Es hätte ja durchaus sein können, daß diese Hexe Julius und damit uns nur einzureden versucht hat, sie wäre eine solche Wiederkehrerin. Doch als vor einigen Wochen über mir zugängliche Geheimwege zugetragen wurde, daß sowohl die französische als auch die deutsche Anführerin der sogenannten Nachtfraktion der schweigsamen Schwestern auf nimmerwiedersehen verschwunden sind, und zwar ohne daß Voldemort und seine Mörderbande was damit zu schaffen hatten - sonst wäre das dunkle Mal über den betreffenden Wohnorten erschienen. - und in den etablierten Sektionen gemunkelt wird, jemand mächtigeres als die beiden zusammen lege es darauf an, deren Rang zu übernehmen. Dieser Umstand, dessen Wahrheitsgehalt ich erst sorgfältig prüfen mußte, gab mir die beunruhigende Gewißheit, daß wir es in der Tat mit einer Wiederkehrerin zu tun haben, der es darum geht, alle den Zaubereigesetzen ablehnend gegenüberstehende Hexen anzuführen. Wer diesen Anspruch erhebt, muß sich ihrer Macht bewußtsein oder zumindest davon ausgehen, immer noch sehr viel Macht zu besitzen und sich bei Offenbarung ihres Namens auf einen vorauseilenden Ruf stützen zu können."

"Wie ist Ihnen denn das gelungen, Spioninnen in den Reihen dieser Hexentruppen zu platzieren?" Fragte Jane Porter.

"Das werde ich um der Sicherheit der betreffenden Personen wegen nicht verraten, Mrs. Porter. Genauso wenig werden Sie mir ja auch verraten, wer für Sie wo tätig ist. je weniger ein lebenswichtiges Geheimnis kennen, desto sicherer können sich die fühlen, die sich unter dessen Schutz stellen. Ich erzähle Ihnen das auch nur, weil ich Sie trotz der Versäumnisse und Unterschlagungen, die Sie begangen haben nach wie vor für eine zuverlässige Bündnispartnerin im andauernden Kampf gegen die dunklen Künste halte", sagte Professeur Faucon.

"Sehr schmeichelhaft. Deshalb haben Sie mir meinen Spiegel ja auch nicht zurückgegeben oder dem Jungen auch noch den weggenommen, der ihn mit mir verbindet", warf Jane Porter etwas spitzfindig ein. Professeur Faucon verzog zwar das Gesicht zu einer mürrischen Miene, ihr Kopf im Spigel ruckte jedoch vor und zurück, was ein zustimmendes Nicken bedeutete.

"Was werden Sie nun, da ich Ihnen diese Information geben konnte anfangen, Mrs. Porter?" Fragte die Lehrerin.

"Ich werde mir Gedanken dazu machen, dazu und zu einigem, was mir in diesem Zusammenhang auch durch den Kopf geht, Professeur Faucon", erwiderte Jane Porter kühl. Ihre Zweiwegspiegelgesprächspartnerin tat den Mund auf, als wolle sie was sagen, schloß ihn jedoch wieder und presste die Lippen krampfhaft zusammen. In ihren saphirblauen Augen funkelte es kurz. Dann ruckte das Gesicht der Beauxbatons-Lehrerin wieder vor und zurück.

"Ich werde mich nicht dazu verleiten lassen, Sie zu fragen, woran Sie alles denken, Mrs. Jane Porter. Außerdem muß ich nun in den Speisesaal. Madame Maxime erwartet von ihrem Kollegium die gleiche Pünktlichkeit wie von der Schülerschaft. Bis bald, Mrs. Porter!"

"Vielen Dank dafür, daß Sie Ihre Gedanken und Erkundigungen mit mir geteilt haben, Professeur Faucon", sagte Jane Porter. Die angesprochene nickte noch einmal, dann verschwand ihr Gesicht aus dem Spiegel. Jane Porter konnte nun ihr eigenes Gesicht darin erblicken. Sie grinste sich selbst mädchenhaft zu. Dann steckte sie den Spiegel fort.

"Das deckt sich verteufelt mit dem, was ich mir auch schon gedacht habe, Bläänch. Natürlich willst du deinen Schützling jetzt erst recht beglucken. Hoffentlich kommst du nicht auf die Idee, ihn durch eure netten Walpurgisnachtringe an dich zu binden, damit du ihn immer in deiner Nähe hast", dachte Jane Porter. Sie wanderte in ihrem geräumigen Wohnzimmer auf und ab und dachte über das nach, was sie gerade erfahren hatte. Zwei mächtige Hexen in Europa waren verschwunden. Professeur Faucon hatte eindeutig ausgeschlossen, daß der sogenannte dunkle Lord dafür verantwortlich war. Also handelte es sich um einen Machtkampf innerhalb der geheimen Sororität. Woher die Hexe ihre Informationen hatte, die Jane immer noch "Bläänch" nannte, obwohl sie seit der Sache mit Julius, dessen Vater, Hallitti und den ominösen Retterinnen mit der respektablen Lehrerin nur noch per Sie war, konnte sich Jane auch denken. Schließlich wußte sie, daß Nachtfraktionsschwestern erst einmal anständige Bundesschwestern der Muttersororität, den schweigsamen Schwestern, werden mußten, um zum einen auf eine weit verzweigte Organisation zurückzugreifen und zum zweiten schwer zu entdecken handeln konnten, wie ein schwarzes Püppchen in einem schneeweißen, nach dem Prinzip der Russischen Matroschka. Es galt also immer zu suchen, wer zur Hauptschwesternschaft gehörte, wenn gleich die das niemandem aufs Brot schmierten, und dann noch die Nachtfraktionärinnen auszumachen, die das auch ihren gemäßigten "braven" mitschwestern nicht auf die Nase banden, daß sie doch etwas andere Vorstellungen von der Hexenwelt hatten. Da professeur Faucon auch schon einige Dutzend Weinachtsabende erlebt hatte war es ihr bestimmt irgendwann gelungen, welche von denen zu finden, die nicht allen gegenüber so schweigsam waren wie der Name ihres Bundes es verlangte. Sich so jemanden zu kultivieren verlangte Feingefühl, Übervorsicht und die Fähigkeit, sich nichts anmerken zu lassen, um bei einer normalen Begegnung nicht gleich mit einem Wimpernzucken zu verraten, daß man die betreffende Hexe gut kannte. Beauxbatons war da natürlich eine vorzügliche Ausgangsbasis, wenn man potentielle Mitglieder dieser Schwesternschaft suchte, da ja deren Töchter, Nichten und Enkeltöchter auch irgendwann mal eine Zauberschule besuchen mußten. Insofern war "Bläänch" Jane Porter gegenüber im Vorteil, dachte diese wohl. Aber auch das Institut kultivierte einige Hexen, die ohne das in die Zeitung zu setzen in jener Schwesternschaft waren. Schlagartig fielen ihr die Erlebnisse im Sommer wieder ein. Der August hatte gerade erst begonnen, und sie und Julius Andrews hatten vor Swift und Pole fliehen müssen, um Julius' Vater zu suchen. Dabei hatte ihnen Ardentia Truelane geholfen, die eben bei den Schweigsamen mitmachte, was Jane nur deshalb herausgefunden hatte, weil Ardentias Großmutter Annabell mit Jane in Thorntails war und die beiden Hexen seit dem schier unzertrennliche Freundinnen geworden waren. Das ging so weit, daß Jane die Patin von Annabells Sohn Abraham wurde, den sie gerne mit Geraldine verheiratet hätte, wenn diese sich nicht für patricia Redliefs Jungen entschieden hätte. Außerdem hatte Annabell dem Jungen schon eine andere Hexe ausgesucht, die, oh Wunder, ebenfalls in jener Schwesternschaft war, eine Halbmuggelstämmige, deren Mutter schon Mitglied in der Hexenbande war. Tja, und weil Jane eine gute Seele war hatte sie zugesehen, wie Ardentia zur Welt kam, nach Thorntails ging, dort einen beachtlichen UTZ in Verteidigung gegen die dunklen Künste, Verwandlung und Zauberkunst machte und sie nach der üblichen Probephase für wie gerade erst Beryl Corner zur anständigen Mitarbeiterin im Laveau-Institut ausgebildet. Marie Laveaus Geist, der alle Kandidaten auf ihre Tauglichkeit hin überprüft hatte, hatte sehr tragend verkündet:

"Diese junge Frau wird wahrlich großes bewirken und euch gute Dienste tun, düstere Mächte aus der alten Welt zurückzudrängen und euch das Tor zum Haus des Schweigens auftun, damit ihr sehen und hören könnt, was darin vorgeht."

Wie üblich bei Neueinstellungen war die entsprechende Kandidatin nicht anwesend gewesen, als Marie den führenden Mitarbeitern ihre Vorhersage kundtat. So war Ardentia aufgenommen worden, und tatsächlich hatte sie loyal für das Institut die verrammelte Tür zum "Haus des Schweigens" geöffnet. Tatsächlich hatte sie mitgeholfen, Nachahmer des sogenannten dunklen Lords aufzuspüren und ganz bestimmt hatte sie ein großes Übel aus der alten Welt zurückzudrängen geholfen, indem sie Jane und Julius geholfen hatte, seinen Vater zu finden. Aber sie hatte den Jungen auf Davidsons Drängen hin irgendwo verstecken wollen, dabei aber die magischen Kräfte Hallittis unterschätzt, was dem Jungen fast das Leben gekostet hätte. Doch im Endeffekt war Hallitti vernichtet worden ... Das hatte Jane Porter bis heute nicht begriffen, woher diese gerade noch rechtzeitig erschinenen Hexen gewußt hatten, wo Hallittis magische Höhle war. Denn das Ergebnis des mit Julius durchgeführten Sanguivocatus-Rituals kannten nur Elysius Davidson, Jane Porter und Ardentia Truelane.

"Wie vernagelt muß ich sein", knurrte Jane Porter, als ihr ein überaus schrecklicher Verdacht in den Sinn kam. Dann fragte sie sich, warum Davidson das nicht auch gedacht hatte. Ihr Herz begann einige Takte schneller zu schlagen. Dann beruhigte sie sich plötzlich wieder. Natürlich hatten diese Hexenschwestern Julius ständig beobachtet, seit dem er in New Orleans angekommen war, eben weil sie wußten, was sie, Jane mit ihm vorhatte oder weil sie ihn sowieso in ihre Hände bekommen wollten, um das zu machen, was sie mit ihm angestellt hatte. Natürlich war das so gelaufen, Exosenso-Zauber. Die begabtesten dieser Bande hatten sich auf ihn eingestimmt und ihn außerhalb des Schutzbereichs des Institutes fernbeobachtet. Wenn Julius den Namen des Zufluchtsortes einmal ausgesprochen hatte, waren sie einfach dort in Stellung gegangen, unsichtbar oder in unauffälliger Gestalt oder unter einem Tarnzauber. Nur wie sie dann so schnell die Höhle Hallittis finden konnten, wo Exosenso ohne Zuhilfenahme von Haaren oder anderen Körperfragmenten des zu beobachtenden keine Richtungs- und Entfernungsbestimmung zuließ, das war immer noch ein Rätsel. Weil dieses ihr aber nun wieder sehr wichtig erschien, wo sie die Informationen von Blanche Faucon bekommen hatte, erhöte sich ihr Pulsschlag wieder ein wenig. Der gerade eben so heiße und schreckliche Verdacht, der wie eine glühende Klinge direkt vor ihren Augen zu stehen schien, schlich sich nun wie ein zum Angriff entschlossenes Raubtier in ihr Bewußtsein ein. Wenn sie nicht paranoid werden wollte mußte sie ihn entkräften oder bestätigen, ohne jemandem ein Unrecht zu tun. Aber wie? Diese Sache verlangte Geduld und günstige Gelegenheiten, bei denen hoffentlich niemand starb, bevor etwas offensichtlich wurde.

"Morgen werde ich sehen, was Beryl von Elysius aufbekommt. Wenn sie erst Hausdienst machen muß, frage ich sie, ob sie für mich nach Hinweisen sucht, wie jemand seinen eigenen Tod überdauern kann und möglicherweise in einen vollentwickelten Körper einziehen kann", dachte sie. "Ich werde wohl morgen dieser Sache mit dem Drachenmenschen Diego Vientofrio nachgehen, wenn Elysius mich läßt", dachte Jane.

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Senator Wellington hatte sich den ganzen Tag nicht sehen lassen. Nur einmal hatte er angerufen und verkündet, daß er den Abend in der hiesigen Parteizentrale verbringen wolle. Seine Frau und Cecil bestätigten das. So fand der fünfte November 1996 bei den Wellingtons ohne das Familienoberhaupt statt. Das war auch gut so, fand Cecil. Denn seine Mutter machte ihm gegenüber keinen Hehl daraus, daß sie dem amtierenden Präsidenten die zweite Amtszeit gönnte, obwohl ihr Mann den Gegenkandidaten gefördert hatte und lieber einen Machtwechsel im weißen Haus haben wollte. Als dann klar war, daß sie noch einmal vier Jahre mit dem jungen, sich nach außen hin cool gebenden Präsidenten würden leben müssen, stießen Mutter und Sohn mit Rotwein an. auch als Senator Wellington auf dem Stadtkanal bekundete, er wolle nun noch sorgsamer an der gemeinsamen Zukunft Amerikas mitgestalten, minderte das nicht die Euphorie, die Henriette Wellington und ihren Sohn ergriffen hatte.

"Tja, Dad wird sicherlich ziemlich ungenießbar sein", meinte Cecil Wellington.

"Wenn er wirklich ein Befürworter der Demokratie ist, muß er sich damit abfinden, wie die Mehrheit der Amerikaner gewählt hat."

"Hoffentlich kommen die nicht auf komische Ideen, wenn in vier jahren wieder gewählt wird", sagte Cecil. "Ich möchte nicht wissen, wen die in ihrer Partei nun bringen wollen, auch wenn Bills zweite und letzte Amtszeit durch ist."

"Das werden wir erleben, wenn es so weit ist", sagte Henriette Wellington. Dann schlug sie vor, Cecil möge besser zu Bett gehen, bevor der Hausherr heimkehre.

"Och, meinst du, der würde tot umfallen, wenn ich ihm mein strahlendstes Siegerlächeln zeige, weil der Saxophonspieler eine Zugabe geben darf?"

"Mir zu liebe, Cecil. Ich möchte nicht heute abend schon Streit im Haus haben."

"Okay, wegen dir, Mom", sagte Cecil. Er wollte gerade in sein zimmer gehen, als das Telefon klingelte. Jefferson ging ran und meldete sich.

"Mrs. Wellington, Ihre Frau Mutter", sagte der Butler, nachdem er einige Worte auf Französisch gewechselt hatte. Cecil verabschiedete sich schnell zur Nacht und verließ den pompösen Salon. In seinem Zimmer dachte er daran, ob der Ausgang dieser Wahl für Anthelia und ihre Schwestern irgendwas bedeutete oder denen quer am Hinterteil vorbeiging. Dann überlegte er sich, ob die Hexen irgendwas drehen konnten, um einen bestimmten Kandidaten ins weiße Haus zu beamen. Weil er darauf keine Antwort fand und Anthelia, die sich manchmal in seine Gedankenströme einklinkte weiterhin schwieg, befand er, daß die genauso mit Clinton leben mußten wie sein von ihnen zugeteilter Ersatzvater, den er mit Kußhand zurückgeben wollte. Er dachte an Dropout und die Leute dort, die bei der letzten Wahl noch alle in der großen Gemeindehalle gesessen hatten. Zwar waren die Republikaner in den Südstaaten beliebter als die Demokraten. Dennoch hatten sie damals laut Beifall geklatscht, als der smarte Gouverneur Clinton gewählt wurde. Dropout, war die Stadt wieder fertig? Waren alle, die den Wahnsinn mit dem Bandenkrieg überlebt hatten wieder zurückgekehrt? Was machte Donna Cramer gerade? Dachte sie noch an Benjamin Calder, den es nun nicht mehr gab? Oder hatte sie sich einem wie Willy oder anderen zugewandt? Er griff zu seinem eigenen Telefon und versuchte, seine neue Freundin, Laura Carlotti, zu erreichen. Er bekam Paolo, ihren Bruder an die Strippe und quatschte eine Minute lang mit ihm, bevor der seine Schwester an den Apparat holte. Eine halbe Stunde lang unterhielt er sich mit ihr über den Wahlausgang und das sie beide mit dem Ergebnis zufrieden sein konnten. Sie sprachen über die Weihnachtsferien, und ob sie sich treffen konnten, wenn die Familienverpflichtungen gelaufen waren, was sie in den letzten Wochen so erlebt hatten und wie Cecil die anstehenden Klassenarbeiten fand. Als er den Hörer wieder aufgelegt hatte dachte er nicht mehr an Donna Cramer. Sein eigenes und Cecils Erinnerungsvermögen trösteten ihn mit den Bildern und erlebnissen mit der dunkelhaarigen Italoamerikanerin, deren Vater in der Baubranche tätig war. Zwar dachte er auch daran, daß Anthelia ihm geraten hatte, dieses Mädchen zu vergessen, weil sie ihm letztes Jahr fast das Leben gekostet hatte. Aber was wußte diese Hexe schon von echten Gefühlen. Ja, er und Laura wußten, daß im Moment nur sie beide füreinander zählten, auch oder gerade weil sie weit voneinander fort auf verschiedene Schulen gingen und sich nur noch in den Ferien trafen, weil beide das Reiten aufgegeben hatten, nachdem Cecil den verheerenden Unfall mit Silver Bullet hatte, von dem nur er und die Bundesschwestern Anthelias wußten, wie einschneidend er für das Leben des Senatorensohnes verlaufen war. Cecil fuhr jetzt lieber Fahrrad, ein von Anthelia geduldetes Überbleibsel seines Vorlebens als Benny Calder. Außerdem spielte er in der Schulmannschaft Basketball und schwamm viel. Seine überragenden Computerkenntnisse, die der frühere Cecil bei weitem nicht besessen hatte, hatten dieser vermaledeiten Schwesternschaft schon etliche Informationen zugespielt und dem neuen Cecil eine Notensteigerung in Mathe und Physik eingetragen, was seinen Vater zwar stolz machte aber auch befremdlich darüber nachdenken ließ, ob ein Naturwissenschaftseierkopf sich freiwillig zum Anwalt ausbilden lassen würde, wie er selbst einer geworden war und seine Großväter es schon waren. Cecil fragte sich jedoch nicht, was Senator Wellington wollte, sondern was Anthelia ihm gestattete oder abverlangte. Er lebte nur, weil sie jemanden in der magielosen Welt haben wollte. Brachte er ihr nichts mehr ein, konnte sie ihn bedenkenlos aus der Welt schaffen oder ihn in ein anderes Leben reinzaubern, ähnlich wie es dem armen Zeitreisenden aus "Zurück in die Vergangenheit" erging. Doch der, so wußte Cecil, hatte sich das ja selbst ausgesucht, von einem Leben zum nächsten zu springen, quer durch die Jahre seiner eigenen Lebenszeit, mal alter Mann, mal junges Mädchen, mal Sträfling und mal Testpilot war. Tolle Aussichten, wenn Anthelia ihm auch so ein Leben zugedacht hatte. Jetzt lebte er im Körper Cecil Wellingtons, hatte sogar dessen kompletten Erinnerungssatz, so daß er wußte, wie der echte Cecil was gesagt oder getan hätte. Vielleicht waren die Gefühle für Laura Carlotti nicht wirklich seine, sondern die von Cecil. Aber er fühlte die Zuneigung zu diesem Mädchen, brauchte nur an sie zu denken, um den Geruch ihres Parfüms in der Nase und ihr seidenglattes Haar unter den Fingern zu fühlen. Auch fühlte er, daß da noch was an seinem Körper war, das langsam aber sicher zum Zuge kommen wollte. Doch sofort dachte er an das, was Anthelia über diesen Fluch erzählt hatte, mit dem sie ihm einen gesunden Körper garantierte: Er durfte nur ein Kind zeugen. Danach würde jedesmal, wenn er Sex hatte, sein Körper schneller alt werden. Also mußte er genau überlegen, mit wem er sich einließ.

Irgendwann holte ihn doch die Müdigkeit ein. Er hörte gerade noch, wie sein neuer Vater nach Hause kam und wohl wortlos in den Trakt mit dem Elternschlafzimmer ging. Er dachte belustigt, daß der Champagner für die Siegesfeier wohl wieder fortgepackt worden war. Dann legte er sich hin und schlief ein.

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Anthelia erfuhr bald, daß Jane Porter nach dem Drachen suchte, der Voldemort das Schwert abgejagt hatte. Die Führerin der Spinnenschwestern überlegte sich, ob sie der Laveau-Instituts-Mitarbeiterin nicht helfend unter die Arme greifen sollte. Denn zu wissen wo Yanxothars Schwert war, an das sie selbst nicht herangekommen war, wäre ein ungeahnter Glücksfall geworden. Einerseits ärgerte sie sich, daß dieser Zauberer, der perfekt mit einem wilden Drachen verschmolzen war, das Schwert versteckt hatte. Doch sie freute sich auch, daß Voldemort, den sie für einen größenwahnsinnigen Emporkömmling hielt, diese Waffe nicht länger als eine Woche besessen hatte, wo er sie, Anthelia, so großzügig am Leben gelassen hatte, damit sie seinen Triumph miterleben sollte. Jetzt würde er sie wohl bei der ersten sich bietenden Gelegenheit töten, wußte die wiedergekehrte Nichte Sardonias. Aber dann mußte er sich immer fragen, wieso er noch am Leben war, wo es doch so einfach gewesen wäre, ihn selbst zu töten.

Am Tag nach der Wiederwahl des US-Präsidenten zitierte sie die muggelstämmigen Mitschwestern und Patricia Straton zu sich und beriet mit ihnen, wie sie mit der politischen Lage in den Staaten umgehen sollten. Romina Hamton schlug vor, sich direkt an den Präsidenten zu wenden und ihn unbemerkt vom Zaubereiministerium nach ihrem Willen zu dirigieren. Ty Lennox hingegen fragte, ob sie nicht erst ihre Art von Politik in der Zaubererwelt durchsetzen sollten, bevor sie die Muggelwelt übernahmen und Patricia sagte nur, daß man nur aufpassen solle, daß der amtierende Präsident keinen Atomkrieg vom zaun brechen konnte. Anthelia meinte dazu:

"Ich gebe euch dreien recht, Schwestern. Auf die Staatskunst der Unfähigen einzuwirken dürfte uns die nötige Ausgangsstellung verschaffen, um unser Werk voranzubringen. Hierzu sollten wir jedoch den Rücken frei haben und uns der Gegner in der magischen Welt entledigt haben, bevor wir den Trümmerhaufen, den die auf Maschinen und Gerätschaften fußende Welt der Unfähigen aufgeworfen hat, zu einem neuen, stattlichen Haus zusammenbauen, in dem wir friedlich leben können. Deshalb nehme ich die neuerliche Wahl dieses Muggels Clinton zur Kenntnis. Wichtiger als seine Bestätigung ist jedoch, daß Davenport, der neue Zaubereiminister, wegen der Angelegenheit mit den Drachen und dem Feuerberg im Nordwesten dieses Landes immer größerer Kritik ausgesetzt ist. Zwar wurden keine Hexen und Zauberer in den Staaten verletzt. Aber niemand, der von den aufgehetzten Drachen erfahren hat, glaubt daran, daß Voldemort sich mit ein paar marodierenden Drachen zufriedengeben würde. Es könnte durchaus angehen, daß Davenport nicht mehr lange im Amt verbleibt, zumal er ohnehin verkündet hat, er wolle bald ordentlich Neuwahlen durchführen lassen, um ihn im Amt zu legitimieren oder einen Kandidaten an seinen Platz zu setzen. Vielleicht sollten wir, um unsere Stellung in diesem Lande zu festigen, eine eigene Kandidatin ins Rennen schicken, sobald Davenport keinen Sinn mehr darin sieht, das Amt des Zaubereiministers weiterhin auszuüben."

"Du möchtest, daß eine von uns Zaubereiministerin wird, höchste Schwester?" Fragte Tyche Lennox verwundert. Anthelia nickte und erwiderte mit ihrer warmen Altstimme:

""Sofern die Kandidatin dort schon bekannt ist und es nicht auffällt, daß wir sie in dieses Amt hieven. Zur Not müßte sie eben einem Zauberer den Stuhl freihalten, bis wir eine absolut sichere Methode haben, sie in das höchste Amt der amerikanischen Zaubererwelt zu heben. Vorher wäre jede Einmischung wie eine Offenbarungserklärung, daß wir an der Ministerauswahl drehen wollen. Doch im Moment machen mir zu viele andere Dinge Sorgen, wie eben das mit dem Schwert und dem Drachen, wie auch die Bedrohung durch Bokanowski. Ich hörte, daß er sich zwar zurückgezogen habe, aber er bereits anfange, russische Zaubererfamilien einzuschüchtern, ihm ihr Gold zu überlassen, um nicht von irgendwas getötet zu werden", antwortete Anthelia. "Sollte der Burgfrieden zwischen dem Emporkömmling und dem Naturschänder halten, ja sich sogar eine glaubhafte Partnerschaft entwickeln, gerieten wir ins Hintertreffen. Üblicherweise habe ich in einer solchen Lage stets versucht, die beiden sich mißtrauenden Parteien zu feindlichen Handlungen zu verleiten. Doch in diesem Falle würden sowohl der selbstverstümmelte Kerl, der sich als dunkler Lord oder Du-weißt-schon-wer benennen läßt, als auch dieser igor Bokanowski dahinterkommen, daß sie gesteuert werden. Deshalb müssen wir erst einmal beraten, wie wir unser Land vor möglichen Angreifern schützen. Ich denke da vor allem an die Dementoren, jene Dämonen, die meiner Tante den Garaus gemacht haben, wie die Chronisten in Millemerveilles niedergeschrieben haben."

"Was ist mit Morpuora? Hast du sie nur gerettet, um sie vor dem Emporkömmling zu schützen oder beabsichtigst du mehr von dieser Sabberhexe zu kriegen?" Fragte Patricia Straton verstohlen zu ihrer Anführerin aufblickend.

"Ich holte sie herüber, um eine dankbare Hilfstruppe zu rekrutieren, da ich davon ausgehen muß, daß andere Länder ebenfalls Hilfstruppen zusammenziehen und vor allem der Emporkömmling seine Golemarmee weiter ausbauen läßt. Zum anderen könnte es für uns sehr nützlich sein, ohne groß kämpfen zu müssen an die wirksamsten Substanzen im Speichel und der Tränenflüssigkeit der Sabberhexen heranzukommen. Deshalb habe ich sie auch zu uns geholt", beendete Anthelia ihre Ansprache.

"Und Morpuora weiß das und ist einverstanden?" Fragte Romina Hamton ebenfalls schüchtern zu ihrer Anführerin aufblickend.

"Sie wird mir nicht abgeneigt sein, wenn ich sie respektvoll bitte", erwiderte Anthelia unerschütterlich. Dann entließ sie ihre Mitschwestern, um sich darauf zu konzentrieren, was demnächst anstand, weitere Schwestern zu werben und einen möglichst guten Schutz gegen die zu erwartenden Feinde zu finden.

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Gegen Jane Porters Hoffnung war es nicht sofort möglich gewesen, Beryl auf die Suche nach der Methode zu schicken, wie die Wiedergekehrte ihren Tod überdauern und in einen anderen Körper einziehen konnte. Erst nach Weihnachten hatte Beryl Zeit, sich darum zu kümmern. Jane, die bis dahin vergeblich den Drachenmenschen Diego Vientofrio gejagt hatte, wollte sich zunächst wieder um wichtigere Sachen kümmern. Ihr war nämlich zu Ohren gekommen, daß neue Sabberhexen in die Staaten eingewandert waren, die nun, wo sie sich sicher wähnten, ihrer Menschen gefährdenden Suche nach Nahrung und Fortpflanzungspartnern nachgingen. Beryl sollte die von Jane erbetenen Informationen beschaffen. Einen halben Monat war die junge Laveau-Mitarbeiterin durch die Welt gereist, hatte sich mal unter Verwendung ihres echten und eines Decknamens Zugang zu verschidenen öffentlichen und privaten Bibliotheken verschafft, war sogar einmal für vier Stunden in Hogwarts und Beauxbatons gewesen, als alle Schüler im Unterricht waren und wäre auch zu gerne nach Durmstrang hineingegangen. Doch weil sie in der fünftletzten Generation Muggel in der Ahnenreihe hatte, hatte der neuernannte Schulleiter des Durmstrang-Institutes sie postwendend aus dem Haus geworfen. "Schlammblütige nix haben verloren hier!" Hatte er in heftig gebrochenem Englisch gebrüllt, als der sogenannte Reinblütigkeitsschutzzauber losgegangen war. Weihnachten verbrachte sie bei ihren Verwandten in England, wo sie auch erfuhr, wo sie bestimmt etwas über alte Überdauerungszauber finden konnte, die bereits vor mehr als zweihundert Jahren bekannt gewesen sein mochten, ja damals vielleicht so gut wie vergessen waren.

Sie erschauerte etwas, als sie in einer düsteren Ecke der Büchersammlung O'Sullivans bei Shanon einen Band mit dem Titel "Die Macht des Dairons" fand, einem einzelstück, daß bereits vierhundert Jahre alt sein mußte. Jane Porter hatte ihr gesagt, sie könne alle neueren Bücher getrost vergessen, da jene, nach der sie suchten, schon vor zweihundertfünfzig Jahren gelebt hatte und nur das damals schon bekannte Wissen nutzen konnte.

"Wieso haben wir dieses Buch nicht in unserer Sammlung?" Fragte sich Beryl. Ihre Verwandten in England hatten ihr den Tipp gegeben, daß der eigenbrödlerische Zauberer Ian O'Sullivan ein begeisterter Sammler alter Zauberbücher und Biographien mächtiger Hexen und Zauberer war. Nun hielt sie das Buch über Dairon, den Druiden vom Düsterwald, in ihren Händen. Sie fühlte, daß in dem Buch selbst eine starke Magie stecken mußte. Sie kannte Zauber, welche durch einzeichnen bestimmter Figuren mit Blut bestimmte Flüche oder Bezauberungen in ein Buch einbringen konnten. Der knapp an die zweihundert Jahre alte, gebeugt dahergehende, mit einem kugelrunden Bauch gesegnete Zauberer mit dem schneeweißen Haarkranz auf dem Kopf blickte sie mißtrauisch aber auch erwartungsvoll an.

"Das Büchlein ist mein Prunkstück. Das habe ich vor hundert Jahren einer alten Hexe abgekauft, die auf der Flucht vor Leuten war, die sie wohl böse geärgert hat. Da sind die alten Geheimnisse Dairons drin. Aber den kennen Sie junges Ding bestimmt nich'", schlüpften leicht amüsiert klingende Worte aus dem mit einem schimmernden Elfenbeingebiß verzierten Mund des Zauberers. Er kicherte schadenfroh. "In dem Buch sind jede Menge Verwirrungszauber drin. Glauben Sie bloß nich' alles, was sie da zu sehen kriegen, junge Lady."

"ich habe Zauber studiert, die solche Verwirrzauber aufheben oder zeitweilig unterdrücken", sagte Beryl dazu nur. Daß sie ebenso von Dairon vom Düsterwald gehört hatte wollte sie O'Sullivan nicht erzählen. Sie nahm ihren Zauberstab und richtete ihn auf sich selbst und dann auf das Buch, wobei sie eine Reihe leiser, kehlig klingender Worte sprach, die der alte Magier offenbar nicht kannte. Denn er sah sie an wie etwas total fremdes. Dann schlug sie das Buch auf, aus dem grünlicher Dunst aufwallte, vor ihr zerfaserte und sich verflüchtigte.

"Wenn Sie das Buch unbrauchbar gemacht haben zahl'n Sie mir viertausend Galleonen, Missy", knurrte O'Sullivan, als Beryl die erste Seite betrachtete.

"Ich habe mich selbst nur gegen die Zauber geschützt, die das Buch enthält. Ich bin keine Anfängerin. Viele Bücher oder Gegenstände werden vernichtet, wenn der in sie eingelagerte Zauber aufgehoben wird, wenn sie eine gewisse Zeit lang davon durchdrungen waren", versetzte Beryl. "Aber vielleicht sollten wir beide darüber verhandeln, ob Sie mir und meinem Arbeitgeber das Buch nicht überlassen möchten, für den entsprechenden Preis natürlich."

"Mädchen, ein Buch mit den größten Geheimnissen Dairons drin ist für mich unbezahlbar. Die Hexe, die es mir überlassen hat hätte es ganz bestimmt nicht rausgerückt, wenn sie nicht das Gold gebraucht hätte. Also, das Büchlein bleibt hier, damit Sie es wissen."

"Zum einen lasse ich mich nur noch und auch das sehr selten von meinem Vater als Mädchen bezeichnen. Zum zweiten sollten Sie gerade jetzt, wo bei Ihnen jener Zauberer herumläuft, Dessen Namen Sie nicht zu nennen wagen, jede Information die einem Schwarzmagier noch mehr Macht geben kann möglichst außer Landes schaffen. Ich arbeite für das Marie-Laveau-Institut in New Orleans, wie ich Ihnen glaubhaft bewiesen habe. Wir sind immer interessiert an Literatur, die Aufschluß über schwarzmagische Aktivitäten geben könnte. Wir könnten Ihnen den vierfachen Preis bezahlen, den Sie für das Buch entrichtet haben."

"Ich gebe das Buch nicht her, Mädchen und damit basta. Wenn du's lesen willst, dann lies es. Ich hoffe, du hast genug Essen mitgebracht. Ich bin auf mehrwöchigen Besuch nicht eingerichtet."

"Das könnte Ihnen so passen, daß ich mehrere Wochen für dieses eine Buch hier bei Ihnen herumhänge", knurrte Beryl sichtlich verstimmt. "Ich brauche höchstens eine Stunde, bis ich finde, was ich suche, wenn es in diesem Buch steckt."

"Vielleicht bist du auch in einer Minute wieder draußen, wenn du mir sagst, was du wissen willst", knurrte O'Sullivan. Beryl schwieg einen Moment. Wie ein kleines Mädchen angeredet zu werden schmeckte ihr überhaupt nicht. Andererseits hatte ihre Wegführerin Jane Porter sie immer wieder angehalten, in jeder Situation ruhig und gelassen aufzutreten, auch wenn es in ihr brodelte wie in einem überhitzten Kessel. So atmete sie einmal ein und wieder aus, dann noch einmal. Dann öffnete sie den Mund, um was zu sagen. Doch da krachte etwas mit einer Urgewalt gegen die Mauern des verwitterten Hauses, in dem O'Sullivan lebte und eine eiskalte Männerstimme schnarrte:

"Alter irischer Flohsack, mach die Tür auf! Hier steht Lord Voldemort!"

O'Sullivan schrak für einen Moment zusammen, sah dann aber ganz gelassen aus, während Beryl unvermittelt völlig frei von jeder Emotion war. Ihr Kampfgeist war erwacht und hatte alle nebensächlichen Gefühle verdrängt. Draußen stand der übermächtig erscheinende Feind, der die britischen Inseln und einen Teil Europas in Angst und Schrecken hielt.

"du hast ihn erwähnt, Mädchen. Deshalb ist er jetzt da", grummelte O'Sullivan eher verstimmt als verängstigt klingend, so als wäre ihm der drohende Überfall Voldemorts eher lästig als todbringend. "Aber ich werde mein Haus und mich verteidigen. Lege das Buch wieder zurück! Ich will es mit den anderen verstecken."

Wieder krachte etwas mit Urgewalt gegen die Mauer, und ein lautes Poltern verriet, daß eine Seite des Hauses diesem Ansturm nachgegeben hatte. Laut stampfende Schritte wie von wandelnden Statuen erklangen.

"Lege das Buch zurück, Mädchen!" Knurrte O'Sullivan, der seinen leicht ramponiert wirkenden Zauberstab gezückt hatte. Doch auch Beryl hatte ihren schlanken Zypressenholz-Zauberstab aus dem Hause Deexter in der Hand. Da polterten die Schritte noch näher heran. Beryl wußte, daß der grausame Zauberer nicht alleine war.

"Er will meine Bücher haben", schnarrte O'Sullivan. "Accio Dairons Buch!" rief er. Doch Beryl hatte bereits den unsichtbaren Schild errichtet, der auch den Aufrufezauber blockierte. Ian O'Sullivan stieß einen Fluch in irischer Sprache aus. Da flog die Tür zur Bibliothek unter einem wilden Funkenwirbel aus dem Rahmen. Ja, und da stand er, groß, hager, eingehüllt in einen langen, schwarzen Umhang. Seine glutroten Augen funkelten todbringend, und das aschfahle Gesicht verhieß das Ende aller Hoffnungen: Lord Voldemort!

"Ah, du hast Besuch", schnarrte Voldemorts Stimme. Dann sah der böse Zauberer, daß die junge Hexe etwas unter ihren linken Arm geklemmt hielt, was verdächtig nach einem Buch aussah. Er richtete seinen Zauberstab auf die Frau. Da fauchte ihm ein Fluch O'Sullivans entgegen. Voldemort duckte sich und schüttelte mit einem raschen Zauber die Auswirkung des Fluches von sich ab. Dann ging er zum Gegenangriff über. Beryl legte es nicht darauf an, sich dem dunklen Hexenmeister im direkten Duell zu stellen, auch wenn sie gute Reflexe und Kenntnisse besaß. Ihr war es wichtiger, dieses Buch vor ihm zu rettenund es ins Laveau-Institut zu bringen. Sie ärgerte sich, daß O'Sullivan sein Haus mit einem Antiapparitionswall umgeben hatte. So konnte sie nicht auf die schnellste Art fliehen. Also mußten Ablenkungsmanöver her. Unvermittelt standen zehn Gestalten im Raum, die wie Beryl Corner aussahen, sich aber unabhängig voneinander bewegten, nicht wie Spiegelbilder, sondern wie lebende Wesen. Das war einer von drei in bezauberte Edelsteine eingewirkter Ablenkungszauber. Alle Beryls trugen das Buch unter ihrem linken Arm und hielten Zauberstäbe auf den Menschen verachtenden Magier gerichtet.

"Deine Illusionen nützen dir nichts, Weib", schnarrte Voldemort und setzte an, einen wirksamen Aufhebungszauber zu sprechen. Doch Ian vereitelte sein Tun, indem er den Entwaffnungszauber wirkte. Voldemort wurde für einen Moment kalt erwischt, als sein zauberstab aus der Hand geschossen wurde. Doch mit einem konzentrierten "Accio zauberstab", brachte er seinen Stab wider in die Hand. Gleichzeitig polterten zehn überlebensgroße Gestalten in den Bücherraum hinein: Golems!

"Vanesco Omnia meum!" Rief O'Sullivan, der seinen Stab auf den ersten Bücherschrank richtete. In einer farbigen Lichtentladung verschwanden alle Bücher. Die Golems griffen inzwischen die zehn Ebenbilder Beryl Corners an, die doch aus greifbarer Substanz zu bestehen schienen, die selbst den irdenen Sklaven, die ansonsten nicht mit Sinnestäuschungszaubern zu beeindrucken waren einen kurzen aber aussichtslosen Kampf boten. Voldemort wollte schon den tödlichen Fluch auf O'Sullivan loslassen. Doch da fiel ihm ein, daß der Verschwindezauber volständig wirkte, wenn der, der ihn aufrief starb. Wenn er die Bücher haben wollte, so mußte er den Iren foltern oder unter den Imperius-Fluch nehmen.

"Macht sie fertig und bringt mir das Buch", sagte Voldemort. Die Fremde hatte das Buch offenbar noch, weil es sonst bei allen Ebenbildern verschwunden wäre. Ian starrte wie der ungebetene Besucher auf das Schauspiel, wie zehn steinerne Ungetüme gegen zehn heraufbeschworene Abbilder kämpften, die schnell und nicht gerade schwach waren. Nur zaubern konnten sie wohl nicht, obwohl sie Zauberstäbe in den Händen hielten. Ja, ein Golem wurde regelrecht von einem solchen Stab aufgespießt. Das Monstrum erzitterte, krümmte sich ächzend zusammen und glühte auf, bis es hellrot wie aus einem Vulkan ausströmende Lava glühte und eine mörderische Hitze verströmte. Da wußte Voldemort, was die Gegnerin angestellt hatte. Decauxiliarus, ein mächtiger Zauber, der eine Truppe aus zehn Ebenbildern mit aller Kleidung und Gegenständen erschuf, die zehnmal so schnell und stark wie ihr Original waren. Das war ein wahrer Meisterzauber, dessen Vorbereitung eine Stunde dauerte und bis zum Zeitpunkt, wo er gebraucht wurde in einem hochwertigen Edelstein konzentriert wurde. Gelang es einem solchen Ebenbild, mit einem Körperteil oder vervielfältigten Objekt in ein magisch durchdrungenes Objekt oder Wesen einzudringen, wechselwirkten sie miteinander und erzeugten eine unwiderstehliche Hitze. Das konnte Voldemort daran sehen, das große, hell glühende Tropfen von seinem erhitzten Golem herabtropften wie Schweißperlen, immer mehr. Der Golem schmolz wie Kerzenwachs. Dabei sackte er immer mehr in sich zusammen. Ähnliches begann nun auch bei den anderen Golems. Alle zehn Gegner wurden von Zauberstababbildungen durchdrungen. Dann müßte doch die Hexe, die sich selbst auf diese Weise vervielfältigt hatte frei stehen. Doch war nicht mehr da. Voldemort erstarrte für einen Moment. Auch Ian O'Sullivan blickte handlungsunfähig auf das sich ihnen bietende Schauspiel. Die glutheißen Tropfen von den Körpern der Golems trafen auf den Boden und bildeten feurige Pfützen, die immer größer und heißer wurden. Ian wußte, was gleich passieren würde. Voldemort sah ihn haßerfüllt an und brüllte:

"Du bist mein Gefangener! Incarcerus!" Doch als dicke Seile aus seinem Zauberstab herausschnellten, loderte gerade ein Feuerteppich am Boden auf. Die Gase über dem glutflüssigen Material hatten die Zündtemperatur erreicht. Ebenso loderten die Golems selbst auf, bevor sie mit lautem Knall in Wolken aus schwarzem Qualm und roten Funken explodierten. Ian stand jedoch ganz ruhig da. Selbst als die heraufbeschworenen Seile ihn einzuschnüren versuchten, machte er keine Abwehrbewegung. Doch die Seile glitten kraftlos vom Körper des Iren ab. Auch die auflodernden Flammenzungen berührten ihn nicht, sondern loderten um ihn herum nach oben, erst ein paar Zentimeter, dann bis zu den Knien, dann höher. Voldemort fühlte, wie die sengende Hitze ihm zu schaffen machte. Er glaubte, zu träumen. Erst jetzt kam er auf die Idee, den Flammengefrierzauber zu wirken. So nahm er seinen Zauberstab herunter und belegte sich mit dem nützlichen Zauber, der vor Feuerschaden schützte. Warum hatte er O'Sullivan nicht fesseln können? Warum tat ihm das glutflüssige Material nichts? Der dunkle Lord trat zurück. Der Raum brannte nun immer stärker. Dichter, weißer Qualm füllte ihn aus.

"Zu heiß für dich, Tom Riddle, wie?! Hättest in Hogwarts besser auch die nützlichen Elementar- und Angriffsschutzzauber lernen sollen", verhöhnte ihn der Ire. Jetzt sah der böse Hexer, daß eine kaum sichtbare Aura den Leib des alten Magiers umgab, ihn von den Zehen bis zum weißen Haarkranz vor Glut und Qualm schützte.

"Wo ist das Weib, daß das Buch in der Hand hatte?!" Rief er.

"Die hat sich bestimmt unsichtbar gemacht, Tom Riddle", sagte O'Sullivan. Daß er vorher Angst gehabt hatte war ihm jetzt überhaupt nicht mehr anzumerken. Das irritierte Voldemort. Er sah den Zauberer an und rief mit heiserer Stimme:

"Das bringt ihr nichts. Ich finde sie!" Doch zunächst belegte er sich mit dem Kopfblasenzauber, um frische Luft zu bekommen. Dann suchte er mit dem Lebensquellfinder in den Flammen nach einer Spur. Vergeblich. Wenn diese Hexe sich unsichtbar und mit einem ähnlich starken Elementarschutz versehen hatte wie Ian oder Voldemort, dann hätte er sie trotzdem sehen müssen. Er riss den Zauberstab zurück, als eine Flammengarbe auf ihn zuschnellte. Ihr Aufprall fühlte sich für ihn wie ein Schlag mit einem erhitzten Hammer an. Doch mehr passierte nicht.

"Sie ist nicht mehr im Raum!" Knurrte Voldemort. Wie hatte sie sich davonmachen können, wo das ganze Haus von einem Apparitionsunterdrückungszauber getränkt war?

"Mach dich besser aus dem Staub, bevor dir der Bodenunter den Füßen wegschmilzt und du einsinkst. Dann nützt dir dein Flammengefrierzauber nichts mehr!" Höhnte der alte O'Sullivan.

"So, warum sinkst du dann nicht ein", drang Voldemorts Stimme wie aus einem übergestülpten Glasgefäß durch das Tosen der Flammen.

"Das ist mein Haus. Alles was hier passiert kann mir nichts tun. Du hättest mich töten sollen als du konntest, Tom Riddle."

"Niemand, der mir nicht dient darf meinen vermaledeiten Geburtstnamen kennen", schnarrte Voldemort, und es klang so hohl und unwirklich durch seine Kopfblase.

"Dann sprich doch deinen Todesfluch, bevor meine Bibliothek mit dir zusammen verglüht", feixte O'Sullivan. Er stand immer noch an derselben Stelle, unberührt von heißer Glut und Feuerzungen, unbeeinträchtigt von Hitze und Rauch.

"Ich komme wieder, Flohsack!" Brüllte Voldemort gegen ein nun aufloderndes Flammenmeer an, vor dem er zurücksprang. Er wußte, daß er seinen Zauberstab nicht weiter als einen halben Meter aus der schützenden Flammengefrieraura hrausstrecken durfte, wollte er nicht haben, daß dieser wie Zunder verbrannte. So blieb ihm nur der schnelle Rückzug. Verfolgt und umtobt von den sich weiter ausbreitenden Feuermassen eilte er ohne seine Golems aus dem Haus.

"Ich werde Alcara Beine machen, seine Feuergolems zu vollenden, mit denen er geprahlt hat. Dann komme ich wieder und hole mir alles. Aber wo ist dieses verdammte Flittchen, das die Abbilder gezaubert hat?" Dachte er, während die Feursbrunst ihn aus dem Haus trieb. Überall wo brennbares Material im Weg lag fauchten und prasselten neue Feuer los. Voldemort sprang durch die von seinen Golems eingerissene Wand hinaus, gegen den Sog ankämpfend, den das nach Sauerstoff gierende Inferno erzeugte. Dann war er draußen, hastete zu einem bunten Teppich, auf dem ein untersetzter, leicht ergrauter Mann mit wettergegerbter Haut saß, der ein blaues, wallendes Gewand trug.

"Ich fürchtete schon, ihr würdet dem Brand zum Opfer fallen", begrüßte ihn der Mann auf dem Teppich mit schwer hervorgebrachter Ehrerbietung.

"Deine Golems haben dieses Feuer ausgelöst, Ismael", knurrte Voldemort, der nicht glaubte, daß der Mann auf dem Teppich sich ernsthaft um ihn gesorgt hatte.

"Aber die Bibliothek", sagte Alcara, so hieß der Zauberer.

"Der Flohsack hat sie verschwinden lassen, bevor das Feuer ausbrach. Eine Ffreche Hexengöre hat mit einem vorbereiteten Verteidigungszauber deine Golems aufglühen und zerplatzen lassen. Danach brannte alles. Los, weg von hier!"

"Öhm, dann lebt dieser O'Sullivan nicht mehr?" Wollte Alcara wissen.

"Er steht wie der Fels in der Brandung und wartet, bis sich die Elemente um ihn herum ausgetobt haben. Ich komme später wieder und hole ihn mir."

"Er wird doch nicht hierbleiben", sagte Alcara.

"Der Kerl ist ein Einsiedler und hat sein Haus zur Festung umgebaut. Deine Golems mußten zweimal gegen eine Wand stürmen, bevor wir hinein konnten. Kein Türöffnungszauber wirkte. Der flieht nicht."

"Wie du befiehlst, Lord Voldemort", sagte Ismael Alcara und kommandierte seinen Flugteppich, abzuheben.

"So, der ist weg", dachte O'Sullivan, als er mit einem vorbereiteten Zauber erkundet hatte, ob in dem von ihm abgesteckten Umkreis noch jemand war. Dann hob er seine Arme mit dem Zauberstab und sang eine Formel, die lauter war als das tosende Feuer. Dieses flackerte wie eine von einem heftigen Windstoß angeblasene Kerzenflamme, ruckelte vor und zurück. Dann erloschen die Flammen unter einem laut durch alle Räume heulenden, eiskalten Wind.

"Das werden mir diese Laveau-Besserwisser bezahlen, was das Feuer zerstört hat. Mich derartig zu beleidigen und zu beklauen. Hey, Mädchen, wo bist du mit meinem Buch hin?!" Doch er bekam keine Antwort. Dann fühlte er, wie ihm die Kräfte schwanden. Er hatte zu lange die Druidenwehr hochgehalten, die ihn gegen die Gewalten der vier Elemente geschützt hatte und dann noch das Lied der sterbenden Flammen zu singen, wie es die mächtigsten Druiden gegen Waldbrände benutzten, hatte seinem alten Körper den Rest von Tagesausdauer gekostet. Er brach zusammen. Dabei tauchten die fortgezauberten Bücherregale mit ihrem Inhalt wieder auf.

Beryl Corner hatte schnell reagiert. Erst hatte sie den Smaragd mit dem Decauxiliarus-Zauber in der linken Umhangtasche berührt und dabei das Auslösewort gedacht, worauf der Stein unter ihren Fingern einschrumpfte und ihr dabei durch die Haut drang wie Wasser in einen Schwamm. Als dann ihre zehn vorübergehenden Ebenbilder erschienen waren hatte sie sich schnell bewegt wie diese, damit der Feind nicht mehr zwischen Echt und falsch unterscheiden konnte. Als Voldemort dann wie O'Sullivan auf den aufglühenden Golem sah, hatte sie den zweiten vorbereiteten Rettungszauber benutzt, der in einem kleinen Diamanten gespeichert war, der am Ring an ihrer rechten Hand steckte. Dieser ließ sie unsichtbar und flüchtig werden wie einen Geist, aber nur für zehn Sekunden. Diese reichten ihr jedoch völlig aus, um durch reine Gedanken an Fortbewegung durch die nächste Wand zu gleiten, das Haus zu verlassen und in sichere Entfernung zu gelangen, bevor das Feuer im Haus endgültig alle Aufmerksamkeit von ihr ablenkte. Als sie wieder sichtbar und stofflich wurde eilte sie davon, bis sie disapparieren konnte.

sie apparierte in der Winkelgasse zu London, wo sie den tropfenden Kessel aufsuchte, wo sie sich mit ihren Verwandten traf. Das Buch lag nun in ihrer großen Practicus-Tragetasche.

"Hast du was finden können?" wurde sie gefragt.

"Kann sein. Aber ich darf darüber nichts sagen. Mein Chef und meine Ausbilderin haben mir eingeschärft, daß ich keinem erzähle, was ich finde oder nicht, damit ich niemanden in Gefahr bringe."

"Aha, und jetzt?" Wurde sie gefragt.

"Jetzt reise ich nach Hause. Ich habe meine Abreise von Paris aus angemeldet. Euer Grenzposten ist mir etwas zu teuer."

"Dann mach's gut, Beryl. Schön, daß du uns besucht hast. Grüße mir deine Ausbilderin", sagte ihre Tante noch. Ihr Onkel nickte zustimmend. Beryl verließ den tropfenden Kessel, ging ein paar Schritte und disapparierte zwischen zwei eng beieinanderstehenden Häusern, als sie sicher war, daß man sie nicht sehen konnte. Sie apparierte in Paris in der Rue de Camouflage, wo sie den kreisförmigen Platz aufsuchte, von wo aus sie die Reisesphäre aufrief, deren Handhabung ihr Jane Porter beigebracht hatte. In New Orleans angekommen meldete sie sich bei dem für die Reisesphäre zuständigen Zauberer zurück und apparierte im Besenhangar des Institutes, von wo aus sie mit einem der dortigen Harvey-Besen zum Laveau-Institut zurückkehrte.

Sie zog sich in ihr eigenes Büro zurück, in dem noch der Hauch neuer Möbel zu atmen war und Familienbilder ihrer näheren und ferneren Verwandtschaft den Schreibtisch und die Wände zierten. Sie holte das Buch heraus und dachte daran, es hier und jetzt zu studieren. Doch halt! Sie mußte erst Elysius Davidson sagen, was sie gefunden hatte.

Der Chef des Marie-Laveau-Institutes war jedoch nicht anwesend. So verließ sie das Bürogebäude und ging hinüber in das Gebäude für Ausrüstung und Vorräte. Schon von weitem hörte sie das Sirren und Klingen, dann einen lauten Knall und ein Schimpfwort, das ihrer Mutter die Schamröte ins Gesicht getrieben hätte. Sie trat vor die aus verstärktem Stahl bestehende Tür mit der roten Aufschrift:

"Labor für magische Ausrüstung! Warnung, nur nach ausdrücklicher Eintrittserlaubnis betreten! Zuwiderhandlung kann zu unbestimmbarer Eigengefährdung führen."

Beryl legte ihre rechte Hand auf die grün Markierte Stelle rechts von der Tür, worauf ein kurzes, durchdringendes Summen von drinnen zu hören war. Der, der gerade so unanständig geflucht hatte knurrte kurz, machte sich dann hörbar an irgendwelchen Dingen zu schaffen und rief dann: "Eintritt gewährt! Bitte reinkommen!" Es klickte kurz in der Tür. Beryl zog an dem Türgriff ohne Knauf und Klinke und öffnete die schwere Tür.

Der Raum war kreisrund, durchmaß zwanzig Meter und war vier meter hoch. an den Wänden lehnten Metallregale, Schränke und Glaskästen, die vom Boden bis knapp unter die aus Granit gebaute Decke reichten. Mehr innerhalb des Raumes standen lange Steintische, auf denen Pergamentschnipsel, Glaskolben und unbestimmbare Teile, die zu irgendwelchen Gerätschaften gehören mochten. Metallstücke aus Eisen, Silber und Gold lagen in den Regalen. An einer Seite des Raumes lehnte ein ziemlich ramponiert aussehender Besen, den irgendwer mit Goldlack überzogen hatte.

"Hi, Quinn, immer noch die Versuche, den Besen mit Transitionszauber zu bauen?" Fragte Beryl Corner den mittelalten Zauberer mit dem schwarzen Struwelhaar, der in einen silbrig glänzenden Umhang gehüllt war.

"Fast hatte ich den soweit. Dann hätten wir einen sprungfähigen Besen gehabt. Aber das Verhältnis Holz und Metall stört immer noch. Ich war froh, daß der mir nicht durch die Wand geschossen ist", sagte der Mann sichtlich aufgebracht. Dann machte er eine ruhige Miene, deutete auf die Tür, die von selbst ins Schloß fiel. "Was führt unsere jüngste Außendienstmitarbeiterin in mein bescheidenes Arbeitszimmer?" Er lächelte sie herausfordernd an.

"Ich mußte einen deiner Decauxilarius-Steine und den Fluchtflüchtigkeitsstein verbraten und hätte gerne Ersatz", sagte Beryl.

"Toll, einen Diamanten und einen Smaragden verheizt. Und dabei sage ich euch allen, ihr sollt die Sachen, die ich euch gebe nur im Notfall verwenden oder bei Nichtgebrauch zurückgeben."

"Denkst du, es wäre kein Notfall gewesen?" Knurrte Beryl. "Ich bin in Irland mit diesem Wahnsinnigen zusammengerasselt, der sich Lord Voldemort nennt. Der hatte zehn Golems bei sich. Golems, Quinn! Kannst du sowas auch bauen?"

"Wenn ich das arabische Handbuch wiederfinde, wo das drinsteht. Aber wir brauchen ja keine Golems. - Ups, hat dieser Spinner echt Golems bei der Hand?"

"Guten Morgen, Mr. Quinn Hammersmith! Das habe ich gerade gesagt", knurrte Beryl. Dieser Laborzauberer brauchte manchmal echt lange, bis er neue Informationen ordentlich sortiert hatte, als wäre sein Gehirn ein risiges Labyrinth, durch das die Wörter erst einmal durchlaufen mußten, bis sie an der richtigen Stelle ankamen.

"Oh, dann sollte ich Golem- Ex-Kugeln bauen oder eine Lizenz für Incantivacuum-Kristalle beantragen. Damit können wir die noch schneller ausradieren."

"Der Hilfstruppenstein hat das auch besorgt. Die glühten auf. Ich vermute, die sind dann explodiert. Aber da bin ich mit dem Fluchtflüchtigkeitszauber schon abgehauen."

"Warum bist du nicht disappariert?" Fragte Quinn.

"Weil der Zauberer, bei dem ich war schlauerweise einen Apparitionswall hochgezogen hat. Zumindest konnte ich diesem Irren noch entwischen. Danke für die netten Spielsachen! kannst du mir ein paar neue geben?"

"Du kennst das Spiel, Beryl. Wenn wir neue Edelsteine einkaufen kostet das viel Geld. Deshalb muß ich der Buchhaltung eine begründete Einkaufsliste zukommen lassen, an der Berichte derer dranhängen, die die betreffenden Steinchen gehabt und verbraucht haben. Also schreibe mir bitte erst deinen Bericht, in der nüchternen Form, wie die in der Buchhaltungdas lesen wollen! Den gibst du mir, und dann sehe ich mal, ob ich noch ein paar Steinchen zum bezaubern habe. Aber die gehen sehr gut, nicht wahr?"

"Das siehst du daran, daß wir uns gegenseitig noch auf die Nerven gehen können, Quinn. Gut, dann baue ich mir die entsprechenden Dinger selber. In fortgeschrittener Zauberkunst bin ich ja bei der letzten Prüfung mit Bestnote rausgekommen.""

"Neh, so nicht, Mädchen. Da könnte ja jeder herkommen und die nötigen Zaubersachen selber machen. Abgesehen davon, daß die benötigten Speicherjuwelen bestimmte Formen und Qualitäten besitzen müssen hättest du beim Außendienst keine Ruhe, um die nötigen Zauber draufzulegen."

"Sieh an, der Herr hat Angst um seinen Job."

"Hättest du auch, wenn dir so'n Amateur sagt, daß er die bösen Zombies, Vampire und Schwarzmagier selber jagen geht."

"Bestimmt nicht, weil der dann vielleicht nicht lange genug lebt", erwiderte Beryl schlagfertig. Doch Quinn reagierte für ihn ungewöhnlich prompt darauf.

"Genauso verhält es sich mit meinen Hilfsmitteln. Wer das nicht ordentlich gelernt hat und die nötige Zeit und Muße dafür findet, könnte sich glatt aus der Welt schleudern. Den könnte nicht einmal der geniale Mr. Patch wieder zusammenflicken. Also schreibe mir bitte deinen Bericht und gib ihn mir. Nächste Woche kannst du dann die neuen Sachen abholen."

"Erfinde mal einen Bürokratieauslöschungszauber und lass den in der Buchhaltung los!" Konterte Beryl genervt. Quinn nickte und meinte:

"Ich arbeite daran. - Aber kuck mal hier, das ist bestimmt billiger als die Edelsteinartefakte", sagte er und öffnete einen der Glaskästen, um einen kleinen Kessel herauszuholen, in dem eine silbern schimmernde, ziemlich glibberige Substanz enthalten war. "Mein Prätentionsplasma, garantiert aus rein organischen Materialien. Ein Gramm genügt, und du kannst deine Gegner richtig gut zur Verzweiflung bringen."

"Bitte was soll das zeug sein und tun?" Fragte Beryl, die neugierig war, was man mit einem Gramm eines magischen Schleims anstellen konnte.

"Du nimmst es in einer Glaskugel mit. Wenn du angegriffen wirst oder ein gutes interaktives Ablenkungsmanöver durchführen möchtest, hältst du den Zauberstab an die Kugel, stellst dir ein dem Feind angriffslustig begegnendes Wesen vor, wartest zwei Sekunden, bis die Kugel sich zu erwärmen beginnt und wirfst sie in die Richtung, aus der du angegriffen wirst. Ich führe dir das mal vor." Er nahm einen winzigen Löffel, schöpfte damit etwas von dem zähflüssigen Zeug aus dem Kessel, füllte es in eine kleine Glasphiole, verschloss diese mit einem Wachskorken und berührte sie mit seinem Buchenholzzauberstab. Er schien sich dabei auf etwas wichtiges konzentrieren zu müssen. Dann wartete er ein paar sekunden und warf die Phiole vor Beryls Füße. Die Phiole zersprang, und mit dumpfem Plopp stand Ernestine Wright, die Schulleiterin von Thorntails vor ihr, angetan in einen blauen Umhang und sie böse anblickend.

"Wie oft habe ich Ihnen gesagt, daß Zauberduelle in den Korridoren nicht erlaubt sind, junge Dame? Was fällt Ihnen ein, Ihrer Klassenkameradin Haarversteifungslösung über den Kopf zu schütten?! Wie sehen Sie eigentlich wieder aus?!" Feuerte die heraufbeschworene Doppelgängerin einen heftigen Tadel nach dem anderen ab.

"Das läuft jetzt fünf Minuten lang, oder bis jemand meint, die Plasmakreatur mit dem Todesfluch anzugreifen. Das würde ich aber keinem empfehlen", sagte Quinn mit schadenfrohem Grinsen, während die aus der Phiole gezauberte Professor Wright immer lauter schimpfte und drohend ihre Hände bewegte. Beryl nahm den Zauberstab und rief: "Silencio!" Es gluckerte einmal. Dann sprach Professor Wright weiter. "Stupor!" Rief sie. Der Schocker traf, brachte das Kunstgeschöpf zum wackeln, richtete aber nicht mehr an. Dann rief sie "Avada Kedavra!" Der grüne Todesblitz sirrte los, traf ... Peng! Mit einem überlauten Knall zerplatzte die heraufbeschworene Kopie von Professor Wright in einer Wolke aus grünlich-gelbem Dampf, der sofort den ganzen Raum ausfüllte und unvermittelt in Beryls Augen, Nase und Mund brannte. Sie hustete und sog dabei noch mehr von dem Brodem ein, der aus der explodierten Professorin geworden war.

Ein wilder Wind kam auf und vertrieb die ätzenden Nebel so schnell wie sie gekommen waren. Quinn, der sich seinen silbernen Umhang vors Gesicht gehalten hatte, blickte Beryl sehr schadenfroh an. Dann sagte er: "Genau das passiert, wenn jemand eine Prätentionsplasmaprojektion mit dem tödlichen Fluch trifft. Alle darin enthaltenen Komponenten verwandeln sich sofort in eine ätzende, bei längerem Einatmen auch giftige Gasmischung. Zum Glück ist der Raumentgasungszauber schnell genug angesprungen. Aber wenn du meine Erfindung in den Einsatz mitnimmst würde ich dir empfehlen, möglichst gegen die Windrichtung zu flüchten, bevor dein Gegner ebenfalls mit dem grünen Todesblitz darauf einflucht.

"Öchm-öchm! Sch-on Hömm-ömm, heftig", röchelte Beryl. "Dann würde ich aber vorher beim Ministerium nachfragen, ob du diesen Gaukelglibber echt benutzen darfst."

"Prätentionsplasma, bitte sehr", widersprach Quinn. "Ich könnte dir noch so viel zeigen. Aber im Moment drängt mein Zeitplan. Morgen soll ich nach Washington, um mich über dieses ominöse Feuerschwert schlau zu machen, das dein Rendezvouspartner von heute benutzt haben will."

"Rendezvous? Ich gebe dir gleich deinen Gaukelglibber zu essen, Quinn. Aber ich weiß ja nicht, was dann mit dir passiert. Vielleicht machst du dann ja auch peng. Und du bist keine lebenslängliche Haft in Doomcastle wert."

"Ja, aber einen Decauxilarius-Stein und einen Fluchtflüchtigkeitsstein", konterte Quinn. "Wenn du mir deinen Bericht heute noch vorbeibringst oder mit der Rohrpost zuschickst hast du die Wunderklunker nächste Woche schon."

"Wie du meinst", grummelte Beryl und ließ den Ausrüstungszauberer in seiner Verrücktheitenfabrik alleine.

Sie setzte sich in ihr Büro und überflog das Buch, nachdem sie sich erneut gegen die darin steckenden Verwirrzauber immunisiert hatte. Eine Stunde lang las sie, was Dairon vom Düsterwald alles angestellt hatte, um so mächtig zu werden wie er in die Geschichte einging. Dann fand sie ein Kapitel, daß über wahre Erzeugnisse der Macht Dairons berichtete und vergaß für einige Zeit alles um sich herum. Sie las mit zunehmendem Unbehagen, daß Dairon einen Gürtel gefertigt hatte, der durch ihm geopferte Leben unschuldiger Menschen gegen Dutzende Todesarten schützte, egal wie oft man damit bedroht wurde. Auch las sie von einem Kristallkörper, der alle unsichtbaren Dinge und Wesen sichtbar machte und der "Auge der Enthüllung" genannt wurde. Doch am stärksten beunruhigte sie der Bericht über ein Medaillon aus fünf Metallen und einem Rubin, der die Eigenschaften besitzen sollte, die Seelen unmittelbar getöteter Gegner einzusaugen und deren gesammeltes Wissen und Können dem zur Verfügung zu stellen, der das Medaillon trug. Damit habe Dairon sich einen großen Teil seiner Macht auf Erden erstritten. Eine jähe Erkenntnis ließ sie auffahren und das Buch zuschlagen, worauf knisternde blaue Funken zwischen den Seiten heraussprangen und in der Luft zerstoben.

"Vielleicht kann man damit die eigene Seele einlagern, bevor man stirbt, wenn man weiß, daß man stirbt, oder es so einrichten, daß die Seele sofort nach dem Tod dort eingelagert wird. Womöglich muß nur ein Zauber gewirkt werden, der die eigene Willensfreiheit bewahrt, damit man nicht vom Träger des Medaillons kontrolliert wird ... sondern ihn oder sie kontrolliert. Wenn dieses Ding dann auch noch unzerstörbar ist, ist es besser als ein Horkrux", dachte Beryl. Beryl erbleichte. So war es ihr gelungen. Wenn diese Wiedergekehrte, von der Jane Porter gesprochen hatte, dieses Buch oder ein anderes mit ähnlichem Text gelesen und daraufhin das Medaillon gefunden hatte, dann hatte sie den eigenen Tod überdauern können. Womöglich war es auch möglich, eine eingelagerte Seele freizugeben, ja sie in einen vorbereiteten Körper hineinzutreiben. Sie nahm noch einmal das Buch. Da fiel ihr auf, daß sie den Selbstschutzzauber durch das Zuklappen des Buches beendet hatte. Ihn jetzt noch einmal zu wirken würde sie an den Rand der Erschöpfung bringen. Deshalb beschloß sie, das Buch wieder einzupacken. Sie wollte mit Davidson reden oder mit Jane Porter. Doch die beiden waren immer noch nicht da. Jane Porter war in den Wäldern der Nordstaaten unterwegs, weil dort besagte Sabberhexen hausen sollten. Davidson saß mit hochrangigen Leuten des Ministeriums in Washington zusammen. Aber sie mußte es jemandem erzählen, was sie herausgefunden hatte. vor Davidsons Büro traf sie Ardentia Truelane, die gerade von einer Reise nach Haiti zurückgekehrt war. Dort hatte ein böswilliger Voodoo-Meister versucht, eine Armee von Zombies aufzustellen, Selbstversorger, die sich durch Beißen und Kratzen lebender Menschen vermehrten.

"Na, hat dich wer gut durch die Gegend gehetzt?" Wollte Ardentia wissen.

"Der Irre, der sich Lord Voldemort nennt. Der hat eine Truppe echter Golems dabei gehabt. Bin froh, daß ich da noch wegkam", sagte Beryl, froh, mit einer Kollegin über ihren Tag reden zu können. Sie gingen in die hauseigene Kantine, wo zur Zeit Kollegen des Innen- und Außendienstes beim Essen saßen und miteinander über die Sachen plauderten, die Davidson nicht als Abteilungsinterna oder streng geheim eingestuft hatte. Die beiden noch jungen Hexen sprachen über ihre Erlebnisse. Als Beryl erwähnte, daß sie zumindest dieses eine Buch hatte sicherstellen können fragte Ardentia behutsam, was an Dairons Lebensgeschichte noch so überragend neues zu finden sei. Beryl erzählte, daß es immerhin ein kompaktes Verzeichnis über das Leben und die Macht dieses bösen Druiden war und bereits vor Jahrhunderten geschrieben worden sein mußte, so daß jemand, der vor mehreren Jahrhunderten schon gelebt habe es durchaus hätte lesen können.

"Vor Jahrhunderten? Jane hat sich also wirklich auf diese Wiederkehrer-Theorie eingeschossen?" Fragte Ardentia leicht belustigt. "Ich kann mir nicht vorstellen, daß jemand es schafft, den eigenen Tod in einer anderen Form als als Geist zu überdauern und dann, irgendwann, heute, zurückzukommen. Oder steht da in dem Buch was drin, was das möglich machen soll?"

"Hmm, könnte ich dir jetzt erzählen ob oder ob nicht. Aber ich will warten, bis Davidson das selbst gelesen hat und befindet, wer das alles wissen darf. Nichts für ungut, Ardentia. Aber man hat dich nicht in die Suche einbezogen und ich bin noch zu frisch, um Sachen rauszulassen, die womöglich innerhalb einer Arbeitsgruppe bleiben müssen."

"Dann hättest du mir das mit dem Buch erst gar nicht erzählen dürfen, Beryl", erwiderte Ardentia leicht verlegen. "Denn allein daß es existiert könnte schon Anlaß für Ärger sein. Du hast das ja sofort mitgekriegt, daß dieser Spinner Voldemort es wohl auch gesucht hat."

"Bei dem Zauberer, der es mir gezeigt hat lagen so viele alte Bücher rum. Da weiß ich nicht, ob dieser Massenmörder wirklich dieses eine gesucht hat oder einfach darauf gesetzt hat, interessante Informationen zu finden, die seinen Größenwahn weiter aufblasen und noch viel mehr Menschen das Leben kosten können."

"Ja, zum beispiel dem, dem du das Buch, ähm, verwahrt hast", sagte Ardentia.

"Der hat den Wertsachenverschwindezauber aufgerufen. Damit war er für den Verbrecher lebend zu wertvoll. Könnte zwar sein, daß das Feuer ihn getötet hat, aber das glaube ich nicht. Mein Onkel meinte, wenn es einen gäbe, der Fluten, Stürmen und Feuersbrünsten leichter widerstehen könne ... Neh, Ardentia, den Namen sage ich dir besser nicht."

"Als du auf deine innere Tiergestalt hin getestet wurdest, um rauszufinden, ob du eine unauffällige Animaga werden könntest, da warst du doch kein Huhn oder was?" Erwiderte Ardentia keck und grinste schulmädchenhaft.

"Wieso Huhn?" Fragte Beryl.

"Weil du die ganze Zeit gackerst, aber keine Eier legen willst, Beryl. Ich ging eigentlich bisher davon aus, daß Jane Porter und ich uns gegenseitig vertrauen können. Immerhin konnte ich ihr und dem Jungen Julius helfen, seinen Vater zu finden."

"Ja, und den Jungen hast du so gut versteckt, daß diese Hallitti ihn mühelos aufspüren und in ihre Gewalt bringen konnte", feuerte Beryl eine etwas überzogene Gegenbemerkung ab. Ardentia verzog das Gesicht verärgert. Dann nickte sie sachte.

"Ich wußte nicht, daß die meine Fernfluch-Abwehr durchdringen und den Jungen in Panik aus dem Haus treiben konnte. Das kann passieren, wenn man es mit einem Feind zu tun hat, den man nicht gründlich genug erforschen konnte."

"Ja, stimmt schon, Ardentia. Aber an und für sich solltest du den Jungen ja nach Frankreich bringen, hat Madame Porter mir erzählt."

"Was ich auch gemacht hätte, wenn Pole nicht alle Fernverkehrswege zugemacht hätte und ich beim kleinsten Apparieren von Swifts Leuten erwischt worden wäre. Also hör bitte auf, mir für den Ärger die Schuld zu geben, den der Junge hatte. Nachher willst du mir noch einreden, ich hätte was mit diesen Hexen zu tun, die ihm geholfen haben sollen."

"Was heißt hier sollen?" Fragte Beryl. "Der Junge hat sie gesehen, und alleine gegen eine Abgrundstochter, noch dazu in ihrer magischen Zuflucht, kam er bestimmt auch nicht an. Aber wo du's erwähnst, Ardentia, Jane meinte, daß irgendwer die Informationen weitergegeben haben könnte, wo das Versteck der Abgrundstochter war."

"Ja, Davidson, weil er Leute hingeschickt hat und das Ministerium Pole sofort die Strafverfolgungstruppe auf ihn angesetzt hat. Ich will nicht ausschließen, daß Pole zu der Zeit mindestens einen Maulwurf im Garten hatte. Aber jetzt zu behaupten, wir hätten ein Maulwurfproblem, das gäbe hier nur böses Blut. Denn so gesehen könnte unsere gemeinsame Wegführerin Jane Porter ja auch diese Hexenschwestern in Marsch gesetzt haben." Das schlug Beryl wie mit einer Faust ins Gesicht. Sie starrte Ardentia mit einem Ausdruck großer Fassungslosigkeit an. Ihre Gedanken überschlugen sich. denn sogesehen wäre das auch eine Möglichkeit, warum diese Hexen zur richtigen Zeit am richtigen Ort eintreffen konnten. Aber Jane Porter? Die konnte doch unmöglich eine Anhängerin einer nicht ganz astreinen Schwesternschaft sein. Ardentia, das wußte Beryl, hatte Verwandte, die ihr wohl angeboten hatten, daß sie in eine entsprechende Gruppe aufgenommen wurde. Das sagte sie auch Ardentia.

"Aha, also bin ich natürlich verdächtig und unsere Wegführerin nicht", sagte Ardentia sichtlich ungehalten. "Das kommt davon, wenn man die bestehenden Kontakte zum Nutzen des Institutes ausnutzen will. Gut, verstehe, daß die Frage im Raum hängt und da die wüstesten Spekulationen ins Kraut schießen. Aber so wie du eben gekuckt hast konntest du es nicht grundsätzlich verwerfen, daß Jane Porter die Informantin dieser Hexen in Weiß waren."

Beryl überlegte. Das die Hexen in der Höhle weiße Kleidung getragen hatten wußte sie nicht. Woher wußte Ardentia das. Das fragte sie auch noch. Ardentia sah sie leicht verstört an, als verstehe sie nicht, warum Beryl das nicht wußte. Dann sagte sie:

"Jane hat mir das erzählt, daß der Junge die ja gesehen hat und die alle in Weiß herumliefen. Die Anführerin soll einen merkwürdigen Zauberstab gehabt haben, silbern oder so, hat mir Jane auch erzählt. Deshalb suchen wir ja jetzt die ganze Zeit nach einem Zauberstabmacher, der solche Stäbe herstellt, wofür zwanzig fremdsprachlich begabte Mitarbeiter um die Erde reisen."

"Ach deshalb sind die unterwegs", sagte Beryl rasch und überaus beeindruckt. Ardentia befand, daß Beryl sie und sich wohl heftig vom eigentlichen Thema abgelenkt habe und fragte, ob Dairon vielleicht einen solchen Zauberstab besessen haben soll. Darauf hin befand Beryl, daß sie Ardentia zumindest erzählen konnte, daß Dairon mächtige Artefakte besessen haben soll, die das eigene Leben schützten und die Macht über fremde Seelen verliehen. Ob man damit den eigenen Tod überdauern könne stehe nicht darin.

"Wenn der Schmöker schon so alt ist kann ja auch nicht drinstehen, ob nach dem er geschrieben wurde noch irgendwer die Gegenstände gesucht hat", meinte Ardentia.

"Das stimmt und deshalb möchte ich genaueres erst erzählen, wenn geklärt ist, ob das glaubhaft genug ist, um danach zu suchen oder zu sagen, daß jemand diese Dinge wirklich hat und benutzt. Ich kläre das mit dem Boss und Jane."

"Dann solltest du das Buch aber solange gut wegschließen oder die betreffenden Passagen kopieren. Öhm, hat der, bei dem du es gefunden hast dir erlaubt, es mitzunehmen?"

"Nicht direkt. Aber ich befand, daß wir ein größeres Anrecht auf die darin enthaltenen Informationen haben. Falls er Voldemort überlebt hat könnte er sich demnächst melden. Bis dahin muß ich wissen, was mit dem Wälzer geschehen soll. Ich hoffe, Davidson kauft dem das Buch ab, damit es hier bei uns bleiben kann."

"Hängt davon ab, ob der, dem du es aus dem Umhang geleiert hast es verkaufen will oder es so hoch einschätzt wie sein eigenes Leben", sagte Ardentia Truelane. Das machte Beryl erschauern. Immerhin hatte Voldemort Ian O'Sullivan angegriffen, bestimmt nicht, um nur hinter alten Zeitungen herzujagen. Wäre sie nicht zufällig dort gewesen ... hätte der Wahnsinnige das Buch wohl in die Hände bekommen und den alten Kauz getötet. Der sollte sich also besser nicht beschweren, wenn ihm das eine Buch fehlte.

"Ich werde es gut fortschließen", sagte Beryl Corner. Ardentia nickte zustimmend.

Nachdem die beiden Hexen sich unterhalten hatten wollte Beryl das besagte Buch in enes der begehbaren Schließfächer im Sicherheitsraum des Institutes legen. Da würde es geschützt vor allen Aufspürzaubern und Einbrechern liegen, und nur sie könne da heran. Vorher versuchte sie aber noch einmal, Elysius Davidson zu treffen. Doch der war immer noch nicht zurückgekehrt. Wann Jane Porter zurückkehren würde stand auch nicht fest. So blieb ihr nur übrig, das Buch fortzuschließen und einstweilen Ruhe zu bewahren, bis einer der beiden wieder im Institut erschien.

Als sie den großen Stahlraum betrat, der die begehbaren Schließfächer enthielt, atmete sie auf. Dieses Buch war gewiß ein Menschenleben wert, wenn nicht noch mehr. Sie erinnerte sich daran, wie ein muggelstämmiger Schulfreund von ihr die Geschichten um den englischen Meisterdetektiv Sherlock Holmes verehrt hatte. Dieser sollte in einigen Geschichten behauptet haben, daß ein Edelstein Kern und Brennpunkt des Verbrechens sei, weil die Gier nach ihm Raub, Mord und Totschlag auslöse. Mochte es nicht auch für Bücher mit schrecklichen Geheimnissen gelten? Sie holte es aus ihrer Tasche und legte es in eines der Fächer. Sie drückte die tür von außen zu ... Plopp-plopp! Die Tür war noch einen winzigen Spalt geöffnet, als ein ungewohntes Geräusch sie innehalten ließ, das sich so anhörte, als klänge es sowohl in der Kammer als auch aus ihrer Tasche heraus. Sie zog die Tür wieder auf. Das Buch war verschwunden! In einem Anflug von Unbehagen blickte sie in ihre noch geöffnete Tasche ... und da lag es zwischen ihren übrigen Habseligkeiten.

"Verdammt!" Schnaubte sie, packte das Buch und warf es respektlos in die Kammer, hieb gegen die Tür, die jedoch nicht so schnell zuschlagen wollte. Plopp-lopp! Sie zog die Tür wieder auf. Das Buch war wieder verschwunden.

"Der sogenannte Flaschenteufel-Effekt", knurrte sie. "Man kann die Flasche nicht irgendwo stehen lassen", schnaubte sie. Sie kannte den Seemannsgarn von einem Wünsche erfüllenden Kobold, der in einer Flasche hauste und vom Teufel selbst auf die Erde gebracht wurde, um die Menschen zu verleiten, sich ihre größten Wünsche erfüllen zu lassen. Sie konnten diese Flasche nicht herumstehen lassen und weggehen und wenn sie sie weitergeben wollten mußten sie sie für weniger Geld verkaufen als sie selbst dafür bezahlt hatten. Wer dieses Gefäß nicht mehr verkaufen konnte dem drohte nach dem Tod die Hölle. Offenbar verhielt es sich mit diesem Buch ähnlich. Aber sie hatte noch einiges auf Lager, um diesem Anhänglichkeitszauber zu trotzen, der wohl auf die Sicherungszauber in diesem Raum ansprach. So schloss sie ihre Tasche, in der das Buch lag. Die Tasche war gegen den Aufrufezauber gesichert. Hieß das auch, daß nichts aus ihr herausgezaubert werden konnte? Sie legte die Tasche in das Schließfach und drückte gegen die Tür ... Ratsch-Plopp-plopp! Da fiel ihr das Buch genau auf die Füße. Sie zog die Tür wieder auf. Die Tasche lag noch darin. Der Reißverschluß war aufgegangen.

"Ich glaube, ich muß doch erst alle Flüche finden, die in dich eingearbeitet sind", grummelte sie. Wäre Jane jetzt hier, hätte sie kurzen Prozess gemacht und das Buch einem großen Fluchbrecherzauber unterzogen, auch auf die Gefahr, daß es dabei zerstört wurde. Doch sie wollte es Elysius Davidson zeigen und auch Jane Porter. Ja, und sie wollte auch, daß es in der gesicherten Bibliothek aufbewahrt werden konnte, falls Ian O'Sullivan nicht wider Erwarten überlebt hatte und auf die Rückgabe des verhexten Zauberbuches bestand. Offenbar Stieß sich der Zauber des Buches mit der einschließenden Magie des Schließfaches. Also mußte Beryl das Buch mitnehmen. Sie holte ihre Tasche wieder heraus, legte das anhängliche Buch hinein und schloß die Tür, ohne sie abzuschließen. Sollte jemand anderes dieses Fach benutzen. Sie verließ das Institut gegen acht Uhr Nachmittags. Durch die Zeitumstellung war sie nun schon achtzehn Stunden auf den Beinen und hörte ihr Bett schon nach ihr rufen. Sie flog mit einem der institutseigenen Besen zum Aufbewahrungsraum, von wo aus sie in ihre Wohnung bei Barstow apparierte. Dort angekommen überlegte sie, wo sie das Buch aufbewahren konnte, ohne daß es ständig bei ihr blieb. Sie betrat das Wohnzimmer und bewegte das Bücherregal ein wenig. Dahinter war ein geheimer Stauraum. Dort legte sie das Buch hinein und schloss ihn. Tatsächlich blieb das Buch dort. Offenbar wirkte dieser Anhänglichkeitszauber doch nur bei drohender Abschottung gegen Objektversetzungszauber und dergleichen. Beryl atmete durch. Sie hatte ein verfluchtes Buch im Haus. Nachdem sie "Winnies wilde Welt" erfolgreich losgeworden war, hatte sie ein womöglich brisanteres Zauberbuch bei sich untergebracht, das ihr nicht gehörte, und dessen Inhalt einigen bösartigen Zeitgenossen einen Mord wert sein konnte. Vielleicht sollte sie es jetzt, wo sie wußte, daß sie es in einem nichtmagischen Geheimfach unterbringen konnte, in einem X-beliebigen Bankschließfach der Muggel deponieren. Bis Davidson sich dafür interessierte mochte es dort genauso sicher sein wie in den Schließfächern des Institutes. Doch halt! Sollte diese Bank überfallen werden und die Schließfächer geleert werden, würde das Buch wehrlosen Muggeln in die Hände fallen und konnte womöglich großen Schaden anrichten. Nein, sie mußte so tun, als habe sie es im Institut eingeschlossen, es tatsächlich aber bei sich zu Hause. Sie verließ noch einmal ihr Haus, ohne die Tasche. Disapparierte und reapparierte nach fünf Sekunden. Das Buch hatte sich nicht wieder eingefunden.

"Komischer Fluch", dachte sie, bevor ihr wieder einfiel, daß es keine komischen Flüche gab. Selbst die relativ harmlosen konnten einen mit der Zeit in den Wahnsinn treiben, wußte sie. Sie blickte zum westlichen Horizont. Die Mittwintersonne war bereits bis zur Hälfte untergegangen. Ein Meer aus Rot, Gold und Orange umlagerte das Tagesgestirn und verlieh ihm ein majestätisches, aber auch anmutiges Aussehen. Sie genoss es, einen Sonnenuntergang zu sehen. Doch eher noch als der Untergang beeindruckte es sie, den Licht- und Wärmebringer im Osten wieder aufgehen zu sehen. Er vertrieb die Nacht und brachte das Licht auf die Erde zurück. Dann, als die Sonne zur Gänze versunken war und nur noch ein purpurner Schimmer über dem westlichen Horizont stand, kehrte Beryl in das Haus zurück. Der fünfte Januar 1997 näherte sich dem Ende.

Sie war so müde, und das Zusehen beim Sonnenuntergang hatte ihre Augen stark beeinträchtigt. Sie sah ab und an kleine schwarze Punkte auftauchen und wieder verschwinden. Da wußte sie, daß sie sich besser zurückziehen und in angenehmer Dunkelheit in den nächsten Arbeitstag hinüberschlafen sollte. Sie machte sich bettfertig und legte sich hin.

__________

Ardentia Truelane ärgerte sich innerlich. Beryl hatte so ausgesehen, als habe ihr niemand erzählt, daß die Hexen, die Julius gerettet hatten, in weißen Umhängen herumgelaufen waren. Ihr hatte das auch niemand erzählt. Zu behaupten, Jane habe es ihr erzählt war eine glatte Lüge, die auffliegen würde, wenn Beryl wieder mit Jane sprach. Ihr war klar, daß sie gerade einen verheerenden Fehler gemacht hatte, der schnellstmöglich korrigiert werden mußte. Immerhin hatte sie ihrer eigentlichen Chefin erzählt, wo Jane Porter hin wollte, damit diese die von ihr beschützten Sabberhexen außer Reichweite bringen konnte. Doch nun mußte sie der höchsten Schwester berichten, was sie von Beryl erfahren hatte und welchen Lapsus sie selbst sich geleistet hatte. Sie fürchtete schon, von Anthelia grausam bestraft zu werden, vielleicht sogar umgebracht zu werden oder in eine nützliche, für die Spinnenschwestern unschädliche Daseinsform verwandelt zu werden. Sie kannte Patricia Straton und wußte, daß diese gerne ihre Verwandlungskünste spielen ließ. Doch auch Anthelia war in diesem Fach eine unschlagbare Meisterin. Bei einer über hundert Jahre umfassenden Erfahrung wohl kein Wunder. Selbst Maya Unittamo, die legendäre Meisterin der Selbstverwandlung, konnte noch nicht so viel verbuchen. Dann dachte Ardentia daran, was sie nun wußte. Anthelia hatte ihr nicht gesagt, ob sie solche Sachen aus Dairons Zeit hatte. Mußte sie auch nicht. Denn Ardentia wußte von einigen Mitschwestern, daß die höchste Schwester keine Srupel hatte, sich in tödliche Gefahren zu begeben. Dies konnte wahrlich nur, wer keine Angst zu haben brauchte, besonders dann, wenn der oder die Betreffende bereits einen Tod überdauert hatte. Was war das mit dem Gegenstand, der Seelen anderer Leute beeinflussen konnte? War das etwas wie ein eingelagerter Imperius-Fluch? Sie erinnerte sich daran, daß Anthelia sie bei einem Glas Wein mit Hilfe eines Medaillons unter einen Treuefluch genommen hatte, unter dem sie sofort sterben und jeden in Hör- und Sichtweite mit in den Tod reißen würde, wenn sie den Namen oder die Existenz von Anthelia verraten würde. Ob das stimmte wollte sie nicht ausprobieren. Sie war lange genug Mitarbeiterin im Laveau-Institut, um zu wissen, daß es Flüche gab, die nach guter Vorbereitung schwer zu brechen waren oder sich grausam der Bekämpfung widersetzten. Am besten war es, man konnte ihnen entrinnen, bevor sie einen trafen. doch nun war es zu spät für solche Gedanken. Sie mußte Bericht erstatten. Sie wartete bis sieben Uhr abends. Dann verließ sie das Institut ganz offiziell. Morgen wollte sie um acht Uhr wieder hier sein.

Als sie in der Empfangshalle der alten Daggers-Villa apparierte fühlte sie, wie ihr das Herz immer weiter in Richtung Unterleib zu sinken schien, schwer klopfend und dabei immer schwerer wiegend.

"Bist du das, Schwester Ardentia?" Hörte sie die warme Altstimme ihrer obersten Führerin.

"Ja, ich bin es", sagte Ardentia mit großer Anstrengung, ruhig und gelassen zu klingen.

"Dann komm bitte in unseren Besprechungsraum", sagte Anthelia. Ardentia gehorchte und apparierte über die wenigen Meter hinweg, den Schutthaufen nicht beachtend, der den Weinkeller der Villa versperrte, und landete in einem Raum mit einem großen, schwarzen Marmortisch. An diesem saß Anthelia über eine Zeitung gebeugt.

"Die Golems des Emporkömmlings haben unsichtbar auf dem Anwesen einer alten Zaubererfamilie marodiert. Der Waisenknabe selbst hat dabei zehn Menschen niedergeflucht, steht hier. Gut, daß mir Ursina freiwillig unter die Arme greift", sagte sie. Dann nahm sie eine Zeitung in einer anderen Sprache zur Hand. Sie grinste mädchenhaft. "Dafür haben die in meiner altehrwürdigen Heimat andere Sorgen. Hier steht, daß ein paar Kobolde versucht haben, Gringotts in Paris leerzuräumen und dabei von den Betreibern in flüssiges Gold getaucht wurden und zur Abschreckung vor dem Tor aufgestellt worden wären, bis das Zaubereiministerium verfügt habe, diese Zurschaustellung zu beenden. Das steht bei denen auf Seite eins. Aber ich gehe davon aus, du möchtest mir erzählen, was die Suche deiner Kollegin Beryl Corner erbracht hat. Richtig?""

"Woher weißt du das, höchste Schwester. Ich habe doch Okklumentik angewendet", entfuhr es Ardentia.

"Schwester, langsam solltest du es begreifen, daß ich nicht nur auf meine eigenen Sinne zurückgreife, sondern auch auf mir zugehende Informationen aus anderen Quellen, die sehr zuverlässig sind. Abgesehen davon vermag kaum jemand mich dauerhaft daran zu hindern, die in ihm ruhenden Geheimnisse aus seinem Geist zu schöpfen. Dies macht ja auch jener Waisenknabe für sich geltend, der sich den überheblichen Namen Lord Voldemort zugelegt hat. Ich erfuhr, daß sie heute über Paris nach New Orleans zurückkehrte und offenbar sehr erschöpft war. Also?"

"Sie hat wohl in Großbritannien ein altes Buch aufgestöbert, in dem was über Dairons Macht und Zaubergegenstände drinstehen soll", begann Ardentia und berichtete kurz und zusammenfassend über ihr Gespräch mit Beryl Corner. Zum Schluß gestand sie Anthelia ein, etwas unachtsam ausgeplaudert zu haben, daß jener Hexentrupp, der Hallitti bekämpft hatte in weißen Umhängen aufgetreten sei.

"Ja, und du gingst davon aus, daß deine Kollegin dies bereits von eurer gemeinsamen Lehrerin Jane Porter erfahren habe, was sich als unrichtig herausstellte, nicht wahr?"

"Öhm, genau, höchste Schwester", sagte Ardentia leicht beklommen. Gleich würde sie die Strafe für diesen Fehler treffen und ...

"Davon mußtest du ja ausgehen, wenn diese junge Hexe bis vor dem Samhain-Tag, den ihr Halloween nennt unter ihren Fittichen gelebt hat. Außerdem hat der Junge es ja auch in der Zeitung erwähnt, damit die sensationshungrige Meute ihn nicht andauernd belagert. Gib dem Wolf genug zu fressen, auf daß er nicht an deine Schäflein oder Kindlein gehe!" Ardentia atmete hörbar auf. Natürlich konnte sie das aus dem Zeitungsartikel wissen.

"Nun, es hätte dir besser angestanden, nicht zu erwähnen, daß deine Lehrmeisterin es dir erzählt habe. Andererseits ist diese ja wohl derzeit noch in den Neuenglandstaaten unterwegs, nicht wahr? Morpuora ist zwar nicht gerade gut gestimmt, daß sie andauernd umziehen muß. Aber so erspare ich ihr die Gefangennahme. Ich fürchte nur, wenn Jane Porter nicht davon ausgeht, daß sie einer falschen Spur folgt, daß sie irgendwann Verdacht schöpfen mag, daß den grünen Waldfrauen eine helfende Hand mit gut gemeinten Warnungen und Fluchthilfe das Ausweichen ermöglicht. Doch dieser konkrete Fall ist noch nicht eingetreten. Erzähl mir mehr über das Buch! Hast du es schauen können und was hat Beryl darüber berichtet?" Sie lächelte. Ja, die höchste Schwester schien sehr erfreut zu sein, obwohl es sie doch ärgern mußte. Oder verstellte sie sich und explodierte gleich in einer unbändigen Wut? Ardentia berichtete so gefaßt sie konnte von den Sachen, die Beryl Corner an sie weitergegeben hatte. Da war nichts konkretes bei. Als Anthelia sich alles angehört hatte sagte sie ruhig:

"Du hast genug erfahren, ohne aufzufallen, Ardentia. Mehr Fragen oder Vermutungen hätten deine kostbare Tarnung gefährdet. Ich gehe davon aus, daß sie dich wie andere ohnehin verdächtigen, zumal du ja eh für sie in den Kreisen der nicht ganz so entschlossenen Schwestern spionieren sollst. Das ist das Spiel mit dem Feuer, einen Kundschafter zu unterhalten, der auf beiden Seiten als solcher tätig ist. Ähnlichen Gefahren hat sich ja auch dieser überrücksichtsvolle Zauberer Albus Dumbledore ausgesetzt, als er diesen überheblichen Wichtigtuer Snape als Lehrer einstellte. Solange du weißt, wem du verpflichtet bist und ich mir dessen sicher sein kann, dich nicht zu verlieren, egal wie, magst du keine Angst vor Züchtigung haben. Ich setze die Kraft der Überzeugung über den Zwang durch Gewalt, wenngleich ich mich ihrer bedienen kann, wenn ich dazu gezwungen bin. So kehre nun heim in deine Wohnstatt und ruhe dich von deinem Tagwerk aus!" Sagte die oberste Hexe des Spinnenordens mit gutmütigem Lächeln. Mit einer bekräftigenden Geste entließ sie die Kundschafterin im Laveau-Institut. Diese verbeugte sich kurz und disapparierte. Anthelia war nun allein in diesem Raum. Allein mit ihren Gedanken und Absichten.

"Ich fürchte, ich muß einen Weg finden, Ardentia aus ihrer Stellung zu holen, ohne daß man argwöhnt, sie habe ihren Dienstherren verraten. Andererseits muß ich jemanden in den Reihen dieser Leute kultivieren. Was weiß diese Beryl Corner. Hat sie wirklich mein altes Buch über Dairons Macht in die Hände bekommen? Das muß ich heute noch ergründen und erwägen, ob ich diese Hexe nicht in meine Dienste nehmen kann."

"Höchste Schwester! Schwester Pandora will haben, daß ich dieses blöde Buch ganz durchlese", quängelte ein halbwüchsiges Mädchen von weiter oben. Anthelia nickte. Die Kleinigkeiten des Alltags. Dido Pane murrte mal wieder über den Lernstoff, den sie und ihre führenden Mitschwestern ihr abverlangten. Dem war leichter abzuhelfen als der Frage nach dem, was jemand wußte oder nicht wußte nachzugehen. Sie apparierte im Salon, der als Schulzimmer für Dido Pane genutzt wurde. Ein Geist in einer Unions-Uniform flüchtete, als Anthelia erschien.

"Was möchte Schwester Pandora dir denn beibringen, Dido?" Fragte Anthelia und holte sich ein dickes Buch mit ihren telekinetischen Fähigkeiten. "Aha, europäische Zaubereigeschichte des fünfzehnten Jahrhunderts. Das ist wichtig, Dido. Das wird dir vieles erklären, was die Hexen und Zauberer damals so verrichtet und angerichtet haben. Du liest das bis zur nächsten Woche Kapitel für Kapitel durch und schreibst die wichtigsten Sachen ab. Sonst bringen wir dir keine weiteren Zauberkunststücke bei. Und solltest du dich sträuben, dies zu lernen, so muß ich bedauernd erkennen, daß du nicht geeignet bist, als vollwertige Schwester in meine Dienste einzutreten. Hast du das verstanden?" Dido nickte beklommen. In der ruhigen Art Anthelias lag eine düstere Drohung. Wenn sie nicht lernte, was sie lernen sollte, würde man sie loswerden oder gar umbringen. Diese Hexen hier wollten sicher sein, daß sie was konnte. Wollte sie es nicht lernen, war sie wertlos. So sagte sie zur Bestätigung noch, daß sie mit Geschichte nur deshalb nicht so viel anfangen könne, weil sie da ja nichts ausprobieren oder nachbauen könne. Anthelia und Pandora lachten. Unvermittelt drehten sie sich auf der Stelle und standen in altmodischen Kleidern da, die gut und gerne im fünfzehnten Jahrhundert getragen worden sein mochten. Dido staunte.

"Leider kann ich dir aus dieser Zeit auch nur das erzählen, was ich gelesen oder mir von Gelehrten habe erzählen lassen, Dido. Aber wenn du zum siebzehnten Jahrhundert kommst, wirst du in mir eine kundige Zeitzeugin finden, die dir alles wichtige vermitteln kann und wird. Also, halt dich ran! Wacker und fleißig sei die Hexenmaid, dann wird belohnt sie mit der Zeit!"

"Sagt wer?" Entschlüpfte es Dido.

"Zumindest ich sage das", sagte Anthelia gelassen. Das wirkte stärker als ein harscher Tadel. Dido nickte betreten und schwieg. Das Anthelia gerade einen der Leitsätze Sardonias zitiert hatte hätte dem gerade erst ein Jahr und wenige Monate existierenden Hexenmädchen sicher noch mehr Ehrfurcht eingeflößt. Anthelia verließ den Salon durch die Tür. Es ploppte leise.

"Ich verstehe, das du murrst, weil du schon lange genug gelernt hast. Dido. Komm, ich mach uns was zu essen! Hey, und du dicker Sklaventreiber machst dich sofort wieder in deinen Keller!" Der untersetzte, bärtige Geist des früheren Eigentümers dieser Villa knurrte unverständlich und trollte sich, kaum daß er in den Salon eingeschwebt war.

__________

"Die riecht suchend", sagte Aubartia, eine kleine grüne Frau, die knorrige Arme und Beine hatte und deren Füße überhaupt nicht den Boden berührten. Jane Porter nickte.

"Hast du von deinen Schwestern gehört, wer sie ist, Aubartia?" Fragte Jane Porter.

"Sie nennen sie Knabentod, weil sie gerne hinter halbjungen Männchen eurer Rasse herfliegt, obwohl sie wohl schon sehr lange da ist", sagte Aubartia. Sie empfand es merkwürdig, daß Jane Porter sie um Hilfe gebeten hatte, um eine Waldfrau wie sie selbst zu suchen, die aber nicht in diesem Land zur Welt gekommen sein soll. Doch weil sie auch gehört hatte, daß die Großen, rosafarbenen Bodenläufer alle anderen Waldfrauen einfangen und wegsperren wollten, weil die gesuchte mit ihren Verwandten nicht nur Jungen für die Fortpflanzung suchte sondern auch kleine Kinder totmachte, die gerade erst aus ihren Müttern gedrückt worden waren, half sie Jane Porter. Die war zumindest nicht so böse zu ihr. Grizwald, der Große, der sie gerettet hatte, verstand auch nicht, wieso diese andere Waldfrau so hungrig war. Vielleicht trug sie gerade ein Kind in sich. Aber das passte nicht zu dem Geruch zwischen den Bäumen und Büschen. Hier war eine suchende Waldfrau durchgeflogen.

"Sagtest du Knabentod, Aubartia? Morpuora?"

"Du kannst das ja richtig aussprechen, Jane", grinste Aubartia. "Ja, das ist der Name."

"Dann stimmt es also doch, daß jemand sie aus England rübergeholt hat", grummelte sie. Den Namen der fremden Waldfrau, oder Sabberhexe hatte sie bis heute nicht gehört. Sie wußte nur, daß sie wohl aus Großbritannien herübergekommen sein mußte, über einen ganzen Ozean mit sich bewegenden Wassermassen, einem unüberwindlichen Hindernis.

Aubartia schnupperte wie ein Jagdhund auf der Fährte, bis sie verwundert den Kopf schüttelte. "Hier ist nichts mehr. Der Duft ist weg, aber nicht vernebelt, sondern einfach weg. Hmm, hier war noch eines eurer Weibchen, roch etwas aufgeregt. Oh da hat sie ihre Füße hingedrückt." Aubartia deutete mit einem spinnenbeinartigen Finger auf eine Stelle am Boden. Jane Porter rief einen Zauber auf, der Fußabdrücke hervorhob. Tatsächlich konnte sie die Abdrücke schmaler Füße sehen und erkannte sogar, daß sie sich an einer Stelle gedreht hatten. Offenbar war die Hexe disappariert.

"Die spielen Katz und Maus mit uns", knurrte Jane. "Jetzt muß ich wieder warten, wo diese Morpuora auftaucht", dachte sie lautlos. "Hoffentlich ist das kein Ablenkungsmanöver." Laut sagte Sie: "Die ist nicht mehr in dieser Gegend, Aubartia. Morgen suche ich anderswo weiter."

"Du bist doch ganz müde. Du mußt schlafen gehen", sagte Aubartia. Jane wollte sich schon entrüsten, derartig behandelt zu werden. Doch Aubartia war gut hundert Jahre älter als Jane Porter, jung für eine Sabberhexe, aber immerhin älter als die Laveau-Hexe.

"Ja, du hast recht. Eigentlich müßte ich zu mir nach Hause. Aber ich will nicht zu weit weg von den Wäldern. Nachher taucht sie irgendwo auf."

"Wenn der Wald keiner von uns gehört, suche ich dir einen schönen Schlafbaum."

"Das wäre für mich ein wenig zu hoch und zu unbequem", lachte Jane Porter. Doch Aubartia grinste überlegen, umfaßte Jane Porters rundlichen Leib und hob mit ihr ab. Sie segelte federleicht zwischen den Baumwipfeln dahin, bis sie in der Krone einer stattlichen Eiche landeten. Aubartia bog und zog einige Äste so, daß Jane wie in einer Hängematte aus Blättern und Astwerk lag und hängte sich selbst mit Händen und Füßen an einen besonders dicken Ast.

"Ich mach dich wach, wenn jemand kommt, der dir oder mir was tun will", versprach sie. Jane Porter nickte, bevor sie einschlief.

Es war wohl gerade ein Uhr nachts, als Jane unvermittelt aus tiefstem Schlaf aufschreckte und mit angstgeweiteten Augen umherblickte. Sie vergaß, daß sie auf einem hohen Baum lag und rutschte aus ihrer Hängemattenkonstruktion. Sie fiel hinunter. Doch Aubartia war schneller als ein herabstoßender Adler über ihr, fing den Sturz ab und zog sie in den hohen Wipfel zurück.

"Beryl", sagte Jane unter dem Schock des beinahen Absturzes, der wiederum durch irgendwas anderes angsteinflößendes ausgelöst worden war. "Hilfe, Jane! Sie ist hier, die, die wir suchen ist ...!" hatte sie in einem Traum von einem Fest ihrer Enkeltöchter Melanie und Myrna rufen hören. Es war Beryl Corners Stimme gewesen. War es nur ein Traum oder eine Gedankenbotschaft gewesen? Sie konzentrierte sich und versuchte, zu mentiloquieren. Dabei achtete sie nicht darauf, wie Aubartia magische Gesten über ihr ausführte und sie unvermittelt in einen tiefen, andauernden Schlaf hinüberglitt.

"Du hast mir Angst gemacht, Jane", sagte Aubartia leise als Jane fest schlief. "Du wärst fast runtergefallen. Morgen früh, wenn die Sonne wiederkommt, darfst du wieder wach werden."

__________

Der Hausfriedenszauber schlug an und weckte Beryl Corner. Schlaftrunken wuchtete sie sich aus ihrem Bett und warf einen Blick in einen großen Spiegel, den sie von Jane Porter zum dritten Ausbildungsjahr bekommen hatte. In dem Spiegel wanderten schattenhafte Gestalten umher, ziellos scheinend oder suchend. Eine Frauengestalt trat kurz in den Fordergrund, nur ein Schatten, nicht zu erkennen und trat wieder zurück in den Hintergrund. Beryl wurde daraus nicht so recht schlau. Zumindest aber stand kein konkreter Feind vor ihrer Tür. Sie vollführte den Schnellankleidezauber. Um halb zehn mußte man ja wirklich noch nicht im Bett gewesen sein. Zumindest mußte das nicht jeder wissen. Sie wusch sich das Gesicht mit einem warmen Wasserstrahl aus dem Zauberstab. Auf Schminke verzichtete sie jedoch. Sie ging an die Tür, wo gerade die dreistimmige Türglocke geläutet wurde.

"Ja, bitte, wer ist da?" Fragte Beryl ruhig.

"Jemand, der möchte, daß dieser Irre Emporkömmling nicht in diesem Land Fuß faßt", erklang die Antwort in einer warmen tiefen Frauenstimme. Beryl erschrak erst. Was geschah jetzt? Wer war das? Hatte sie vielleicht einen schlafenden Hund aufgeweckt? Sie hastete noch einmal zurück ins Schlafzimmer und blickte voller Unbehagen in den großen Spiegel, ihr Feindglas. Doch da waren nur Schatten, weit entfernt wandelnde Schatten. Sie eilte zur Tür zurück und Entriegelte sie mit drei Stupsern des Zauberstabes. Die Frau im hellrosa Kapuzenumhang, die vor der Tür stand zeigte ihr Gesicht nicht. Beryl wollte die Tür schon wieder schließen. Da sagte die Fremde:

"Sie müssen keine Angst haben, Ms. Corner. Ich bin nicht gekommen, um Ihnen nach dem Leben zu trachten. Es ist nur so, daß wir beide uns über etwas unterhalten müssen, was Ihnen heute widerfahren ist. Ich denke, es ist in Ihrem Sinne, wenn Sie und ich das nicht bei offener Tür bereden."

"Zeigen Sie mir erst Ihr Gesicht und nennen Sie mir Ihren Namen!" Verlangte Beryl Corner. "Ich pflege keine Unbekannten hereinzulassen."

"Nun, wenn ich Ihnen mein Gesicht zeige brächte ich Sie in große Gefahr. Denn zu wissen wie ich aussehe würde Ihnen üble Nachstellungen eintragen. Das gleiche gilt für meinen Namen. Ich meine es gut mit Ihnen, Ms. Corner. Ich bin nicht Ihre Feindin und möchte es auch nicht werden. Doch um dies zu ermöglichen ist es von Nöten, daß wir beide uns über etwas wichtiges aussprechen. Außerdem möchte ich Ihnen ein Angebot unterbreiten, daß Ihrem Leben einen weitaus größeren Daseinszweck geben kann als es ohnehin schon besitzt", sprach die warme Altstimme unter der Kapuze. Beryl haderte mit der Entscheidung. Innere Alarmglocken waren angesprungen. Sie wurde den Verdacht nicht los, eine gefährliche Person vor ihrer Haustür stehen zu sehen. Andererseits wollte sie auch nicht ohne nähere Informationen die Tür wieder zuschlagen. Wenn sie eine Feindin gewesen wäre, hätte sie sich mit Gewalt Zutritt verschafft, ja sie womöglich noch im Bett überrascht und entführt oder getötet. Das einzige, was an dieser Frau unheimlich war, das war die Kapuze vor dem Gesicht. Beryl gab sich einen Ruck und trat bei Seite. Die Fremde trat ein, ohne Hast, ohne auch nur im Ansatz auf einen schnellen Angriff auszugehen. Ganz gemütlich ließ sie sich von Beryl zum Wohnzimmer geleiten. Dort setzten sie sich hin. Beryl bot der unbekannten Besucherin etwas zu trinken an. Doch diese lehnte höflich ab.

"Ihre Gastfreundschaft in Ehren, Ms. Corner. Aber wenn ich trinken wollte, müßte ich mein Gesicht enthüllen und das tue ich nur vor denen, die sich bereitgefunden haben, mir zu folgen. - Ja, Sie ahnen schon, daß ich nicht irgendwer bin, nicht wahr?" Beryl verschloß ihren Geist. Das einzige, was nun daraus hinausdrang war eine nichtstoffliche Verbindung zu etwas, das an einem sicheren Ort ruhte, von dem kein Legilimentor Kenntnis erlangen konnte.

"Also doch? Jemand bei uns steckt mit Leuten wie Ihnen unter einer Decke", knurrte Beryl in die Enge gedrängt. Jetzt saß diese Person in ihrem Wohnzimmer, nur weil sie mehr Neugier als Vernunft hatte walten lassen.

"Nun, dieser Ausdruck fällt doch wohl eher in den Zusammenhang verbrecherischer Umtriebe", sagte die Fremde ganz gelassen, als sei ihr die Feindseligkeit Beryls völlig egal. "Aber wenn Sie derartiges schon mutmaßen, dann werden Sie wohl auch wissen, was mich zu Ihnen geführt hat."

"Tja, was wohl?" Fragte Beryl zurück. Wenn die Fremde jetzt sagte, daß sie wegen des Buches hergekommen sei, dann wußte Beryl, daß Ardentia eine Maulwürfin im Garten des Laveau-Institutes war. Tatsächlich sagte die Fremde:

"Es geht um die Begegnung mit diesem Emporkömmling, der sich Voldemort nennt und von sich behauptet, ein Lord zu sein. Lächerlich. Er ist nur ein lieblos aufgezogener Waisenknabe, der sich an der Welt rächen will, weil er keinen liebenden Vater hatte und seine Mutter bei der Geburt starb. Aber vielleicht wissen Sie das noch nicht."

"Wer hat Ihnen erzählt, daß ich diesem Magier begegnet bin? jemand aus England oder Ardentia Truelane", preschte Beryl vor. Ihr wurde jetzt erst klar, daß sie sich mit dieser Frage gerade eine Schlinge um den Hals gelegt hatte.

"Nun, ich pflege vielfältige Beziehungen. Von denen weiß ich zum Beispiel, daß Sie vor einer Woche eine Einreise mit der Reisesphäre von Paris aus beantragt haben, weil Sie dem britischen Flohnetzwerk mißtrauen und daß sie in Irland waren. Ich weiß nur nicht wen sie dort besucht haben. Ich hörte auch, Sie seien mit diesem Emporkömmling aneinandergeraten. Sie werden das natürlich jetzt bestreiten und darauf hoffen, mir nähere Details über meine Kontakte entlocken zu können. Also machen wir es kurz: Ich hörte davon, daß Ihnen ein altes Buch zu Gesicht kam, in dem die Geheimnisse der Macht des Druiden Dairons niedergeschrieben sind. Ah, ich erkenne, Sie wissen, wovon ich spreche." Beryl hatte sichtlich mit den Wimpern gezuckt und ziemlich schnell ein- und ausgeatmet. Ihr war nun klar, daß Ardentia sie verraten hatte. Sie mußte diese Information sofort weitergeben. Doch vorher mußte und wollte sie noch in Erfahrung bringen, wer ihre Besucherin war, die nicht im Feindglas auftauchte, obwohl sie eher doch eine Feindin des Laveau-Institutes war.

"Bevor ich mit Ihnen über diese oder andere Sachen spreche möchte ich wissen, zu wem ich spreche."

"Nun, Sie geben also zu, daß Sie in diesem Buch gelesen haben. Dann möchte ich Ihnen nicht verschweigen, daß ich auch darin gelesen habe. Es ist schon lange her."

"Dann wollen Sie mir jetzt einreden, Sie seien die Wiedergekehrte Seele einer mächtigen Hexe? Das glaube ich nicht. Vielleicht konnten Sie einige unbedarfte Hexen damit einwickeln, die händeringend nach einer mächtigen Verbündeten gegen diesen geisteskranken Massenmörder suchen. Aber wer garantiert denen, daß Sie nicht anders sind?"

"Die Tatsache, daß Sie mir diese provozierende und gefärhliche Frage stellen können und immer noch lebendig auf ihrem Platz sitzen. Wäre ich eine mordlüsterne Wahnsinnige, die Angst um ihre Macht hat, hätte ich sie ohne höfliches Läuten an der Tür überrumpelt und getötet. Denn Sie wissen zu viel. Mit diesem Wissen würden Sie mehr Schaden anrichten als jemandem nützen. Soll ich jetzt wirklich mit Gewalt versuchen, Ihnen alles wissenswerte abzuringen? Das ist doch unter Ihrem Niveau. Abgesehen davon, daß ich Ihnen helfen kann, einen sinnvolleren Lebensweg einzuschlagen."

"Danke, ich kaufe nichts", sagte Beryl. Sie hatte nichts mehr zu verlieren. Denn sie wußte, sie war bereits tot. Doch bevor sie starb, würde sie dieser Heuchlerin noch das Geheimnis ihrer Identität entreißen. Sie setzte darauf, daß sie genauso größenwahnsinnig wie Voldemort war. Also mußte sie sie nur respektlos anfahren. Dabei konnte sie zwar schon sterben. Aber Beryl wußte, daß sie die wärmende Sonne, die sie am Abend untergehen sah, nicht wieder aufgehen sehen würde.

"Sie halten mich für eine Hausiererin? Wie amüsierend. Sie spekulieren darauf, daß ich Ihren Tod bereits beschlossen habe, weil ich weiß, daß Sie mehr wissen als mir genehm sein mag. Aber wer sagt Ihnen, daß ich nicht ohnehin vorhabe, mich eines Tages zu erkennen zu geben? Doch heute noch nicht. Es sei denn ..."

"Es sei denn was", biss Beryl an.

"Es sei denn, sie erzählen mir alles, was sie gelesen haben oder öffnen Ihren krampfhaft verschlossenen Geist, um mich ohne Zwang daraus schöpfen zu lassen, was Sie wissen als Geste der Vernunft unter Hexen, die sich einander kein Leid zufügen."

"Ich weiß, wohin ich gehöre, nicht in Ihren verdrehten Weiberclub, der meint, nur die Hexen sollten herrschen. Na, das ist es doch, was ihr wollt", preschte Beryl wieder vor.

"Ja, das stimmt", sagte die Fremde unbeeindruckt. "Allerdings behagt mir die Bezeichnung Bund von Schwestern eher als die derbe Bezeichnung Weiberclub. Nun mögen Sie denken, mich gut geärgert zu haben. Aber dem ist nicht so. Sie reagieren nur so, wie jene, die Ihre Erziehung betreiben es Ihnen in Leib und Seele getrieben haben. Das sind zum Teil ähnliche Leute gewesen wie bei mir. Nur hatte ich das Glück zu erkennen, daß die patriarchialische Ordnung in der Zaubererwelt unnatürlich ist, weil die wahrhaft schwachen die Starken in Fesseln gelegt haben und sie nun gängeln und kommandieren. Ich möchte lediglich die natürliche Ordnung wieder herstellen. Ich habe nichts gegen Männer oder Zauberer. Sie sind wichtig in der Natur, wenn sie sich an das halten, was ihre natürliche Aufgabe ist." So sprach die fremde weiter auf Beryl ein und bot ihr an, sie könne helfen, eine friedliche Rückkehr zur natürlichen Ordnung zu schaffen. Sie müsse ja niemandem Leid zufügen. Beryl sagte nur, daß die Fremde nur zwei Möglichkeiten habe, unverrichteter Dinge wieder zu gehen, weil sie sich ja doch nicht zu erkennen geben wolle oder sie hier und jetzt zu töten.

"Ich wüßte sogar einige Möglichkeiten mehr. Ich könnte Ihr Gedächtnis auslöschen, Sie unter den Imperius-Fluch nehmen oder mit dem Infanticorpore-Fluch belegen, ihnen dann das Gedächtnis auslöschen und sie irgendwo aussetzen, wo eine Ziehmutter Sich Ihrer annimmt."

"Ich kann mich gegen all das wehren", knurrte Beryl. "Oder glauben Sie, eine Mitarbeiterin des Laveau-Instituts ließe sich so einfach unter den Imperius-Fluch nehmen, infanticorporisieren oder an ihrem Gedächtnis herumzaubern?"

Die Fremde holte unter ihrem Umhang etwas hervor, ein Medaillon, das aus fünf unterschiedlichen Metallen zusammengesetzt war. In seiner Mitte prangte ein blutroter Rubin in der Form einer Halbkugel. Beryl erbleichte und verriet damit, daß sie erkannte, was die Fremde ihr da zeigte.

"Aha, diesen Gegenstand kennen Sie also", sagte sie leicht amüsiert. "Dann Wissen Sie auch, daß ich damit die Seele eines Feindes einkerkern und mir sein Wissen aneignen kann. Oh-Oh, versuchen Sie nicht, es mir wegzunehmen. Das haben schon andere nicht tragen können", sagte sie, als Beryl ihre rechte Hand hob um im nächsten Moment nach dem Medaillon zu greifen. Eine unsichtbare Gewalt drückte ihren Arm jedoch wieder hinunter.

"Sie können nicht von mir verlangen, daß ich eine Ihrer unterwürfigen Schwestern werde wie Ardentia, wo meine Großeltern auch von Hexen, die für diesen Voldemort gearbeitet haben bedrängt wurden. Soviel ich weiß gehört die Askaban-Ausbrecherin Bellatrix Lestrange ja auch zu Ihrem Club."

"Glauben Sie es mir, sie bereut es sehr, nicht dazu zu gehören", erwiderte die Fremde nun doch etwas verstimmt. "Sie stehen Sich wesentlich besser, wenn Sie eine von uns werden, auch wenn Sie keine Fürsprecherin in der Verwandtschaft haben. Aber dann würde ich Ihre Fürsprecherin werden, und mein Wort hat mittlerweile wieder das Gewicht in unserem erhabenen Bund, das es verdient hat, auch wenn die unentschlossenen Schwestern mir und meinen Mitschwestern noch sehr feindselig gegenüberstehen, wie Sie auch, oder soll ich dich beim Vornamen nennen, Beryl?"

"Und ich sage dann Mylady oder höchste Schwester zu Ihnen? Halten Sie mich für so charakterschwach, daß ich mich um mein Leben zu schonen Ihrem fehlgeleiteten Orden anschließe? Ich hatte keine leiblichen Schwestern und brauche jetzt auch keine Ordensgeschwister. Ich habe das Buch weggeschlossen, wegen dem Sie mich heimgesucht haben. Nur ich komme da dran. Also bleibt es so oder So für Sie unerreichbar, ob Sie sich damit abfinden, daß ich Ihnen nicht helfe oder ob Sie mich töten."

"Du kannst das Buch nicht in einen eurer Schließräume gelegt haben. Es hat eine Aversion gegen es umschließende Magie in metallischen Wänden. Der Verfasser wollte sicherstellen, daß er es erreichen kann, wenn es ihm entwunden wird. Da du mein Kleinod hier", wobei sie auf ihr Medaillon deutete, "erkannt hast, weiß ich, daß du das Buch gefunden hast, daß mir einmal gehört hat. Deshalb sitzen wir hier, weil ich die darin erwähnten Dinge nachprüfte und zu meiner großen Freude bestätigen konnte. Wer hatte es in seinem Besitz?"

"Jemand, der es bestimmt wiederhaben will, falls Voldemort ihn nicht getötet hat", sagte Beryl.

"Nun, dann werde ich ihn fragen, beziehungsweise, ich werde mir mein Buch wiederholen", sagte die Fremde und hielt unvermittelt den silbergrauen Zauberstab in der Hand, nach dem in der ganzen Welt gesucht wurde. Sie rief etwas in einer Sprache, die Beryl nur ansatzweise gelernt hatte: Die sprache der alten Druiden. Es krachte kurz und vernehmlich. Dann fiel das verfluchte Buch vor der Fremden aus der Luft. Sie ergriff es mit der linken Hand und ließ es unter ihren Umhang gleiten. Beryl saß nur da und starrte auf die Unbekannte.

"Ich werde Sie mit disem Buch nicht hinauslassen", begehrte sie auf. Die Fremde lachte. Beryl rief etwas, und schlagartig schlossen sich Fensterläden und Türen. Dann hatte sie ihren Zauberstab in der Hand. "Um dieses Haus liegt nun ein Apparitionswall, Schwester, wie heißt du denn nun, Anthelia oder Sardonia. Eigentlich kannst du keine von beiden sein. Sardonia ist von Dementoren leergesaugt worden, und Anthelia war zu hörig, um sich selbst eine Macht wie das verfluchte Medaillon da zu sichern."

"Ich wollte das nicht. Ich wollte mit dir ohne Gewaltanwendung auskommen, Beryl Corner. Du bist doch noch viel zu jung um wahren Schmerz oder gar den Tod zu erleiden. Überlege es dir noch einmal gut! Wenn du dich zu mir bekennst und mir folgst wirst du mehr zum Frieden in der Zaubererwelt beitragen als so. Du arbeitest in einer Feuerwache, die Truppen ausschickt, wenn es schon brennt. Bei mir würdest du die Häuser beschützen, die angezündet werden sollen. Ja, Ardentia Truelane ist eine überzeugte Schwester meines Ordens und weiß, welchen großen Dienst sie uns erweist. Es wird Zeit, den Unsinn zu beenden, den leute wie dieser Emporkömmling treiben und den die Magieunfähigen mit ihren Maschinen veranstalten. Oder willst du dich oberflächlichen Leuten unterwerfen, die nur die eigenen Vorteile im Sinn haben?"

"Das Buch her und dann raus!" Rief Beryl und drohte mit dem Zauberstab. "Accio Buch!" Die Fremde schnalzte mißbilligend mit der Zunge.

"Unter meinem Umhang ist es vor Aufrufezaubern oder Telekinese geschützt, zumal seine wahre Meisterin es zu sich rief und es nun bei ihr verbleiben will. Du öffnest jetzt die Tür, oder ich muß wahrlich Gewalt anwenden, was mir schwerfällt aber nicht unmöglich ist.

"Dann mal los!" Schnarrte Beryl und hob den Zauberstab zum Angriff. Die Fremde reagierte jedoch schnell und schuf einen silbernen Schild vor sich. Dann schickte sie den scharlachroten Entwaffnungsblitz aus, der von Beryl jedoch eine Armlänge vor sich zurückfederte und auf den Stab der Fremden zuraste, die sich hinter ihren Schild duckte, auf dem der Querschläger mit leisem Ploing zersprühte. Und nun ergossen sich Flüche und Fangzauber in allen Farben und Ausprägungen. Beryl stand die ersten Sekunden lang aufrechtt da und parierte alles, was ihr entgegengeschleudert wurde. Doch sie erkannte rasch, daß sie keine Zeit für Gegenschläge hatte. Die Fremde formulierte alle Zauber wortlos und so schnell, daß sie nur mit Breitbandgegenflüchen und immer wieder auf- und abbauenden Schilden dagegenhalten konnte. Dann senkte die Fremde ihren Stab, als sie einen besonders starken Schild zwischen sich und ihre Gegnerin beschworen hatte:

"Du bist gut. Aber du läßt schon nach. Es fehlen dir Übung und Ausdauer. Ich kann dir helfen, beides zu erringen. Aber dann mußt du dieses unsinnige Spiel beenden und mir freiwillig folgen. Glaube mir, du wirst es nicht bereuen."

"Zur Hölle mit dir!" Rief Beryl und hob wieder den Zauberstab. Diesmal erfolgte ihr Angriff so rasch, daß sie selbst staunte, als der Schild vor ihr zusammenbrach und ein Teil ihres Kristallisierungsfluches das Ziel traf. Die Fremde erstarrte in der Bewegung. Sollte Beryl jetzt den tödlichen Fluch anbringen. Das wäre Notwehr. Doch nein, auch der tödliche Fluch konnte von diesem Gürtel abgefangen werden, weil für seine Erschaffung auch Leute mit Todesflüchen niedergemacht worden waren. Er würde auf sie zurückfallen und sie töten. Sie zielte noch einmal auf die Fremde, die langsam zu einer gläsernen Gestalt zu werden drohte. In dem Moment prällte ihr ein telekinetischer Hieb den Zauberstab aus der Hand. Der Stab segelte durchs Zimmer und landete genau im schwach glosenden Kaminfeuer, wo er sofort in Flammen aufging.

"Du bist unbewaffnet, junge Maid. So wähle nun dein Schicksal!" Rief die Fremde. Der Kristallisierungsprozess hatte gestoppt und kehrte sich langsam um. Beryl erkannte, daß die Vernichtung ihres Zauberstabes den progressiven, ohnehin nur zum Teil durchgekommenen Fluch wieder aufhob. Sie warf sich herum, tauchte blitzartig in ihr Schlafzimmer, warf die Tür zu und drehte den Schlüssel um. Diese Tür konnte nur durch den Schlüssel geöffnet werden. Die verdammte Telekinese der Fremden durchdrang sie auch nicht. Sie wandte sich ihrem Spiegel zu. Da stand sie, die ungebetene Besucherin, eingehüllt in ihren rosa Umhang. Die Kapuze hatte sie zurückgeschlagen, und Berryl sah das wwild entschlossene Gesicht unter strohblondem Haar. Die Augen sahen sie verärgert, ja im höchsten Maße Verbittert und entschlossen an.

"Kommst du jetzt erst drauf, mir das zu sagen", knurrte Beryl. Dann Warf sie sich unter ihr Bett. Sie mußte Jane Porter anmentiloquieren. Dafür mußte sie jedoch ihren Okklumentik-Schutz aufgeben. Als sie einige Sekunden Konzentration aufbrachte, vermochte sie gerade noch "Hilfe! Jane Sie ist hier! Die die wir suchen ist ..." zu übermitteln, als unter einem lauten Knall die Tür aus dem Rahmen flog und die Fremde mit vorgestrecktem zauberstab hereinsprang.

"Du zwingst mich dazu, Beryl! Avada Kedavra!" Dann schlug der grüne Todesblitz unter das Bett und traf Beryl an der linken Hüfte. Reglos blieb sie liegen. Die ungebetene Besucherin schlug die Kapuze zurück und sah für einen Moment in den Spiegel, wo ihr eigenes Spiegelbild für einen winzigen Moment auf sie blickte. Doch dieses löste sich auf, wurde zu einem Gewimmel schattenhafter Gestalten, die in weiter Ferne herumwanderten.

"Ich könnte mir noch deine Seele holen, dummes, kleines Mädchen. Aber mein Medaillon ist für wichtigere Geister vorgesehen", knurrte die Hexe im rosa Kapuzenumhang. Dann wandte sie sich um und verließ das Schlafzimmer. Dann kam ihr eine Idee. Sie wollte nicht, daß man mit der Nase darauf stieß, daß sie und ihre Schwestern im Spiel waren. Sie grinste überaus bösartig, als ihr einfiel, daß sie es beschwören konnte. Ja, sie kannte Formel und Gedankenkomponente jenes gefürchteten Zaubers, der in letzter Zeit mit Terror und Zerstörung einherging. Um ihr Täuschungswerk glaubhafter zu machen zündete sie zunächst das Schlafzimmer an, zertrümmerte die Möbel im Wohnzimmer mehr als es die fehlgeschlagenen Flüche eh schon angerichtet hatten, verließ dann das Haus, schoss einen Feuerball hinein und hob dann wie feierlich ihren Zauberstab zum Himmel: "Morsmordre!!" Rief sie inbrünstig. Als der davon beschworene Zauber seine volle Wirkung entfaltet hatte disapparierte sie einfach.

_________

Elysius Davidson trank gerade mit dem neuen Zaubereiminister Davenport auf den Abschluß der Konferenz. Sie hatten einen erweiterten Schutzplan für die vereinigten Staaten beschlossen und das Drachenjägerkontingent aufgestockt, um mögliche Angriffe frühzeitig abzuwehren. Aus England war ein Gastredner namens Perseus Forester herübergekommen, der über die Kontrolle der Drachenbestände berichtete. Auch Donata Archstone, die kürzlich zur neuen Strafverfolgungsleiterin ernannte Ministeriumsbeamtin, die sich durch die Vereitelung eines schweren Verbrechens durch den abgesetzten Minister Pole verdient gemacht hatte, saß mit am Tisch.

"Das mit dem Schwert ist schon krass", sagte Perseus in einer lockeren Art, die eher Halbwüchsigen zugestanden wurde. "Als uns der alte McFusty davon erzählte, hat ihm keiner so recht geglaubt. Sein Enkel hat gegen Scrimgeour Beschwerde eingelegt, als rauskam, daß Sie-wissen-schon-wer wirklich so ein Flammenschwert hatte, mit dem er Drachen beeinflussen kann."

"Ich stelle es mir immer noch wie einen Alptraum vor", sagte Donata Archstone und betrachtete die fleischfarbenen Handschuhe des Briten. Dieser erkannte, was sie damit sagen wollte und bewegte leicht nervös seine Hände.

"Nun, ich habe für die notwendige Bekämpfung randalierender Drachen beide Arme eingebüßt. Der Ersatz ist zwar leistungsfähiger, sieht aber nicht so doll aus."

"Nun, wenn die wissbegierige Ms. Knowles vom Westwind hier wäre könnten Sie beide sich wohl einvernehmlich über die Vorr- und Nachteile magischer Prothesen austauschen", sagte der amerikanische Zaubereiminister. "Aber zum Glück muß die Presse ja draußen warten und ..."

"Minister Davenport, Sir! In Barstow wurde ein Haus in Trümmer gelegt. Eine Tote, Beryl Corner! Über dem Haus hängt ein grün leuchtender Riesenschädel mit einer Schlange, die dem aus dem Mund kriecht!" Rief eine höchst aufgeregte Stimme durch die geschlossene Tür.

"Das ist Lenny", sagte Davenport. "Donata, bitte prüfen Sie das sofort nach", sagte der Minister noch und wurde immer aufgeregter. Der grüne Totenschädel? Das dunkle Mal? hier in den Staaten? Das durfte nicht sein.

"Beryl Corner, die arbeitete in meinem Institut", knurrte Davidson und überspielte damit das spiegelblanke Entsetzen, das die in den Saal gerufene Nachricht bei ihm auslöste. der Stellvertreter des russischen Abteilungsleiters für die Aufsicht und Führung magischer Geschöpfe wandte sich an seinen britischen Kollegen. Der seufzte nur. Bis heute hatte man sich in den USA vor ihm sicher fühlen können. Doch das war wohl ein Trugschluß.

Wenige Minuten später stand fest, daß wahrhaftig das Haus einer Beryl Corner, Mitarbeiterin im Marie-Laveau-Institut, das Opfer eines Angriffs geworden war. Über dem noch brennenden Haus hing wie ein Mahnmal des Bösen jener grün leuchtende Totenschädel, aus dessen halb geöffnetem Mund eine Schlange herauslugte, die ihre gespaltene Zunge herausstreckte. Der Zaubereiminister selbst apparierte am Ort des Geschehens. Keine fünf Minuten später tauchten auch die ersten Reporter auf, darunter Linda Knowles von der Stimme des Westwinds, die zunächst ruhig in der Menge der ebenso zahlreichen Schaulustigen stand. Sie lauschte mit ihren besonderen Ohren auf jedes Wort, das die in fünfzig Meter Entfernung stehenden Beamten einander zuflüsterten. als sie heraushörte, daß die Tote im Laveau-Institut gearbeitet hatte beschloß sie, sich Davidson vorzunehmen. Doch dieser scheuchte sie mit einer harschen Geste und dem ebenso harschen Ruf: "Jetzt keine Interviews!" zurück. Sie wußte, daß sie in diesem Fall nicht zu voreilig vorgehen durfte. Morgen würde sie offiziell um einen Interviewtermin bitten, erst beim Minister, dann bei Archstone, der gerade erst einen Monat im Amt befindlichen Leiterin der Strafverfolgungsbehörde und dann bei Davidson. Ja, und vielleicht konnte sie auch die Ausbilderin der jungen Hexe interviewen, Jane Porter. So zog sie sich zurück und schrieb für ihren Redakteur eine brauchbare Kurzmeldung mit dem Hinweis, ein ausführliches Interview mit den wichtigsten Personen zu kriegen, die mit der Sache zu tun hatten.

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Jane Porter dachte an einen bösen Traum, als sie am nächsten Morgen aufwachte. So setzte sie ihre Suche nach der eingeschmuggelten Sabberhexe Morpuora fort. Sie war nun mehr denn jeh versessen, sie zu finden. Denn mit Morpuora hatte sie sich ja schon einmal anlegen müssen. So dauerte es vier Tage, bis sie aus den Wäldern zurückkehrte. Die Nachrichten, die sie nun erreichten, warfen sie fast um. Beryl war tot! Ihr Haus war niedergebrannt, und über den Trümmern hatte das dunkle Mal gehangen. Aber das konnte nicht stimmen! Der größenwahnsinnige Schwarzmagier hatte keine Verbündeten in den Staaten. Die waren alle durch einen sinnlos erscheinenden Bruderkrieg ausgelöscht worden, und danaach hatte es keinen erkennbaren Nachfolger mehr gegeben. Dann konnten nur die echten Todesser dieses Unheilszeichen an den Himmel beschwören. Sie ging davon aus, daß Voldemort sich zunächst einer gewissen Unterstützung in den Staaten versichern mußte. Dann fiel ihr was ein, was sie verbittert schnauben ließ. Das war nicht einer der lebenden Todesser, sondern jemand, der auf das Wissen eines enttarnten und überwältigten Todessers zurückgreifen konnte. Das war sie, die Wiedergekehrte.

Als sie von Reportern befragt wurde, was die Todesser an Beryl Corner interessiert hatte sagte sie ruhig:

"Bitte zitieren Sie mich wörtlich! Offenbar geriet meine junge, viel zu früh von uns gegangene Kollegin, die ich persönlich ausgebildet habe, auf einer Forschungsreise in England mit den dort berüchtigten Mitgliedern einer Gruppe skrupelloser Dunkelmagier über Kreuz. Offenbar befanden diese, daß es opportun sei, die gefährliche Zeugin, Mitwisserin oder Gegnerin zu beseitigen und schickten zu diesem Zweck einen der Ihren aus, sie zu töten, wobei sie es sich zu Nutze machten, daß wir in den Staaten bislang keine Probleme mit den wieder aktiven Mitgliedern jener Bande schwarzer Magier hatten und wir daher ernsthaft geschockt würden. Aber ich will Ihnen versichern, daß derartige Übergriffe ausländischer Zaubereiverbrecher nicht hingenommen werden und wir unsererseits nach dem Täter oder den Tätern suchen und sie im Bedarfsfall auch in anderen Ländern ergreifen. Der Minister hat mich darüber informiert, daß eine gegenseitige Übereinkunft mit den europäischen Kollegen, sowie der australischen Zaubereiministerin getroffen wurde, die Spur übergriffiger Verbrecher zu verfolgen, egal woher sie wohin gingen oder zurückkehren."

"Bedauern Sie es, Beryl ausgebildet zu haben?" Fragte Linda Knowles.

"Ich bedauere lediglich, daß ich nicht rechtzeitig bei ihr war um ihr zu helfen, selbst wenn es auch mich das Leben gekostet hätte."

Nach der improvisierten Pressekonferenz traf sich Jane Porter mit Davidson.

"Jetzt haben wir diesen Kerl auch bei uns", sagte Davidson.

"Vielleicht erst in einigen Tagen. Aber dann werden wir nicht das vorrangige Ziel sein, Elysius. denn die Person, die das dunkle Mal beschworen hat, hat mit den Todessern genau so wenig zu schaffen wie wir, eben nur von der anderen Seite her gesehen."

"Immer noch Ihre Vermutung, eine Wiedergekehrte Meisterhexe in einem anderen Körper?" Fragte Davidson.

"Jetzt erst recht", sagte Jane Porter.

"Dann sind sie vielleicht die nächste", meinte Davidson.

"Damit rechne ich, Davidson. Allerdings hat diese Hexe es nun auch mit den Todessern zu tun. Dieses Mal ist deren Markenzeichen. Die werden sich das nicht so einfach bieten lassen, daß hier jemand damit herumzaubert."

"Dann wird Voldemort alle amerikanischen Hexen angreifen, die nicht gerade friedfertig und menschlich sind?" Fragte der Chef des Laveau-Institutes.

"Hmm, ich denke, die gesuchte Hexe weiß, daß Voldemort es sich nicht leisten kann, hier in den Staaten Jagd auf sie zu machen. Der russische Schwarzkünstler Igor Bokanowski hat sich in den letzten Monaten wohl ruhig verhalten, aber das könnte sich sofort ändern, wenn sein Hauptkonkurrent sich nach Westen wendet. Ich denke, er beschränkt sich auf England."

"Ich hoffe, Sie haben recht, Jane. Ich meine, wenn unschuldige Menschen sterben ist es unbedeutend, wo es passiert. Aber einen regelrechten Weltkrieg der Zaubererorden wäre ein Alptraum", sagte Elysius Davidson.

"Sehe ich auch so", sagte Jane Porter kalt. Unterwegs zurück in ihr Büro faßte sie einen Entschluß. Ihr Leben mochte nur noch in Tagen oder Stunden zählen. Doch wenn sie schon gefährdet war, dann wollte sie zumindest herausbekommen, was wirklich gespielt wurde. So traf sie gewisse Vorbereitungen. Zu denen gehörte auch, daß sie sich bei ihrem Mann und ihren Kindern und Enkeln entschuldigte.

"Wer Beryl umgebracht hat ist nun auch hinter mir her", sagte sie. "Ich muß aufpassen, daß euch niemand was tut." Sie sprach Mitte Januar mit Professeur Faucon. Diese stimmte ihr zu, daß die wiedergekehrte Hexe, sei es Sardonia, sei es Anthelia, das dunkle Mal beschworen habe. Als das Gespräch vorbei war machte sich Jane auf zu einer Grotte in den Rocky Mountains. Vor anderthalb Jahren hatte sie Beryl hier etwas beigebracht, was sie selbst vor zwanzig Jahren erst erfunden, es aber nie veröffentlicht hatte. Sie dachte daran, daß Beryl wohl immer noch Tagebuch führte. So mochte sich ihr Exemplar noch immer in der Höhle befinden, zu der nur Beryl und sie Zutritt erlangten. Innerhalb der Höhle standen zwei rustikale Schatullen in einer von blauem Feuer beschirmten Nische. In einer dieser Kisten lag Beryls Tagebuch, angefangen am 31. Oktober 1995, nachdem sie von Jane Porter die neue Kunst der Mentiskription erlernt hatte, bei der man sich mit einer einfachen Adlerfeder in den Daumen stach und dann mehrere Zauber sprach, die die Feder auf Geist und Seele dessen einstimmte, der damit arbeiten wollte. Die Üblichen Zauber zur Herstellung einer Flotte-Schreibe-Feder gaben dem bezauberten Schreibgerät die Fähigkeit, gezielt an es gerichtete Gedanken zu Papier und Pergament zu bringen. Ein gedachtes Losungswort, verknüpft mit der bildhaften Vorstellung der Feder, aktivierten sie, wo immer sich der Verfasser gerade aufhielt. Buchstabentelekinese hatte Beryl das genannt, als sie es nach vier Ansätzen schaffte, einfache Sätze ohne Berührung der Feder und ohne ein lautes Wort hinzuschreiben. Wenn Beryl also noch immer Tagebuch geführt hatte, dann lag nun hier in einer dieser Schatullen das, was sie in den letzten Tagen ihres Lebens für notierenswert gehalten hatte. Sie hatten sich gegenseitig zu Wahrern der Schlüssel erklärt. So konnte Jane mit einem kleinen Schlüssel und einem Stupser des Zauberstabes die linke Schatulle öffnen. Darin lag ein aufgeschlagenes Notizbuch, auf dem eine Adlerfeder lag.

"Ich werde dieses Tagebuch sorgfältig lesen", sagte sie sich. "Dann werde ich überlegen, wie ich damit umgehe, was ich da zu lesen bekomme. Ich fürchte nur, daß ich nichts wesentlich unerwartetes lesen werde."

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"Meister, wart Ihr das?" Fragte ein treuer Todesser seinen Herrn und Gebieter. Voldemort funkelte ihn an und deutete auf die Zeitung, auf deren aufgeschlagener Seite das Schwarz-weiß-Foto des dunklen Males zu sehen war.

"Ich habe es nicht beschworen. War das einer von euch Schwachköpfen?" Schickte er die Frage zurück. Alle verneinten sofort.

"Dann hat uns doch glatt jemand unser Markenzeichen geklaut", schnarrte Voldemort. "Lass uns jetzt nicht groß hinterherjachern wie scharf gemachte Hunde. Genau das will der jemand haben. Wir müssen aufpassen, wenn Bokanowski wieder in Aktion tritt. Seine Doppelgänger gehen nicht nur den Russen auf die Nerven."

"Aber wenn wir das nicht waren, dann dürfen wir uns das nicht bieten lassen, wenn jemand anderes mit unserem Zeichen rumzaubert", warf ein weiterer Todesser eifrig ein.

"Keine Sorgen, wir werden uns drum kümmern. Aber erst wenn wir Bokanowski unter Kontrolle haben. Der kerl wird mir langsam zu überheblich. Ich denke, der kommt demnächst mit seinen Züchtungen über die Westgrenzen Russlands und Polens. Dann sollten wir uns nicht in der Jagd auf diesen Fälscher versteigen. Den kriegen wir sobald wir uns mit dem Russen geeinigt oder ihn aus dem Verkehr gezogen haben."

"Ja, aber von wem hat der das gelernt?" Wollte ein dritter Todesser wissen. Bellatrix Lestrange grummelte leise in sich hinein. Lord Voldemort fauchte:

"Wer immer das war sollte froh sein, wenn er nicht mehr am leben ist, wenn ich das rausfinde." Betretenes Schweigen war die Antwort. Jeder verdächtigte jeden. Das amüsierte Voldemort, wenngleich ihn die Nachricht, sein dunkles Mal sei in Kalifornien aufgetaucht, genauso erschreckt hatte wie alle sogenannten anständigen Hexen und Zauberer. Ihm war sofort klar, was das bedeutete. Die Hexe, die ihm zweimal begegnet war, die in Barty Crouch Juniors zur Frau umgewandeltem Körper lebte, hatte Bartys Wissen übernommen. Wenn sie das Mal beschwören konnte, dann wußte sie auch alles andere, was Crouch Junior wußte auch über die Todesser. Dann kannte sie auch den Treffpunkt der Todesser. Diese Tatsachen erschütterten das sonst so unerschütterliche, auf Machtgewinn ausgerichtete Gemüt des durch Experimente entstellten Zauberers. Wahrscheinlich hatte sie ihm auch diese Schlappe im Haus dieses irischen Flohsacks beigebracht. Er ärgerte sich, daß er diese Hexe nicht sofort aus der Geschichte gebrannt hatte, wo er sie vor Yanxothars Flammenschwert hatte. Sie hatte ihn am Leben gelassen, um ihn zu demütigen. Er hatte sie am Leben gelassen, um ihr seine Überlegenheit zu zeigen, daß er nun mit dem Schwert des alten Feuermagiers die Welt nach Belieben beherrschen oder zerstören konnte. Doch das mächtige Schwert war ihm bald darauf schon wieder entwunden worden, in einer einzigen umnachteten Situation, wo er meinte, einen Menschen, der mit einem Drachen verschmolzen war zum Reittier abrichten zu können. Jetzt war er das Schwert los, und die vermaledeite Wiederkehrerin, Sardonia oder Anthelia - das mußte er noch rausfinden, wenn er sie aus der Ferne verfluchen wollte - triumphierte nun über ihn und verhöhnte ihn, indem sie ihm und der Welt das Dunkle Mal vorführte. Doch vorerst galt es, Igor Bokanowski an seinem Höhenflug zu hindern. Doch wie sollte das gehen, wenn dieser Wicht mehrere Doppelgänger von sich über das ohnehin schon zu große Russland verteilte. McNair hatte es ihm nach seinem Ausflug zu den Riesen gesagt, daß es sehr schwer sei, irgendwen oder irgendwas dort aufzuspüren, wenn es nicht am selben Fleck blieb und mehr als fünf Meter groß war. So blieb ihm im Moment nur die Abwartehaltung. Abwarten und den möglichen Vorstoß nach Westen früh genug abzufangen, damit dieser Doktor nicht meinte, sein Territorium beliebig ausdehnen zu können.

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Igor Bokanowski war zufrieden. Er hatte seine Projekte schneller wieder ausführen können als er ursprünglich befürchtet hatte. So hatte er nach dem Orthodoxen Neujahrsfest fünfzig Doppelgänger von sich, in jeder größeren Stadt Russlands einen. Er hatte über die Seelensterne, diese kleinen, schleimigen, seesternartigen Kontrollwesen, eine Möglichkeit bekommen, jeden einzelnen Doppelgänger Exosensorisch zu überwachen und zu steuern, was ihm die Vorstellung eingab, er würde ständig apparieren, ohne das anderswo seine Arbeit unterbrochen würde. Zu seiner großen Erleichterung hatte Voldemort darauf verzichtet, weitere Drachen in sein Land zu schicken. Wie er das überhaupt geschafft hatte mußte er noch rauskriegen.

Seine Insektenmenschen waren ebenso wieder in ausreichender Zahl vorhanden, da er hauptsächlich Küchenschaben, Flöhe und Bettwanzen verwendet hatte. Er hatte einige seiner Doppelgänger mit Verbrechern der Magielosen verhandeln lassen, angeblich weil er für eine illegale Organtransplantationsfirma arbeitete. Nur einmal war ihm ein solcher Gauner quergekommen, weil der versucht hatte, ihn zu erschießen, beziehungsweise den betreffenden Doppelgänger erschossen hatte. Igor hatte den Kerl und die meisten Mitglieder seiner Bande von seinen nnachgezüchteten, jetzt wesentlich vermehrungsfreudigeren Packratten einfangen lassen und sie in seine Versuche einbezogen. Nun, am siebzehnten Januar 1997 westlicher Zeitrechnung, wollte er seine Insektenmenschen und Ungeheuer zum Einsatz bringen. Doch er wollte nicht einfach so losschlagen, sondern es genießen, wie man vor ihm zitterte und sich in großer Hektik darum bemühte, ihn und seine Kreaturen aufzuhalten. Sicher wußten Arcadis Leute nun, daß Bokanowski mehrere Abbilder von sich in Umlauf gebracht hatte. Zumindest sollten sie das nach dem achten getöteten Doppelgänger begriffen haben. Also konnte er jetzt in Ruhe in seiner Burg sitzen wie eine Spinne im Netz, mit seinen Abbildern als Signalfäden und seinen Monstern als Fangfäden. So schickte er Doppelgänger 27 ganz offen vor das Tor des russischen Zaubereiministeriums, im Gepäck zwei Krawummkäfer, die er als kleines Gastgeschenk überreichen sollte.

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Juri Petrov war gefangen in einer Mischung aus Angst und Wut. Ja, abgrundtiefer Haß, heiß und tief wie die Hölle selbst, hatte ihn ergriffen. Bokanowski lebte! Jener Zauberer, den sie einmal als schlafenden Drachen bezeichnet hatten, hatte sich zu einem Dämonen mit vielen Körpern entwickelt. Er fühlte nichts mehr, als seine Leute ihm zum achten Mal berichteten, seine Leiche vorweisen zu können.

"Er hat eine Methode entwickelt, perfekte Doppelgänger von sich zu erschaffen, die über ein übliches Simulacrum hinausgingen. Denn wenn sie starben verwesten sie nicht innerhalb weniger Minuten, sondern durchliefen alle Stadien der Totenstarre wie ein echter Mensch. Bei den ersten vier Malen hatte er sich noch gefreut. Doch bei jedem Mal mehr hatte er sich immer gesagt, daß es wieder nur ein Doppelgänger sein konnte, ein Klon, wie ein von Magielosen abstammender Kollege von ihm sagte, der in einer kleinen Zauberschule bei Kaliningrad gelernt hatte, weil sie ihn in Durmstrang nicht haben wollten.

"Der kann hunderte von sich selbst losschicken", knurrte er, als er im Amtszimmer des Zaubereiministers saß. "Wenn er es dann auch noch hinbekommt, die alle mit seinem Wissen zu präparieren, daß sie an seiner Stelle handeln können, ist er der perfekte Herrscher, wenn wir ihm die Macht überlassen. denn er kann dann überall zugleich sein."

"Ich weiß, Juri, daß Sie sich die Vorwürfe machen, nicht rigoros genug gegen Bokanowski vorgegangen zu sein. Jetzt ist er fast schon übermächtig. Aber trotzdem werde ich dem nicht meinen Stuhl überlassen. Wenn er so übermächtig auftritt, werden mögliche Feinde nicht lange auf sich warten lassen. Das würde einen Krieg geben, der unser schönes Land ins absolute Chaos stürzt", sagte der russische Zaubereiminister entschlossen. "Abgesehen davon, woher kriegt der eigentlich so viele Zauberstäbe, daß seine Abbilder tatsächlich gegen Ihre Leute kämpfen können? Wenn sie wirklich sein Wissen haben, wie stellt er, also der ursprüngliche Bokanowski es an, daß sie nicht denken, die echten zu sein und ihm in den Rücken fallen? Vielleicht ist seine Selbstvervielfältigung auch seine größte Schwachstelle, seine Angriffsfläche sozusagen. Er meint, je mehr Doppelgänger er in die Welt setzt, desto unerschütterlicher ist er. Doch auch wenn er sich wie eine Hydra mit hundert Köpfen aufführt, muß er allein den Überblick behalten. Bei hunderten von Doppelgängern, die alle wie er handeln wird das nicht so einfach sein."

"Das habe ich mir auch schon überlegt, Herr Minister", grummelte Juri Petrov. "Aber diese Hydra, wie Sie ihn nennen, hat bereits zwanzig meiner besten Leute umgebracht. Ich suche immer nach dem eigentlichen Stützpunkt dieses Mistkerls. Und glauben Sie mir, wenn ich weiß, wo der ist, hole ich mir eine dieser Superbomben der Magielosen und radiere den restlos aus, daß da Jahrhunderte lang nichts mehr nachwächst."

"Nana, Juri. Ich weiß, die Ohnmacht treibt Sie dazu, diesen Kerl abgrundtief zu hassen. Aber mit Haß kommen wir ihm nicht bei", maßregelte ihn der Zaubereiminister. Juri wollte schon aufspringen und seinen Vorgesetzten anbrüllen, daß er es leid war, sich von diesem Bokanowski wie ein schwächlicher Säugling vorführen zu lassen. Doch der Minister lächelte tiefgründig und trieb es ihm aus.

"Juri, ganz ruhig. Ich habe schon gegen Dutzende von Leuten kämpfen müssen, die meinten, mich einfach so von der Erdoberfläche verschwinden lassen zu können. In den meisten Fällen konnte ich nur überleben, weil ich meine Wut und jeden Anflug von Haß zurückgedrängt habe. Die Aktion in Murmansk, die Sie vorgestern veranstaltet haben, war zu überzogen. Fünfzig Festnahmen und keinen einzigen wirklich verdächtigen, einen dieser Doppelgänger unterstützt zu haben. Sie gehen auf sein Spiel ein, werden selbst grausam und brutal. Wenn Sie nicht lernen, das abzustellen sind Sie nicht besser als er. Das sage ich Ihnen deshalb, weil ich Sie nicht verlieren will. Es täte mir sehr leid, Sie Ihres Amtes zu entheben, um Schaden von uns abzuhalten."

"Herr Minister, bei allem Respekt", setzte Petrov an. Doch Arcadi strahlte unvermittelt eine unbeugsame Entschlossenheit aus und hielt seinen Zauberstab in der Hand, als müsse er einen bevorstehenden Angriff abwehren.

"Ich weiß, Sie fühlen sich jetzt verletzt. Aber ich mußte Ihnen das jetzt sagen", sagte der Minister wild entschlossen, während Juri Petrov vor Aufregung zitterte, seine Augen wild funkelten und er seinem Dienstherren allzu gerne den Hals umgedreht hätte. Wellen der Wut drohten seinen Verstand zu ertränken. Doch dann kämpfte sich dieser durch. Es stimmte. Mit Haß allein würde er Bokanowski nicht besiegen können. Aber durch den Haß war seine Entschlossenheit gestigen, ohne Rücksicht auf Verluste zu kämpfen.

"Herr Minister, Sie glauben nicht, wer gerade ganz offen vor unserem Tor erschienen ist", klang eine Stimme aus unsichtbarer Quelle. Minister Arcadi verzog das Gesicht zu einer grimmigen Grimasse. Dann nickte er. Er wandte sich der gegenüberliegenden Wand zu und sagte: "An das Tor! Lassen Sie Bokanowski zu mir vor!"

"Das ist nicht wahr, Herr Minister", schrillte Petrov. "Wenn er es ist oder eines seiner Abbilder, will er Sie bestimmt töten. Sie dürfen ihn nicht an sich heranlassen."

"Habe ich gesagt, an mich heranlassen? Vorlassen habe ich gesagt", knurrte der Minister. Juri Petrov nickte. Das Büro Arcadis war mit einer Vielzahl von Schutzzaubern versehen. Doch reichten diese, um auch den Todesfluch abzuwehren?

Begleitet von drei Wachen trat ein kleiner, gedrungener Mann im dunkelvioletten Umhang in das Büro des russischen Zaubereiministers ein. Auf dem Kopf trug er einen schwarzen Zylinder und sein schmales, beinahe dreieckiges Gesicht verriet, daß der Besucher sich seiner Sache sicher war. Die dunklen Augen blickten spöttisch zu Juri Petrov hinüber, der mit wutrotem Gesicht den Eindringling ansah.

"Bleiben Sie vor der Tür, um meinen Gast nachher wieder nach draußen zu geleiten", sagte Arcadi ruhig. Seine Wachen stutzten. Petrov wollte schon sagen, diesen dreisten Eindringling festzunehmen. Doch dann wäre eine Stunde später der nächste widerliche Wechselbalg vor dem Ministerium und würde Einlaß begehren. Es reichte schon, daß sie acht gleich aussehende Leichen zusammengehäuft hatten. Hunderte von gleich aussehenden Gefangenen wollte Petrov nicht auch noch auf seiner Liste der Versäumnisse stehen haben.

"Ah, der gute Juri Petrov ist auch anwesend", grüßte der nicht ganz willkommene Besucher mit sonorer Baritonstimme. Gang, Aussehen und auch Stimme waren eindeutig die Bokanowskis. Die Tür schloß sich hinter ihm. "Macht es Spaß, immer wieder gegen eine Wand zu laufen?" Fragte der Besucher provozierend.

"Der wievielte Abklatsch du auch bist. Irgendwann drehen wir den Hahn zu, aus dem ihr heraustropft", knurrte Petrov. Arcadi räusperte sich warnend. Bokanowski, beziehungsweise dessen Abbild grinste verschlagen und erwiderte:

"Ich bin Doktor Bokanowski. Als der haben Sie, Herr Petrov, mich gefälligst anzusprechen. Aber ich bin aus anderen Gründen hier, als mich mit einem wild kläffenden Jagdhund zu befassen. Guten Morgen, Herr Minister!"

"Nehmen Sie Platz, Dr. Bokanowski. Schon lange her, daß man Sie in gesitteten Kreisen zu sehen bekam", erwiderte Arcadi gelassen, als spräche er mit einem völlig harmlosen Gast. Er bot dem Besucher einen Stuhl an. Dann preschte er unvermittelt vor und schockte damit nicht nur Petrov, sondern auch den Mann, der sich als Bokanowski ausgab. "Sie kommen bestimmt zu mir, um mir anzubieten, Ihre Errungenschaften und Möglichkeiten zum Vorteil Russlands einzusetzen und mir vorzuschlagen, Ihnen meine Befugnisse und Würden zu überlassen, damit Sie in diesem Sinne handeln können, nicht wahr?"

"Öhm, an und für sich bin ich nur gekommen, um mich nach Ihrem werten Befinden zu erkundigen", sagte Bokanowski. "Es geht mir darum, die Lage zu besprechen, die sich nun für Sie und für mich darstellt. Wir wissen beide, daß es so wie es jetzt ist nicht bleiben kann. Oder können Sie mir sagen, Wie Sie die Angelegenheit Voldemort bewältigen wollen. Immerhin hat er dreißig Drachen auf irgendeine Weise dazu angestiftet, unsere Städte anzugreifen."

"Oh, hat da jemand im Garten des Nachbarn geplündert", feixte Petrov. Der Minister sah seinen Untergebenen warnend an und gebot ihm zu schweigen. Dann wandte er sich an Bokanowski:

"Nun, wie er das auch immer angestellt hat, irgendwer hat die Drachen sehr erfolgreich vernichtet, bevor sie noch mehr Schaden anrichten konnten. Ich gehe mal davon aus, daß Sie das waren, Herr Doktor."

"Da gehen Sie richtig aus", bestätigte Bokanowski im ruhigen Ton. "Ich hatte die Möglichkeiten und sah es als meine patriotische Pflicht, dem Angriff Einhalt zu gebieten. Da sie offenbar nicht im Stande sind, derlei zu bewältigen, habe ich überlegt, daß es wohl besser sei, Ihnen meine Hilfe anzubieten, beziehungsweise, vorzuschlagen, um des Gemeinwohls aller reinblütigen russischen Zauberer wegen meine Möglichkeiten mit denen Ihres Ministeriums zu vereinen. Da ich jedoch weiß, daß sowohl meine Auffassung von nötigen Maßnahmen als auch meine Kennntnisse das Verständnis Ihrer Mitarbeiter übersteigen, schlage ich vor, die Gesamtleitung aller nötigen Maßnahmen zu übernehmen."

"Oh, dann hatte ich doch recht", erwiderte Arcadi immer noch gelassen, während es in Petrov brodelte wie in einem Vulkan kurz vor dem Ausbruch. "Dann hätte ich jedoch von Ihnen als entschlossenen Zauberer der Sie sind erwartet, daß Sie nicht lange darum herumreden. Also, was haben Sie mir anzukündigen?"

"Ich sehe, Sie wollen Ihre und meine Zeit nicht mit der sonst gebotenen Höflichkeit vertun, was mir beweist, daß Sie sich der aussichtlosen Lage, in der Ihr Ministerium steckt wohl bewußt sind. Also gut: Es wird Zeit, daß der Wildwuchs sogenannter freiheitlicher Werte, die zu nichts als Unordnung und Undiszipliniertheit und noch dazu Verwässerung der Zaubererwerte führte, lange genug angedauert hat und jetzt beseitigt werden sollte, bevor ausländische Elemente uns diktieren, was gut oder schlecht für uns ist. Es wäre ehrenvoll für Sie und Ihre Mitarbeiter, wenn Sie die Führung der russischen Zaubererschaft denen überlassen, die nicht durch Skrupel oder weltfremde ethische Normen gehemmt sind. Dieses Land braucht eine starke Hand und einen klugen Kopf. Ich habe beides und werde die Magier dieses Landes zur wahren Größe führen. Die Einrichtung dieses Ministeriums ist ein unverzeihlicher Fehler. Wir brauchen weder eine Verbindung zu den Magielosen, noch ist es nötig, mehr als fünf Abteilungen zu besitzen und neben den von mir erwähnten Hemmungen auch einen riesigen Paragraphenwirrwar zu unterhalten. Ich habe lange genug gewartet, bis ich mir meiner Sache sicher sein konnte, daß ich und nur ich die Zaubererschaft Russlands führen und zu einer weltweit anerkannten Macht verhelfen kann. Deshalb biete ich Ihnen an, ohne weiteren Widerstand alle Tätigkeiten des Ministeriums gemäß dieser Vorschlagsliste in meine bewährten Hände zu legen." Er holte vorsichtig eine Pergamentrolle heraus und legte sie auf den Tisch. Arcadi nickte, blieb aber auf der Hut. "Sollten Sie befinden, daß Ihre Auffassung von anständiger Zauberergesinnung mit dieser Liste unvereinbar ist und Sie meinen, Ihr Existenzrecht verteidigen zu müssen, werden Sie spätestens in einer Woche gezwungen sein, unehrenhaft aus dem Amt zu scheiden, falls Sie nicht sogar Ihre berühmte Auffassungsgabe und Ihren Intellekt vergessen und sich auf höchst unsinnige Tollkühnheiten einlassen. Eine Woche Bedenkzeit räume ich Ihnen und Ihren Leuten ein, zu erkennen, daß sie mir besser gleich als gar nicht die nötigen Befugnisse erteilen, den inneren und äußeren Frieden zu sichern. Unser Land ist zu groß, als es an so vielen Stellen unüberwacht zu lassen wie Sie es bisher getan haben. Ansonsten werde ich meiner patriotischen Überzeugung folgen und die mir als einzig richtig erscheinenden Maßnahmen ohne Ihren Segen durchführen, was für Sie bedeutet, daß Sie in einer Woche Amt und Würden verlieren werden. Um Ihnen eine Kostprobe der mir zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zu geben habe ich Ihnen etwas mitgebracht, daß Sie gerne untersuchen dürfen", sagte Bokanowski noch und holte mit sehr bedächtigen Bewegungen ein großes Glas mit Metalldeckel heraus. In dem Deckel waren winzige Luftlöcher, und kaum war das Glas aus der weiten Umhangtasche heraus, begannen zwei hünereigroße Käfer mit silbernen Panzern und violetten Flügeln aufgeregt im Glas herumzubrummen. Petrov starrte auf die unnatürlichen Insekten, deren metallisch glitzernde Beißwerkzeuge klickend gegen das Glas schlugen. Bokanowski setzte das Glas auf den Tisch und deutete noch einmal auf die Liste. "Heute ist der vierundzwanzigste Januar. Bis zum ersten Februar erwarte ich die Auflösung des Zaubereiministeriums und den Beginn der auf der Liste erwähnten Maßnahmen. Ansonsten werde ich Ihnen die Entscheidung abnehmen müssen. Ach ja, die kleinen Kerle in dem unzerbrechlichen Glas müssen jede zweite Stunde mit frischem Fleisch und Silberstaub gefüttert werden, sonst überleben sie nur einen Tag und daß wäre ziemlich verhängnisvoll, wenn sie Ihnen eingingen. Denn diese netten Tierchen haben mir dabei geholfen, die dreißig dreisten Drachen, die jener, der sich Voldemort nennt zu uns geschickt hat, zu erlegen. Aber über die steht auch was auf der Liste meiner vorgeschlagenen Maßnahmen. Ich empfehle mich nun." Er stand auf und wandte sich der Tür zu. Arcadi sprach ihn an und meinte:

"Seit wann spielen Sie den Diplomaten, Igor? Ich hatte jetzt doch glatt ein einfaches Ultimatum oder einen heimtückischen Mordversuch von Ihnen erwartet. Wenn Sie wirklich so stark geworden sind, was bringt sie dazu, eine Woche lang zu warten, ob ich Ihnen mein Ministerium vor die Füße lege?"

"Der Umstand, daß Sie ein Volksheld sind, Arcadi", knurrte Bokanowski und griff nach der Tür. Doch diese ging nicht auf. Er wirbelte herum und starrte böse auf den Minister, der ganz ruhig zurückblickte und weitersprach:

"Sie kommen hier her, reden erstt um den heißen Brei herum, was sonst nicht Ihre Art ist und legen mir dann eine Maßnahmenliste hin, die ich wohl nur einmal lesen muß, um zu wissen, was ich davon halten soll, stellen mir zwei illegal erschaffene Insekten hin, von denen Sie sagen, daß deren Tod üble Folgen hat und lassen mir eine Woche Zeit, mich und die russische Zaubererwelt Ihrer Gnade auszuliefern. Was, wenn ich wirklich so kleinmütig wäre und nur weil Sie meinen, Leben besser als die Natur selbst hervorbringen zu können und in unzähligen Abbildern im Land herumlaufen alles aufgebe, was ich in den letzten Jahrzehnten mit meinen Mitarbeitern erreicht habe. Werden dann nicht Ihre Feinde denken, ein Krieg gegen uns wäre die einzige richtige Lösung, um Sie aus dem Weg zu räumen? Würde das von Ihnen in heuchlerischer Weise erwähnte Chaos nicht gerade dann über uns kommen, wenn ich Ihnen alles überlasse? Glauben Sie denn wirklich, Sie wären der einzige, der gerne alle Macht in seinen Händen halten möchte? Sie erwähnten diesen Voldemort, der den Westen terrorisiert. Von dem weiß ich, daß er ebenso versucht hat, den Zaubereiminister aus dem Amt zu graulen, es aber nicht geschafft hat, das Ministerium mit Gewalt zu zerschlagen. Da Sie das offenbar auch nicht können kommen Sie her und faseln was von Ihrer patriotischen Pflicht und der Sorge um die russische Zaubererschaft, wobei Sie zumindest ehrlich zugaben, daß Sie nur noch die Reinblütigen bevorzugen wollen. Es werden aber immer noch Kinder mit Zauberkräften geboren, die magielose Eltern haben. Wollen Sie alle Menschen ausrotten, die solche Kinder bekommen können und die, die es schon gibt gleich mit? Dafür wird Sie keiner ehren, und das ist es, warum Sie mir diesen hahnebüchenen Besuch machen. Sie wissen, daß meine gewaltsame Entmachtung Ihnen vielleicht eine gewisse Macht einbringt, aber sie auch von der restlichen Welt ausschließt. Da können Sie sich millionenfach selbstvervielfältigen. Sie werden immer allein sein, umringt von Feinden und Leuten, die Freudenfeste feiern werden, wenn es Sie nicht mehr gibt. Ich war wie Sie in Durmstrang und habe die dortige Doktrin erlebt, ja mich sogar davon anstecken lassen und mich glücklich und stolz gefühlt, ein reinblütiger Zauberer zu sein. Ich mußte aber später lernen, daß die Welt nicht so lupenrein und klar abgrenzbar ist. Deshalb bin ich heute noch Minister, obwohl Leute wie Sie versucht haben, mich aus dem Weg zu räumen, weil ich gelernt habe, die Vielfalt des Lebens zu achten, aus den unterschiedlichen Stärken und Schwächen ein gemeinsames Fundament zu schaffen, auf dem wir alle unser großes Haus bauen können. Sie leben seit ihrer Aprobation als Heiler und dieser Sache in Novosibirsk in dem Glauben, daß Durmstrangs Lehre die einzig richtige sei, "Persisteat Purum", Das reine bestehe fort. Sie sind schon seit Jahren nicht mehr aus Ihrer Behausung gekommen. Woher wollen Sie wissen, wie die Welt funktioniert? Ach ja, Sie experimentieren mit lebenden Wesen herum, entführen Menschen, machen Sie zu bedauernswerten Ungetümen oder fabrizieren fortlaufend Ebenbilder von sich. Weil Sie wissen, daß das allein nichts bringt und weil Ihnen bereits zu viele Feinde das Leben schwermachen sollen wir vom Ministerium Ihnen helfen. Denn wenn Sie ernsthaft meinten, immer schon ein Patriot zu sein, hätten Sie vor Jahrzehnten schon an mich herantreten und mir Ihre Vorschläge für eine bessere Zukunft überreichen können. So, und jetzt dürfen Sie gehen, falls Sie nicht meinen, mich hier und jetzt anzugreifen."

"Sie werden an Ihrer Überheblichkeit ersticken, Arcadi", sagte Bokanowski merkwürdig unbeeindruckt. Dann ging die Tür auf. "Ich werde mich nicht hinreißen lassen, all die Schutzzauber in diesem Raum gegen mich aufzubringen", zischte er noch. Dann wurde er von den drei Wachen hinausgeführt.

"Das war jetzt sehr riskant, Herr Minister", knurrte Petrov.

"Danke gleichfalls", erwiderte der Minister tadelnd. "Ich wollte wissen, was er will und wie er es anstellt, und Sie hätten ihn fast dazu getrieben, Sie hier und jetzt umzubringen, ohne daß ich weiß, woran ich bei ihm bin."

"Wissen Sie es denn jetzt?" Begehrte Petrov auf und deutete auf das Glas mit den immer wilder brummenden Käfern, die nun auch gegen den Metalldeckel flogen.

"Wenn ich diese Kreaturen ins Hochsicherheitslabor habe schaffen lassen, damit wir sie untersuchen können, werde ich diese Liste lesen. Ich kann mir zwar schon vorstellen, was er will, aber es zu lesen ist allemal interessant. Natürlich werde ich ihm das Ministerium nicht überlassen. Denn dann würde genau das Chaos ausbrechen, daß er angeblich verhindern will. Außerdem bin ich der Minister aller Zauberer und Hexen, nicht nur der Alteingesessenen. Auch wenn es unter denen doch noch sehr viel Unmut gibt, weil die Durmstrang-Absolventen die aus Kaliningrad und anderen kleineren Schulen herablassend behandeln oder sie gar als "Unwürdige" bezeichnen." Er rief nach einer anderen Wache und befahl, die beiden Käfer im Glas in ein Hochsicherheitslabor zu schaffen, daß für Gifte und Explosivstoffe eingerichtet war. Einen dieser Käfer sollte man wie von Bokanowski erwähnt füttern. Den anderen sollte man töten und sezieren, sofern von dem was übrig blieb, was sich sezieren ließ. Dann schloß er wieder die Tür und nahm die Liste der sogenannten nötigen Maßnahmen. Er las sie, runzelte die Stirn, nickte ein- oder zweimal und sagte dann: "Er behauptet, unter den Zauberern und Hexen genug Anhänger zu haben, die mir und ihm gerne helfen wollen, den Übergang so reibungslos wie möglich zu gestalten. Darüber hinaus erwartet er, daß er mit den Ministern Bulgariens, Polens, Böhmens, Mährens, der Slowakei, Rumäniens, Ungarns und der baltischen Länder ein ähnliches Übereinkommen treffen kann. Er malt aus, daß Voldemort eine Armee dieser Dementoren hinter sich vereint habe, mit denen er bald einmarschieren wolle und schlägt vor, die von ihm zusammengestellten Hilfstruppen an den westlichen Landesgrenzen und auch an den Grenzen zu Alaska und den muslimischen Ländern aufzustellen, ja in diesen einen sogenannten Schutzbereich für uns zu schaffen. Frecher geht's echt nicht mehr."

"Was ist, wenn er sich mit jenem britischen Schwarzmagier verbündet?" Fragte Juri Petrov.

"Eine Abmachung unter Dieben wird immer gebrochen, Juri", sagte Arcadi. "Sie haben schon einen Burgfrieden, wenn ich diesen Schrieb hier richtig deuten darf. Aber der dürfte durch die Drachenattacke gebrochen sein. Nun warten sie wohl wer den ersten Schlag führt. Deshalb will Bokanowski, der nicht weiß, daß die Heilerzunftt ihm vor fünfzig Jahren schon den Doktortitel wieder aberkannt hat, auf friedliche Weise an die Macht bei uns kommen. Denn wenn er mit Voldemort beschäftigt ist, wäre ein funktionierendes Ministerium ein unvorhersehbarer Störfaktor. Deshalb wird er uns, so wie ich das sehe, in einer Woche wohl mit seinen "Hilfstruppen", bestimmt Züchtungen wie diese Käfer und die Ameisenmenschen, unsere Ohnmacht vorführen und uns auf die harte Tour aus dem Weg schaffen. Wahrscheinlich will er nach außen hin ein Exempel statuieren, dem britischen Dunkelmagier beweisen, daß er die Macht in seiner Heimat übernehmen kann, was diesem Voldemort trotz aller Grausamkeit doch noch nicht gelungen ist. Er will uns glauben machen, wir stünden mit dem Rücken zur Wand, Juri. Dabei zeigt gerade diese Liste hier, daß er es ist, der am Rande eines Abgrunds steht und krampfhaft nach einer Möglichkeit sucht, diesen Abgrund zu überwinden. Sie, Juri, werden die Jagd auf die Ebenbilder zurückstellen und gezielter nach Höhlen oder anderen Verstecken suchen, wo er seine Züchtungen aufbewahren könnte. Sie haben die Erlaubnis, alles zu töten, was nicht auf natürliche Weise entstanden ist."

"Das schließt die Doppelgänger ein", knurrte Juri Petrov. Dann grinste er unvermittelt. "Sie sagten vorher, er müsse die alle unter Kontrolle halten, damit die nicht glauben, sie wären das Original. Wäre es nicht hilfreich, herauszukriegen, wie er das macht und ob wir uns das nicht zu Nutze machen sollten, die alle zu befreien, damit sie sich gegenseitig auslöschen?"

"Hmm, ich weiß schon, warum Sie mein bester Mann für die Jagd auf dunkle Kreaturen sind, Juri. Ich habe ja gesagt, daß diese Doppelgängerei eine reine Illusion der Stärke sei. Tatsächlich könnte es die größte Angriffsfläche sein, die er uns bietet, um seinen Machthunger zu ersticken. Versuchen Sie solche Doppelgänger zu Fangen, wenn wir wissen, wo die niederen Kreaturen sind, die er sicherlich gezüchtet hat."

"Ich werde die Suche nach ihnen einleiten", sagte Juri Petrov. Arcadi nickte. Dann fragte Juri noch: "Noch eine Frage, Herr Minister: Was wäre passiert, wenn dieser Doppelgänger Sie mit dem tödlichen Fluch angegriffen hätte?"

"Ein Ortsversetzungszauber hätte mich sofort in Sicherheit gebracht, wenn er das erste Wort ausgesprochen hätte. Deshalb durfte ich es mir im Gegensatz zu Ihnen herausnehmen, diesem größenwahnsinnigen Kerl meine Meinung zu sagen, weil dieser Schutzzauber nur den amtierenden Minister beschützt und sonst keinen."

"Sie hätten doch auch so disapparieren können", erwiderte Juri.

"Nicht schnell genug. Daher der Schutzzauber", sagte der Minister.

Juri Petrov veranlasste die Suche nach Höhlen, verlassenen Gebäuden oder Waldverstecken, wo Bokanowskis Monster untergebracht sein sollten. Doch er wußte, daß sie es nicht verhindern konnten, daß der Feind seine Drohung wahrmachen würde.

__________

Kurt Lehmann vom deutschen Bundesgrenzschutz stellte den leeren Kaffeebecher auf den Schreibtisch in dem Grenzposten an der deutsch-polnischen Grenze. Er hoffte auf eine friedliche Nacht, ohne Schmuggler, Schleuser oder andere Kriminelle, die von Deutschland nach Polen oder aus Polen nach Deutschland wollten. Sein Kollege Schmidt, der vom BGS Köln zu ihm herübergeschickt worden war, intonierte gerade ein Stimmungslied seiner rheinischen Heimat. Lehmann gewann diesem Getue um den Karnevall nichts ab. Auf Knopfdruck zu lachen und sich mehr oder weniger gelungene Witze oder Spottreden anzutun, in Kostümen rumzulaufen und vor allem auf Teufel komm raus zu feiern und sich hemmungslos zu amüsieren war für den Mann, der vor sechs Jahren noch Volkspolizist der DDR gewesen war ein grober Verstoß gegen Sitte und Anstand. Aber sie waren Kollegen und mußten sich arrangieren. So beließ es Lehmann, der denselben Dienstrang innehatte nur bei einem verhaltenen: "Hier ist nicht der Rhein, sondern die Oder." Schmidt erwiderte darauf:

"Entschuldijung, is schon klar."

"Ich denke, wir müssen gleich raus, unseren Abschnitt ablaufen", sagte Lehmann und kontrollierte seine Ausrüstung, das Nachtsichtgerät, das Sprechfunkgerät, das Mobiltelefon, die Stablampe und seine Dienstpistole. Dann packte er noch einen Satz Handschellen ein. Es war ihm schon immer wichtig gewesen, auf alles gefaßt zu sein. Früher, wo er für die Volkspolizei gearbeitet hatte, trug er sogar noch eine Maschinenpistole. Irgendwie empfand er die Ausrüstung trotz des technischen Fortschritts als unzureichend. Bei einem Feuergefecht mit einer Drogenschmugglerbande vor einem halben Jahr war sein Kollege schwer verletzt worden. Aber bis heute hatten sie keine schußsichere Schutzkleidung bekommen und der Antrag auf Automatische Waffen oder weitreichende Gewehre schwamm auch noch irgendwo im zähen Strom der Bürokratie. Doch was hätte er sonst machen sollen? Einige Kollegen, die bei der Polizei geblieben waren hatten wesentlich mehr Ärger um die Ohren als er. Eine kölsche Frohnatur wie Schmidt war da echt das kleinere Übel.

In Ordnung, los geht's!" Sagte Lehmann. Schmidt nickte ihm zu. Dann gingen sie los.

Eine geraume Weile hörten und sahen sie nichts verdächtiges. Nur die Geräusche der einige Kilometer weiter fort liegenden Autobahn, sowie die Laute von Nachttieren, die im grenznahen Wald lebten und sich nicht um Zuständigkeiten, Ein- und Ausreise scheren mußten, drangen zu ihnen vor. Mit den Nachtsichtgeräten war auch nichts auszumachen.

"So darf das bis morgen früh bleiben", meinte Schmidt. Lehmann nickte.

"Dich langweilt das aber wohl, was Jupp? Keine Stimmungskapelle weit und breit, und keiner der Helau schreit."

"Ey, passens op he! Alaaf, net Helau, Jung", zischte Schmidt. Lehmann meinte dazu nur, daß das für ihn uninteressant sei, wie wo gerufen wurde. Dann stutzte er. Nörrdlich von ihm schien der Wald noch dunkler zu werden als die Nacht es schon war. Er griff zum Infrarotgerät und blickte hindurch. Totale Dunkelheit in der angepeilten Richtung. Keine einzige Wärmequelle ließ sich ausmachen. Nicht einmal die Bäume, die den Rest der spärlichen Tageswärme abgaben, waren zu erkennen.

"Wat is dat dann?" Fragte Schmidt, nun voll in seinem Dialekt verfallen. Lehmann deutete auf das Waldstück. Die Dunkelheit wanderte. Es war schwer zu beschreiben. Aber für ihn sah es so aus, als bewege sich eine pechschwarze Nebelbank vor einem dunkelblauen Hintergrund, kaum zu erkennen aber doch vorhanden. Dann sah er, das die Zone undurchdringlicher Dunkelheit auch im Nordwesten auftauchte. Er suchte mit dem Infrarotsichtgerät nach irgendwas. Doch das elektronische Nachtsichtauge nahm in der anvisierten Richtung absolut nichts wahr.

"Das ist sehr merkwürdig", sagte Lehmann zu Schmidt. Dieser hantierte auch mit dem Nachtsichtgerät und wußte nicht, wieso er außer Dunkelheit nichts ausmachen konnte. Dann fiel Lehmann noch was auf. Da, wo die Dunkelheit wanderte, waren keine Sterne zu sehen. Normalerweise hätte er die genau über dem Horizont liegenden Sterne sehen müssen. Aber diese Nebelbank verschluckte alles.

"Das gefällt mir nicht, Jupp. Ich rufe mal beim Wetteramt an."

"Wozu dat?" Fragte Schmidt. "Denkse, die wissen wat daat is?"

"Hoffe ich doch mal", knurrte Lehmann. Er griff zu seinem Mobiltelefon, als er das weit entfernte Stampfen vieler Füße hörte, die in einem langsamen Gleichschritt immer näher kamen. Er wandte sich um und suchte nach der Quelle der Geräusche. Doch da war nichts zu sehen. Lehmann ließ das Telefon sinken und konzentrierte sich auf die Geräusche. Sie kamen immer näher. Dann hörten sie das Summen, wie von einem heranbrausenden Hornissenschwarm und das Trappeln großer und vieler kleinerer Füße. Lehmann traute seinen Ohren nicht. Doch als er dann zur polnischen Seite hinübersah, zweifelte er auch an seinen Augen. Auf dem Boden und in der Luft wimmelte es von etwas, das er trotz Fernglas nicht genau unterscheiden konnte. Als seien dort Insektenschwärme in Bewegung.

"Ich rufe die Zentrale an. Da ist irgendwas faul", sagte Lehmann und griff wieder zum Mobiltelefon. Doch als er es einschaltete, hörte er nur ein leises Rauschen. Er bekam kein Netz. Das durfte nicht sein. Denn die Grenzwache hatte einen eigenen Sendemast. Er griff zum Funkgerät, während die unheimlichen Geräusche von beiden Seiten der Grenze näherkamen. Doch als er seinen Kollegen in der Funkzentrale anrufen wollte, hörte er nur ein Zirpen und Rauschen, das von Sekunde zu Sekunde lauter wurde.

"Zurück zur Wache!" Sagte Lehmann im Befehlston. Schmidt blickte ihn verstimmt an und fragte, was los sei. Lehmann jedoch war bereits unterwegs zurück. Schmidt ging ihm nach. Da stampfte es vom Nordwesten heran. Schmidt wandte den Blick um, sah jedoch niemanden. Dann nahm er das Nachtsichtglas und blickte hindurch. was er sah, ließ ihn wie angewurzelt stehen. Er sah flimmernde Schemen, die ungefähr menschliche Formen hatten, mindestens drei Meter groß waren. Er hatte den Eindruck unscharfe Fernsehbilder zu sehen und große Fußabdrücke, die fast wie aus dem Nichts heraus auf den Boden gebracht wurden. Dann fiel das Nachtsichtgerät aus. Schmidt stand noch für einen Moment da. Dann lief er los, seinem Kollegen hinterher.

Der Strom in der Grenzstation war ausgefallen. Lehmanns Kollege warf gerade den Dieselgenerator an, um das Notstromaggregat in Gang zu setzen. Der Kollege aus dem Funkraum sagte auch, daß alle Telefonverbindungen unterbrochen waren.

"Irgendwas läuft hier schief", meinte Lehmann. Da sprang der Generator an. Doch es wollte nicht mehr Licht werden. Es schien, als habe irgendwer die Leitung vom Generatorraum zur Wache gekappt. Schmidt ging das Kabel entlang. Doch es war völlig unversehrt. Er knipste die Handlampe an. Diese leuchtete noch. Da plötzlich wurde es total dunkel. Die Lampe leuchtete nicht mehr, ja auch die Sterne waren verschwunden. Es war totenstill, obwohl doch gerade eben noch das Geratter des Generators zu hören war. Außerdem wurde es eiskalt.

"Schmidt, komm rein!" Hörte Schmidt seinen Kollegen Lehmann wie durch dicken Nebel rufen. Er warf sich herum und lief aufs Geratwohl in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Dabei hörte er das Röcheln, als sauge irgendwer oder irgendwas die Luft mit einem großen Blasebalg ein. Die Eiseskälte drang ihm in die Knochen und bohrte sich in seine Lungen und sein Herz. Da prallte er gegen eine Mauer. Die Wachstation. Er wollte gerade hineinlaufen, als ihn zwei frostige, riesige Hände von hinten ergriffen und hochrissen. Er schrie laut.

"Eh, du Scheusal, lass ihn in Ruhe!" Hörte Schmidt eine Männerstimme wie aus weiter Ferne. Er hatte das Gefühl, als ginge die Welt unter. Er hörte die lauten Schreie der Kinder, die in einem brennenden Schulbus eingeschlossen waren, roch den Brand und dachte daran, daß er ihnen nicht helfen konnte. Das war genau vor fünf Jahren passiert und hatte ihn so mitgenommen, daß er ein halbes Jahr in ein Sanatorium mußte und immer noch jede zweite Woche zur Psychotherapie. Dann flog etwas silbernes heran, hüllte ihn ein. Er fühlte den grauenhaften Griff um seine Hüften nicht mehr. Er fiel zu boden. Dann war es vorbei. Die Kälte, die Dunkelheit, alles war wie weggefegt. Schmidt stand bedröppelt auf. Seine Beine zitterten noch. Da stand ein Mann in einem Umhang, der bei Beleuchtung mit der nun wieder brennenden Handlampe grün wie die Kluft eines Jägers oder Försters war. Der Fremde trat näher heran, hielt dabei einen schmalen Holzstab in der rechten Hand. Dann traf Schmidt ein roter Blitz und nahm ihm die Sinne.

__________

Eigentlich war er ein sehr gemütlicher, es gerne ruhig angehen lassender Zauberer. Das sah man vor allem daran, daß er einen feisten Kugelbauch unter dem violetten Umhang mit dem Rotfuchskragen zur Schau trug. Eine Goldrandbrille mit Froschaugenartigen Gläsern ritt auf der breiten Nase. Das mittelblonde Haar war sehr kurz und stand wie das Stachelkleid eines Igels vom Kopf ab. Der schwarze Schlapphut mit der Adlerfeder war neben der Brille und dem Bauch das dritte Erkennungszeichen für Heinrich Güldenberg, dem deutschen Zaubereiminister. Gerade eben hatte er von seinem Untersekretär Eilenfried Wetterspitz einen Brief überbracht bekommen, in dem ein gewisser Percy Weasley im Auftrag des britischen Zaubereiministers Scrimgeour alle Amtskollegen in Westeuropa vor möglichen Dementorenüberfällen warnte.

"Ich dachte, der alte Löwe hätte die Sache im Griff", jammerte Güldenberg. "Kann der seine Dementoren nicht bei sich behalten?"

"Herr Minister, das deckt sich mit dem, was wir von Feensand und der Nordseeküste gehört haben. Da sind Leute in totale Dunkelheit reingeraten. Das waren wohl dementoren", sagte Wetterspitz.

"Wer kann alles den Patronus?" Fragte Güldenberg.

"Öhm, die Gräfin, Ihre Kollegen Rauhfels und Gleißenblitz, Ihr Schachpartner Eschenwurz und natürlich die aus der Lichtwache, von einigen eher zweifelhaften Damen, die einer gewissen Schwesternschaft angehören oder nahestehen ganz zu schweigen. Ob die Müllerburschen den können ist mir nicht geläufig, da die sich ja alle einer ordentlichen Ausbildung verweigert haben", sagte Wetterspitz. "Ach, ja, und Sie können den wohl auch, nehme ich an."

"Gut, dann geben Sie bitte an alle von Ihnen aufgezählten weiter, ich möchte haben, daß sie sich freihalten, um da eingesetzt zu werden, wo diese Unholde auftauchen. Wir zahlen jeden Verdienstausfall und auch Wegegeld, falls es gewünscht wird."

"Ich fürchte, die Gräfin wird das als Beleidigung auffassen, wenn wir ihr Extragold geben, damit sie uns die Dementoren vom Hals hält", sagte Wetterspitz. Güldenberg nickte. Dann sah er zu, wie sein Untersekretär den Raum verließ, um die Anweisung weiterzureichen.

"Auch wenn mir die anderen dafür den Stuhl unter dem Hintern wegziehen wollen", dachte Güldenberg und wandte sich einem an der Wand hängenden Bild einer klapperdürren Hexe in bunten Wollgewändern zu, deren schwarzes Struwelhaar bis zu ihren Hüften hinabreichte. "Klothilde, sage eurer neuen Anführerin, ich wäre ihr und ihren Bundesschwestern sehr verbunden, wenn sie uns helfen, gegen mögliche Dementorenangriffe beizustehen."

"Das brauch ich ihnen nicht auszurichten", sagte die gemalte Hexe. "Unsere neue Oberin ist durch ihre Kontakte bereits im Bilde und wird die Unholde auch ohne eine formelle Anfrage von dir zurücktreiben, wo sie sie antrifft." Güldenberg nickte.

Vier Stunden später, Der Zaubereiminister saß mit seiner Frau beim Abendessen und hörte sich an, was sie so erlebt hatte, traf eine eilige Eule bei ihnen ein. Friedebold Eschenwurz hatte mit Hilfe einiger guter Freunde einen großaufmarsch von Dementoren mitbekommen, die den nördlichen Oderabschnitt nach Polen hin überqueren wollten. Die Beamten einer Grenzwache seien Zeugen des Durchmarsches geworden. Er habe sie vorsorglich geschockt, damit sie von den Gedächtniszauberern des Ministeriums mit einer anderen Erinnerung versehen werden könnten. Außerdem habe er unsichtbare, große Wesen hören können, die mit stampfenden Schritten herangepoltert seien. Dann habe er beobachtet, wie es wenige hundert Meter hinter der Grenze zum Zusammenstoß zwischen den Dementoren, den Unsichtbaren und anderen Wesen gekommen sei. Er berichtete von starken Explosionen. Güldenberg entschuldigte sich bei seiner Frau und apparierte persönlich an den Ort des Geschehens, obwohl es klüger gewesen wäre, einen Trupp Lichtwächter mitzunehmen. Doch Eschenwurz hatte ja geschrieben, daß die Streitmächte sich bereits auf der anderen Seite der Grenze befänden.

"Hallo, Heinrich. Habe nicht gedacht, daß du sofort herüberkommst. Du bist doch nicht etwa alleine?" Fragte Eschenwurz nach der Begrüßung. Güldenberg nickte. Dann deutete er auf die Grenze, hinter der es immer noch krachte und brummte. Er sah, daß etwas total dunkles ein Stück vom Horizont ausgeschnitten hatte. Dort waren die Dementoren.

"Meinst du, er, der nicht beim Namen genannt werden darf hat die hergeschickt?" Wollte Güldenberg wissen.

"Ganz sicher. Ich denke, das hat was mit dem Russen zu tun, der in den letzten Monaten von sich reden gemacht hat", sagte Eschenwurz. "Ich habe den Grenzposten in einen vorübergehenden Schutzbann eingeschlossen, der alle Angreifer um ihn herumlenkt. Wenn der Unnennbare jedoch mit diesen Ungeheuern unterwegs ist, nützt der nicht viel. Ich konnte gerade so verhindern, daß einer der Muggel geküßt wurde. Aber was am heftigsten ist, Heinrich, daß sind diese Unsichtbaren. Kuck dir mal die Spuren an, die die gemacht haben!"

Heinrich Güldenberg besah sich die ovalen Fußabdrücke und erschauerte.

"Ich hole ein paar Lichtwächter her. Das waren Golems, Friedebold."

"Golems? Die können sich unsichtbar machen?" Erschrak Friedebold Eschenwurz.

"Wahrscheinlich wurden sie unsichtbar erschaffen", knurrte Güldenberg, dem schwante, daß das noch viel Ärger geben würde. "Aber die können nicht apparieren oder fliegen. Von irgendwo sind die gekommen. Komm, wir verschwinden besser und schicken eine Hundertschaft Lichtwächter her."

"Hast Recht, Heinrich", sagte Friedebold. Dann disapparierten sie.

Während dessen tobte jenseits der deutsch-polnischen Grenze eine wüste Schlacht. Dementoren schwebten wie Dämonen der Düsternis umher, unsichtbare Golems kämpften gegen sie bedrängende handgroße Schabenmenschen, fielen dabei aber immer wieder in Selbstmordmanier anfliegenden Käfern zum Opfer, die aufschlugen, dabei verendeten und sich und den getroffenen Golem in einer wuchtigen Explosion. Güldenberg und Eschenwurz hatten gut daran getan, das Feld zu räumen. Denn gerade landete zehn Kilometer westlich ein Flugteppich, auf dem weitere zwanzig unsichtbare Golems saßen. Alcara und Voldemort kommandierten die Kampftruppe zur Grenze.

"Ich werde dem Kerl beikommen, Ismael", knurrte Voldemort, als seine künstlichen Helfer losmarschierten. "Das mit diesen weißen Fledermäusen ist zwar schon genial, aber auch eine Frechheit. Die Vampire wollen mir nicht mehr gehorchen, solange ich dieser Plage keinen Einhalt gebiete. Greyback lacht nur darüber, weil die Biester ausschließlich Vampire angreifen. Aber ich will alles hinter mir haben, was stark genug ist, diese Weichlinge und Muggelfreunde auszulöschen."

Vor zwei Tagen war Charon, ein mächtiger Vampir der dunklen Seite des Mondes von zwei schneeweißen Fledermäusen mit vier Fangzähnen heimgesucht worden. Voldemort hatte eines der kleinen Ungeheuer getötet und das andere eingefangen. Doch für Charon konnte er nichts mehr tun. Sein Körper trocknete innerhalb von Minuten aus. Nun war das Maß endgültig voll. Wenn Bokanowski Krieg wollte, dann sollte er Krieg haben. So hatte Voldemort fünfhundert Dementoren losgeschickt, die sich gleichmäßig verteilten und über Deutschland und Österreich nach Osteuropa vordringen sollten. Daneben hatte er den Golemmeister Alcara ersucht, alle einhundert unsichtbaren Golems mit den speziellen Duftstoffen aus dem Labor Bokanowskis vertraut zu machen. Ursprünglich wolte er die Einheiten erst einmal in Polen absetzen. Doch der Russe hatte bereits Schwärme von handtellergroßen Schaben in Marsch gesetzt, die von ganzen Geschwadern dieser silbernen Explodierkäfer begleitet wurden. Nun tobte im nördlichen Oderabschnitt die erste Schlacht.

"Verflucht seist du, Vientofrio!" Dachte Voldemort. Sicher, er hätte diesen Drachenmenschen, der ihm das Flammenschwert des Yanxothar abgejagt hatte sehr gerne mit einem Fernfluch belegt. Doch offenbar prällte die Natur des Drachens jeden Fernfluch zurück. Voldemort mußte also ohne Drachen und spontane Vulkanausbrüche auskommen.

"Wie viele Golems hast du noch, Ismael?" Fragte Voldemort, als er die lauten Explosionen hörte.

"Zweihundert. Die sind aber alle sichtbar. Die Unsichtbaren kosten mich mehr Zeit und Kraft, Meister", erwiderte Alcara.

"Ist bald eh egal. Wenn die Schlacht verlorengeht, müssen wir alles aufbieten, was wir haben. Die Dementoren kommen gegen diese Insektenbiester und die Käfer nicht an, weil die keine für sie bekömmlichen Seelen enthalten. Aber dafür können sie sie einfrieren. Doch das sind so viele, verdammt."

"Du hast Bokanowski doch eine Partnerschaft angeboten", sagte Alcara. "Warum hat er sich nicht daran gehalten?"

"Weil er denkt, daß ich das nicht getan habe", knurrte Voldemort. "Mehr mußt du nicht wissen." Das stimmte auch. Alcara mußte wirklich nicht wissen, daß sein neuer Herr und Meister durch die Entsendung von dreißig zerstörungswütigen Drachen den Burgfrieden mit Bokanowski verspielt hatte. Aber Voldemort war sich sicher, daß er trotz der Spielereien Bokanowskis siegen würde. An und für sich brauchte er nur zu warten, bis ihn eine dieser Kreaturen zum Versteck des russischen Dunkelmagiers führte. Hatte er das gefunden, würde er mit allem, was er an Hilfstruppen aufbieten konnte zuschlagen und die Niederlassung Bokanowskis ausradieren. Denn wenn er das nicht tat, würde dieser ihn ausradieren. Für die beiden Schwarzmagier ging es also um Sein oder Nichtsein.

"Willst du meine ganzen Golems verbrauchen, Meister?" Fragte Alcara vorsichtig.

"Wir müssen diese Brut zurückdrängen, sonst kriegen wir die ab."

"Die müßten dann ja erst einmal über den Kanal", sagte Alcara.

"Genau wie wir", knurrte Voldemort. Er wußte nicht, daß der Vorstoß der Insektenmenschen nur der Auftakt war.

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Igor Bokanowski saß in seiner Burg und beobachtete über einen seiner Doppelgänger, der eine große Armee von Insektenmenschen durch Russland und Polen geleitet hatte in der Nähe der polnischen Grenze auf düstere Wesen traf, die alles Licht erlöschen machten und eisige Kälte verströmten. Dann kamen noch unsichtbare Ungetüme, die mit polternden Schritten in den Schwarm der handtellergroßen schaben und Wanzen mit Menschenköpfen hineinrannten. Der Doppelgänger öffnete ein großes Faß, aus dem bis dahin schlafende Krawummkäfer aufgelassen wurden, die gegen die unsichtbaren Angreifer anflogen. Die Dementoren wichen den schwirrenden Insektenwesen aus oder fingen sie mit ihren klammen Händen ein, ohne sie zu töten. Sie schaften es, die anfliegenden Geschöpfe mit der von ihnen ausgehenden Kälte einzufrieren. Als Bokanowski erkannte, daß seine Insektenwesen gegen die eisige Kälte verströmenden Dementoren mit ihrer Überzahl nicht viel ausrichten konnten, wollte er den Rückzug befehlen und lieber seine größeren Monster losschicken, wie die Packratten oder die Mördermuffs, da erwischte ein Dementor den Doppelgänger, Nummer 21. Bokanowski löste sich sofort aus der Fernüberwachung. Doch als er das tat, fühlte er einen stechenden Schmerz in seinem linken Bein. Er erschrak. Was ging da vor? Dann brannte es wie Feuer und dann, urplötzlich, fühlte es sich an einer Stelle des Beines eiskalt an. Bokanowski erschauerte. Wie hatte jemand ihn so gezielt angreifen können. Er hob den Umhang und betrachtete die Stelle, die sich gerade so extrem kalt anfühlte. Da sah er, das ein Quadratzentimeter seiner Haut am linken Bein tiefblau gefroren war, dann immer schwärzer anlief und dabei zu einer harten Beule aufquoll, die dann einfach vom Bein abfiel. Zurück blieb eine kalkweiße Stelle in der Form eines Kreises. Was war das? Bokanowski starrte angsterfüllt auf das gerade entstandene Mal auf seinem Bein. Was hatte ihm diesen Schmerz und diese Entstellung angetan? Dann fiel ihm siedendheiß ein, daß er genau an dieser Stelle ein Stück eigener Haut entnommen hatte, um zwei Doppelgänger zu schaffen, von denen einer der war, den er nach Polen geschickt hatte. Er dachte daran, was Dementoren ihren Opfern antun konnten. Doch er hatte doch die Verbindung mit dem Doppelgänger abgebrochen? Was immer der Dementor mit 21 gemacht hatte, durfte ihn, Bokanowski, der über tausend Kilometer weiter östlich war, nicht betreffen. Doch das weiße Mal, daß nach einer rasant aufgequollenen und dann abgefallenen Frostbeule verblieben war bestätigte zu deutlich, daß es ihm etwas anhaben konnte. Er ging davon aus, daß jeder seiner Doppelgänger eine eigene, wenn auch rein künstliche Seele erhielt, die gerade gut genug war, den Ebenbildkörper anzutreiben. Wenn ein Dementor die aussaugte, würde sie wohl wie Kunsthonig oder ein Stück Schuhsohle schmecken, überlegte Bokanowski. Doch warum hatte sich die Haut an seinem Bein verändert? Wie dem auch sei, er mußte jetzt seine anderen Kreaturen mobilisieren und zum Angriff losschicken, nicht nur nach Polen, sondern vor allem nach Rußland. Denn das Ultimatum mit Arcadi war abgelaufen.

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Gregori Antonov und sein Freund Alexej Amasov kannten die Gegend ziemlich gut, die alte Lagerhalle im ehemaligen Gewerbegebiet von St. Petersburg, das vor ein paar Jahren noch Leningrad geheißen hatte. Einige Statuen der früher an Stelle von Göttern angebeteten Helden des Sozialismus lagerten hier und durften, nach dem sie mehr als siebzig Jahre frei und prächtig in den Städten des großen Landes gethront hatten, nicht mehr ganz so prächtig dahinrosten, wenn man sie nicht zur Metallverwertung abholte. Lenins Statue, die einmal zentral in der Stadt gestanden hatte, lag noch in einem Stück in der Halle, sogar unter einer Plastikfolie. Gregori grinste feist und trat mit dem rechten Fuß gegen das gestürzte Denkmal. Ein metallisches, hohles Pong klang durch die Halle.

"Die wissen nicht, ob sie den nicht an ein Museum verschachern oder einem geldprotzenden Amerikaner als Gartenschmuck anbieten sollen. Den Joseph haben die zumindest schon anderweitig verwertet." Er deutete auf einen Platz, wo bei ihrem letzten Besuch vor vier Monaten noch das Bronzestandbild Joseph Stalins gelegen hatte. Alexej holte eine Coladose aus seinem Rucksack und klopfte dagegen.

"Vielleicht steckt ja was von dem da drin", meinte er und klopfte an das Blech. Beide lachten. Dann meinte Gregori:

"Neh, das war Bronze. Damit gießen die neue Glocken, wo die Kirchen doch jetzt wieder groß angeben dürfen, was sie haben und können. Stell dir mal vor, du hörst eine Glocke leuten, in der die Anbetung von Joseph Stalin mitklingt. Das ist der Geist der Geschichte, Genosse." Wieder lachten beide.

"Du meinst den Zeitgeist, der in einem Moment als Bonzenstatue auf einem Sockel steht und im nächsten Moment als Kirchenglocke in einem alten Turm baumelt?"

"Stimmt", erwiederte Gregori lausbübisch grinsend. "Trinken wir einen auf die Veränderungen in der Welt!" Er holte eine Wodkaflasche aus seinem Rucksack, die er aus dem Vorrat seines Großvaters abgezweigt hatte.

"Ach, auf die Veränderungen in der Welt wollt ihr trinken? Das finde ich aber fein", sagte eine Baritonstimme aus der Richtung, wo ein weiteres Denkmal eines Helden der roten Revolution lag. Gregori erschrak. Hier durfte doch niemand sein. Doch da tauchte ein kleiner, gedrungener Mann in einem Fellumhang, der von einem Braunbären stammen mochte auf. Unter dem Linken Arm trug er einen Zylinder, unter dem rechten Arm eine Stahlkiste, auf der ein merkwürdiges Symbol prangte: Ein rotes Maul mit langen weißen Fangzähnen. Die Jungen starrten auf den Mann und seine Kiste, aus der sie nun ein leicht wütendes Knurren vernahmen.

"Tja, Jungs, das ist der Zeitgeist, den ihr da knurren hört. Er hat Hunger und will loslegen, die Welt gründlich umzukrempeln und alles zu verputzen, was überholt ist", sagte der Fremde.

"Was soll das sein?" Fragte Gregori leicht verunsichert.

"Etwas ganz neues, unschlagbares", sagte der Fremde. Dann stellte er die Kiste hin, betrachtete die beiden Jungen abschätzig wie ein Metzger, der ein gemästetes Schwein vor der Schlachtung begutachtet oder wie ein Sklavenhändler, der seine neue Ware prüft. Alexej fühlte beinahe körperlich, daß von diesem Mann eine tödliche Gefahr ausging. Er wich vor ihm zurück, was der Fremde mit einem überlegenen Grinsen bedachte. "Freut euch. Ihr schreibt Geschichte, weil ihr mir helfen könnt, den ersten großen Schlag gegen ein verstaubtes und verweichlichtes System zu führen. Vielen Dank für eure Hilfe!" Er hantierte an der Kiste, die mit fünf stabilen Verriegelungen gesichert war. Gregori fragte leicht beklommen:

"Was haben Sie vor?"

"Ich nichts mehr, wenn die Kiste offen ist. Das was ihr Zeitgeist nennt wohnt darin und will raus. Ich will sehen, wie schnell der um sich greifen kann und ... Heh, hiergeblieben!"

Alexej wußte nicht genau, warum, aber er wußte, daß er flüchten mußte. Er warf sich herum und spurtete los, wie er es in der Schule gelernt hatte. Gregori wußte nicht, was er machen sollte. Sein Freund rief nicht einmal, warum er losgelaufen war. Doch Gregori wollte nicht weglaufen, nur weil da ein Typ mit einer knurrenden Kiste mit einem wolfsartigen Maulsymbol drauf stand und was vom Zeitgeist redete, der in dieser Kiste wohne. Der Fremde bellte hinter Alexej her wie ein wütender Kampfhund, ließ die Kiste stehen und lief dem Flüchtenden nach. Doch offenbar kam er nicht recht von der Stelle. Gregori wußte jetzt, daß sein Freund in Gefahr war. Was immer der Fremde vorhatte, es war gefährlich. So rrannte er dem Unbekannten nach, prallte gegen ihn und riss ihn zu Boden. Er schien wohl nicht mehr der jüngste zu sein und auch völlig außer Form, kein Ding für den Schulmeister im Leichtgewichtringen.

"Was soll das? Läßt du mich wohl los, du verlauster Bengel!" Stöhnte der Fremde, als Gregori ihn in einem festen Griff am Boden hatte.

"Verlaust, ich? Sage mir mal, was die Nummer mit der Kiste soll, Kerl!"

"Mein Hut. Du unfähiger Bengel hast meinen Hut ruiniert. Aber dafür mach ich dich fertig", schnarrte der Fremde.

"Ach ja, wie denn, Väterchen?!" Stieß Gregori überlegen aus.

"Wirst du gleich erleben", knurrte der Fremde. Dann ploppte es viermal. Gregori sah hoch und erstarrte. Da standen vier Männer, klein und gedrungen mit schmalen, dreieckig wirkenden Gesichtern und dunklen Haaren in grünen Umhängen, auf denen rote Nummern und ein schwarzes, schräg nach links gekipptes B zu erkennen waren. Alle vier glichen sich und dem am boden liegenden bis aufs Haar. Einer hielt einen Holzstab in der Hand, schmal und nicht gerade stabil aussehend. In seiner Überrumpelung lockerte Gregori den Haltegriff. Da warf sich der am Boden liegende Fremde herum und rammte ihm mal eben den Ellenbogen in den Unterleib. Laut aufjaulend sackte Gregori zur Seite. Dann versuchte er, sich vom Boden abzustoßen. Doch einer der aus dem Nichts aufgetauchten Fünflingsbrüder des ersten Fremden, oder waren es Kopien von ihm, Klone, zielte mit dem Holzstab auf den Jungen.

"Maneto!" Klang ein merkwürdiges, aber sehr beschwörend klingendes Wort. Gregori konnte sich plötzlich nicht mehr bewegen. Er versuchte es zwar. Aber er kam nicht mehr vom Boden weg.

"Gut gemacht, Dreiundzwanzig! Den Rest besorgen unsere Lieblinge", sagte der Fünfling im Fellumhang. Seine Brüder nickten zeitgleich und verschwanden mit einem lauten Knall im Nichts. >

"Du siehst, die Welt ändert sich. Und los geht's!" Ohne das Gregori es verhindern konnte, entriegelte der Fremde die noch versperrten Verschlüsse der Kiste, drückte einen herausragenden Knopf hinunter, worauf das immer wildere Knurren abebbte und ganz erstarb. Gregori hatte aber hören können, daß es mehr als ein Etwas war, das da geknurrt hatte. Mindestens waren zwei unbekannte Tiere oder was auch immer in der Kiste. Der Fremde klopfte gegen den Behälter. Doch darin regte sich nichts. Dann hob er den Deckel an, klappte ihn geräuschlos um und griff hinein. Gregori konnte aus seiner hilflosen Lage heraus sehen, wie der Fremde eine Art Ball mit Fellüberzug aus der Kiste holte und locker in den Raum hineinschleuderte. Das tiefbraune runde Etwas kullerte bis zum liegenden Lenin. Dann holte der unheimliche Fremde eine zweite solche Kugel aus der Kiste und warf sie in eine andere Richtung der Halle. Dann sagte er noch: "In einer halben Minute werden die wieder Wach. Dann werden sie rechtschaffen wütend und hungrig sein. Ich empfehle mich!" Er klappte die Kiste zu, setzte seinen Hut auf, der ziemlich gut verbeult und verdreckt war. Dann machte er eine rasche Drehbewegung und verschwand mit lautem Knall. Gregori war allein in der Halle. Besser, er war allein mit zwei reglos daliegenden, behaarten Kugeldingern, die langsam anfingen, von alleine herumzurollen. Unvermittelt schnarrten sie los, brüllten wie angriffslustige Raubtiere. Gregori packte das kalte Entsetzen. Diese Dinger lebten, und sie waren bestimmt keine friedlichen Lebensformen. Da schoss aus jeder Kugel eine silbrig glänzende Schnur heraus, die wie eine Peitsche durch die Luft knallte und klatschend auf Gregoris Körper landete. Der Junge ahnte, daß seine letzten Minuten oder Sekunden angebrochen waren. Da fing es auch schon an, mit schnellen Bewegungen auf ihn einzuwirken. Er konnte nicht einmal mehr schreien.

Alexej rannte aus der Halle hinaus, bis er knapp fünfhundert Meter zurückgelegt hatte. Erst jetzt hielt er inne und wandte sich um. Keiner war hinter ihm. Er atmete auf. Doch dann fragte er sich, wo Gregori abgeblieben war. Der Fremde war gefährlich, ja tödlich gefährlich. Soviel wußte der Junge. Wußte er es wirklich? Er hatte es gespürt, wie er es immer spürte, wenn irgendwas bevorstand, was ihm Ärger machen konnte. Aber nie zuvor hatte er es mit solch einer Deutlichkeit gespürt, daß er sterben würde, wenn er blieb, wo er war. Doch Gregori war nicht mit ihm geflüchtet. Er war der Gefahr ausgeliefert. Alexej mußte zurück, oder er würde sein Leben Lang daran denken, daß er feige davongelaufen war, ohne seinen Freund mitzunehmen. Er wandte sich wieder um. Dann lief er los. Unvermittelt tauchten zwei ältere Frauen aus dem Nichts auf und verstellten ihm den Weg. Weil er nicht rechtzeitig bremsen konnte rannte er voll in eine hinein. Sie schrie entrüstet auf, taumelte, den Jungen reflexartig umarmend und fing sich gerade so noch. Jetzt konnte Alexej sie ansehen. Er erkannte sie. Ja, aber es war wohl schon fünfzehn Jahre her, daß er sie zuletzt gesehen hatte. Sie war ihm als Tante Anuschka vorgestellt worden. Ihre leicht struweligen, rotbraunen Haare, in denen schon ein Hauch von Silber zu sehen war umspielten ihren Oberkörper, und ihre tiefblauen Augen sahen leicht vorwurfsvoll auf Alexej. Sie strömte einen Duft von einem merkwürdigen Tabak gemischt mit Bratenfleisch aus.

"Jungchen, umwerfen wolltest du mich aber bestimmt nicht, oder?" Begrüßte ihn die Frau, die ihn vor fünfzehn Jahren, wo er gerade drei Jahre alt war, genauso wie jetzt in den Armen gehalten hatte. Die andere Frau, deren blonder Haarton noch keine Spur Altersgrau Aufwies, jedoch von den Bewegungen her schon mehr als sechzig Sommer miterlebt haben mochte, lachte nur.

"Das ist so, wenn man unaufgefordert den Großneffen besuchen will, Anuschka", sagte sie.

"Was ist dir passiert, Alescha?" Fragte die Frau, die Alexej immer noch in die Arme geschlossen hatte. Das Zittern seines Körpers ging auf ihren über. "Sieh mich mal an, Alescha!" Sie sprach mit einem strengen aber ruhigem Tonfall, der Alexej die Angst nahm, die ihn immer gepackt hatte. Er sah ihr direkt in die Augen. Da meinte er, die Situation von eben wie in einem Zeitrafferfilm zu erleben, vom Auftauchen des Fremden bis zu seiner Flucht.

"Irina, der ist dem Schuft Bokanowski begegnet", sagte Anuschka leicht beklommen. Dann straffte sie sich. "Der hat irgendwas mit den Jungen vor."

"Gregori ist noch ...", stieß Alexej aus.

"Ich weiß, Alescha", sagte die Frau, die er als Tante Anuschka kennengelernt und nur wenige Male gesehen hatte. Sie gab ihn aus der Umarmung frei. Er wollte schon loslaufen, um Gregori zu helfen. Da traf ihn etwas, was ihn völlig unbeweglich machte.

"Sage deiner Schwester in Arcadis Ministerium, daß der Naturverächter in St. Petersburg aufgetaucht ist und was böses vorhat!" Sagte Anuschka. Dann verschwand sie, wie sie gekommen war. Die zweite Frau erstarrte in einer konzentrierten Haltung. Dann sagte sie zu dem Jungen:

"Du hattest echt glück, daß deine Großtante dir damals den Vorwarn-Zauber auferlegt hat. Dein Vater war ja nicht so sonderlich begeistert, weil er eine Hexe in der Verwandtschaft hat. Ich helfe deiner Großtante." Dann verschwand sie einfach. Alexej stand da wie erstarrt.

Die beiden Frauen erschienen vor dem Lagerhaus. Sie hörten wildes Knurren, grummeln und Schnarren von drinnen. Anuschka zog einen Zauberstab aus ihrem Wollkleid und ging vorsichtig in richtung Tür. Da schnellte etwas silbernes wie eine Peitschenschnur heraus. Sie schaffte es gerade noch, nach hinten auszuweichen, sonst hätte die wild ausschlagende Schnur sie getroffen. Nein, das war keine Schnur, sondern eine Zunge. Eine sehr lang ausrollbare Zunge.

"Aufpassen!" Rief Anuschka. Ihre Begleiterin hielt ebenfalls einen Zauberstab in der Hand.

"Ist der Junge da drin?" Fragte sie und trat einige Meter zurück. wieder peitschte etwas aus der Halle, drei dieser Zungen auf einmal.

"Kuck dir das an!" Sagte Anuschka, der trotz ihrer langjährigen Erfahrung mit dunklen Mächten das kalte Grauen ins Gesicht geschrieben stand. Die herausgeschnellten Zungen rollten sich blitzartig wieder ein, trafen dabei gegen den Türrahmen und ritzten ihn ratschend an.

"Bokanowskis perversionen", schnarrte die zweite. "Glaubst du, der Junge ist da noch drin?" Eine dunkelbraune Kugel kam laut knurrend durch die Tür. "Avada Kedavra!" Aus Irinas Zauberstab sirrte der grüne Todesblitz und traf die Kugel, die gerade eine schmale Öffnung an der ihnen zugewandten Seite bekam. Mit einem kurzen Quieklaut fiel das kopf- und gliederlose Geschöpf in sich zusammen. Da schnellten zehn Zungen auf einmal aus der Tür und peitschten auf die beiden Hexen zu. Diese disapparierten unverzüglich, und die ausgeworfenen Zungen zischten ins Leere. Mit lautem Knall tauchten Anuschka und Irina auf dem Dach des Lagerhauses auf.

"Kannst du das noch mit der Nebelgestalt?" Fragte Anuschka ihre Begleiterin.

"Aber ganz bestimmt", erwiderte Irina und zerfloss fast übergangslos zu einer weißen Dunstgestalt. Anuschka nickte und wurde ebenfalls zu einer weißen Nebelwolke. Da peitschten die silbernen Schleuderzungen von unten heran, sägten sich in den Beton des Daches hinein und durchschlugen die in Nebel aufgelösten Hexen. Anuschkas Stimme klang wie aus der Ferne anschwebend:

"Das sind Mordwerkzeuge. Lebende Mordwerkzeuge!"

"Wir müssen nachsehen, ob der Junge noch in der Halle ist", klang Irinas Stimme ebenfalls wie aus der Ferne anschwebend. Sie wurden immer wieder von den wild vibrierenden Zungen der Wesen in der Halle getroffen. Doch in ihrer jetzigen Daseinsform konnten sie ihnen nichts anhaben. Nur ein wildes Kribbeln, wie Anuschka fand, war zu fühlen. In ihrer Nebelgestalt schwebten die beiden hinunter, durch die Tür in die Lagerhalle hinein, wo sie nur an die zwanzig dunkelbraune, struwelige Kugelwesen sahen, die wild herumsprangen und alles anritzten, was in ihre Reichweite geriet. Ein großer Blutfleck auf dem Boden verriet, daß sie hier niemanden mehr finden würden, dem sie noch helfen konnten. Sie zogen sich schnell nach draußen zurück, wo bereits fünf Kugelwesen herumsprangen. Eines schlug mit seiner auswerfbaren Zunge nach den beiden Hexen. Doch sie richtete keinen Schaden an. Da sprangen die fünf tödlichen Kugelwesen weiter voran.

"Die dürfen nicht weit kommen!" Rief die in Nebelform hinter den Kugeln hergleitende Anuschka.

"Die haben wohl eine Minute Zeit gehabt, den Jungen ..." Erwiderte Irina vom Grauen geschüttelt.

"Ich weiß", erwiderte Anuschka. "Dieser Bastard hat ein Rudel Bestien auf uns losgelassen."

"Wo bleiben diese Leute von Arcadi!" rief Anuschka erbost. Wie zur Antwort krachte und ploppte es dutzendfach in der Umgebung. Sofort schleuderten die fünf Kugelwesen ihre tödlichen Auswerfzungen heraus. Einen der gerade angekommenen erwischte sie am Bein und schnitt sofort tief hinein. Wand sich und zerrte daran. Ein Schockzauber traf das Wesen, das ihn hielt. Doch da griffen die vier anderen auch an. Zwei Männer starben innerhalb nur fünf Sekunden, weil die wie die Sägezungen sie beim ersten Schlag an Kopf oder Brustkorb erwischt hatten. Die beiden in Nebel aufgelösten Hexen wichen sofort zur Seite und nach oben aus, als ein Feuerwerk aus Schock- und Todesflüchen über die runden Monster hereinbrach. Doch wenn nur ein Ungeheuer getroffen wurde, zerfiel ein anderes in zwei neue. So entstanden im ersten Moment acht dieser Wesen, die wild nach ihrer Beute ausschlugen. Erst als acht Todesflüche gleichzeitig trafen. blieben die Kugeln ungeteilt liegen.

"Das ist ein Alptraum!" Rief einer der Zauberer, während ein anderer gerade einen Notrufzauber in den Himmel schoss.

"Die sind in der Lagerhalle! Wenn die ausbrechen ist die Hölle los!" Rief Irina.

"Mütterchen Adamova? Sie haben uns gerufen?" Fragte einer der Zauberer. Dann tauchte Juri Petrov persönlich auf, zusammen mit drei Heilern. Irina nahm wieder feste Form an und deutete auf das Lagerhaus, wo gerade weitere braune Kugeln herausrollten.

"Die teilen sich wenn einige von ihnen sterben. Vielleicht teilen die sich auch, wenn sie genug gefressen haben", sagte sie rasch. Die angerückten Zauberer verstanden.

"Feuerbälle auf das Lagerhaus!" Rief einer. Sofort ließen sie fünf Feuerkugeln gleichzeitig los, die das Lagerhaus erreichten und donnernd einschlugen. Doch als die Flammenexplosionen vorbei waren sahen sie, daß die braunen Kugeln putzmunter aus dem Feuer herausrollten oder hüpften, ohne daß es Ihnen was angetan hätte. Die Lagerhalle brannte lichterloh. Doch offenbar machte es den Wesen darinnen nichts aus. Weitere kamen heraus.

"Das gibt's nicht!" Rief einer der angerückten Heiler.

"Zwanzig Stück sind rausgekommen!" Rief Petrov erregt. Sofort feuerte einer seiner Leute einen weiteren Feuerball ab. Als der Feuerball in einer Wolke rot-goldener Flammen auseinanderplatzte, verkohlte er zwar den Boden. Doch den zwanzig Kugelwesen geschah nichts.

"Das heißeste Feuer nach dem Feuer schwedischer Kurzschnäuzler, und die sind nicht einmal verrußt!" Rief ein anderer Zauberer am Rande der Panik.

"Arrestdom in fünfzig Meter Umkreis um die Lagerhalle!" Befahl Petrov. Seine Leute disapparierten. Als sie auftauchten sprangen die Kugeln in ihre Richtung. Gleich würden sie in Reichweite ihrer Schleuderzungen mit der Sägezahnwirkung sein. Doch da sprühten bereits mehrere goldene Blitze zwischen den Zauberstäben der Hilfstruppe herum, bildeten innerhalb von fünf Sekunden ein dichter werdendes Gitter und wurden zu einer Kuppel aus Licht, die das brennende Lagerhaus überdeckte und keinen Ausweg ließ.

"Hoffentlich graben die sich nicht durch den Boden", unkte einer der Heiler, der das Schauspiel mit ansah, wie die zwanzig ausgebrochenen Kugelwesen erst mit ihren Zungen gegen die aufgebaute Barriere schlugen und dann wie wuchtig getretene Fußbälle immer und immer wieder dagegensprangen.

"Die können Gestein durchtrennen", sagte Anuschka, die nun, wo die Gefahr für's erste gebannt war ebenfalls wieder feste Form annahm.

"Das bringt in dem Fall nichts, weil der Arrestdom eigentlich eine Kugelschale bildet. Sonst könnte ja jeder unten durchschlüpfen", sagte Petrov. "Aber das sollten Sie an und für sich wissen, Anuschka. Immerhin wurde ihre Großmutter ja einmal in so einen Arrestdom eingeschlossen."

"Ja, und Ihr Großvater mußte damals meiner Familie mehrere tausend Galleonen Entschädigung bezahlen, weil der Verdacht, auf den hin das passierte, völlig unangebracht war", erwiderte Anuschka. Dann sagte sie: "Mein Großneffe Alexej hat Bokanowski beobachtet, wie er ankam. Mein Vorwarnzauber, den ich als einzig zulässiges Geschenk auf ihn sprach, hat ihn früh genug in die Flucht geschlagen. Sein Freund war aber in der Halle. Die Mordkugeln haben ihn wohl getötet."

"Sie wissen, daß Sie nicht einfach einen Magielosen bezaubern dürfen", knurrte Petrov. "Dafür müßte ich Sie sofort verhaften."

"Und sich die Loyalität gewisser wichtigen Persönlichkeiten verderben, Juri? Das ist meine Gefangennahme nicht wert", lachte Anuschka. "Und vergessen Sie nicht, daß ohne diesen angeblich so illegalen Schutzzauber, der ihm nicht als solcher auffallen konnte, wir nicht auf die Sache aufmerksam geworden wären. Diese Biester hätten sich auch ihn einverleibt und wären dann unbemerkt in die Freiheit gelangt, wo sie weitere Opfer gefunden hätten."

"Gut, das klären Sie mit dem Minister selbst", schnarrte Juri Petrov. Anuschka lächelte großmütterlich.

"Das habe ich schon längst. Oder glauben Sie, ich hätte es Ihnen dann erzählt?"

"Nein, natürlich nicht", schnaubte Petrov über seine eigene Einfalt verärgert.

"Was passiert jetzt?" Fragte Irina.

"Wir wissen von denen nichts. Die sind gegen die heißesten Feuer immun und teilen sich, wenn einzelne von Ihnen in der Nähe sterben oder wenn sie gefressen haben. Das ist nicht gerade genug, um sie zu kennen", sagte Petrov.

Anuschka holte inzwischen den Jungen. Petrov verhörte ihn an Ort und Stelle. Dann wurde sein Gedächtnis verändert und er in der Nähe seines Hauses abgesetzt. Er glaubte nun, daß Gregori ohne ihn unterwegs war und er noch etwas Lauftraining machen wollte, was zu seiner Erschöpfung passte.

Sie beobachteten den Arrestdom. Tatsächlich schabten und gruben sich die gefangenen Wesen in den durch das Feuer ohnehin aufgeheizten Boden ein. Man konnte sehen, daß es an die fünfzig Stück geworden waren. Als sie dann den unteren Teil des Arrestzaubers erreichten, brüllten sie los wie wilde Stiere, weil sie nicht entkommen konnten.

"Jedenfalls wissen wir jetzt, daß sie sich ganz schnell durch leichteres Gestein und Erdreich graben können", sagte Petrov, nachdem die beiden Hexen verschwunden waren.

"Feuer kann ihnen nichts anhaben. Vielleicht geht es mit Kälte", schlug ein Mitarbeiter Juri Petrovs vor. Die von den Kugelwesen verletzten Zauberer waren inzwischen im nächsten Krankenhaus. Hoffentlich konnten ihre verletzten Gliedmaßen gerettet werden, dachte der Leiter der Strafverfolgungstruppen des russischen Zaubereiministeriums.

"Der tödliche Fluch funktioniert. Allerdings müßten wir alle zugleich treffen, um einen Ersatz der getöteten Wesen zu verhindern", sagte ein anderer Mitarbeiter Juris. "Wir haben jetzt hundert Leute hier. Das könnte klappen."

"Wenn jeder sein Ziel anvisieren könnte. Aber kucken Sie mal, wie die herumspringen und durcheinanderhüpfen. Das klappt so nicht", sagte Petrov.

"Giftige Gase?" Kam ein weiterer Vorschlag.

"Das Feuer an sich kann ihnen nichts ausmachen. Aber vielleicht können wir ihnen die Atemluft wegnehmen. Die Arrestkuppel ist zwar luftdurchlässig, aber wir könnten versuchen, ein Sauerstoff bindendes Gashineinzuleiten."

"Wir brauchen ein Exemplar, um es zu untersuchen", sagte Petrov.

"Das geht nicht, weil die Kuppel keinen Apparator durchläßt", sagte einer seiner Mitarbeiter.

"Aushungern können wir sie nicht, weil wir nicht wissen, wie lange sie ohne frische Nahrung überleben können. Wir müßten alle hierbleiben, und das könnte Bokanowwski veranlassen, anderswo zuzuschlagen, womöglich mit weiteren dieser Bestien", schnaubte Petrov.

"Patt! Wir können Sie nicht erledigen. Sie kommen nicht mehr aus dem Arrestzauber heraus", knurrte ein ziemlich junger Zauberer aus der Truppe.

"Ich habe mich nie mit einem Patt zufriedengegeben", erwiderte Juri. "Wir wenden das Olson-Fuller-Verfahren an." Diese Bemerkung versetzte die meisten Zauberer der Truppe in Erstaunen. Vage erinnerten sie sich, daß der schwedische Zauberer Arne Olson und der amerikanische Zauberer Adrian Fuller unabhängig voneinander herausbekommen hatten, wie man eine Arrestaura zu einer magischen Pressvorrichtung machen konnte. Doch wie es genau ging wußten die meisten nicht.

"Wußte doch daß das die meisten von euch nicht kennen", sagte Juri Petrov amüsiert. "Ist ja auch eine relativ neue Erfindung, die in Durmstrang nicht gelehrt wird, weil man dazu dreißig vollwertige Zauberer braucht. Wir können die Arrestschale verengen und dabei so verändern, daß jede Kraft, die nach außen gerichtet wird, verdoppelt nach innen wirkt. Ich bringe den dreißig besten von uns die Formeln und Bewegungsabläufe bei. Dann knacken wir diese Biester wie rohe Eier."

Eine Stunde später, nachdem Petrov nur die dreißig besten seiner Leute in einem intensiven Unterricht unterwiesen hatte, machten sie sich ans Werk. Als die Bezauberung begann, nahm die Arrestkugel, die mit Trümmern, Staub und diesen Todeskugeln gefüllt war einen kalten, blauen Farbton an und zog sich langsam zusammen. Einige der Kugelwesen sprangen dagegen, um wie von einem Katapult geschossen zurückzuprallen, abprallten, wieder gegen die magische Energieblase schlugen und noch heftiger zurückgeprällt wurden. Das schaukelte sich soweit auf, das einige der Kugeln beim Aufprall auf festes Gestein zerplatzten. Sofort teilten sich anderswo neue Kugelwesen, schlugen mit ihren Zungen nach der sie immer enger einschnürenden Barriere und bekamen sie um ihre Körper geschleudert. Jetzt stellte sich heraus, daß sie gegen ihr Hauptfresswerkzeug selbst nicht immun waren, wenn es falsch auftraf. Einige zerlegten sich dabei selbst, worauf jedoch sofort Ersatz entstand. Doch je enger die Kuppel sie umschloss, desto mehr dieser Wesen gerieten in Bedrängnis. Zwar verringerte sich der Bestand nicht, auch wenn die toten Leiber sofort von den überlebenden Artgenossen gefressen wurden, aber als die Schale sie so eng einschloss, daß sie bei jedem Sprung sofort dagegen stießen und immer wilder hin- und herprallten und dabei in der Luft kollidierten und sich gegenseitig in Stücke sprengten, wußte Petrov, daß das Verfahren das hielt, was er sich davon versprochen hatte. Sie zauberten Weiter. Ziel war, die Arrestblase auf Faustgröße zusammenzuballen. Ob das gelang hing unter anderem von dem Inhalt ab, von dem Gestein und den Wesen. Wenn jedoch jeder nach außen gerichtete Widerstand nach innen verdoppelt wurde würde selbst das härteste Gestein der Verdichtung nicht entgehen. Die Wesen brüllten, weil sie merkten, daß es ihnen an den struppigen Pelz ging. Schon konnten sie sich nicht mehr frei Bewegen. Die Trümmer und der Schutt des von Ihnen aufgelockerten Bodens drückte sie wie zubeißende Zähne zusammen, immer mehr. Es dauerte Minuten, bis sie in einer gleißend blauen Energiekugel gefangen waren und sich nicht mehr rühren konnten. Sie versuchten zwar noch, mit ihren tödlichen Auswerfzungen gegen den sie eindrückenden Zauber zu kämpfen, scheiterten jedoch. Zwanzig Minuten später knirschte und knackte es innerhalb der Blase. Funken stoben aus den dabei überhitzten Trümmern, und die äußeren Kugelwesen drückten mit immer größerer Gewalt gegen die inneren. Die Zauberer hielten sich mit ihren Formeln ran. Sie spürten, daß der Kraftaufwand ihnen immer mehr zu schaffen machte. Doch sie mußten es zu Ende bringen. Immer enger schloss sich die Kugelschale, schob die Gesteins- und Schuttmassen ineinander, bis auch die Kugelwesen in das Gestein eingebacken und erbarmungslos wie sie selbst zerquetscht wurden. Irgendwann durchmaß die Energieblase nur noch einen Meter, dann fünfzig Zentimeter. Petrov sah kein intaktes Kugelwesen mehr und rief triumphierend:

"Schach matt!" Da brachen alle die Bezauberung ab. Die Blaue Energiekugel löste sich in ein davonstiebendes Elmsfeuer auf und alle, die an der Bezauberung mitgewirkt hatten brachen ausgelaugt zusammen. Die zusammengepresste Kugel aus Gestein und ehemaligen Kugelwesen stürzte in den halbkugelförmigen Krater hinein und versank innerhalb einer Zehntelsekunde mit lautem Donnern unter die Erde, durch festes Gestein hindurch. Ein ganz schwaches Erdbeben erfaßte die Zauberer, die um Luft und Besinnung ringend am Boden lagen. Petrov sah beeindruckt auf die Stelle, wo Gestein nachrutschte, wo gerade die von ihnen erschaffene Kugel der dichtesten auf Erden hergestellten Materie in die Tiefe der Erdkruste gestürzt war, als seien die Felsen Wasser oder Luft, unfähig, sie auch nur einen Moment zurückzuhalten.

"Faszinierender Nebeneffekt", sagte Petrov. "Wir haben gerade etwas Materie erzeugt, die tausendmal dichter als die übliche Gesteinsmassen der Erde ist. Das Ding wird wohl bis in den Erdkern hinunterstürzen, womöglich mit Überschuß hindurchgleiten, abgebremst werden und wie ein Uhrenpendel solange hinauf- und hinuntersausen, bis der letzte Schwung verbraucht ist."

"Tut mir leid, Ihnen die schöne Vorstellung verderben zu müssen, Juri. Aber das wird nicht passieren", sagte Arcadi, der nun auch an den Ort des Geschehens gereist war. "Fuller schreibt eindeutig, das auf diese Art verdichtete Materie je nach natürlicher Zustandsform zwischen zehn sekunden und einer Minute verdichtet bleibt und dann im Verhältnis Innendruck und Außendruck wieder auseinanderstrebt, bis die unter natürlichen Bedingungen größte Dichte erreicht wird und ein Ausgleich eintritt. Ihr Werk wird wohl auf dem Weg zum Erdkern bereits wesentlich abgebremst."

"Vielleicht auch besser so. Wir wissen nicht, wie solche Objekte die Bewegung des Planeten beeinträchtigen können", sagte Juri nüchtern. Dann legte er einen ersten Bericht vor. Arcadi nickte und sagte:

"Er meint es also ernst, meine Herren. Wir haben noch einmal Glück gehabt. Vielleicht sind anderswo aber schon diese Kugelwesen unterwegs, ohne früh genug entdeckt und vernichtet zu werden."

"Wollen Sie kapitulieren?" Fragte Juri Petrov leicht verbittert.

"Ich habe gedacht, er würde uns Insektenmenschen oder ähnliche Züchtungen vorwerfen. Die Käfer an sich sind schon schlimm genug, die Menschameisen auch. Aber diese Todeskugeln, die bestimmt irgendwelchen Knuddelmuffs entstammen, sind eine zu große Gefahr", sagte Arcadi. "Er kann sie überall einsetzen, ohne daß wir rechtzeitig dazukommen. Vielleicht sollte ich ihm doch die Macht überlassen", seufzte Arcadi. Sein Mitarbeiter starrte ihn nun sichtlich verstimmt an, ja schien von diesen Worten sichtlich in Rage zu geraten. Arcadi erkannte, daß er hier wohl einen psychologischen Fehler gemacht hatte. Als Juri seinen Zauberstab zückte und rief:

"Nur über meine Leiche wird dieser Bastard Zaubereiminister oder magischer Zar, oder wie der immer genannt werden will. Wenn Sie nicht mehr wollen, Maximilian, dann werde ich ihn besiegen, und wenn ich mit dem Teufel selbst zusammenarbeiten müßte", schrillte er. Er deutete auf den Minister. Dieser reagierte jedoch mit einer schnellen Zauberstabbewegung und prällte den ihm gältenden Schockzauber zurück. Die anderen Zauberer waren von der Zusammenstauchung der Kugelwesen noch zu erschöpft um zu reagieren. Petrov verschwand, als Arcadi seinerseits einen Fangzauber ausrief.

"Jetzt habe ich zwei Feinde im Land", erkannte er und stellte fest, daß er offenbar doch langsam zu alt für sein Amt wurde.

"Schreiben Sie Juri Petrov zur Fahndung aus!" Sagte er seiner Sekretärin. Diese stutzte. Dann erzählte er ihr, was passiert war. Sie nickte und gab die ministerielle Anweisung weiter. Doch Petrov war schon nicht mehr in Russland.

__________

In der Zeit zwischen dem ungewollten Mord an Beryl Corner und dem Auftauchen der ersten Todeskugeln hatte Antehlia alle Hände voll zu tun, die Aufmerksamkeit des Laveau-Institutes und der Liga gegen die dunklen Künste von sich abzulenken. Denn anders als erhofft zielten deren Bemühungen nicht auf den sogenannten dunklen Lord ab, sondern auf amerikanische Sympathisanten. Lady Daianira hatte Anthelia mehrmals auf neutralem Grund und Boden getroffen, um mit ihr darüber zu sprechen, was los war. Anthelia stellte sich im Bezug auf Beryl Corners Tod unwissend. Sie war sich sicher, daß es keine Beweise gab, die auf sie hindeuten mochten. Als sie am zwölften Februar erfuhr, was in Russland passierte und das Arcadi seinen treusten Mitarbeiter Petrov wegen angedrohtem gewaltsamen Widerstand gegen das Ministerium zur Fahndung ausgeschrieben hatte dachte sie sofort daran, daß Petrov die ärgsten Feinde Bokanowskis aufsuchen würde, ja unter Umständen selbst das Zaubereiministerium in Moskau übernehmen könne.

"Dieser Zauberer trägt wichtige Geheimnisse mit sich herum. Wenn er dem Waisenknaben oder ähnlichem Geschmeiß davon Kunde gibt, werden diese für uns zur Gefahr", sagte Anthelia. "Ich werde mich selbst darum kümmern müssen."

"Wo wirst du ihn suchen, höchste Schwester?" Fragte Patricia Straton, die der kleinen Unterredung beiwohnte.

"In England natürlich, wo der Waisenknabe sein Revier hat. Ich muß ihn abfangen, bevor er dem Emporkömmling seine Dienste anbieten kann. Vielleicht gelingt es mir, ihn davon zu überzeugen, mit uns gegen seinen Erzfeind vorzugehen."

"Natürlich, höchste Schwester. Aber du solltest nicht alleine gehen", sagte Pandora Straton besorgt.

"Ursina hat mir einige treue Bundesschwestern empfohlen. Eine von denen ist ja auch schon eine von Uns. Außerdem werde ich mit unseren russischen Mitschwestern zusammenarbeiten."

"Wie lange wirst du wegbleiben?" Fragte Ardentia Truelane, die es geschafft hatte, der Unterredung beizuwohnen.

"Einige Tage fürchte ich. Die Situation ist zu brisant, um sie noch länger sich selbst zu überlassen. Warum fragst du, Schwester Ardentia?"

"Jane Porter sucht nicht mehr nach dem Emporkömmling, höchste Schwester. Sie sagt, sie sucht nun nach dir. Sie weiß zwar nicht, ob du nun Sardonia oder Anthelia bist. Aber sie hat mir gestern gesagt, Beryl habe herausgefunden, wer die Wiederkehrerin sei und dafür habe sie sterben müssen und sie wolle nun gezielter nach dir suchen."

"Dann möge sie suchen! Ich werde eben einige Tage in der Fremde verweilen. Lass sie reden und werken wie sie will. Aber zumindest verdächtigt sie dich nicht mehr, oder?"

"Im Moment wohl nicht. Sie hat gesagt, daß Beryl Aufzeichnungen versteckt habe, aus denen hervorginge, was es mit der Wiederkehrerin auf sich habe. Außerdem sprach sie davon, daß Beryl das Buch über Dairon von einem irischen Zauberer namens Ian O'Sullivan bekommen habe, der noch mehr Unterlagen über die Gegenstände Dairons hätte. Davidson will übermorgen nach Shanon, um die Dokumente einzuhandeln."

"Soso, Schwester Ardentia. Warum nicht schon vor einigenTagen?" Fragte Anthelia mißtrauisch.

"Weil dieser O'Sullivan sich versteckt habe, nachdem der Emporkömmling ihn überfallen hätte. Daß dann noch in Amerika das dunkle Mal aufgetaucht sei habe ihn davon abgehalten, aus seinem Versteck zu kommen und nach dem Buch zu suchen. Er verlangt Schadensersatz für den Brand, den Beryl durch ihren Zauber verursacht haben soll, sowie den Diebstahl des Buches."

"Wie konnte er denn dieses Feuer überleben, Schwester Ardentia?" fragte Anthelia und sah ihre junge Mitschwester an. Diese ließ es zu, daß Anthelia sie legilimentierte. Tatsächlich hatte Jane Porter mit ihr über das alles gesprochen. Immerhin blieben die Sabberhexen um Morpuora erst einmal verschont.

"Meinst du nicht, sie könnte dir das erzählt haben, um zu sehen, was passiert? Es könnte durchaus eine Falle sein, um deine Loyalität zu prüfen", sagte Anthelia sehr ernst. Ardentia schluckte. Das mochte es sein. "Weißt du, ob sie das außer dir noch jemandem erzählt hat?"

"Öhm, nein, hat sie nur mir erzählt, weil ich ja Beryl vor ihrem Tod noch deswegen gesprochen habe."

"Soviel dazu, daß sie dich nicht verdächtigt, Schwester Ardentia", knurrte Anthelia. "Sie prüft, ob du nicht vielleicht doch untreu geworden bist oder dies schon immer warst. Sie greift nach allen sich ihr bietenden Strohhalmen. Lasse dich nicht noch einmal derartig ins Bockshorn jagen, Schwester Ardentia!"

"Ja, aber was, wenn sie mich wirklich verdächtigt. Dann könnte sie ja immer nur solche Sachen in Umlauf bringen. Dann kann ich dir und den anderen nicht mehr helfen", warf Ardentia ein.

"Nur dann wenn sie eine Handhabe findet, die ihren Verdacht rechtfertigt. Tue nichts, was den Verdacht rechtfertigt! Verhalte dich ruhig und halte dich aus allem heraus, zu dem nur diese Jane Porter dich anstacheln oder kommandieren will, sofern du nicht die Rückmeldung von eurem Vorgesetzten hast!" Wies Anthelia ihre junge Mitschwester und Kundschafterin im Laveau-Institut an.

"Du hast recht, höchste Schwester. Ich habe nur befürchtet, ich sei bereits enttarnt."

"Am besten behältst du alles, was du hörst erst einmal für dich. Schreibe es auf und verberge die Aufzeichnungen!" Sagte die Führerin des Spinnenordens. Ardentia nickte gehorsam. Dann verschwand sie.

"Schwester Patricia, sage deiner Mutter, sie möge auf sie aufpassen, sofern sie sich die nächsten Tage freimachen kann!" Sagte Anthelia. In ihrer Stimme klang Besorgnis und auch Verärgerung.

"Du meinst, sie kann es nicht mehr länger, für uns im Institut spionieren meine ich?" Fragte Patricia.

"Jeder vernünftige Mensch hätte darauf schließen müssen, daß wenn nicht der Emporkömmling für die Tötung von Beryl Corner verantwortlich ist die Personen verdächtig sind, die von dem Opfer wichtige Informationen erhalten haben. Daraus folgt, daß jede Information, die sie ab da bekommt, eine Finte sein kann, um zu sehen, ob ein Verdacht begründet ist oder nicht. Du hast recht, wenn wir dann wohl bald eine neue Mitarbeiterin im Laveau-Institut werben müssen. Denn ob eine Botschaft echt oder gefälscht ist zu prüfen wäre sehr riskant für unsere Sache. Wenn sie dann wirklich nur noch auf vorsätzlich gefälschte Kunde aufbauende Berichte zurückbringt ist sie wertlos für uns."

"Hoffentlich ränkt sich das wieder ein, höchste Schwester. Diese Jane Porter ist sehr hartnäckig, intelligent und zaubermächtig. Wenn sie uns auf die Schliche kommt müßten wir sie ausschalten."

"Ich hoffe inständig, dieses Mittel nicht ergreifen zu müssen, Schwester Patricia. Denn sie unterhält eine gute Beziehung zu dem Jungen Julius Andrews. Bevor du mir jetzt unterstellst, ich hege des Jungen wegen eine fixe Idee, was seine Brauchbarkeit für uns angeht, so weise ich dich vorsorglich darauf hin, daß wir ohne seine Hilfe weder die Plage der grünen Würmer in den Bildern von Hogwarts, noch die Vernichtung Hallittis und das Ende der räuberischen Gewalttaten verbuchen könnten. Seine Zauberkräfte sind so weit ausgereift wie bei Sardonia oder mir, und das möchte ich nicht aus den Augen verlieren."

"Er ist ein Zauberer", sagte Patricia. Anthelia nickte und lächelte. In gedanken formulierte sie:

"Das war Dido auch einmal, und Bartemius Crouch Junior."

"Der fühlt sich in seiner Haut aber wohl sehr wohl", erwiderte Patricia ebenfalls lautlos.

"Wir alle fühlen uns in der angeborenen Haut sehr wohl. Aber wir können lernen, neue Wege zu gehen. Aber im Moment denke ich nicht daran, ihn als ordentliches Mitglied unseres Bundes zu gewinnen, eine Verbindung mit einer von uns wäre sicherlich genauso vorteilhaft, und er könnte mit einer von uns eine Dynastie starker und kluger Hexen und Zauberer begründen."

Patricia lief leicht rot an. Hieß das, daß Anthelia diesen Jungen als eine Art Zuchtbullen benutzen wollte, wenn sie ihn nicht zu einer weiteren Mitschwester machen wollte?

"Ich werde den Jungen zu nichts zwingen, Schwester Patricia. Aber ich weiß, daß er im Moment eine schwere Phase durchmacht. Seine Geliebte ist verstorben, weil angeblich so gute Zauberer ihre Großmutter bestrafen wollten. Er mag der weithin verbreiteten Definition von Anstand und Rechtschaffenheit nicht mehr so uneingeschränkt folgen wie vorher. Es könnte also durchaus in seinem Sinne sein, wenn ihm jemand eine klare Richtung vorgibt, ein Ziel, auf das er mit seinen Kräften hinarbeiten kann."

"Hattest du den Eindruck, daß er dies wirklich braucht?" Fragte Patricia. Anthelia schwieg dazu, sowohl mit der Stimme als auch mentiloquistisch.

"Ich werde meiner Mutter sagen, sie möchte auf Schwester Ardentia aufpassen", sagte Patricia Straton.

"Ich danke dir, Schwester Patricia", sagte Antehlia aufatmend. Dann verabschiedete sie sich zur Nachrtruhe.

__________

Ursina erfuhr am dreizehnten Februar, daß ein Mann mit starkem Akzent in der Nockturngasse aufgetaucht war und sich als Roman Gruschenko aus Kiew vorgestellt habe. Eine der in der berüchtigten Nebenstraße der Winkelgasse hatte ihn jedoch erkannt. Außerdem hatten Mitschwestern in Russland wohl über die Schwesternschaft Anthelias vermeldet, daß Juri Petrov im Streit das Zaubereiministerium verlassen habe und von Arcadi zur Fahndung ausgeschrieben worden war, weil er eine Andeutung gemacht habe, um Bokanowski zu stoppen und um Arcadi daran zu hindern, das Zaubereiministerium aufzugeben würde er sogar mit dem Teufel zusammenarbeiten.

"Der hat doch nicht ernsthaft bei allen Ladenbesitzern angeklopft und gefragt: "Entschuldigung, wo wohnt Lord Voldemort?", Megara", sagte Ursina zu ihrer Schwester, als diese mit ihr beim Tee in Rainbowlawn saß.

"Nein, hat er nicht. Der hat gesagt, er suche für seinen Herrn, Igor Bokanowski besonders wirksame Giftstoffe und Tierbestandteile."

"Sieh mal an, sorum geht's auch", grinste Ursina. "Der Name ist natürlich in der Nokturngasse ein Begriff, oder?"

"Davon darfst du ausgehen, Ursina", sagte Megara Nightfall. "eine der in der Gasse herumstreunenden Sabberhexen hat ihn gefragt, ob er auch Söhne von Waldfrauen nähme, weil sie nicht wisse, ob sie gerade einen im Leib habe oder doch eine Tochter."

"Und?" Fragte Ursina amüsiert.

"Davon wisse er nichts, habe er geantwortet und daß sein Meister ihm nicht alles verrate."

"Soso, da läuft also ein angeblich aus der Ukraine stammender Zauberer herum, der für Igor Bokanowski nach besonderen Zutaten sucht. Entweder nimmt Scrimgeour ihn fest oder der Emporkömmling kassiert ihn ein. Da wäre es doch besser, wenn wir ihn uns greifen."

"Und wenn wir ihn haben, was dann?" Fragte Megara.

"Legen wir ihn erst einmal auf Eis, wenn wir ihn nicht seinem früheren Arbeitgeber zurückerstatten", sagte Ursina.

"Er will wahrhaftig mit dem Emporkömmling zusammentreffen", sagte Megara Nightfall.

"Das wird er aber nicht", erwiderte Lady Ursina.

Doch als sie zwei Stunden später einen Lagebericht von ihren in London arbeitenden Mitschwestern erhielt, stampfte sie kurz auf.

__________

"Gruschenko war der Name?" Fragte ein spindeldürrer Zauberer hinter dem leicht angekokelten Tresen eines nach Ruß und Schwefel stinkenden Ladens in der düsteren Nokturngasse.

"Genau der", sagte der Ausländer im Biberpelzumhang. "Ich suche Feuerkobragift sowie die Schwanzspitze eines Mantikors. Mein Herr will damit experimentieren. Ach ja, das Blut von zehn Jungfrauen will er auch haben."

"Feuerkobragift, schwer dranzukommen. Die Leute, die nicht schnell genug zupacken krepieren meistens daran, daß diese Tierchen es direkt in sie hineinspritzen. Mantikore haben es auch nicht sonderlich gerne, wenn mann ihnen den Stachelschwanz abschneidet. Viele, die sowas probieren wollten landeten im Bauch des Mantikors", sagte der Zauberer.

"Ja, und zehn Jungfrauen, die ihr Blut rausrücken sind auch selten! Hände Hoch Gosbodin und umdrehen!" Bellte Jemand von der Tür her. Der Mann, der sich Roman Gruschenko nannte schrakzusammen. Dann gehorchte er jedoch.

"Stonehead, Aurorencorps des britischen Zaubereiministers. Sie sind verhaftet!" Knurrte der Zauberer, zu dem die Stimme gehörte, die Gruschenko angerufen hatte.

"Hätte ich mir denken können, daß mich dieser Heini in eine Falle lockt", knurrte der Fremde. "Aber Sie werden nicht lange Freude an mir haben."

"Durchaus", schnarrte eine eiskalte Stimme von einem anderen Raum her. "Avada Kedavra!" Ein grüner Blitz sirrte knapp an dem Fremden vorbei und traf Stonehead in den Bauch. Seine beiden Kollegen rissen die Zauberstäbe hoch ... und fielen von einem blauen Blitz von der Seite her getroffen um. Zweimal sirrte der grüne Todesblitz noch einmal. Der Fremde stand starr da. Würde er auch gleich ...

"Drhe dich mal wieder um, Ruski, will mal sehen, welchen Laufburschen der gute Doktor B. jetzt beschäftigt!" Sprach die kalte, durch Marg und Bein gehende Stimme wieder. Der Fremde drehte sich um und blickte in eine aschfahle Fratze, die dem Schädel einer Schlange entsprechen mochte. Glutrote Augen funkelten ihn verächtlich an. Dann lachte der Mann, dem diese Schreckensfratze gehörte.

"Ach neh, wen haben wir denn da?! Juri Petrov, der Kettenhund des alten Arcadi!" Der große, hagere Mann im schwarzen Umhang lachte schallend los. Der Zauberer hinter dem Tresen zitterte leicht und bemühte sich, nicht ins Blickfeld des anderen zu geraten, der ihm vor fünf Minuten seine Aufwartung gemacht hatte. "Soll ich dich zu denen da hinlegen oder was sollte dieser Zirkus mit der Suche für Bokanowski?"

"Ihr seid der, den man hier nicht beim Namen nennt", sagte Petrov. letzthin hatte er ihn also gefunden, den dunklen Lord.

"Lord Voldemort", bestätigte Lord Voldemort. "Also was soll das jetzt hier?"

"Einfache Frage, einfache Antwort, Mylord: Ich will, das Bokanowski, der echte wohlgemerkt, für immer aus Russland verschwindet. Arcadi unterschreibt gerade seine Verzichtserklärung zu Gunsten dieses Dreckskerls."

"Och", machte Voldemort spöttisch. "Ist der alte Bär doch noch zahm geworden und gibt sein Land für sein achso lang verteidigtes Leben her? Und der Kettenhund kläfft und winselt, weil er den bösen Bokanowski nicht beißen darf?"

"Er wird euch fertigmachen, Eure Lordschaft", spie Petrov dem dunklen Lord ins häßliche angesicht. "Jetzt hat er Russland, dann Polen, dann Westeuropa. Ich habe gesehen, wie er es anstellt. Er schickt kleine Monster, die wohl aus diesen Knuddelmuffs gezüchtet wurden aus, die sich beim töten teilen oder wenn ein Exemplar stirbt sich teilen. Damit hat er Arcadi in die Knie gezwungen."

"Oh, dann bekommen meine netten Helfer seinen anderen Tierchen nicht mehr so gut?" Grinste Voldemort. "Abgesehen davon kannst du mir alles mögliche auftischen, um mich und Bokanowski gleichzeitig zu erledigen. Nicht wahr, du gehst doch davon aus, daß wir uns gegenseitig müde kämpfen, damit du uns problemlos erledigen kannst und deinem alten Bären sagen kannst, wie gut du doch für ihn hast arbeiten können. Abgesehen davon wüßte ich auch nicht, warum ich diesen kerl nicht einfach machen lasse, was er will, um ihn dann, wenn er mir nichts mehr bedeutet oder mir zu gefährlich wird, abzuservieren. Wozu sollte ich dich da noch gebrauchen?"

"Wie gesagt, Lord Voldemort, er ist bereits mächtiger als Ihr ahnt. Vielleicht ist er bald schon mächtiger als Ihr es seid. Wollt Ihr das?"

"Er wird niemals mächtiger sein als ich", lachte Voldemort. "Dafür fehlt ihm der Mut zum Wagnis und die Macht, mit anderen fertig zu werden. Er ist ein Einsiedler in einem Haus, in dem zufällig ein gutes Labor eingebaut ist. Da macht er Experimente und meint, die ganze Welt damit erobern zu können. Ich glaube, ich blase dir allen Haß auf Bokanowski aus, damit du Ruhe hast." Er hob den Zauberstab und zielte auf Petrov.

"Für dumm habe ich Euch nicht gehalten", sagte Petrov ruhig. "Wenn Ihr mich jetzt umbringt kann Bokanowski morgen alle neuen Mitarbeiter damit anstacheln, daß Ihr mich umgebracht habt. Wenn er dann über Russland hinaus regiert werdet Ihr nicht mehr lange leben, weil die meisten Durmstrang-Absolventen die dunklen Künste genauso gut kennen wie Ihr."

"Sogesehen hast du schon recht, daß ich noch etwas von dir lernen kann, um diesen Kerl auszuhebeln, zum Beispiel woher er ursprünglich kommt und wann er sich zu seinem jetzigen Leben entschlossen hat. Wenn du mir das alles erzählen willst, bitte! Stupor!"

Zwei weitere Todesser, die im Hinterzimmer gewartet hatten trugen Petrov hinaus und disapparierten mit ihm.

"Wenn du nicht willst, daß die von Scrimgeour dich gleich am Hintern haben lass die drei hier verschwinden!" Zischte Voldemort. Er verließ den Laden und disapparierte ebenfalls.

__________

Anthelia mußte damit rechnen, daß die Todesser wußten, daß jemand unbefugtes ihren Treffpunkt kannte. Dennoch schlich sie sich unsichtbar und mit verschlossenem Geist in die Nähe des Friedhofs von Little Hangleton. Mit einem Fernschallansaughörrohr belauschte sie am Abend des 13. Februars eine Unterhaltung zwischen Voldemort und einigen anderen Todessern. Sie hatten einen Gefangenen, der mit russischem Akzent sprach. Also hatte dieser blindwütig hassende Bluthund es tatsächlich gewagt, Voldemort zu suchen und hatte ihn auch gefunden. Ob er darüber glücklich sein durfte war sehr unwahrscheinlich. Sie erfuhr wie Voldemort, das Igor Bokanowski bereits 1924 zum Heiler ausgebildet wurde, jedoch zehn Jahre später bei Versuchen mit Menschen erwischt wurde, um willfährige Sklaven mit vier Armen zu züchten. Offenbar hatte er damals schon ein Interesse an den Entomanthropen. Sie hörte auch, daß Bokanowski nach dem Verschwinden Voldemorts für mehrere Jahre untergetaucht war. Offenbar hatte er in der Zeit seine Studien vervollkommnet. Voldemort verhörte Petrov über jede Einzelheit, auch über die Geheimnisse des Zaubereiministeriums. Offenbar stand Petrov unter Veritaserum, erkannte Anthelia. Denn er beantwortete wirklich jede gestellte Frage ohne zu überlegen. Dann, so um Mitternacht, war das Verhör zu Ende.Anthelia zog sich zurück. Die Entfernung war also sicher genug gewesen. Das verbesserte Fernschallansaughörrohr, das über eine Meile hinweg einen kleinen Bereich abhören konnte, hatte sich bewährt.

Zurück in Dem Quartier, das sie für die Suche nach Petrov bezogen hatte überlegte sie, wie sie die Angelegenheit nun klären sollte. Ihr eigentlicher Plan, Petrov vor Voldemort zu fangen war gescheitert. Nun mußte sie wohl oder übel hinter den beiden herreisen, eventuell heimlich an der Seite Voldemorts gegen Bokanowski kämpfen. Das wurmte sie zwar. Doch der russische Zauberer war ein ehemaliger Heiler und kannte sich mit dem menschlichen Körper aus. Er hatte Sardonias Geheimnisse zu ergründen versucht, was ihm nicht zustand, und er war nun übermächtig. Auch sie mußte ihn bekämpfen und sie wußte auch schon eine Möglichkeit. Petrov hatte von Doppelgängern gesprochen und daß diese wohl unter einem Zauber standen, der sie daran hinderte, sich selbst für den wahren Igor zu halten. Da dieser von einem Schaffensdrang ohne Gleichen besessene Zauberer seine Kopien über das ganze Land verteilt hatte, konnte sie sich eine davon verschaffen, ohne zwischen die Fronten der direkten Auseinandersetzung zu geraten. Sie konnte also in Ruhe einen ausgucken. Außerdem wollte sie dem russischen Zaubereiminister helfen, die bereits losgelassenen Monster zu bekämpfen, ohne selbst dabei sein zu müssen. Hinzu kam ja noch, daß Petrov gerade alle wichtigen Geheimnisse des russischen Zaubereiministeriums ausgeplaudert hatte. Wenn sie nicht wollte, daß Voldemort sich sofort an Bokanowskis Platz setzte mußte sie dem Minister eine entsprechende Nachricht zukommen lassen. So reiste sie nach den für sie nötigen acht Stunden Schlaf nach St. Petersburg, wo sie sich mit einer dort lebenden Bundesschwester traf. Diese erzählte ihr was alles geschehen war und das nun auch bei Novosibirsk diese Mörderkugeln aufgetaucht seien. Arcadi habe nicht kapituliert, sondern Sondertruppen losgeschickt, um herauszufinden, wie man die Plage beenden konnte. Anthelia nutzte ihre Kontakte in diverse Forschungsinstitute der Zaubererwelt und holte Erkundigungen über Knuddelmuffs ein. Dabei erfuhr sie am 15. Februar, daß diese Tiere auf bestimmte Töne sehr empfindlich reagierten. Die gewöhnlichen Knuddelmuffs mochten keine hohen Töne. Das brachte sie dazu, zu erstarren. Wenn dann noch einer der Töne erzeugt wurde, der einem Knuddelmuff ein paarungswilliges Exemplar verriet, gerieten sie in einen Bewegungsrausch. Je länger die Tonkombination gespielt wurde, desto mehr erschöpften sie sich, was durchaus zum Tode führen konnte.

"So macht er es, wenn er selbst mit diesen Verkehrungen fertig werden will", sagte sie zu ihrer Mitschwester. Diese nickte, als sie den Bericht gelesen hatte, den eine Eilbotin aus Deutschland herübergebracht hatte. Inzwischen war es an der Österreichisch-Tschechischen Grenze zu einem neuen Zusammenstoß zwischen Alcaras Golems und Dementoren auf der einen Seite und Bokanowskis Kreaturen auf der Anderen Seite gekommen. Doch das interessierte sie nicht. Sie wollte jetzt sprichwörtlich am Ball bleiben und herausfinden, mit welcher Tonkombination man die dunklen Verkehrungen der Knuddelmuffs, die die russischen Zeitungen als Kugeln der Vernichtung bezeichneten kampfunfähig machen oder gar töten konnte.

"Wir können keinen von denen fangen, weil deren Zungen wie Peitschen mit Sägezähnen sind. Die kleinste Attacke kann schon schwere Verletzungen bewirken", sagte Vera Barkow, die Mitschwester Anthelias.

"Ich werde eines dieser Ungeheuer fangen, wenn du folgendes besorgst", sagte Anthelia und gab Vera auf, ein Aquarium zu besorgen, es Mannshoch zu ziehen und unzerbrechlich zu zaubern. Sie sollte es dann verschließen und mit einem Schalltrichter bestücken, durch den sie verschiedene Töne übertragen konnten. Dann erkundigte sich Anthelia, wo diese gefährlichen Geschöpfe erneut gesichtet worden waren und prüfte, daß ihr Gürtel der zwei Dutzend Leben auch sicher anlag. Denn hier und jetzt würde sie sich auf ihn verlassen müssen. Geschlafen hatte sie genug, daß der magische Gürtel nicht den Dienst versagen würde. Also apparierte sie mitten hinein in die vom Ministerium bereits umkämpfte Zone, wo über 500 kugelförmige Ungeheuer laut brummend, brüllend, knurrend und Schnarrend ein Meer aus silbernen Sägezungen wogen ließen, dem nichts lebendes entkommen konnte. Anthelia glaubte zunächst, sich verspekuliert zu haben, als Dutzende von Fangzungen sie sofort umschlangen und ihr Gürtel unvermittelt heiß wurde. Doch dann glitten die Sägezungen ab, klatschten nur noch wie leichte Peitschenschnüre gegen ihren Körper. Sie konnte nicht von Tieren gefressen, von Schneidwerkzeugen zerteilt oder enthauptet werden. Diese drei Todesarten auf einmal fing der Gürtel ab. Sie legte es jedoch nicht darauf an, die Kraft des Gürtels zu verbrauchen, sondern telekinierte eine der Fellkugeln zu sich, während ihr die Sägezungen um den Kopf, den Körper und die Füße sirrten und dagegenklatschten. Sie prüfte, wo das Mundloch des Monsters war und verschloss dies mit einem Eisenstöpsel. Dann disapparierte sie. Der Gürtel um ihren nun nackten Leib glühte in tiefem Rot, als sie in der Mitte des würfelförmigen Glaskastens landete, der zwei Meter Kantenlänge besaß. Sie warf das gefangene Tier von sich, das mit seinem Knebel kämpfte. Gleich würde es ihn lossein. Sie disapparierte erneut aus dem Kasten und landete direkt davor. Vera sah Anthelia an und staunte, daß sie zwar ihre Kleidung verloren hatte, aber ansonsten unverletzt geblieben war.

"Und ich konnte eine dieser brummenden Pestbeulen einfangen, Schwester Vera. Sie nicht so lüstern auf meinen Gürtel. Er gehorcht nur mir und ist für andere völlig wertlos. Das gleiche gilt für das Medaillon. Ich kleide mich eben an. Dann beginnen wir unsere Versuche."

Laut knirschend brach der Knebel im Mund des kopf- und gliederlosen Untiers. Sofort schoss die Sägezunge heraus und krachte gegen die einen Zentimeter dicke, unzerbrechliche Glasscheibe.

"Selbst eines zu fangen war sicherlich ein Wunder. Aber wären zwei oder drei nicht besser gewesen?" Fragte Vera.

"Wenn wir herausbekommen, was diese Wesen tötet, reicht eines völlig aus", sagte Anthelia und begann mit der Erzeugung von Tönen, erst tiefen, die dem Wesen in seinem Angriffsrausch nichts anhatten. Als sie die für normale Knuddelmuffs so unbekömmlichen Töne erzeugte, hüpfte das Wesen munter auf und ab. Nach jedem dritten Hüpfer teilte es sich und vermehrte sich so in zehn Sekunden auf 16 Exemplare, die nun mit lautem Klatschen und Rasseln das Glas zu bearbeiten versuchten.

"Ich denke, sechzehn sind ausreichend, um ein eindeutiges Ergebnis zu erzielen", sagte Anthelia Vera zugewandt, die bange auf die im Glaskäfig tobenden Ungeheuer starrte.

"Zu viele", sagte Vera mit zitternder Stimme. Anthelia blieb jedoch die Ruhe selbst. Wer bereits in einen frei beweglichen Pulk von 500 Kreaturen hineingesprungen war und das überlebte, konnte sechzehn eingesperrten Todeskugeln gelassen begegnen. Sie experimentierte mit anderen Tönen, mit unterschiedlichen Reaktionen, vom Sträuben der Haare bis zum antennenartigen Ausfahren der Zungen, bis sie eine Idee hatte. Sie probierte eine Tonhöhe aus, die genau zweieinhalb oktaven über der Schmerztonhöhe für normale Knuddelmuffs lag und erzeugte den Paarungston, allerdings auch zweieinhalb Oktaven höher. Erst setzte sie leise an. Doch das Ergebnis stimmte bereits sehr zuversichtlich. Denn die gefangenen Todeskugeln oder Mördermuffs drängten sich zusammen und versuchten, sich unter der Tonkombination zu ducken. Anthelia unterbrach die Tonübertragung. Die Geschöpfe taumelten wie nach einem schweren Schlag. Erst langsam erholten sie sich. "Ich werde diesen Ton jetzt mit vierfacher Lautstärke erzeugen", sagte Anthelia so sachlich wie eine Naturwissenschaftlerin. Als die Tonkombination mit der vierfachen Lautstärke in das Glasgefängnis eingespielt übertragen wurde sprang Vera Barkow jauchzend in die Luft. denn mit lautem Knall zerplatzten alle sechzehn Kugelwesen. Anthelia brach die Übertragung des auch für sie fast unerträglichen Tones ab.

"Vera, schreib diese Tonkombination und die Lautstärke auf. Wir werden dieses Versuchsergebnis dem Ministerium zuspielen. Soweit ich weiß kennt ihr hier schon längst die Schallraumtrichter, die einen ganzen ausfüllbaren Raum gleichmäßig beschallen können, egal wie groß er ist, zumindest aber einen Umkreis von hundert Metern abdecken können wie der Sonorus-Zauber, auf den sie wohl basieren!"

Über eine schnelle, wenn auch gewundene Kette von Zwischenleuten gelangte ein Perrgament mit der wohl lebensrettenden Tonkombination ins Ministerium, das sofort ein Experiment machte. Die bei Novosibirsk aufgetauchten Todeskugeln, die bereits drohten, die Stadt anzugreifen, wurden mit großen Trichtern beschallt, die die Tonkombination übertrugen. Das Ergebnis war durchschlagend. Alle im beschallten Umkreis herumhüpfenden Kugelwesen zerplatzten nach einer Sekunde.

"Die Gefahr ist beseitigt", sagte Vera aufatmend und umarmte Anthelia.

"So wird diese pelzige Pestilenz von der Erde vertilgt", schnarrte Anthelia nun kampfeslustig. "Dann werde ich nun den zweiten Schritt meines Planes durchführen."

Am nächsten Tag, dem 16. Februar, als die Ministeriums-Zauberer nun sofort nach Bekanntwerden einer Todeskugelattacke mit den neuen Schallwerfern zurückschlugen, wartete Anthelia in der Nähe einer betroffenen Siedlung in der Nähe von Moskau. Bokanowski wollte es jetzt wohl wissen. Besonders jetzt, wo seine Westausdehnung immer stärker von Voldemorts Kreaturen gebremst wurde und abzusehen war, daß sie irgendwann einen Gegenstoß unternehmen würden, und jetzt auch noch die Tonkombination zum flächendeckenden Abtöten der so unschlagbar erschienenen Mördermuffs gefunden worden war, mußte der in die Enge gedrängte Dunkelmagier alles auf eine Karte setzen, wollte er sein Ziel nicht verfehlen. So passierte es, daß Anthelia einen Doppelgänger in einem Schacht der moskauer U-Bahn erwischte. Das war ihr möglich, weil offenbar eine ständige telepathische Verbindung zwischen dem Doppelgänger und seinem Original aufrechterhalten wurde. Offenbar hatte Igor Bokanowski nicht damit gerechnet, eine der wenigen natürlichen Telepathinnen zur Feindin zu bekommen. Antehlia wußte zwar, daß sie dem Doppelgänger weder ihr Gesicht zeigen noch mit ihm sprechen durfte, aber die Gelegenheit war günstig. Als das mit seinem Original wechselwirkende Abbild gerade eine Eisenkiste hinstellen wollte, in der es all zu bekannt brummte, vertrat sie ihm den Weg.

"Was willst du, wer bist du?" Schnarrte der Doppelgänger. Anthelia hatte einen Moment zuvor ein Kommando gehört, das aus großer Ferne zu kommen schien und erst unmittelbar bei dem Empfänger zu konkreten Gedanken wurde: "Frage den Unbekannten, wer es ist!"

Anthelia schwieg und ergriff die Kiste telekinetisch. Sie flog davon. Der Doppelgänger griff in seinen Umhang und zückte einen Zauberstab. Doch genau das hatte Anthelia erwartet. Als das Abbild der Kiste einen Aufrufezauber zurief, schockte sie es.

"Wach auf! Dein Herr und Gebieter, Igor Bokanowski, befiehlt dir: Wach auf! Dein Herr und Gebieter, Igor Bokanowski, befiehlt dir: Wach auf!"

"Da kannst du lange warten", dachte Anthelia, die das winzig wirkende Gedankenstimmchen wieder und wieder hörte. Was immer benutzt wurde, um den Doppelgänger zu kontrollieren, es mußte wie ein Willenswickler am Körper ansitzen. Tatsächlich bewegte sich der geschockte langsam wieder. Anthelia wirkte noch einen Schocker. Doch auch dieser hielt nicht lange vor. Da fühlte sie einen leichten Luftzug, der immer stärker wurde. Ein Zug fuhr durch den Schacht. Dabei fühlte sie etwas merkwürdiges. Die telepathische Verbindung wurde schwächer, stärker, schwächer, bis sie in abgehackten Strömen vom Körper des betäubten ausging. Anthelia packte den Betäubten und disapparierte. Wieder in ihrem russischen Stützpunkt erkannte sie, wie sich die Verbindung zwischen Vorlage und Abbild erholte.

"Seltsam", sagte Anthelia zu Vera, als sie den Gefangenen gefesselt und geknebelt und mit einer engen Binde vor den Augen und dicken Wattepfropfen in den Ohren auf dem Gästebett zurückgelassen hatten. "Dieser Untergrundzug störte die Verbindung zwischen dem Urheber und seinem Simulacrum. Ich möchte wissen wieso."

"U-Bahn-Zug? Du hast den in einem U-Bahn-Schacht gefunden?" Fragte Vera.

"Ja, wo er eine Kiste absetzen wollte, der er weitere dieser pelzigen Pestbeulen entnehmen wollte." Dann erschrak sie über eine Erkenntnis, die völlig unvorbereitet über sie kam. Sie dachte kurz nach. Dann sagte sie triumphierend: "Natürlich! Die starke Elektrizität, die ein solcher Zug benötigt. Was immer ihn unterwirft ist empfindlich gegen Elektrizität. Dann werde ich mal nachsehen, was das für ein Etwas ist."

Anthelia und Vera gingen ins Gästeschlafzimmer. Der Gefangene kämpfte wild keuchend mit seinen Fesseln. Anthelia drückte ihn nieder und untersuchte seinen Körper. Eine kleine Stelle am Nacken fiel ihr besonders auf. Sie war rosiger als die restliche Haut und irgendwie sternförmig.

"Ein Muttermal", vermutete Vera.

"Keineswegs", sagte Anthelia verbittert. Dann hob sie den Zauberstab. "Dieses Mal ist der Kontakt zu seinem Meister. Iovis!" Krachend schlug ein greller Blitz aus Anthelias Zauberstab über das Bett in die Wand hinein. In dem Moment hörte Anthelia einen langgezogenen, tierhaften Aufschrei. Aber nicht von dem Gefangenen, sondern anderswo von seinem Körper. Dann erfolgte ein hektisch gestammeltes Mantra wie unter großer Panik:

"Du hast nur einen Herrn und Gebieter: Igor Bokanowski. Du hast nur einen Herrn und Gebieter: Igor Bokanowski."

"Was ist mit ihm? Er zittert wie Espenlaub", bemerkte Vera.

"Weil das, was ihn unter seinem Bann hält Angst hat", sagte Anthelia und rief noch einmal "Iovis!" Diesmal zielte sie mit dem Zauberstab auf den Rücken des Gefesselten. Ein kurzer aber schmerzvoller Aufschrei in Gedanken durchflutete Anthelias Bewußtsein. Dann war alles ruhig. Der Gefangene, vom starken Stromstoß vorübergehend betäubt, rührte sich nicht. Doch die telepathische Verbindung war völlig abgebrochen. Anthelia entblößte den Nacken des Mannes. Das rosige Mal, das wie ein kleinr Stern ausgesehen hatte, schrumpfte gerade zu einer kleinen dicken Beule zusammen, die aufplatzte und einen grünlichen Schleim freisetzte. Vera wich angeekelt zurück. Anthelia jedoch zog sich Handschuhe an und drückte den Schleim in ein kleines Reagenzglas. Dann säuberte sie die entstandene Wunde und verschloss sie fachgerecht.

"Was wird er tun, wenn er wieder wach wird?" Fragte Vera. Anthelia wollte gerade was sagen, als der Doppelgänger dunkelrot anlief. Sie sprangen beide zurück, als kleine Flammen aus dem Körper herausloderten und ihn einhüllten. Anthelia kannte einen Fluch, der sowas konnte: "Distignitus!" Sagte sie und bekämpfte das Feuer mit einem Wasserstrahl aus ihrem Zauberstab. Doch für den Doppelgänger kam die Hilfe zu spät.

"Wäre auch seltendumm, einen Doppelgänger von sich mit seinem Wissen zu erzeugen und ihn dann unkontrolliert walten zu lassen wie er will.

Mein Bett ist ruiniert", knurrte Vera. Anthelia sagte ruhig, daß sie ihr sofort ein neues Bett besorgen würde. Sie käme für die eine Nacht mit einer Matratze und Bezügen aus.

"Jedenfalls wissen wir jetzt, wie wir den Standort bestimmen können, wo dieser Kerl sitzt", sagte Anthelia. Da sie selbst eine telepathische Verbindung zu jemandem errichtet hatte, wußte sie, wie sie die Standorte einer ähnlichen Verbindung ermitteln konnte. Das wollte sie am nächsten Morgen tun. Doch vorher beseitigte sie den Mördermuff im U-Bahn-Schacht mit der tödlichen Tonkombination und ließ seine Behausung verschwinden.

Anthelia war guter Dinge. Heute würde sie den Unhold Igor Bokanowski zur Strecke bringen, mit oder ohne Voldemort als ungewollten und unwissenden Partner. Sie saß in der großen Badewanne und genoss es, einige Minuten der Entspannung zu haben, als Patricia Stratons Gedankenstimme in ihrem Kopf erklang:

"Höchste Schwester, es tut mir Leid, aber es ist was ganz bedauerliches passiert."

__________

Ardentia Truelane hielt sich an die Anweisungen ihrer höchsten Schwester. Zumindest tat sie nichts, was sie in den Augen ihrer Kollegen und Vorgesetzten verdächtig erscheinen lassen mochte. Sie versah ihren Dienst mal im Institut selbst, wo sie Recherchen anstellte, mal half sie Kollegen dabei, alte Flüche zu beseitigen, die durch irgendwen aktiviert worden waren, so zum Beispiel in Yellow Waters, einem Städtchen in Colorado, wo ein Muggel ein von einem indianischen Medizinmann verfluchtes, goldenes Messer gekauft hatte, das den, der es länger als eine Minute in der bloßen Hand hielt in einen regelrechten Blutrausch versetzte. Da es seinen Träger für gewöhnliche Zauber unortbar machte, und der bedauernswerte Muggel bereits vier Leute damit ermordet hatte, mußte Ardentia mit Hilfe eines Geistersuchrituals aus den ZauberKünsten der Schamanen und Animisten herausbekommen, wo der Todesgeist, wie dieser Fluch auch genannt wurde, mit dem, den er in Besitz genommen hatte verblieben war. Es war ein gefährliches Unterfangen, den Besitzer des verhexten Messers aufzuspüren, denn der Todesgeist erwies sich als außerordentlich mächtig. Ardentia konnte den Muggel mit dem Messer erst am 16. Februar um sechs Uhr abends stellen. Da er gegen übliche Schockzauber immun war, solange er das Messer in der Hand hielt, mußte Ardentia auf einen Muggeltrick zurückgreifen und ihn mit einem Narkosepfeil betäuben. Mit rittertümlich anmutenden Handschuhen aus silbernen Ketten an den Händen nahm sie das verfluchte Messer ab. Sie fühlte, wie die dämonische Wirkung sich von dem betäubten Mann auf sie zu erstrecken versuchte. Doch die Handschuhe, die mit einigen wirksamen Schutzzaubern gegen verfluchte Gegenstände bezaubert waren, drängten die besitzergreifende Magie in ihren materiellen Fokus zurück. Das Messer drehte und wandt sich, weil seine Macht keinen lebenden Erfüllungsgehilfen fand, obwohl doch eindeutig jemand von der Aura des Lebens umgeben daran rührte.

"Gut, daß die meisten Animisten noch nicht heraushaben, wie man feste Körper zeitlos versetzen kann", sagte Ardentia, als sie mit Mühe und Not das sichergestellte Messer in einer Magie abschirmenden Schatulle aus Silber und Gold unterbrachte und sie schloß. "Das ist ja wirklich ein Dämon, der in diesem Ding steckt."

"Die Animisten haben sehr mächtige Zaubereien auf Lager", sagte Chriss Bowman, der mit Ardentia hinter dem goldenen Messer hergejagt war. "Aber jetzt sollten wir uns um den Muggel kümmern. Rufst du die Leute vom magischen Katastrophendienst?"

"Natürlich, Chriss. Danke noch mal, daß du mir bei der Sache hier geholfen hast. Ich hoffe, das Ding läßt sich gefahrlos entfluchen."

"Das sollen unser Bastler Quinn und Louis Anore klären, welche Zauberkunst da besser wirkt."

"Ist Louis denn schon wieder von seinem Besuch im Norden zurück?"

"Kann sein", sagte Chriss. "Ich weiß nicht, ob seine Kollegen am Polarkreis mit ihrem Palaver fertig sind. Hoffentlich stoßen sie ihn nicht aus ihren Reihen aus. Ich hörte mal, die Schamanen der Inuit haben eine sehr tückische Form der fristlosen Kündigung entwickelt, wenn einer der ihren nicht den traditionen gemäß handelt."

"Jane sagte, Anore habe den Segen seines Volkes und der restlichen wahren Schamanen, mit uns zusammenzuarbeiten."

"Kann sich jeder Zeit ändern, Ardentia. So recht blicke ich da nicht durch, wann die was für richtig oder falsch halten."

"Da können wir uns gerne später noch drüber unterhalten", sagte Ardentia, die so schnell es ging von diesem Ort fort wollte. Sie bearbeiteten die anwesenden Muggel mit einem flächendeckenden Erstarrungszauber. Chriss blieb mit dem sichergestellten Messer zurück, während Ardentia disapparierte und die Truppe der Abteilung zur Umkehrung verunglückter Magie und die Strafverfolgungsabteilung zu informieren. Die Tatzeugen und Opfer wurden gedächtnismodifiziert. Als Ardentia ins Institut zurückkehrte, um ihren Bericht zu schreiben, um möglichst noch vor Mitternacht Ortszeit die Sache abzuschließen, tauchte Jane Porters Kopf ohne den üblichen Strohhut im kleinen Kamin auf, über den ausschließlich Kontaktfeuergespräche geführt werden konnten. Nur Davidson besaß einen Kamin, der auch für Flohpulver-Reisen ausgelegt war. Die Miene Jane Porters hatte nichts von der üblichen ruhigen Art einer liebenswerten Großmutter, die sie sonst besaß. Sie wirkte sehr besorgt, aber auch über irgendwas verärgert.

"Ardentia, ich muß mit dir sprechen. Komm bitte in unser Haus am Rocky Peak!"

"Das Gästehaus? Da war ich lange nicht mehr, Jane. Wieso soll ich dorthin kommen? Bist du nicht in deinem Büro?" Erkundigte sich Ardentia.

"Mädchen, tu bitte, was ich möchte!" Knurrte Jane Porter sichtlich gereizt. "Wir beide müssen etwas klären, ohne daß andere zuhören können."

"Worum geht es?" Wollte Ardentia wissen, die nun ebenfalls leicht verärgert war.

"Wie gesagt, ich will das mit dir bereden, ohne daß wer anderes zuhören kann. Kontaktfeuer gelten zwar als relativ abhörsicher, aber daß sie benutzt werden kann leicht nachgeprüft werden. Also komm bitte! Ich bin in einer Viertelstunde da. Du weißt, daß du nicht näher als einen Kilometer an den Ort apparieren kannst. Nimm also den Besen mit!"

Ardentia sah noch, wie Janes Kopf aus den Flammen verschwand. Sie wunderte sich, was jetzt los war. Hatte sie doch irgendwas falsch gemacht? Alle Spuren, die auf sie deuten konnten waren doch verwischt worden. Die höchste Schwester hatte Beryl getötet, ehe diese jemandem zumentiloquieren konnte, was ihr gerade passierte. Das lag Ardentia zwar immer noch schwer im Magen, eine Kollegin und auch gute Freundin dem Tod geweiht zu haben. Doch andererseits waren Anthelias Ziele wichtiger als ein Menschenleben, wußte sie auch. So beschloß sie, den Bericht über das goldene Messer des Todesgeistes morgen Früh zu beenden, schloß die Unterlagen in ihren mit Antiöffnungszaubern geschützten Schreibtisch und verließ das Büro. Die auf Fotos an der Wand abgebildeten Klassenkameraden von Thorntails, sowie eine immer freundlich lächelnde Hexe im dotterblumenfarbenen Kleid, die ihr sehr ähnelte, winkten ihr zum Abschid nach. Ardentia verließ das Laveau-Institut auf einem firmeneigenen Harvey-Besen, flog durch die magische Absperrung hinaus, die den Zugang zum Institut nur für ordentliche Angestellte oder deren durch den Geist Marie Laveaus angemeldete Besucher gestattete. Sie flog einige hundert Meter weiter, landete im Sumpf und disapparierte sofort, um bei einem dichten Wald zu erscheinen, der in einer sehr dünn besiedelten Gegend kurz vor der Grenze zu Kanada lag. Von hier aus mußte sie noch einen Kilometer fliegen, einen Berg hinauf, zu einem Felsplateau, auf dem wie ein kleiner steinerner Knubbel auf dem Panzer einer Schildkröte das Schutzhaus des Institutes stand, wo Leute, die von düsteren Magiern verfolgt wurden solange versteckt bleiben konnten, bis die Gefahr beseitigt war. Auch konnten hier ganz vertrauliche Gespräche geführt werden, weil umfangreiche Abhörstörzauber und Beobachtungsbanne jede magische Spionage vereitelten. Nur die Mitarbeiter des Institutes wußten, wo es stand, weil es durch den Fidelius-Zauber verborgen wurde, dessen Träger Mr. Davidson war, der amtierende Vorsitzende.

"Höchste Schwester!" Rief Ardentia auf mentiloquistische Weise. Doch ihr Ruf drang nicht bis Anthelia vor, da diese gerade tief und unaufweckbar schlief. Als sie auch nach dem dritten Versuch, sie zu rufen keinen Erfolg hatte wandte sich Ardentia an Patricia Straton. Dieser mentiloquierte sie, daß sie sich mit Jane Porter in einem Instituts-Haus treffen wollte. Da sie ihr jedoch nicht verraten konnte, wo genau der Felsen mit dem Haus zu finden war, mentiloquierte Patricia:

"Ich schicke meine Mutter zu dir raus. Warte auf sie! Ich möchte, daß sie mitbekommt, was ihr besprecht."

"Das kannst du vergessen, Schwester. Das Haus ist gegen Abhörzauber geschützt", gedankensprach Ardentia Truelane. "Ich kann sie nicht mitnehmen, weil das sofort Verdacht erregen würde, wie gut sie sich auch immer tarnen kann."

"Ich weiß nicht, was dieses Geheimtreffen soll, Ardentia. Die könnte dir wieder was vorschmeißen, um deine Loyalität zu testen. Vielleicht ist aber auch was, was wir unbedingt auch wissen sollten."

"Das ist mir klar, Patricia. Aber ich kann deine Mutter nicht mitnehmen."

"Dann warte zumindest, bis sie bei dir ist. Sie muß ja nicht mit dir zusammen zu dem Haus hin", erwiderte Patricia. Ardentia wollte gerade eine Antwort losschicken, als sie einen scharfen Knall aus weiter Ferne hörte. Jemand anderes war gerade appariert. Sofort drang Jane Porters Gedankenstimme in ihr Bewußtsein ein.

"Bist du schon in der Nähe, Ardentia? Dann komm bitte hin!"

"Jane Porter ist in der Nähe,Patricia. Ich muß hin zu ihr, sonst fällt das auf."

"Wieso, du kannst doch wer weiß wo sein", antwortete Patricias Gedankenstimme. "Ich würde ja gerne selbst zu dir kommen. Aber Tante Ginger hat mir heute ihre Kleine aufgehalst, weil Mutter sich nich auffinden ließ."

"Dann viel Spaß beim Babysitten", schickte Ardentia zurück. Dann bestieg sie ihren Besen und flog so schnell es ging zum tischplattenflachen, stumpfgrauen Felsplateau hinauf, wo sie das kleine Haus ansteuerte. Davor stand bereits Jane Porter, eingehüllt in ein himmelblaues Kleid. Ihren sonst immer mitgeführten Strohhut hatte sie nicht auf den graublonden Locken. Im Licht ihres Zauberstabes wirkte ihre angespannte Miene wie das Angesicht eines besorgten Geistes.

"Ah, schön, daß du so schnell kommen konntest. Gehen wir in den Raum des Friedens!"

"Den Raum des Friedens?" Fragte Ardentia. "Ist das wirklich nötig? Wir können auch im Wohnzimmer miteinander reden."

"Wieso? Behagt dir der Raum des Friedens nicht?"

"Du kennst doch unsere Vorschriften. Er darf nur dann betreten werden, wenn wirklich jemand in Gefahr schwebt, von einem mächtigen Zauberer magisch angegriffen zu werden", sagte Ardentia.

"Oder von einer schwarzmagischen Kreatur wie einer Abgrundstochter", grummelte Jane Porter. Diese Bemerkung ließ Ardentias Blut um mindestens zwanzig Grad abkühlen. Sie blickte ihre ehemalige Wegführerin leicht verunsichert an. Die griff sie beim Arm, öffnete die kleine Haustür und schob sie in das Innere des Baus. Sofort schloß sich die Tür von selbst hinter ihnen. Nun waren sie vor allen Arten über größere Entfernungen wirkender Zauber abgeschottet. Selbst mentiloquieren konnte man nicht mehr. Ardentia fühlte, daß sie gleich arge Probleme bekommen würde. Jane wollte in den Raum des Friedens. Das war ein Zimmer, das von einem sehr eng begrenzten, aber dadurch wesentlich stärker wirkenden Sanctuafugium-Zauber und andere Fluchblocker geschützt war. Nicht einmal verfluchte Gegenstände konnten in dieses Zimmer gelangen. Ardentia war vor fünf Jahren, als sie noch in der Ausbildung war, mit Jane Porter in diesem Zimmer gewesen, das drei Etagenbetten, einen großen Schrank und einen separaten Esstisch für Sechs Personen beinhaltete. Fünf Jahre war es her, daß sie sich gefragt hatte, wie es sich für einen böswilligen Magier anfühlen mochte, in diesen Raum hineinzutreten. Sie war sich sicher, hier und gleich die Antwort darauf zu erfahren. Doch wenn sie sich jetzt weigerte, in diesen Raum hineinzutreten würde sie Janes Argwohn erregen. Sie hoffte nur, daß ihr nichts passieren würde, weil sie in ihrer ganzen Zeit noch nie jemandem ein Leid zugefügt hatte.

Jane zog sie sacht mit sich. Ardentia ließ sich widerstandslos zu jener schlichten Eichenholztür führen, hinter der der Raum des Friedens lag, der nun über ihr Wohl oder Wehe entscheiden würde.

"Hat man eigentlich herausgefunden, ob der Todesfluch in dieses Zimmer eindringen kann?" Fragte Ardentia.

"Sobald die Tür geöffnet ist kann kein Zauberer irgendeinen der unverzeihlichen Flüche auf den richten, die sich im Raum aufhalten. Er kann nicht zielen", sagte Jane Porter mißmutig, als ärgere es sie, eine derartig nebensächliche Frage beantworten zu müssen. Sie berührte die Tür mit dem Zauberstab und ihrer linken Hand und murmelte: "Intramus in Pace!" Der Türgriff leuchtete für eine Sekunde in einem warmen Goldglanz auf. Es rasselte, als fünf Riegel in der Tür aufsprangen und das Türblatt sachte nach innen schwang. Dahinter schien es für Ardentia wie ein silbriger Nebel, der alle einrichtungsgegenstände verhülte. Das war beim letzten Besuch von ihr nicht passiert, als sie den Raum geöffnet hatten. Weil sie diese Erkenntnis für einen Augenblick ablenkte merkte sie nicht, wie Jane Porter sie erneut ergriff und durch die Türöffnung schieben wollte.

Sie hatte sich einige Male dem Cruciatus-Fluch ausgesetzt, als sie für das Institut arbeitete. Doch der Schmerz, der nun über sie hereinbrach war ungleich heftiger. Es schien, als zerkoche ihr Körper in glühender Lava, würde innerhalb weniger Sekunden restlos vergehen. Ein langgezogener Schrei entfuhr ihrem Mund. Ihre Augen verdrehten sich wild. Dann glühte ein blaues Leuchten von den Wänden, das zu einem grellen Blitz wurde, der Ardentia aus den Raum zurückschleuderte. Halb benommen landete die junge Hexe an der Wand.

"Maneto addo Mobilicorpus!" Rief Jane Porter. Erst traf Ardentia der Bewegungsbann. Doch sofort verlor sie den Boden unter den Füßen und schwebte wie an unsichtbaren Stricken an Armen, Rumpf und Beinen gezogen einige Zentimeter nach oben. Jane Porter dirigierte sie in einen kleinen Raum wo ein Tisch und zwei Sessel standen. In einen der Sessel ließ sie Ardentia hineingleiten, hob den Transportzauber auf und schnürte sie mit magischen Stricken fest. Dann nahm sie ihr den Zauberstab fort und hob den Bewegungsbann auf.

"Ich hoffte, diese Reaktion nicht beobachten zu müssen, Mädchen", sagte Jane Porter nun noch verärgerter, während Ardentia hemmungslos losweinte, weil der heftige Schmerz und die Erkenntnis, nun in der Falle zu sitzen ihre ganze Selbstsicherheit mit einem Schlag hinweggefegt hatten. "Verdammt noch mal, hör sofort zu flennen auf!" Keifte die ältere Hexe, die nun völlig in ihr Gegenteil verändert zu sein schien. "Das hättest du doch vorher wissen müssen, daß wir das mit dir machen können, um zu sehen, ob du noch auf unserer Seite bist. Deshalb hast du Julius auch nicht hierher gebracht, wo er absolut geschützt gewesen wäre. Davidson ist ja darauf eingegangen, daß du ihn nicht in ein den anderen Kollegen und der restlichen Zaubererwelt bekanntes Versteck bringen durftest, oder?"

"Was willst du?" Heulte Ardentia. "Ich wußte nicht, daß mir das passieren würde. Was soll das jetzt?!"

"Ich will von dir wissen, wer dich mit einem derartig mächtigen Fluch belegt hat und wann. Erst einmal löse ich dich davon", sagte Jane Porter und hantierte mit ihrem Zauberstab. Sie sprach eine Reihe eindringlich klingender Worte. Ein Gewitter aus grünen, roten, goldenen und blauen Blitzen umtoste Ardentia. Sie meinte, in einen eiskalten Wasserfall geraten zu sein, der sie niederdrückte und dabei herumschüttelte. Dann ließ alles nach.

Als zwei Sekunden lang nichts geschah, senkte Jane Porter ihren Zauberstab und holte ein Fläschchen hervor, in dem Ardentia eine glasklare Flüssigkeit erkennen konnte: Veritaserum. Sie wußte nun, wieso sie nicht in den Raum hineingehen konnte. Anthelia hatte sie, als sie sich ihr angeschlossen hatte, mit einem Fluch belegt, der verhindern sollte, daß sie etwas über die geheime Schwesternschaft der Spinne verraten würde. Wenn Jane diesen Fluch nun gebrochen hatte, dann würde sie jetzt alles ausplaudern, was sie wußte, und Jane würde endlich alles wissen, was sie bisher nur vermutet hatte. Grimmig sah die ältere, nun alles andere als liebenswürdig auftretende Hexe ihre Gefangene an.

"Ich würde dich ja gerne in den Raum des Friedens bringen, um sicherzustellen, daß ich diesen heftigen Fluch wirklich gelöscht habe. Aber ich fürchte, deine Hinwendung zu dieser heimtückischen Verführerin und Mörderin macht dich als Gesprächspartnerin unbrauchbar, sobald du da wieder reingehst. Also trink das hier!"

"Nein, das mache ich nicht!" Begehrte Ardentia auf. "Erst machst du mich wieder los. Ich will dir dann alles erzählen, was ich weiß. Aber mach mich los und lass das Elixier aus dem Spiel!"

"Du bist wohl nicht in der Position, mir zu sagen, was ich mit dir anfangen soll", schnaubte Jane Porter, "so muß ich eben das Gebräu gegen deinen Willen verabreichen." Ardentia schaffte es nicht, ein Glied zu rühren, als Jane Porter das Wahrheitselixier in einen kleinen Glaskolben füllte und die schmale Öffnung in ihren Mund hineinzwängte. Sie stülpte den Kolben um und zwang Ardentia, das Elixier bis auf den letzten Tropfen zu schlucken. Ardentia wußte, wie es sich anfühlte, Veritaserum zu trinken. Doch diesmal war es nicht so wie sonst. Unvermittelt schien in ihrem Bauch ein Feuerball zu explodieren, der ihr einen höllischen Hitzeschauer durch alle Fasern ihres Leibes jagte. Doch so schnell wie der Hitzeschock kam, klang er auch wieder ab.

"So, Ardentia Truelane - welche Ironie in diesem Namen stecken kann -, verrate mir, wer die Hexenführerin ist, für die du uns ausspionierst!"

"Es ist die wiedergekehrte Nichte Sardonias, A......"

__________

Pandora Straton bekam von ihrer Tochter die Mitteilung, Ardentias Ausflug zu einem Haus in der Nähe der Grenze zu überwachen. Sie apparierte einen Kilometer davon entfernt und flog auf einem Harvey-Besen einen Berg hinauf. Dort, auf einem Felsplateau, sollte das Haus stehen. Offenbar waren Ardentia und Jane Porter bereits darin. Sie fand das Haus nicht. Sie landete und versuchte, Ardentia auf mentiloquistischem Wege zu erreichen. Doch ihre Botschaft ging ins Leere. Sie vernahm nicht diesen Nachhall in ihrem Geiste, der zeigte, daß sie die gewünschte Empfängerin erreichte. So legte sie den Besen auf den Boden und verwandelte sich innerhalb einer Sekunde in eine schneeweiße Katze mit tiefgrünen Augen. In dieser Gestalt konnte sie schärfer sehen, hören und riechen. Doch ihre derartig verfeinerten Sinne nahmen lediglich die Witterung von Ardentias Fußabdrücken auf. Sie folgte ihnen, bis sie nicht mehr wahrnehmbar waren. Doch sie fand auf dem hohen Plateau keine Spur eines Hauses.

"Patricia, sie ist mit einer anderen Frau hier, wohl Jane Porter. Ich bin in meiner Tiergestalt soweit hinterhergekommen, bis nichts mehr zu riechen war. Das Haus ist wohl so verborgen wie unser Hauptquartier."

"Zieh dich was zurück, Mom, bevor irgendein Meldezauber anschlägt!" Kam Patricias Antwort. Pandora war jedoch bereits auf dem Rückzug.

"Ich bin zwar jetzt so klein, daß du mich bequem auf den Arm nehmen kannst, Mädchen, aber nicht so einfältig", schickte sie zurück. Kaum hatte sie das an ihre Tochter weitergeschickt, rgab es einen kräftigen Erdstoß, und ohne jede Vorwarnung schoss vor Pandora Straton eine blauweiße Feuersäule in den verhüllten Himmel und schien weithin sichtbar von den Bäuchen der dicken, grauen Wolken wider. Laut fauchend flog eine große Menge Staub aus der aufgefahrenen Flammensäule heraus. Glutheiße Trümmerstücke schwirrten in alle Richtungen davon. Dann brach die Feuersäule mit dumpfem Knall in sich zusammen. Da wo sie emporgerast war lag ein rot glühender Trümmerhaufen, aus dem etwas wie ein steinerner Würfel herauslugte. Pandora, deren gerade erweiterte Sinne sie an den Rand der Ohnmacht getrieben hatten, lag zitternd und bebend am Boden. Es dauerte eine geraume Weile, bis ihr menschlicher Verstand die tierischen Gefühle überwand und sie sich die Verheerung ansehen konnte, die der plötzliche Ausbruch angerichtet hatte. Sie roch erhitztes Gestein und Metall, mehr nicht. Alles was irgendwie brennbar gewesen war, hatte sich bereits in reinen Rauch aufgelöst, als die Flammenfontäne aufgestiegen war. doch in Mitten dieser gründlichen Zerstörung stand der steinerne Würfel. Pandora erhob sich und lief so weit, bis sengende Hitze ihre Tatzen zu verbrennen drohte. Sie blickte kurz auf jenen Würfel in Mitten eines glimmenden Schutthaufens. Dort mußte das geheime Haus gestanden haben. Sie wunderte sich, daß die Wände des Würfels völlig kalt zu sein schinen, als habe sie der Flammenausbruch gar nicht berührt. Sie schätzte ab, wie weit das Objekt fort war. Sie hatte es schon einmal geschafft, über einen zehn Meter breiten Abgrund hinwegzuspringen. Doch dafür hatte sie einen guten Anlauf nehmen müssen. Jetzt auf dem glimmenden Schuttberg zu landen war etwas zu riskant, fand die Animaga. Aber mit dem Besen mochte sie an das Etwas herankommen, das der Zerstörung widerstanden hatte. So wurde sie wieder zu der Hexe mit den langen, dunkelbraunen Haaren und dem schmalen, hochwangigem Gesicht. Sie ging zu ihrem Besen, saß auf und flog im langsamen Flug über die immer noch große Hitze verströmende Schutthalde, die wohl einmal das versteckte Haus gewesen war. Sie flog zweimal um den Würfel herum und besah sich die schlicht wirkende Holztür, die darin eingelassen war. Warum war diese Tür nicht verbrannt? Sie näherte sich dem Würfel, der der Tür wegen wohl ein Zimmer oder dergleichen war und fühlte immer stärkere Schmerzen durch ihren Körper pulsen. Als sie knapp einen halben Meter über den Steinkubus hinwegstrich, schrie sie auf, weil sie meinte, die Feuersäule sei erneut aufgelodert und verbrenne sie nun. Dann war sie über das unversehrt gebliebene Zimmer hinweg und fühlte keinen Schmerz mehr. Da krachte es in weiter Ferne wie Pistolenschüsse. Apparatoren, dachte Pandora und flog sofort auf. Auf dem Harvey-Besen war sie völlig unsichtbar. Sie konnte noch erkennen, wie Zauberer in langen Umhängen knapp unterhalb des Plateaus apparierten und hören, daß sie sich etwas zuriefen. Dann war sie zu hoch und zu weit fort, um mehr mitzukriegen.

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Elysius Davidson saß in seinem Haus am Pont-Chartrain-See bei New Orleans. Er überlegte gerade, ob er mit Lutricia Mayweather, einer netten älteren Hexe, mit der er häufiger ausging, in Muggelkleidung nach New York reisen sollte, um einen Opernabend in der Met zu erleben, als ein dumpfer Schmerz in seinem Kopf walkte wie ein bleischweres Nudelholz. Er stöhnte auf. Da war es ihm, als höre er die Stimme seines Wegführers und Vorgängers sagen: "Das sichere Haus steht zweihundert Meter vom Rand des Felsplateaus von Rocky Peak entfernt." Dann füllte ein Gefühl seinen Kopf aus, als bestehe dieser nur noch aus Watte, so gefühllos und leicht fühlte es sich an. Er sah kurz das geheime Haus vor seinem geistigen Auge, das sich in einen Wirbel aus goldenen Funken auflöste. Dann verschwanden all diese Eindrücke so plötzlich wie sie gekommen waren. Davidson schrak auf. So fühlte es sich also an, dachte er. Er wußte mit schrecklicher Gewißheit, daß soeben das sichere Haus zerstört worden war, dessen Lage er als Geheimniswahrer eines Fidelius-Zaubers in seinem Geist trug. Es mußte zerstört worden sein, weil dieser Schmerz und die kurze Vision, wie es sich auflöste kein Zufall sein konnten. Er erhob sich und trat an den Kamin in seinem kleinen aber prachtvoll eingerichteten Wohnzimmer, beschwor ein Feuer hinein und versetzte sich damit in sein Büro im Laveau-Institut. Dort angekommen griff er zu einem Ding, das wie eine silberne Hörmuschel aussah und sprach hinein: "Achtung! Ich rufe alle, die im Institut sind zu mir ins Büro!"

Als alle auf diese Weise herbeizitierten Mitarbeiter eingetrudelt waren klärte er, wer von denen, die keinen Innendienst hatten wo war. Es fehlten nur zwei Mitarbeiter, deren Aufenthaltsort nicht bekannt war und die außerhalb des Instituts auch nicht anmentiloquiert werden konnten. Davidson flog zum Friedhof St. Louis Nummer eins, wo er am Grabhaus von Marie Laveau auf deren Geist traf.

"Ardentias Schicksal hat sich erfüllt. Die bange Vermutung Jane Porters hat sie beide aus unserer Welt gebrannt", sagte der Geist leicht bekümmert. Dann verschwand die Erscheinung ohne weiteres Wort im Grabhaus.

"Verdammt!" Rief Elysius Davidson. Er fühlte, wie seine Beine schwach wurden, wie es in seinen Augen zu schmerzen begann und seine Arme unkontrolliert in der Luft herumwedelten. Erst eine halbe Minute später fand er wieder zu seiner Selbstbeherrschung, als er die ersten Tränen, die er weinte wie warmes Meerwasser auf den Lippen fühlte. Jane Porter, seine langjährige Mitarbeiterin, mit der er zwar einige Meinungsverschiedenheiten ausgefochten, aber sonst sehr gern mit ihr zusammengearbeitet hatte, war tot! Das war es doch, was Maries Geist gesagt hatte. Ja, und auch Ardentia Truelane war tot! Aber warum? Wie konnte das geschehen? Die Antwort darauf konnte nur der Ort geben, wo das geheime Haus gestanden hatte. Ohne sich groß um Muggelabwehrregeln zu kümmern disapparierte er und tauchte außerhalb des abgesicherten Bereiches auf. Da hörte er bereits, wie andere Zauberer und Hexen apparierten, näher am Haus dran. Also war der Antiapparierwall mit dem Haus selbst zerstört worden. Er überwand den letzten Kilometer also ebenfalls im zeitlosen Ortswechsel. Da sah er den immer noch schwach glühenden Schutthaufen. Nur der Raum mit der schlichten Tür, der Raum des Friedens war noch da, ein mit Fluchabwehrzaubern gepanzerter Ort in der Zerstörungszone. Trotz der Mitteilung von Marie Laveaus Geist hoffte er darauf, daß jemand in diesem Raum vor der Vernichtung bewahrt worden war. Er eilte zu den Leuten aus der Truppe für magische Katastrophen und sprach mit ihnen. Dann öffnete er die Tür und verlor auch die letzte Hoffnung. Das Zimmer war unversehrt, innen wie außen. Doch niemand hielt sich darin auf, der Auskunft hatte geben können, was hier passiert war. Er wollte die Tür gerade schließen, als ihm etwas auffiel. Ein Sitzkissen auf dem der Tür am weitesten entfernten Stuhl war leicht verschoben. Er trat in den Raum ein, ging zu dem Stuhl und besah sich das Kissen. Warum lag es nicht ordentlich? Er wolte es geraderücken, als ihm einfiel, daß jemand es wohl mit Absicht so hingelegt hatte. Er hob es an und fand einen geblümten Briefumschlag. Er betrachtete ihn und las die kurze, eindeutig von Jane Porter geschriebene Mitteilung:

"Elysius, oder wer immer diesen Umschlag findet. Wenn ihr den findet, dann habe ich versagt und bei meiner Suche nach der ominösen Hexenschwesternschaft mein Leben gelassen. Bitte lies den Brief und erfülle die darin aufgeführten Wünsche! Sie sind eine Ergänzung zu meinem Testament!"

Er nahm den Brief und steckte ihn in seinen Umhang. Dann verließ er das Zimmer, das einzige, was von diesem Haus übrig geblieben war. Er verabschiedete sich mit dem Hinweis, Zaubereiminister Davenport würde noch in den nächsten zwei Stunden ausführlich informiert werden. Dann apparierte er mit seinem Besen in die Nähe des Institutes, in das er wie üblich hineinflog. Dort las er den Brief Jane Porters:

Lieber Kollege, bitte gib diesen Brief Elysius Davidson weiter, damit er die von mir hier niedergeschriebenen Zeilen lesen und danach handeln möge! Danke dir!

Hallo, Elysius. Wenn Sie diesen Brief von mir in den Händen halten, habe ich irgendwas sehr gründlich falsch gemacht und werde in Zukunft nicht mehr mit Ihnen mal gleicher und mal ungleicher Meinung sein können. Was ich falsch gemacht haben werde weiß ich jetzt natürlich noch nicht. Aber für diesen Fall, von dem ich hoffe, daß er nicht eintritt, habe ich Ihnen diesen Brief und einige Seiten aus einem Von Beryl Corner geheim niedergeschriebenen und durch einen Bergestein unergründbaren Tagebuch hinterlassen. Sie wissen ja, daß Wir beide uns heftig darüber in der Wolle hatten, ob ich meine Erfindung, die Mentiskription, nicht öffentlich machen soll, eine Schreibfeder so zu bezaubern, daß sie von den Gedanken einer bestimmten Person dazu angetrieben wird, diese Gedanken niederzuschreiben. Ich habe das Beryl Beigebracht und ihr eingeschärft, es von sich aus keinem zu erzählen. Es wird Ihnen ein wenig helfen, das zu lesen. Des weiteren verrate ich Ihnen mein Passwort, um an mein Schattenarchiv heranzukommen, das ich in den letzten Monaten angelegt habe, um Gedanken und Vermutungen, für die mir noch konkrete Beweise fehlten, geordnet niederzuschreiben. Sie kennen das ja noch von der leidigen Angelegenheit mit Hallitti, der Tochter des dunklen Feuers.

Ich habe seit besagter Angelegenheit, die viel zu viele Menschenleben gekostet hat immer wieder überlegt, wie die Dinge abgelaufen sind. Ich bedauere es heute noch, daß meine französische Brieffreundin Professeur Faucon mir den Jungen Julius Andrews zu schnell entführt hat und ich, als er mal für ein paar Tage bei uns war, nicht daran gedacht habe, ihn meinerseits legilimentisch auszuforschen. Denn dann hätte ich viel früher erkennen müssen, wer ihn da gerettet hat. Besagte Professeur Faucon mußte mich sehr beschämender Weise darauf stoßen, daß eine irgendwie den Tod überdauernde Hexe, deren Seele in Bartemius Crouches Körper einen neuen Halt gefunden hat, für das alles verantwortlich war. Natürlich mußte diese Hexe Informationen über den Jungen und seine Bewegungen in unserem Landd haben. Fast zu spät befreundete ich mich mit der Vorstellung, einer von uns könne ein Spion für diese Hexe sein, ein Maulwurf in unserem Garten. Näheres dazu entnehmen Sie bitte meinem Schattenarchiv!

Ich habe für den bedauerlichen Fall, daß wirklich jemand außer mir diesen Brief zu lesen bekommt einige nachträgliche Wünsche, die als Ergänzung zu meinem bestehenden Testament zu verstehen sind, das mein Mann in unserem Keller aufbewahrt. Bitte tun Sie mir einen letzten Gefallen und erfüllen Sie diese Wünsche!

  1. Bitte lassen Sie sich von meinem Mann nach Vorzeigen dieses Briefes die drei Zweiwegespiegel aushändigen, die ich in meinem Haus aufbewahre und lassen Sie diese Professeur Blanche Faucon in der Beauxbatons-Akademie oder Millemerveilles zukommen!
  2. Fragen Sie meinen Mann und meine beiden Kinder, ob diese Wert auf eine große Beerdigungsfeier legen. Falls ja, helfen Sie Ihnen bitte finanziell aus! Falls sie eine Beerdigung in kleinem Kreise wünschen, sofern von mir etwas zu beerdigendes übrig sein mag, bitten Sie sie darum, zumindest oben erwähnte Professeur Blanche Faucon und den ihrer Obhut anvertrauten Schüler Julius Andrews zu dieser Feier zu laden. Ansonsten respektiere ich die von meinem Mann und meinen Kindern gewünschte Gästeliste und die Auswahl der Grabstätte.
  3. Lassen Sie nachforschen, wodurch ich diesen Brief nicht mehr von seinem Fundort entfernen konnte und vermeiden Sie bitte, daß das Zaubereiministerium von dieser Nachforschung oder deren Ergebnissen Kenntnis erhält! Ich fürchte auch Spione in den Reihen des Ministeriums. Gehen Sie mit den Ergebnissen dieser Forschungen sorgfältig um und veranlassen Sie nur personenbezogene Maßnahmen wie Hausdurchsuchungen und Verhaftungen, wenn Sie auch einhundertprozentige Beweise vorlegen können! Ich weiß, an und für sich darf ich Ihnen keine Anweisungen geben. Daher bitte ich Sie, sie als letzte Bitten einer Toten zu achten.

Weitere notwendige Angelegenheiten, die nach meinem viel zu frühen Fortgang aus dieser schönen aber auch unruhigen Welt anfallen regelt mein Testament.

Achso, das Passwort für mein Schließfach bei Ihnen lautet Mufaletta.

Ich bedanke mich bei Ihnen für die Jahre guter und erfolgreicher Zusammenarbeit. Bitte grüßen Sie alle, die es mit mir gut aushalten konnten!

                    Jane Porter

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"Bitte was?" Mentiloquierte Anthelia, als Patricia Straton ihr mitgeteilt hatte, was passiert war. Sie konnte es im ersten Moment nicht recht fassen, daß Ardentia Truelane ihrem Treuefluch zum Opfer gefallen war und die doch etwas zu neugierige Jane Porter dabei mitgenommen hatte.

"Meine Mutter war da, und Schwester Donata hat es auch schon bestätigt. Die beiden sind definitiv von deinem Fluch vernichtet worden, höchste Schwester", kam Patricias leicht verunsicherte Antwort.

"Dieses dumme, kleine Mädchen hat es doch darauf angelegt, sich von dieser Jane Porter in die Enge treiben zu lassen", dachte Anthelia für sich alleine. Dann mentiloquierte sie: "Ich kann hier nicht weg. Ich muß diesem Unholf Bokanowski hier und heute Einhalt gebieten, da seine Schreckensbrut übermächtig zu werden droht. Seid jedoch auf der Hut! Es mag angehen, daß nun allen Verdächtigungen dieser Jane Porter gezielt nachgeforscht wird, auch ohne das Ministerium. Diese törichte Maid Ardentia war unsere einzige brauchbare Informantin in jener Einrichtung. bis wir eine neue dort unterbringen können mögen Monate oder Jahre vergehen, in denen wir nicht mehr gewahren, was sich dort wider uns zusammenbrauen mag!"

"Wenn Sie uns was könnten wären wir schon längst verhaftet worden", erwiderte Patricia.

"Dennoch seid wachsam und allzeit bereit, euch in Deckung zu begeben!" Erwiderte Anthelias Gedankenstimme. Dann wurde die Verbindung getrennt.

Im Laufe des Tages konnte Anthelia sechs weitere Doppelgänger aufspüren und sich mit einer Karte des Landes und seiner Regionen immer besser ausmalen, wo der Ursprung der Fernüberwachung lag. Daß Lord Voldemort bereits durch einige Dunkelmondvampire, die die erklärten Feinde Bokanowskis waren, den ungefähren Standort seiner Bestienbrutstätte kannte, erfuhr sie dabei jedoch nicht.

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"Jetzt kriege ich dich, Igor. Völlig gleich, wie viele Ableger du von dir gemacht hast!" Frohlockte der dunkle Lord, als er den Brief gelesen hatte, den eine erschöpfte Fledermaus bei ihm abgeliefert hatte. Eine Dunkelmondvampirfamilie hatte von einer Burg im Kaukasus berichtet, von der ein böser Zauber ausgehe und die nur im Dunkeln zu sehen sei. Gut, Vampire konnten nur bei völliger Sonnenabwesenheit ins Freie. Aber sie wußten schon, wie man das unterschied, ob etwas bei hellem Licht sichtbar oder unsichtbar war. Der Schreiber des Briefes berichtete auch von mehreren gleich aussehenden Jägern, die drei seiner "Söhne" und eine "Tochter" mit Eichenholzbolzen aus Armbrüsten erlegt hätten wie gewöhnliches Wild.

"Genauso werde ich dich auch erlegen, Igor, wie ein dreckiges Wildschwein. Nein besser, ich werde dich wie eine schmutzige Kellerratte ausräuchern, wie ich es mit dieser Hure Ursina gemacht habe. Da können deine ganzen Nachbildungen gleich mit dir in die tiefe Grube steigen."

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Arcadi hatte nach dem Verschwinden Petrovs schon befürchtet, daß jener englische Dunkelfürst seinen nun doch zu mächtig werdenden Gesinnungsbruder bekämpfen und vielleicht auch besiegen würde. Da er wußte, daß Bokanowski Vampire haßte, seitdem seine kleine Schwester Nadja vor fünfundsechzig Jahren von einem Vampirpaar entführt und zu dessen "Kind" gemacht worden war. Das, so wußte Arcadi aus seinen Unterlagen, mochte der entscheidende Stoß gewesen sein, der den sehr begabten Zauberer und aprobierten Heiler aus der Bahn geworfen und zum schwarzen Magier hatte werden lassen. Also hatte Arcadi sich nach den ersten etwas stärkeren Machtäußerungen Igors mit einigen Hellmondlern zusammengetan, die ihrerseits auch mit Dunkelmondlern Kontakt hielten. Allerdings war das oberste geheime Verschlußsache. Denn bekam jemand davon etwas mit, könnte Arcadi seinen Rücktritt einreichen. Zwar gab es in der russischen Zaubererwelt auch Stimmen, die für ein friedliches Miteinander mit den Vampiren plädierten, sie als vertretbares, kleines Übel ansahen, aber doch mehrheitlich solche, die wie Bokanowski deren restlose Ausrottung verlangten. Immerhin erfuhren die Vampire nun von ihm, wie sie die Kugelwesen, wenn diese irgendwo auftauchten, unschädlich machen konnten. Er hätte diesem Magier sehr gerne persönlich gedankt, der die rettende Erfindung präsentiert hatte. Doch bei näherer Überprüfung kam heraus, daß der einzige Zauberer dieses Namens bereits vor sieben Jahren gestorben war. Dennoch funktionierte der Schallübertragungstrichter mit der für die Mörderkugeln mörderischen Tonkombination.

So begann sich um Igor Bokanowski der eiskalte und stahlharte Ring aus Haß und Vergeltungswut zu schließen, an dem er durch sein Tun selbst maßgeblich mitgeschmiedet hatte.

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Sie stand auf einem Bergrücken, eingehüllt in einen bläulichen Nebel, der Menschenaugen vergessen machte, sie gesehen zu haben: Bokanowskis Burg. Die Sonne versank gerade hinter dem höchsten Berg der Gegend. Da dröhnte aus der Ferne gewaltiges Gestampfe wie eine anrückende Armee heran. Das war noch das harmloseste, was in dieser Nacht zu vernehmen war. Beinahe lautlos, Kälte und Dunkelheit um sich verbreitend, rückten vierhundert Dementoren vor, als Hauptmacht von Voldemorts Truppen. Der dunkle Lord selbst trhonte in einem halben Kilometer Höhe auf einem bunten Flugteppich zusammen mit seinem Gehilfen Ismael Alcara, dem Vampir Igor Dserschinski und den Lestranges.

"Gleich greifen wir an, Bella", sagte Voldemort vorfreudig zu der einzigen Hexe in der Runde der Widersacher Bokanowskis. "Gleich werden wir seine Burg zerschmettern."

"Hoffentlich kriegen wir dabei auch diese verfluchten weißen Fledermäuse tot", knurrte der Vampir. Erst gestern war er einem Schwarm dieser schneeweißen Kreaturen entgangen, die ihn und seine Frau in England heimsuchen wollten. Voldemort selbst hatte die kleinen Bestien erledigt, da sie Töne ausstießen, die echte Vampire lähmten, wenn sie sich nicht die Ohren zuhielten.

Einige hundert Meter weiter unten, unsichtbar für Voldemort, näherte sich ein Harvey-Besen der Burg. die Hexe, die auf ihm saß, wollte die letzte Bestätigung dafür haben, hier richtig zu sein. Anthelia wollte die Burg zunächst von außen begutachten, um zu ergründen, wie sie so unbemerkt wie möglich eindringen und den dort lokalisierten Burgherren unschädlich machen konnte. Doch als sie das Gestampfe in der Ferne hörte und ihr Seelenmedaillon wild pulsierend auf einen sich zusammenschließenden Ring aus reiner Dunkelheit ausrichtete stellte sie fest, daß bereits wer anderes diesen Ort zum Schlachtfeld auserkoren hatte. Sie nahm sofort Höhe, als die eisige Kälte der anrückenden Dementoren zu ihr hinaufwehte. Dabei viel ihr ein rechteckiger Schatten unter den Wolken auf. Sofort hielt sie ihren Geist verschlossen und flog auf das Objekt zu. Als sie sah, was es war und wer sich darauf befand, mußte sie höhnisch grinsen. Der Emporkömmling hatte sich Zuschauer zu seinem großen Schlag geladen. Macht brachte ihm also nur was, wenn er jemanden hatte, dem er sie vorführen konnte.

"Nun, Tom Riddle, suchst du wohl nach einem Weg, die Schmach der letzten Monate zu tilgen. Ich werde also wie du spähen und sehen, was dein geballtes Werk verrichtet. Das wird mir eine wichtige Lektion für spätere Zusammentreffen mit dir sein."

Sämtliche Vorwarnzauber plärrten, rappelten, läuteten. In den Feuerstellen der Trutzburg loderten in kurzen Abständen rote Flammen auf und erloschen wieder. Igor Bokanowski verwünschte dies alles. Denn erwußte, er war entdeckt worden. Er ärgerte sich vor allem darüber, daß er seine Doppelgänger nicht sofort zu sich zurückbefohlen hatte, als eine sich nie offen zeigende Gestalt mit silbernem Zauberstab mehrere von ihnen überfallen und gefesselt hatte. Ja, einigen hatte sie sogar die sie beherrschenden Seelensterne ausgebrannt. Woher sie immer wußte, daß Elektrizität ihnen den Garaus machen konnte, sie wendete dieses Wissen sehr dosiert an. Denn als sie später mehrere von seinen fleischlichen Ebenbildern überwältigt hatte, war sie behutsamer mit ihnen umgegangen, zumindest bis er befunden hatte, sie besser zu vernichten. Aber wem diente diese Gestalt? Die Frage konnte er sich jetzt wohl beantworten. Denn die anrückenden Schreckgestalten kannte er zu gut. Auch er hatte mit Dementoren zu tun gehabt, als er noch nicht in dieser Burg gewohnt hatte. Jetzt griffen sie ihn an. Ja, und da waren echte Golems. Wer immer ihn jetzt überfallen wollte hatte Zugang zum Wissen der morgenländischen Magier.

"Na wartet. Meine neuen Kreationen werden euch heimleuchten", dachte er. Dann bestellte er alle noch draußen herumlaufenden Doppelgänger zu sich, schloß alle gerade mit demAusbrüten neuer Doppelgänger und Mördermuffs beanspruchten Labore sorgfältig ab und bestieg den höchsten Turm, von wo aus er die erzwungene Schlacht überblicken und leiten wollte. Sobald die Dementoren in seine Nähe kamen, beschwor er seinen Patronus herauf, einen Drachen mit spitzen Flügeln. Ihm befahl er, um ihn zu kreisen und die ihn behelligenden Dementoren auf Abstand zu halten. Dann ließ er die magicomechanischen Katapulte mehrere Dutzend Mördermuffs ins Freie schießen. Zwar konnten die Dementoren ihnen keine Seelen aussaugen. Aber deren Kälte lähmte sie doch beträchtlich. Gegen die Golems bot er riesige Feuerwerfer auf. Neben den Manipulationen mit lebenden Wesen zählte der Allbrenner zu den Dingen, auf die er stolz war. Ein Trank, der einmal mit einem Funken angezündet alles von Holz bis Gestein in blauem Feuer vernichtete, gegen das weder Wasser noch der Extingio-Zauber etwas ausrichteten. Er lachte schadenfroh, als er sah, wie die so ausgeschickten blauen Flammengarben in wenigen Hundert Metern Entfernung Ziele fanden und sah für einen Moment glühende Ungetüme, bevor diese im Allbrand verpufften wie ein Wachstropfen in einer Kerzenflamme. Inzwischen versuchten die Dementoren die Burg zu betreten. Einer der Doppelgänger, der das Tor bewachte, fiel ihnen zum Opfer. Schmerzhaft schrie der echte Igor auf, als etwas wie mit eiskalten Zähnen in seine Stirn biss, dort, wo er etwas von seiner Haut herausgeschnitten hatte, um diesen Doppelgänger zu erschaffen. Da begriff er, daß er verlieren würde, wenn er seine Doppelgänger weiterhin nur in der Burg beließ. Er gab den Befehl, sie mögen disapparieren. Doch dies gelang nicht. Der Grund dafür war, daß die anrückenden Golems jeder für sich mit einem antidisapparierzauber belegt waren, der an die hundert Meter weit reichte. Er befahl seinen Doppelgängern, in den tiefsten Keller der Burg zu flüchten, wo schwere Türen aus Stein und Metall jeden Vormarsch abfingen. Dann richtete er das blaue Feuer gegen die Dementoren, die davon erfaßt wie große Fackeln aufloderten und wild schreiend davonstoben. Ob er diese damit vernichten konnte wußte er nicht. Aber wenn sie auch nur flüchteten, würde er die Schlacht im Handumdrehen für sich entscheiden und diesem Voldemort ein für allemal die Hölle auf Erden bereiten. Er jagte noch an die fünfhundert Krawummkäfer aus der Burg hinaus, die besonders die Golems als lohnende Ziele anflogen. Tatsächlich schlugen sie große Lücken in die Armee der irdenen Ungetüme.

Voldemort spähte durch ein Fernrohr und sah den hohen Turm, in dem jemand vor einer Unzahl von Hebeln saß, umflogen von einem Drachen aus silberweißem Licht.

"Das ist er, Ismael. Das war sein Fehler sich so als Ziel anzubieten", triumphierte der dunkle Lord. "Igor, gib deinem Namensvetter mal was von dem Drachengallengas. Der wird mir sonst zu übermütig."

"Meine Golems werden tatsächlich ausgelöscht, und deine Dementoren kommen nicht weiter durch die Burg. Dieses blaue Feuer tut ihnen weh", sagte Alcara.

"Wie immer er das hinbekommt. Es geht nicht aus, wenn es in die Licht- und Wärme verschluckende Dementorenaura gerät", schnarrte Voldemort. Er wandte sich an einen Mann, der gefesselt auf dem Teppich lag, Juri Petrov. "Na, wie gefällt dir das, wie dein übermächtiger Gegner gerade beharkt wird, Juri? Gleich kriegen wir ihn. Drachengallengas läßt nichts von Lebewesen übrig."

"Ja, ich glaube es dir, daß du mächtiger bist als er, Lord Voldemort", sagte Petrov resignierend. Er ahnte, daß diese Streitmacht dort unten auch gegen seine Landsleute geschickt werden konnte und wußte, daß er den Drachen mit einer Horde Basilisken ausgetrieben hatte. Doch der Drache war noch nicht tot. Er wehrte sich, und die übermächtige Streitmacht zerbröckelte immer mehr. Wenn dieser Voldemort siegen würde, würde dieser Sieg sehr teuer erkauft sein und er selbst einstweilen von starken Hilfskräften entblößt. Leider würde er es keinem mehr sagen können. Denn ihm war auch klar, daß Voldemort ihn das hier nur noch ansehen lassen wollte, um ihm zu zeigen, wozu sein Leben noch gut gewesen war.

Dserschinski schrak zurück, als er den Glaskolben mit dem Drachengallengas gerade vom Teppich hinabwerfen wollte. Ein riesiger Schwarm weißer Fledermäuse, so groß wie Schwäne, hob gerade ab. Sie scherten sich nicht um die draußen lauernden Dementoren und hielten sofort auf den Flugteppich zu. Ihre angezüchtete Begabung, einen Vampir auf mehrere Meilen zu wittern, rückte die Besatzung des Flugteppiches ins Visier des Burgherren.

Bokanowski wollte nicht untergehen, ohne alles losgeschickt zu haben, um der Nachwelt noch lange im Gedächtnis zu bleiben. Er ließ alle weißen Antivampirfledermäuse losfliegen, die er noch in seinen Käfigen hatte. Als er jedoch sah, daß sie nicht ausschwärmten, sondern in geschlossener Formation auf ein gemeinsames Ziel losflogen, kochte er vor Wut. Also hielt sich mindestens ein Vampir dort oben auf, um ihm, Igor Bokanowski, beim Untergang zuzusehen. Aber das würde diesem Blutsauger gleich vergellt.

"Wirf das Gas ab, Igor!" Rief Voldemort. Doch da hörte auch er das vielstimmige Gezwitscher der aufsteigenden Fledermauswesen.

"Er wirft alles raus, was er sich zusammengezüchtet hat", sagte Alcara.

"Ja, und wenn wir hierbleiben können uns diese Biester auch gefährlich werden", knurrte Voldemort. "Bring uns schnellstens hier weg!"

Der Teppich tat einen großen Satz und brauste davon, als Alcara ihm das Fluchtkommando zugerufen hatte. Die weißen Fledermäuse kamen nicht nach. Sie zerstreuten sich langsam und fanden in der Luft eine neue, nur zu riechende Beute.

Anthelia sah, wie der Flugteppich Reißaus nahm. Dann gewahrte sie die schneeweißen Fledermäuse. Daianira hatte Pandora erzählt, einige Vampire, mit denen sie in Kontakt stünden hätten diese Flugungeheuer fürchten lernen müssen, weil sie durch den Biß ihrer vier Fangzähne ein Speichelgift übertrugen, das das Vampirblut schlagartig durchsetzte und die selbst gefürchteten Wesen der Nacht qualvoll verenden mußten. Doch auch für Hexen und Zauberer waren diese kleinen Monster sicherlich gefährlich. Anthelia ließ es nicht darauf ankommen, herauszufinden, wie sehr. Sie hüllte sich in die rosarote Blase aus Zauberkraft ein, die alle körperlichen und elementaren Gewalten von ihr abhielten. Die Fledermauswesen prallten wie von einem stahlhart gespannten Trampolin von der Energieblase ab und fielen benommen zur Erde, wo gerade wieder eine blaue Feuergarbe in einen Pulk Golems hineinfuhr.

Bokanowski beobachtete, wie mitten in der Luft eine rosarote Energieblase entstand. Also war dort noch jemand unterwegs, jemand unsichtbares. Sofort ließ er einen seiner Flammenwerfer nach oben ausrichten und eine scharf gebündelte, aber weit reichende Fontäne seiner Allbrennerflüssigkeit auf die Energisphäre abschießen, die sich wenige Sekunden nach dem Abstrahlen entzündete. Er glaubte zuerst, die blauen Flammen würden die mächtige Schutzblase durchdringen, doch diese zog sich nur eng zusammen, bis das blaue Feuer verpufft war. Da es keine Nahrung gefunden hatte, war es mit dem letzten Flüssigkeitstropfen erloschen.

"Wer immer der oder die ist ist sehr stark", dachte Bokanowski. Die Energieblase dehnte sich wieder aus und prällte die letzten noch hier herumfliegenden Antivampire zurück. Diese taumelten davon und suchten anderswo Nahrung. Wahrscheinlich würden sie als netter Gruß von Igor das ganze Land verpesten und garantiert keinen Vampir übriglassen.

"Jetzt zurück zur Burg!" Befahl Voldemort. Ismael Alcara gehorchte sofort. Zwar hauchten gerade die letzten Golems ihre Existenz aus, aber Voldemort wollte das Drachengallengas einsetzen. Alcara bedauerte es, von den Todestränen, einem noch schrecklicheren Tötungselixier, im Moment nichts dabei zu haben, sonst hätte er den ganzen Landstrich von jedr Spur Leben entblößen können.

Bokanowski fühlte, wie sein Patronus nachließ. Zwar vertrieb er noch einige Dementoren. Doch er durfte ja nicht gegen alle losgehen und verlor daher in jeder Minute Kraft. Diese Kraft ging dem Herrn der Burg immer mehr ab. Er wußte, daß er mit seinem Feuer den Angriff nicht länger fortführen konnte. Gerade bliesen die letzten Flammenwerfer ihre Flüssigkeitsmengen in die Nacht, trafen zwar mehrere Dutzend Dementoren, aber das reichte nicht. Zu dem passierte jetzt genau das, was ihm vor vier Monaten schon einmal passiert war. Die losgelassenen Mördermuffs fanden ja keine natürlichen Ziele mehr. Wo Dementoren verschwunden waren, tauten die erstarrten Ungeheuer wieder auf und begannen nun, in die Burg zurückzuspringen.

"Noch einmal lasse ich mich von denen nicht ruinieren", knurrte Igor Bokanowski und löste den Vernichtungston aus. Dann sah er, wie vom Teppich jemand einen großen Glaskolben herabwarf. Er kannte natürlich die tückischsten Elixiere, die tödliche Gase freisetzen oder andere Verheerungen auslösen konnten. Dies und die Tatsache, daß er sich nun nicht mehr länger gegen die Dementoren behaupten konnte machten ihm klar, daß sein Ende bevorstand.

Voldemort sah dem hinabsausenden Glasgefäß zu. Alcara ließ seinen Teppich weiter aufsteigen, um nicht in die freiwerdenden Schwaden zu geraten.

"In Zehn Sekunden ist die Ära des Doktor Bokanowski Geschichte", frohlockte Voldemort. Doch es dauerte keine zehn Sekunden, bis etwas geschah.

Zunächst fegte der Drachen-Patronus wie ein gestaltlicher Blitz durch die Reihen der unheimlichen Angreifer. Dann erschien es Voldemort, daß der hohe Turm in sich zusammenstürze. Dann, und das bereitete ihm das größte Erstaunen, schlugen aus der Burg orangerote Flammen in den Himmel und zu den Seiten. Sengende Hitze breitete sich aus. Von unten klang ein lautes Rumpeln, Donnern und Knirschen.

"Was ist das?" Fragte Alcara, als der Glaskolben mit dem Gas gerade in die Feuersbrunst hineinschlug und in einem violetten Lichtblitz explodierte.

"Dieser Idiot hat seine eigene Burg abgefackelt!" Rief Petrov wie im Wahn und lachte. Voldemort knurrte erst bedrohlich. Dann schrillte er über das irre Lachen hinweg:

"Das war der letzte Schlag, den er ausgeteilt hat. Jetzt hat er nichts mehr übrig, um sich zu halten. Jetzt holen wir ihn uns."

"Aber das Gas?" Fragte Igor Dserschinski.

"Du fangzähniger Blödmann, das ist beim Aufprall sofort im Feuer verglüht", knurrte Rabastan Lestrange. Der Vampir entblößte drohend seine beiden dolchartigen Zähne und fauchte:

"Du kannst auch solche Zähne kriegen, wenn du noch einmal sowas sagst."

"Ruhe, ihr beiden, sonst blase ich euch beiden das Lebenslicht aus", drohte Voldemort. Er starrte wie gebannt in die tosenden Feuermassen hinunter, die nicht die Anstalten machten, zu erlöschen. Der Herr der Todesser fragte sich nun doch, ob das wirklich ein gewollter Befreiungsschlag war oder ein Fehler, bei dem dieses Feuer ausgebrochen war. Dann hörte er das Schwirren heransausender Flugbesen.

"Da kommen welche vom Ministerium", knurrte Dserschinski. Alcara sah Voldemort an. Dieser warf noch einen Blick auf die tosenden Flammen, bevor er dem Golemmeister befahl, den Teppich so schnell es ging fortzubringen. Dann packte er Juri Petrov zusammen mit Rabastan Lestrange und dem Vampir und hievte ihn über den Rand des Teppichs.

"Stirb mit dem Gegner, du Held!" Rief er ihm nach, als er schreiend in die Tiefe stürzte. Dann befahl Alcara dem Teppich die Flucht. Mehrere Zauberer auf Besen jagten hinter ihm her, holten ihn jedoch nicht ein. Einige erwischten die Lestranges und ihr Herr und Meister mit dem Todesfluch.

Petrov fiel und fiel genau auf die lodernden Flammen zu. Schon fühlte er den sengenden Aufwind, roch brennendes Holz und glühendes Gestein, als ihn plötzlich etwas wie mit einer riesigen, unsichtbaren, watteweichen Hand umfaßte und den Fall bremste. Wie eine Feder so leicht flog er davon, über das Feuer hinweg, bis er quer auf einem Besenstiel zu liegen kam. Die fremde Gewalt, die ihn vor dem Sturz in das Inferno bewahrt hatte bugsierte ihn so, daß er auf dem Besen zu sitzen kam. Jemand umfing ihn mit unsichtbaren, aber fleischlichen Armen. Dann stob der ebenso unsichtbare Besen mit ihm davon. Er blickte sich an und erschrak darüber, daß er selber auch unsichtbar war. Da wußte er, daß er auf einem der Harvey-Besen saß, auf die die Amerikaner so unverschämt stolz waren. Er sah seine früheren Kollegen, wie sie heranbrausten. Doch als er den Mund zu einem Ruf auftun wollte hielt diesen etwas so fest, als habe sich eine stahlharte Hand daraufgelegt. So passierten sie die Besen, ohne daß deren Reiter der unsichtbare Beobachter mit dem gerade ebenso unsichtbaren Ex-Kollegen auffiel. Erst zwei Kilometer vom Schauplatz der mörderischen Schlacht entfernt landete der Besen. Petrov fühlte, wie seine Fesseln gelöst wurden. Er wollte sich umdrehen, ansehen, wer ihn da gerettet hatte. Doch di gleiche Kraft, die seinen Sturz abgefangen hatte hielt ihn fest auf einer Stelle. Dann fühlte er noch den üblichen Bewegungsbann einwirken, hörte ein geflüstertes "Retardo removete!" Und dann klang für einen Moment nur das gedämpfte Sausen der sich im Reisigwerk des Besens brechenden Luftströmung. Eine Minute stand er bewegungsunfähig da. Dann fiel der Bann von ihm ab. Er stand frei da, immer noch am leben. Doch was sollte er nun machen. Er beschloß, sich seinen Kollegen und Arcadi auszuliefern und die Gnade von ihnen zu erhoffen, die Voldemort ihm niemals erwiesen hätte.

Anthelia kehrte, nachdem sie den abtrünnigen Ministeriumszauberer vor Voldemorts Tötungswahn bewahrt hatte zum Ort des Brandes zurück. Sie umflog ihn und erkannte, daß das Feuer eine Kuppel aus unterschiedlich stark ausschlagenden Feuerzungen bildete. Sie beobachtete es eine Weile lang. Dann kam ihr die Erleuchtung. Und sie ärgerte sich. Da hatte dieser Naturverächter es doch glatt gewagt, Sardonias Feuerkuppel zu errichten, einen Zauber, der so wirkte, daß niemand mehr sehen konnte, was unter der Kuppel geschah. Wenn sie recht hatte, so würde das Schauspiel in einer Viertelstunde enden. Dann würde sie sehen, ob die Burg noch da war wo sie gestanden hatte.

"Sollte dieser Bastard diesen Angriff heil überstanden haben werde ich ihn suchen und ihn lehren, die mächtigen Zauber meiner ehrwürdigen Tante wie seine eigenen Erfindungen zu benutzen", schwor Anthelia sich in Gedanken. Die russischen Ministeriumszauberer umflogen die feurige Kuppel, die nur Anthelia als eine Solche erkannt hatte. Denn nach weniger als einer Minute rückten sie wieder ab, weil sie glaubten, das magische Feuer verzehre gerade die Burg. Keiner machte Anstalten, die Flammen zu löschen. Womöglich hofften sie, daß darin alle schrecklichen Ungeheuer vergehen würden, die Bokanowski gezüchtet hatte. So wartete Anthelia alleine, bis tatsächlich eine Viertelstunde später die Flammenkuppel zusammenschrumpfte und beinahe übergangslos erlosch. Doch dort, wo die Burg des Doktor Bokanowski hätte stehen sollen, lag nur eine kahle Felsenplatte. Keine Spur von Grundmauern. Kein glimmendes Trümmerstück, aber auch keine intakte Burg, wie Anthelia vermutet hatte. Dann kam ihr die zweite Erleuchtung dieses Abends, die ihr noch weniger gefiel als die erste. "Spatialis Commutatus", fauchte sie. Bokanowski hatte die Feuerkuppel errichtet, um in aller gebotenen Ruhe eine Standortvertauschung seiner Burg vorzunehmen. Offenbar hatte er schon lange damit rechnen müssen, daß Feinde seinen Wohnsitz aufspürten. Er hatte sie alle genarrt, die ihm ans Leben wollten. Sie alle glaubten nun, er sei tot. Doch Anthelia wußte es nun besser. Er war nicht tot. Und sobald der Zauber einmal ausgerufen war, würde niemand nachvollziehen können, wohin Bokanowski sich und seine Burg versetzt hatte. Die Frage war nicht, ob er sich jemals wieder zeigen würde, sondern nur, wann. Denn eines war Anthelia auch klar: Wenn der Naturverächter sich wieder zeigen würde, würde sie nicht darauf warten, daß andere ihn bekämpften. Dann würde sie ihn stellen und im direkten Kampf besiegen oder bei dem Versuch ihr Leben geben, wenngleich das durch ihren Gürtel sehr schwer fallen würde. Sie flog mit ihrem Besen auf und kehrte zu ihrer Mitschwester zurück. Dort legte sie sich erst einmal schlafen.

Als sie wieder in der alten Daggers-Villa eintraf und den Ortszeitanpassungstrank schluckte, ließ sie sich von Patricia und Pandora Straton berichten, was sie über das Ende Ardentias und Jane Porters erfahren hatten. Sie konnte sogar einen Zeitungsartikel mit Nachruf auf beide nachlesen, in dem sie als sehr mutige, menschenfreundliche und kundige Hexen beschrieben wurden. Der amtierende Zaubereiminister und Laveau-Instituts-Leiter Davidson bekundeten, daß mit Jane Porter eine sehr wichtige Persönlichkeit der amerikanischen Zaubererwelt von der Bühne des Lebens abgetreten war, bis zur letzten Sekunde für den Frieden und den Schutz aller rechtschaffenden Hexen und Zauberer eintretend.

"Neugier tötet die Katze", knurrte Anthelia. "Sie hätte sich nicht einmischen sollen oder abwarten können, bis ich mit ihr Kontakt aufgenommen hätte. Vielleicht hätte sie eingesehen, daß sie an meiner Seite wesentlich mehr für den Frieden, den Schutz und die Freiheit der Zaubererwelt hätte tun können. Wann soll die Trauerfeier stattfinden?"

"Nächsten Sonntag, höchste Schwester. Die Familie hat das Angebot angenommen, eine öffentliche, staatlich ausgerichtete Trauerfeier abhalten zu lassen. Möchtest du dort etwa hingehen?" Wollte Pandora Straton wissen.

"Warum nicht? Es wäre mir ein Vergnügen, mir die Gäste dieser Zusammenkunft anzusehen", erwiderte Anthelia.

ENDE

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