DAS REICH OHNE GRENZEN

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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P R O L O G

Es geht weiterhin Turbulent zu, nachdem der dunkle Erzmagier Voldemort endgültig entmachtet wurde. Anthelia kann ihre wiedergewonnene Freiheit nicht lange feiern. Zum einen schafft es der in seinem versilberten Skelett gefangene Geist des dunklen Voodoomagiers Ruben Coal, in den lebenden Körper seines Nachfahren Gordon Stillwell einzudringen, wodurch er sehr mächtig wird und eine Armee von echten Zombies gegen die Nachfahren der früheren Sklavenhalter aufstellen will. Zum anderen trachtet der durch den Genuß radioaktiv verseuchten Blutes veränderte Vampirfürst Volakin danach, die Herrschaft über Vampire und Menschen zu erringen. Zudem gerät der Bruder Richard Andrews' bei einer Urlaubsreise in Spanien in die Falle der wachen Abgrundstochter Itoluhila, die sich ihm und ihren Abhängigen gegenüber Loli nennt. Sie schafft es, auch ihn zu einem ihrer Abhängigen zu machen, um mit seiner Hilfe mehr Macht zu erringen. Anthelia, die wegen des angeblichen Mordes an Zaubereiminister Lucas Wishbone zur meistgesuchten Hexe der Staaten wird, überwältigt den in Wirklichkeit nur versteckten Zaubereiminister und verflucht ihn so schwer, daß ihm und seiner Tante Tracy nur die Rettung im Iterapartio-Zauber möglich erscheint. Anthelia hört von osteuropäischen und französischen Bundesschwestern von Volakin und stellt sich ihm entgegen. Sie begräbt ihn unter einer mächtigen Flutwelle, als Volakin sich mit der auf ihn wütenden Itoluhila duelliert. Volakin stirbt und setzt dabei eine Menge Strahlung frei, die Anthelia an den Rand des zweiten körperlichen Todes treibt. Sie sieht nur noch eine mögliche Rettung: Sie muß ergründen, was es mit einer menschengroßen Spinne auf sich hat, die in Australien ihr Unwesen treibt. Als sie mit ihrer Mitschwester Tyche Lennox aufbricht fordert Hyneria Swordgrinder Donata Archstone, die Anthelias Getreue in den Reihen der nordamerikanischen Nachtfraktionsschwestern ist, zum Entmachtungskampf auf Leben und Tod. Sie gewinnt. Danach schließt sie mit einem nebelhaften Zauber alle ihr untreuen Hexen in eine grüne Kristallform ein und trachtet danach, die unter dem Namen Lysithea Greensporn wiedergeborene Daianira Hemlock aus dem Weg zu schaffen. Sie verwendet eine schwarzmagische Vorrichtung, die darin eingeschlossenen innerhalb von Minuten alle verbliebenen Lebensjahre entzieht. Doch dabei kommt es zu einer unerwarteten Reaktion, bei der die Vorrichtung zerstört wird und alle um sie herum zu Säuglingen verjüngt werden. Die in der Vorrichtung gefangene Daianira findet sich im Körper einer gerade erwachsen gewordenen Frau wieder. Doch sie fragt sich, was eine Vision bedeutet, die sie während dieser Magieentladung erfuhr und in der Professeur Tourrecandide aus Frankreich mitspielt, deren Tochter sie beinahe hätte werden müssen. Tourrecandide spürt zeitgleich ihrer zur Vampirin gewordenen Schwester Voixdelalune und ihrem Blutgefährten nach, die zwei Muggelkinder entführt haben. Dabei trifft sie auf die wieder freigekommene Nyx und wird fast von den Vampiren gebissen, als sie in einem goldenen Licht verschwindet und dabei ihre Kleidung und Ausrüstung zurückläßt. Anthelia indes findet die schwarze Spinne und hofft, durch einen Entkörperungszauber ihr Geheimnis zu ergründen. Dabei kommt es wegen der alten Magie der Tränen der Ewigkeit zu einer vollständigen Fusion zwischen ihr und der als Spinnenfrau lebenden Naaneavargia. Dairons Zaubergegenstände zerstören sich danach, und die neu entstandene Hexe kehrt in ihr Hauptquartier zurück, wo sie erfährt, daß Donata und die ihr folgenden Hexen aus der Nachtfraktion tot oder handlungsunfähig sind. Stillwell bereitet derweil einen Großangriff auf sicherheitsrelevante Einrichtungen der vereinigten Staaten vor. Das Laveau-Institut entwickelt magische Wurfscheiben, die Zombies enthaupten können. Martha Andrews wird von ihrer Schwippschwägerin Monica Gilmore auf das ungewöhnliche Verhalten ihres gemeinsamen Schwagers Claude Andrews und seiner Frau Alison hingewiesen. Das ruft die Geschwister Fuentes Celestes und ihre heimliche Mitbewohnerin Maria Montes, die nun Maria Valdez heißt, auf den Plan. Maria, die mittlerweile Mutter einer Tochter ist und weiß, daß sie von der sehr mächtigen Weißmagierin Ashtaria abstammt, tritt Claude Andrews entgegen, den seine neue Herrin gerade noch fortholen kann, bevor die Kraft von Marias magischem Talisman ihn aus der Sklaverei entreißen kann. Um alle Spuren zu verwischen inszeniert Itoluhila den Tod ihrer Abhängigen Carlos Ramirez und Rufina, um diese wie Claude ins Ausland zu schaffen. Stillwell greift Atomkraftwerke und Bioforschungsstätten an, wird dort jedoch von Nichtmagiern und Zauberern zurückgeschlagen. Sein Rachedurst richtet sich vor allem auf Marie Laveau. Er schickt zwei unterworfene Piloten mit vollgetankten Passagiermaschinen los, um damit in die New Yorker Börse zu stürzen. Gleichzeitig greift er New Orleans an, wo es zu einem Duell mit Marie Laveaus Geist kommt. Anthelia kann inzwischen herausfinden, daß Samedis Sohn versilberte Knochen hat und formt aus zusammengestohlenem Silber eine mehr als zwei Meter große Silberkugel, die sie durch eine kombinierte Erd- und Mondzauberei zum Magneten für pures Silber macht. Damit schafft sie es, Stillwell alias Coal anzuziehen und ihn zu vernichten. Sein Zauber erlischt. Der befohlene Anschlag auf das Finanzzentrum der USA wird rechtzeitig gestoppt. Daianira weiß nun, daß Austère Tourrecandide zur Ungeborenen zurückverjüngt wurde und nun in ihr heranwächst. Mit ihrer Cousine und zeitweiligen Mutter Leda stimmt sie ab, wie sie mit dieser Lage umgehen soll. Die aus Anthelia und Naaneavargia zusammengefügte Hexenlady will sich nun auf ihre verbliebenen Gegner vorbereiten, die Vampirin Nyx, die Abgrundsschwestern und mögliche Nachfolger Voldemorts. Hierfür will sie nach den Artefakten aus dem alten Reich suchen. Die Flöte von Naaneavargias Bruder ist für sie nicht mehr zu finden. Doch es gibt ja noch mehr aus der Zeit der Spinnenfrau. So entsinnt sie sich, daß der einzigartige Werdrache Diego Vientofrio Voldemort um Yanxothars Schwert gebracht hat und erinnert sich an einen mächtigen Krug, der Macht über das Wasser gebietet. Nach einem kurzen Kampf mit dem Drachen Vientofrio kann sie diesem einen verfluchten Stein in den Magen praktizieren, der ihn dazu verdammt, entweder die ihm erteilten Anweisungen auszuführen oder zu versteinern. So bleibt dem Werdrachen nichts anderes übrig, als in jenen hawaiianischen Vulkanschlot zu tauchen, in dem er die gegen alle Glut gefeite Waffe des Feuermagiers Yanxothar versteckt hat. Anthelia kann ihm das Schwert abnehmen und sich mit der in ihr vereinigten Kraft zweier Seelen gegen Yanxothars darin wachende Seele stemmen und die magische Klinge dadurch erobern. Sie erfährt von einem Schatzsucherschiff, das auf den Spuren einer vor Jahrhunderten geschlagenen Seeschlacht nach dem Wrack der "Lady Amber" sucht, in deren Bauch etwas unvorstellbares sein soll. Aus ihrem ersten gelebten Leben weiß Anthelia noch, daß es um einen unleerbaren Krug ging und ein zum Piraten gewordener Zauberer aus dem McFusty-Clan bereits versucht hat, ihn zu erbeuten. Der Geist des Piratenzauberers wacht seit seinem unrühmlichen Ende über das Wrack und verhindert mit dem Geist des von ihm erschossenen Zauberers Keneth Teach den Zugang der Schatzjäger. Diese finden auf hoher See ein grausames Ende, beobachtet von Tim Abrahams und Angehörigen des französischen Zaubereiministeriums, die ebenfalls wegen des Kruges unterwegs sind. Tim Abrahams lernt von der Cousine Dumbledores die schwierige Kunst, sich vorübergehend die Körper von Meerestieren auszuborgen und dirigiert einen Pottwal gerade noch rechtzeitig zum Wrack, als eine Meerfrau, die einen zauberstab führen kann, den Krug bergen will. Die Meerfrau ist Anthelias Verbündete Tyche Lennox. Tim vereitelt die Bergung des Kruges, kann ihn selbst jedoch nicht aufgreifen, weil die im Krug wohnende Seele Aiondaras ihn nur noch in die Hände aus ihrer Ahnenlinie stammender Töchter mit Zauberkraft fallen lassen möchte. Anthelia muß von der Wasseroberfläche aus zusehen, wie Tyche, die Sarah Redwoods Meerfrauentrank geschluckt hat, von abgerichteten Haien eingekreist und verschleppt wird. Sie erkennt, daß in all den Jahrhunderten ein Bewachungskult der in der Region wohnhaften Meerleute entstanden ist, der jeden Fremdling verfolgt, der den Krug erbeuten will. Sie muß erkennen, daß Tyche für immer verloren ist. Sie hofft darauf, daß eine Erfindung Florymont Dusoleils ihr selbst Zugang zum Wrack und dem Krug ermöglicht. Doch genau diese Erfindung vereitelt ihr endgültig den Zugang zu Aiondaras Krug. Denn Camille Dusoleil erfährt von der transvitalen Entität ihrer Mutter und ihrer Tochter, daß sie berechtigt ist, den Krug zu bergen, weil ihre gemeinsame Vorfahrin Ashtaria eine Nachfahrin Aiondaras ist. Mit Hilfe des gegen extreme Umweltbedingungen schützenden Anzuges ihres Mannes und der Macht ihres besonderen Erbstückes gelingt es ihr, den Krug zu erlangen und sich, Tim Abrahams und Florymont damit vor dem Rachefeldzug der Meerleute in Sicherheit zu bringen. Die neue Anthelia ahnt nicht, wer den Krug hat. Die Pläne der Vampirlady Nyx fordern schon bald nicht nur ihre Aufmerksamkeit.

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Sie sah diesen Mann, diesen Narren Iaxathan, der zwar gefährlich war und Tod und Vernichtung über die Welt bringen konnte, aber doch ein Narr war. Hatte der echt gedacht, sie mit ein paar wilden Nächten auf seine Seite ziehen zu können? Sicher, er war ein sehr erfahrener Liebhaber. Aber ihre Unersättlichkeit erschöpfte ihn doch immer wieder. Häufig sah sie, wie er mit diesem schwarzen, eiförmigen Ding hantierte, das er seinen eigenen Angaben nach aus der kristallisierten Kraft von drei Eislandnächten erschaffen hatte. Damit beherrschte er die Iaisiranin, die Nachtgeborenen, die er selbst mit Hilfe von Getreuen und dem Blut von Grottenschwärmern erschaffen hatte. Diesem eigroßen Ding, das jeden Funken Licht verschluckte, verdankte sie ihre Gefangenschaft in Panhiaoglenartis, der finsteren Festung Iaxathans, von der die in Sonnengelb herumlaufenden Lichtfolger gerne wüßten, wo sie lag. Doch der finstere Großkönig hatte sie mit allen möglichen Verhüllungskräften und Wällen aus finsterer Kraft gegen Entdeckung und Erstürmung durch Lichtfolger gesichert. In jeder Wand mochte das Blut eines zu Tode gefolterten Feindes, womöglich sogar ein Unschuldiges Kind zur Verstärkung dieser Befestigung beigetragen haben. Nur wer auf Befehl oder auf Einladung des Herren dieser dunklen Feste an diesen Ort gelangte, überlebte den Aufenthalt um mehr als einen Tausendsteltag. Naaneavargia dachte an das alles und fragte sich immer wieder, ob ihr Hiersein auf einen Befehl oder eine Einladung beruhte. Dennoch wußte sie, daß sie ein wilder Vogel in einem Käfig war, der nur deshalb ein wenig Platz zum fliegen hatte, um nicht an Schwermut zu sterben. Immer wieder starrte sie auf den dunklen Stein, den Iaxathan frei in der Hand hielt. Doch ihn ergreifen konnte sie nicht. Eiseskälte strömte ihr immer entgegen, wenn sie ihre zierliche Hand nach dem unheimlichen Ei aus verdichteter Dunkelheit ausstreckte. Ihr Kerkermeister wußte, daß niemand ihm dieses Kleinod wegnehmen konnte. Denn er hatte es so stark mit sich selbst verbunden, daß er erst sterben mußte, um es frei weitergebbar zu machen. Und er wußte, sein Leben teuer zu verkaufen. Viele aus der Gilde der blutroten Hüter der stofflichen Gewalten hatten es versucht, ihn zu töten, mit Blitzen, Feuerbällen, giftigen Nebelwolken oder Versteinerungsworten. Doch alles das war auf die Urheber selbst zurückgeprallt. Der Schildhauch der finsteren Hut umgab Iaxathan und machte ihn so ziemlich unangreifbar.

Naaneavargia genoß die langen Nächte mit dem Herren von Panhiaoglenartis. Er schien sehr darüber verstört, daß sie ihm nicht helfen wollte, die fliegende Burg Ailanorars zu betreten. Dadurch, daß sie weit über der Weltenkugel niemals lange am selben Ort verblieb, war sie ebenso unerstürmbar wie die finstere Festung. Die Wolkenhüter Ailanorars hielten die Armee der Schlangenkrieger klein, obwohl diese sich durch ihren giftigen Biß ständig zu vermehren trachteten. Selbst die durch die Verschmelzung mit Grottenschwärmern flugfähigen Iaisiranin konnten nicht so hoch in die Luft steigen, wo die Burg, die niemand finden konnte, ihre ewige Bahn über der Welt zog. Iaxathan war es anzusehen, daß er mit seiner Selbstbeherrschung rang. Naaneavargia wußte, daß er sich ständig fragte, ob er sie für wertlos halten und töten sollte oder wirklich noch etwas mit ihr anfangen konnte. Einmal hatte er versucht, mit den Kräften der Geisteslotung in ihr inneres vorzudringen, um das Geheimnis der fliegenden Burg zu ergründen. Sie hatte sich zwar einige Hundertsteltage dagegen stemmen können, dann doch den Ansturm über sich ergehen lassen müssen. Allerdings war das Geheimnis der fliegenden Burg mit Blutsbandbannen auf sie und ihren Bruder beschränkt worden. Jedesmal, wenn sie an die Burg dachte, traten wilde Gelüste an die Oberfläche ihres Geistes. Iaxathan konnte so nur die wildesten Wunschvorstellungen der Gefangenen und ihre bereits erlebten Liebesakte erkennen. Warum er die Gefangene nicht tötete wußte diese erst einmal nicht.

Als sie erfuhr, daß Iaxathan wohl das Geheimnis der Tränen der Ewigkeit kannte, gab sie sich zugänglicher und erzählte von ihrem Besuch in der Burg. Allerdings habe ihr Bruder den Weg verhüllt, so daß sie die Burg nicht von sich aus finden oder jemandem den Zutritt ermöglichen könne. Iaxathan bot ihr an, ihr ein großzügiges Geschenk zu machen, wenn sie ihm einen Weg dorthin eröffnete. Naaneavargia hatte gelächelt und gefragt, welches Geschenk er ihr machen könne. Er hatte ihr angeboten, sie zu seiner Gefährtin und Trägerin seines Erben zu wählen. Darauf hatte sie nur gelacht und erwähnt, daß sie sich durch die Kraft der ruhenden Mutter gegen ungewollte Kinder abgesichert habe. Denn sie wolle so schnell keine Nachkommen haben, wo sie noch jung und hungrig war. Darauf hatte der finstere Herrscher ihr ein anderes Angebot gemacht:

"Du wirst nicht immer jung sein. Selbst wenn du mehr als dreihundert Sonnen erleben kannst, wirst du irgendwann dahinwelken wie die vergänglichen bunten Pflanzen, die eure gefühlslastigen Frauen und Mädchen sich in gläserne Behälter stellen, um sich an ihrem Anblick zu erfreuen. Du wirst irgendwann alt und vergehen, genau wie dein Bruder vergehen wird. Nur wir Hüter der alles endenden Nacht können ewig leben. Denn wir wissen, wo das Auge der Ewigkeit ruht, dessen Tränen jedem, der sie trinkt unverwüstliches, nicht durch Altern oder Krankheit verwehendes Leben gewähren. Ich bin bereit, dich von den Tränen kosten zu lassen, um dir deine Jugend und dein Lebensfeuer zu erhalten. Doch das gewähre ich dir nur, wenn du mir hilfst, in Ailanorars Burg zu gelangen. Denn wenn dieser Krieg nicht bald beendet wird, stirbt unser erhabenes Reich. Davon hat niemand etwas."

"Ja, aber ihr Nächtigen wollt haben, daß alles in die Dunkelheit zurückgestoßen wird, aus der es geboren wurde. Glaubst du, daß sich eine Lebensgeberin gefallen läßt, das von ihr hervorgebrachte Leben schmerzhaft in ihren Leib zurücktreiben zu lassen?"

"Alles Feuer erlischt irgendwann. Auch Vater Himmelsfeuer wird irgendwann sein Licht aushauchen. Dann wird die alles endende Dunkelheit alles, was aus diesem Feuer erschaffen wurde gnädig zurücknehmen. Wir wollen nur, daß dieser Tag so früh wie möglich kommt. Denn die Welt lebt in großer Verwirrung. Die Hüter der Naturgewalten müssen vereint werden, die Folger des Lichtes müssen erkennen, daß ihr Streben nach einer Welt, in dem alle unangefochten Leben, nur in der Rückkehr in die Gefilde der alles endenden und einenden Kraft Erfolg haben kann. Sie predigen die Schöpfung, den Erhalt jedes Lebenden Wesens. Doch unsere Weltenkugel kann nur begrenzt viele Lebewesen tragen. Die einen leben vom Tod der anderen, um weiterbestehen und ihre Nachkommen hervorbringen zu können. Wenn wir alle keinen Grund mehr haben, unsere Vergänglichkeit zu fürchten und uns dem hingeben, was unvermeidbar ist, so gelingt dies nicht im Namen des Lichtes. Wahres Leben, mächtig und dauerhaft, kann niemals aus der Furcht vor dem Tod der anderen entstehen. Das wissen wir Diener der alles endenden Dunkelheit. Doch ihr Hüter der Naturgewalten habt euch von den Blendern der Lichtfolger verleiten lassen, eure wahre Größe zu verleugnen, euch in Uneinigkeit zu halten und euer Altern als unvermeidliches Schicksal hinzunehmen. So wirst auch du irgendwann jede Lust an körperlicher Nähe verlieren, und ohne Gebräue und Worte der entfachten Lust wirst du niemanden mehr für dich begeistern. Ich biete dir einen Schluck aus der Quelle der Unsterblichkeit, so daß du selbst die Kindeskindeskinder deines Bruders überdauern und als mächtige Hüterin der Erde alle deine Meister überleben kannst. Das einzige, was ich dafür haben möchte, ist Frieden und Einigkeit. Doch das geht nur, wenn die Kämpfe aufhören und die von den Lichtfolgern verleiteten erkennen, daß unser erhabenes Reich nur dann die wahre Größe erreichen kann, wenn es unter denen geeint ist, die den Weg der Einheit gehen, die nur dann gelingt, wenn die Furcht vor dem Tod der Anderen oder gar des eigenen ausgetrieben wird. Nur wenn du mir hilfst, diesen Frieden zu erreichen, wirst du an meiner Seite oder für dich alleine zur ewig jungen, ewig begehrenswerten Hüterin der Erde aufsteigen, die jeden Mann, begütert oder unbegütert nehmen und genießen kann, den sie will."

"Im Moment bist du der einzige hier, den ich mir nehmen oder mich ihm hingeben kann", schnarrte Naaneavargia. "Außerdem glaube ich dir nicht, daß du die Tränen der Ewigkeit schöpfen kannst. Die, die sie zu schöpfen und trinken wagten, zeigten sich ihrer Macht unterlegen. Willst du behaupten, genug Macht zu besitzen, um sie schöpfen und trinken zu können?" Iaxathans wallender, leicht gewellter Vollbart erbebte für einen winzigen Moment. Mit großer Mühe hielt er den inneren Wall aufrecht, der die geborene Gedankenspürerin davon abhielt, sein inneres Selbst zu ergründen. Sie hatte ihn kalt erwischt. Denn selbst er hatte bisher nicht gewagt, von den Tränen der Ewigkeit zu kosten. Er hatte sie lediglich benutzt, um seinen Nachtgeborenen schier unbegrenzte Unverwüstlichkeit zu verleihen, wenngleich sie dafür gegen die in alten, starkholzigen Bäumen gefangene Sonnenstrahlung, die Strahlen der Sonne selbst und die Lebendigkeit tragende Kraft fließenden Wassers hochempfindlich waren. Doch er wollte nicht, daß Naaneavargia erkannte, wie ihre Worte ihn erschüttert hatten. So schnaubte er scheinbar höchstverärgert:

"Du lebst nur noch, weil dein Bruder es nicht mehr wagt, meine menschlichen Diener zu töten, aus Angst, ich könnte ihm dafür Teile deines Körpers zurückschicken. Ich kann und ich werde dich hier verblühen und vertrocknen lassen. Gute Geliebte finde ich auch anderswo. Denn ich muß keinen Erben in diese Welt setzen. Ich lebe ewig. Ich bin unbesiegbar durch die Tränen der Ewigkeit. Ich biete dir eine große Macht und vor allem, ewiges Leben. Ich gewähre dir einen Tag und eine Nacht, dir zu überlegen, ob du dieses großzügige Geschenk wirklich ablehnen kannst."

"In der Nacht kann ich nicht gut denken, wenn wir zwei uns so richtig gut miteinander ausleben, mein starker Herr", säuselte Naaneavargia und nahm eine verlockende Körperhaltung an. Iaxathan fühlte, wie dieses Geschöpf da im roten Gewand der Naturgewaltenhüter seine Männlichkeit erregte. Doch wenn er sie nun wieder gewähren ließ, war er keinen Schritt weiter. So sagte er, daß sie diese Nacht nicht mit ihm zusammensein würde, und daß sie, wenn sie sich gegen sein Angebot entscheiden würde, nie wieder von einem Mann berührt werden würde. Ohne eine Antwort abzuwarten vollführte er mit seinem Kraftausrichter in Form eines aus vier zusammengefügten Dreiecken gebildeten Kristallkörpers eine rasche Bewegung, um die dunkle Wand zwischen sich und sie zu rufen, die an Stelle einer Tür den großen, gemütlich eingerichteten Raum verschloß. Nun würde sie nur noch durch die großen Lichtaugen auf halber Raumhöhe genug Tages- und Nachtlicht bekommen. Ihre Nahrung wurde von einem Zeitlosüberbringungsfeld vor sie hingestellt. Denn verhungern lassen wollte er sie nicht.

Naaneavargia überlegte, was sie diesem Einfältigen, von seiner irrigen Überzeugung getriebenen auftischen sollte, damit er ihr die Tränen der Ewigkeit brachte. Denn ihr war klar, daß sie nie wieder eine derartige Möglichkeit hatte, an dieses verbotene Elixier zu gelangen. Während sie die an Blut und Dunkelheit denkenden Nachtgeborenen um sich herum erspürte, die nur deshalb nicht von ihrem Blut trinken durften, weil ihr Herr und Erschaffer sie mit diesem dunklen Ei beherrschte, beschloß sie, Iaxathan anzubieten, ihn in die Burg zu bringen. Schon einmal hatte sie jemanden an einen für diesen unerlaubten Ort gebracht, indem sie ihn mit der Kraft der Größenänderung und den Worten der Erstarrung so klein hatte werden lassen, daß sie ihn bequem in ihrem Körper verstecken konnte. Der Gedanke, jemanden so innig mit sich herumzutragen hatte ihr eine Folge höchst angenehmer Wallungen bereitet. Es würde ihr ein Vergnügen sein, auch Iaxathan derartig zu sich zu nehmen. Allerdings würde sie ihn dann nicht mehr zurückgeben, bis der Hunger nach Manneskraft übermächtig würde. Allerdings wollte sie vorher von den Tränen der Ewigkeit trinken. So überlegte sie sich, wie sie das hinbekommen konnte. Als sie eine brauchbare Geschichte für den Herrn der finsteren Festung zusammenbekommen hatte, gab sie sich dem kühlen, silbernen Licht der Himmelsschwester hin, das durch die drei runden Lichtaugen in ihr gemütliches Gefängnis fiel. Vielleicht war sie morgen schon mächtiger als ihre Lehrmeister, dauerhafter als die Berge von Altaxarroi, fähig, die Zeiten selbst zu überdauern, wie Khalakatan, die ewige Stadt. Sie dachte an ihren Kraftausrichter, den Iaxathans bleiches Gezücht ihr weggenommen hatte. Nur wenn sie ihn wiederbekam, konnte sie den Herren der finsteren Festung in die Burg ihres Bruders bringen. Doch zunächst wollte sie wissen, ob er wirklich die Tränen der Ewigkeit schöpfen konnte.

Am nächsten Tag eröffnete sie Iaxathan, daß sie nur dann den Weg in die fliegende Burg betreten könne, wenn sie alleine sei. Aber sie könne ihn mitnehmen, wenn sie stark und mächtig genug sei, ihn sicher zu befördern. Allerdings wolle sie zunächst wissen, ob er wirklich die Tränen der Ewigkeit schöpfen könne. Erst wenn sie deren Wirkung spüre würde sie ihn zu Ailanorars Burg bringen. Iaxathan ging darauf ein. Naaneavargia erkannte nicht, daß er sie austricksen wollte. Denn er hoffte darauf, das die Macht der Tränen ihren Körper derartig verunstalten würde, daß sie zwar ewig lebte, aber niemals wieder diesen makellosen Leib erhalten konnte oder dann, wenn sie ihn am nötigsten brauchte, gegen eine ihr innewohnende Tierform einzutauschen habe. Er würde ihr dann versprechen, die Macht der Tränen aufzuheben, allerdings erst, wenn sie ihn dafür zu ihrem Bruder brachte, damit er dessen fliegendes Gezücht erledigen konnte. Für diesen Zweck hatte er einen kleinen Kern des unsteten Stoffes erschaffen, in dem die Macht des Ruashtariyani, des Tausendsonnenfeuers, gebündelt war. Damit würde er die fliegende Burg und die Brutstätte der Wolkenhüter erledigen und endlich mit Skyllian und seinen anderen Vasallen Altaxarroi erobern und die Gesetze der alles endenden Dunkelheit über die ganze Welt verbreiten.

Naaneavargia mußte drei Tage warten, bis der finstere Großkönig von seiner Reise zum Auge der Ewigkeit zurückkehrte. Als er ihr einen Becher mit einer klaren Flüssigkeit zeigte, sagte er, daß er für sie und seine besten Getreuen schon genug Tränen der Ewigkeit gesammelt habe. Er machte Anstalten, ihr ein winziges Glas zu füllen. Doch da spielte Naaneavargia ihren verborgenen Trumpf aus, die Macht der Gedankenhände, die sie von ihr zu sehende Dinge ohne körperliche Berührung bewegen und verändern ließen. Sie pflückte Iaxathan den Becher aus der Hand und ließ ihn zu sich fliegen. Ohne zu zögern stürzte sie den klaren Inhalt in sich hinein. Iaxathan erschrak und stieß aus, daß dies zu viel war. "Du solltest nur drei trinken. Das sind zwanzig. Das ist zu viel!" Da überkam Naaneavargia auch schon die Wirkung des Gebräus, daß außer einem leichten Prickeln keinen besonderen Eindruck auf ihre Zunge gemacht hatte. Sie fühlte, wie etwas in ihr wie lodernde Glut nach außen brach und sie dabei verbrannte. Sie konnte nicht mehr schreien, weil ihr Leib da schon nicht mehr stofflich war. Sie fand sich in einem Strudel aus goldenem und bläulichem Licht und meinte, in Glut und ewigem Eis herumgeschleudert zu werden, bis sie wieder einen Körper empfand. Es war jedoch nicht der ihr angeborene Körper, sondern etwas fremdes, jedoch auch wohlvertrautes, immer schon in ihr ruhendes.

Iaxathan starrte mit seinen silbergrauen Augen zu tiefst erschrocken auf das Geschehen. Der Herr, der anderen die blanke Furcht bereitete und der Entsetzen und Todesqualen säte, lernte nun selbst das unerträgliche Entsetzen zu spüren. Denn Naaneavargia stürzte die Flüssigkeit in sich hinein, die er eigentlich für vier neue Getreuen mitgeschöpft hatte und mit deren Hilfe er hoffte, weitere unbesiegbare Geschöpfe hervorbringen zu können. Sie zerfloß und leuchtete von innen her auf, wurde zu einer golden glühenden wolke. Er ahnte, daß die überstarke Macht der Tränen ihr einen neuen Körper geben würde. Er ging davon aus, gleich eine etwas größere Bettwanze zu sehen zu bekommen. Doch als der Umwandlungsvorgang vollendet war, stand vor ihm eine menschengroße, schwarze Spinne, die erst ihre acht Beine sortieren mußte. Eine Spinne?! Naaneavargia hatte als innere Tiergestalt eine Spinne besessen?! Iaxathan fühlte jene Angst, die einen zur sofortigen Flucht treibt in sich aufsteigen. Er hatte sich verschätzt. Sein Geschenk hatte aus Naaneavargia ein gefährliches Ungeheuer werden lassen. Die Übermenge der Tränen der Ewigkeit würde dieses Ungeheuer dazu treiben, jede Art von Hunger stillen zu wollen. Er sah die Tastorgane am Kopfende des vielbeinigen Ungetüms sachte Suchbewegungen ausführen. Die haarigen Anhängsel erzitterten vor Erregung. Der dunkle Meister, der allen anderen das lähmende Entsetzen und die Todesangst bereitete, war Gefangener seiner eigenen Absichten geworden. Dieses Ungeheuer da vor ihm würde niemals wieder Naaneavargia werden. Es würde ihm wohl kaum zum Betreten der Burg verhelfen. Da kam es auch schon auf ihn zugetrippelt. Die behaarten Taster streckten sich ihm entgegen.

"Nettes Getränk, mein Liebesspender. Aber wohl ein wenig viel davon. Ich habe jetzt richtig hunger. Und es ist so herrlich, wenn du in mir bist. Sei es mal ganz und für immer", hörte er sie zischen und erkannte, daß ihre Stimme in seinem Kopf erklang. Sie durchschlug seinen inneren Wall. Doch womöglich hatte er diesen im Augenblick der Todesangst nicht mehr erhalten können. "Du riechchchssst so gut. Kriege richchchtig Hunger!" Hörte er die bedrohliche Gedankenstimme in seinem Kopf zischen. Er sprang zurück, als das Ungetüm, daß vor wenigen Tausendsteltagen noch eine überaus anziehende wie willige Altaxarroia gewesen war, auf ihn zuzuspringen versuchte. Er winkte schnell der in die Durchlässigkeit verbannten Wand. Diese baute sich jedoch zu spät auf. Das Ungeheuer war bereits über die Grenze gesprungen, die zwischen Kerker und Gang verlief. Iaxathan dachte nicht daran, den kurzen Weg zu gehen. Er rief der Spinne die Worte des Todes entgegen. Ein Strahl aus einem alles Licht verschluckendem, nebelhaftem Stoff zischte aus dem Kraftausrichter und hüllte die Spinne ein, die einen Moment davon zurückgehalten wurde. Doch der Todeshauch zerfaserte prasselnd. "Zu Hilfe!" Rief Iaxathan, den Mitternachtsstein umklammernd. Dann versuchte er weitere Tötungsarten, wie das dunkle Feuer und den Speer der Vernichtung. Doch beide ohne Gegenbann tödlichen Gewalten prallten vom schwarzen Panzer der Spinne ab, die nun ihren Hinterleib ausrichtete und dicke weiße Strahlen einer klebrigen Flüssigkeit ausschied. Der Strahl traf den Bauch des dunklen Meisters und haftete daran an. Noch einmal schrie Iaxathan die Worte des schnellen Todes heraus. Doch der Kraftausrichter erzielte auch diesmal keine Wirkung. Der Herr der finsteren Festung kämpfte gegen die ihn einschließende Flüssigkeit an, die sofort nach ihrem Ausstoß zu einem immer festeren Stoff aushärtete. Er hörte noch, wie seine Geschöpfe herbeieilten. Sie waren in der menschlichen Form. Die Riesenspinne warf sich über den Meister der dunklen Kräfte, der rein körperlich keine Möglichkeit hatte, das ihn niederdrückende Untier abzuwehren. Sein Kraftausrichter berührte den Körper der Spinne. Noch einmal versuchte er, ihr einen Vernichtungsspeer in den Leib zu jagen. Doch dieser zersprühte als dunkelblaues Blitzgewitter an der Bauchseite der ungeheuerlichen Erscheinung. Der Rückstoß der abgeprellten Kraft traf den Kraftausrichter. Dieser erzitterte und erhitzte sich so plötzlich, daß Iaxathan ihn nicht festhalten konnte. Laut zischend entfiel ihm das so wichtige Hilfsmittel. Das war ihm bisher auch nie geschehen, daß ihm wer seinen Kraftausrichterkristall entwinden konnte. Nun hatte er nur noch den Mitternachtsstein, über den er seine geflügelten Sklaven herbeirief. "Habe Hunger!" Zischte ihm die geistige Stimme der Verwandelten durch das von Angst und Todesnähe aufgewühlte Bewußtsein. Da griffen die bleichen Blutsauger an. Iaxathan fühlte, wie drei von ihnen versuchten, die ihn umklammernden Spinnenbeine auseinanderzureißen. Er wurde mit der Ausgeburt seiner eigenen Pläne herumgeworfen und kam über ihr zu liegen. Doch sie hielt ihn fest umklammert und wickelte ihn dabei immer weiter in die weiße Spinnseide ein. Der Mitternachtsstein entfiel ihm, kullerte auf dem Steinboden entlang und bewirkte, daß die davon beherrschten Blutsauger erstarrten. Iaxathan fühlte noch die geistige Verbindung zu diesem Stein. Doch ohne ihn auch mit den Händen zu halten konnte er seinen Geschöpfen keine weiteren Anweisungen mehr geben. Er fühlte, wie die Riesenspinne ihn mit gnadenloser Gewalt herumwarf. Nur der Umstand, daß er bereits bis zum Oberkörper in einem dicken, weichen Gewebe versponnen war, bewahrte ihn vor Brüchen und Prellungen. Doch nun zerrte das aus seiner eigenen Hinterhältigkeit heraus zugelassene Ungeheuer ihn hinter sich her, wuchtete ihn mit seinem gerundeten Hinterleib hoch und klebte ihn auf seinen Rücken fest. Die Blutsauger erwachten aus der Starre, in die der Verlust des Mitternachtssteins sie kurzfristig versetzt hatte. Sie hatten ihre Befehle, ihren Meister zu schützen und am Leben zu halten. Doch in ihrer Menschlichen Gestalt waren sie dem neuen Ungeheuer unterlegen, das mühelos durch ihre Reihen brach und dabei einigen mit ihren Beißwerkzeugen Arme und Beine abtrennte. Wen sie nur mit den vergifteten Scheren verwundete, fühlte das in ihm wirkende Gift, daß ihn lähmte, vielleicht sogar töten würde. Daß jemand sie vergiften konnte waren die neuen Züchtungen Iaxathans nicht gewohnt. üblicherweise versagte jedes in sie einwirkende Gift. Doch das Gift der Riesenspinne überwog ihre Unverwüstlichkeit.

Die Riesenspinne rannte mit ihrem Gefangenen durch die Gänge, die sich wegen der Todesangst ihres Meisters und seiner körperlichen Anwesenheit mühelos passieren ließen. Iaxathan wimmerte wie ein neugeborenes Kind, daß aus Furcht und Kälte um die Geborgenheit seiner Mutter flehte. Er schaffte es nicht mehr, den inneren Wall zu errichten, um seine Gedanken zu verhüllen. Er dachte auch nicht daran, daß die von ihrer tierhaften Natur übermannte Naaneavargia noch bei klarem Verstand war, um seine Gedanken zu verstehen. Doch als sie den kürzesten Weg zum Tor der Festung fand und ihn wie beiläufig mit dem Kopf gegen die massiven, mit Orichalk verstärkten Torflügel schlug, wußte er, daß sie irgendwie noch gut genug erkennen konnte, daß nur die Berührung mit Hand oder Kopf ihm das Tor öffnete. So entsperrten sich die Riegel, und die mächtigen Torflügel glitten nach außen. Weitere Blutsauger stürmten aus den Seitengängen herbei und versuchten, den in seinem klebrigen Gefängnis steckenden Meister mit Klauen und Zähnen herauszulösen. Zwar gelang es ihnen, Löcher in das weiße Gespinnst zu reißen. Doch dafür blieb etwas davon an den langen Fangzähnen kleben, mit denen sie ihre Opfer bissen. Die schwarze Spinne warf sich herum und schlug den aufdringlichen Blutsaugern ihre Beißscheren ins Fleisch. Gleichzeitig würgte sie eine gelblich-grüne Flüssigkeit aus, die dort, wo sie auf die blutsauger traf, eine verheerende Wirkung zeigte. Das Fleisch der Nachtgeborenen begann sich aufzulösen. Schmerzenslaute übertönten das hilflose Wimmern des dunklen Meisters. Die Riesenspinne trug ihn weiter. Er kämpfte gegen das beschädigte Gespinnst an. Doch er war zu schwach, es ohne Kraftausrichter zu zerreißen. Im rasenden Lauf wurde er den Steilhang hinuntergetragen, über dem die Festung thronte. Das Ungeheuer bewegte sich über dieses gefährlich abschüssige Gelände, als liefe es auf einer trittsicheren, waagerechten Bahn. Iaxathan hörte nun das Flattern seiner Helfer, die in der Gestalt von menschengroßen Flugsäugern heranflogen. Doch es blieben den Nachtgeborenen nur noch wenige ZwölfdutzendsteltageZeit, bis die ersten Sonnenstrahlen über den Saum zwischen Himmelsgewölbe und festem Grund erschienen. Die Nachtgeborenen wußten, was dann mit ihnen geschah. Die ersten von ihnen hatten es gewagt, sich dieser Naturkraft auszuliefern und waren qualvoll innerhalb eines halben Zwölfdutzendsteltages zu Asche verbrannt. Damit war die bis dahin rein tierhafte Furcht vor dem gleißenden Tagesgestirn zu einer erkannten Todesgefahr geworden. Doch noch jagten die nun fliegenden Nachtkinder die flüchtende Riesenspinne und deren Gefangenen, ihren Herrn und Erschaffer.

Am Fuße des Berges, auf dem die finstere Festung thronte, verhielt die Spinne ihren Lauf. Dann löste sie das Gewebe, in das Iaxathan eingesponnen war und dachte ihm zu:

"Du hassst esss genossssssen, wenn du in mir warssst. Sssei esss alsso ganzzz und für immmer!" Iaxathan wußte, was dies bedeutete. Sein leibliches Ende war gekommen. Doch er wollte nicht sterben, nicht vergehen, im Magen einer Spinne enden, die er selbst erschaffen hatte. Doch als ihn die blitzschnell zupackenden Beißscheren in den Bauch schnitten wußte er, daß er nicht mehr davonlaufen oder den kurzen Weg nehmen konnte. Er Dachte eine Reihe von Worten, die er eigentlich erst in einhundert Sonnen denken wollte. Der wie wildes Feuer auf seiner Haut brennende Schwall zersetzender Verdauungssäfte bereitete ihm große Schmerzen. Er schrie. Doch er fühlte, wie seine Gedanken bereits das Band geknüpft hatten, das ihn mit seiner mächtigsten Schöpfung verband. Drei Säulen der Macht hatte er errichtet. Die erste war der Mitternachtsstein. Die zweite der Herrscherstab Skyllians. Nun mußte er seine dritte und mächtigste Säule beschwören, sein inneres Selbst aufzunehmen, bevor es im Strudel der Todesqualen zerrann. Er fühlte trotz des betäubenden Spinnengiftes, wie die ausgewürgten Verdauungssäfte seine Organe schmerzhaft zergehen ließen und hörte noch das saugende Geräusch, mit dem seine Überwinderin das halbflüssige Fleisch in sich einsog. Noch schaffte er es, die drei letzten auslösenden Gedanken zu denken, bevor die Todesqualen zu stark wurden. Er fühlte, wie eine unbändige Kraft ihn davonriß. Er vermeinte, seinen zergehenden Leib und das schwarze Ungeheuer noch unter ihn zurückfallen zu sehen, bevor ein mächtiger Ruck durch ihn ging und Schwärze ihn umschloß. Doch er verging nicht. Er fühlte Halt und auch die Nähe des Hüters, der dieses Erzeugnis seiner Macht für ihn bereitgehalten hatte.

"Meister, ihr seid bereits hier?" Hörte er die Gedankenstimme des Boten.

"Ja, ich mußte mein körperliches Dasein beenden. Ich habe die Gier und Schläue eines Weibes unterschätzt und wurde dafür bestraft. Gehe nun ein in jenen, der dein Sein tragen und weitergeben soll, bis du vier Leben aus alten Sippen zusammentragen und meine selbsterwählte Kerkerhaft beenden kannst, womit der Tag meiner Wiederkehr anbreche!"

"Danke, Meister!" Hörte er die erfreute Gedankenstimme seines Boten, der nun in einem Augenblick in den ungeborenen Leib eines Jungen fuhr, dessen Eltern zu Iaxathans engsten Getreuen gehörten. Doch nun, wo der Bote ausgeschickt worden war, wurde es dem finsteren König gänzlich klar, daß er sein eigener Gefangener sein würde, bis der Tag kam, an dem jemand sein Vermächtnis erbat und sich ihm damit ausliefern würde oder der von ihm ausgesandte Bodenbereiter die vier Nachfahren der alten Sippen zusammentreiben und deren Seelen an seiner Statt im Auge der Finsternis, dem dunklen Spiegel Iaxathans, einlagern würde. Mit dieser ärgerlichen Erkenntnis fühlte er, wie ihn die Starre der Überdauerung ergriff.

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Naaneavargia war im Moment halb Tier halb denkendes Wesen. Sie genoß die erste Beute, die sie in ihrer neuen Gestalt machte. Sie achtete nicht darauf, wie um sie herum die Blutsauger versuchten, sie mit Steinen zu treffen. Als dann die Sonne aufging schafften es nicht mehr alle rechtzeitig, in verdunkelten Räumen Zuflucht zu finden. Viele von ihnen verbrannten im Flug und regneten als schwarze Asche zu boden. Der Mitternachtsstein jedoch lag in der finsteren Festung. Einer der Nachtgeborenen traute sich, ihn zu berühren und gewann dabei ein vielfaches an Macht. Damit überdauerte der von Iaxathan erschaffene Stein den in wenigen Sonnen stattfindenden Untergang des Inselkontinentes, den seine Bewohner Altaxarroi, das Land der Herrschenden, genannt hatten.

Als Anthelia die Augen aufschlug fühlte sie die Auswirkungen dieses Traumes noch. Mit dem Anteil Naaneavargias in sich erkannte sie, daß es kein Traum war, sondern eine glasklare Erinnerung. Nur wie klar diese war hatte sie, wo Naaneavargia noch für sich existiert hatte, nicht erfassen können. Doch jetzt wußte sie, daß Iaxathan vor dem verdienten Ende noch einen geistigen Fluchtweg genommen hatte, der seine Seele in ein mit einem Splitter davon versehenen Gegenstand überführt hatte. Somit hatte die Riesenspinne damals nur seinen Körper einverleiben können. Auch mußte die neue Anthelia nun daran denken, daß der Mitternachtsdiamant, den Naaneavargia schon zu sehen bekommen hatte, den Untergang des alten Reiches überstanden hatte. Denn dieser Stein machte ihr und allen lebenden Menschen heute eine Menge Verdruß. Anthelia dachte daran, daß Naaneavargia den größten Dunkelmagier des alten Reiches gefressen hatte. Womöglich bestand eine ihrer Körper- oder Knochenzellen aus dem, was nach seiner Verdauung in Naaneavargias Organismus überführt worden war. Einen winzigen Moment überkam sie Ekel. Doch die mit ihr vereinte Seele Naaneavargias und die Vorstellung, den gefürchtetsten Dunkelmagier aller Zeiten besiegt zu haben, zauberten ein höchst triumphales Lächeln auf ihr Gesicht. Dann dachte sie:

"Wähne dich nicht zu gut behütet, kleines Steinchen. Ich habe dich deinem Schöpfer entwunden und werde dich auch deiner Aufbewahrerin entreißen."

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Es waren schon merkwürdige Leute, die das Landschulheim bei Pilsen betreuten, fanden Udo Hingsen und seine Klassenkameraden. Die hatten so dunkle Augen, als kämen die aus Südeuropa und lächelten nie. Außerdem kam es Udo so vor, als wenn die dicke Herbergsmutter, Frau Carlova, was gegen die Sonne habe. Und als die Duschen im Jungenflügel nicht gingen und ein herbeigerufener Klempner die Leitung wieder hinbekommen hatte, war die Alte vor dem niederrauschenden Wasser zurückgeschreckt, als sei es pure Salzsäure, und sie dürfe keinen Tropfen davon abkriegen. Auch ihr Mann war irgendwie merkwürdig drauf, tagsüber total mürrisch und irgendwie träge und gegen Abend immer besser gelaunt. Allen beiden war gemeinsam, daß sie bisher nicht ein einziges Mal gelächelt hatten. Ina, Udos Schwarm, hatte behauptet, daß die wohl noch auf sozialistische Einheitsgesichter gepolt waren. Daß der Hausangestellte der Carlovs ein wortkarger Kerl war nahmen alle irgendwie hin. Womöglich sprach er kein Wort deutsch oder hatte an Deutschland und die Deutschen üble Erinnerungen. Denn vom Alter her hatte der sicher den zweiten Weltkrieg noch live und in Farbe mitbekommen.

Die Jungen langweilten sich. Da waren sie schon in der Nähe der Hauptstadt guten Bieres und durften trotz ihrer siebzehn Jahre keinen Schluck Alk trinken. Für Udo, der als Sportlertyp eh eine gute Form haben wollte und keinen Bierbauch, war das nicht so tragisch. Aber für Hans, Richi und Dragan war das schon eine Zumutung, wo jeder für sich nach der Schule so manchen Sechserpack im Alleingang wegsaufen konnte. Aber sie waren in die tschechische Republik gekommen, um die verbliebenen Zeugnisse der Geschichte zu erkunden, Prag, die erhabene, uralte Hauptstadt, in der damals auch der dreißigjährige Krieg ausgelöst worden war, Karlsbad und eben Pilsen, die Bierstadt. Ihre Klassenlehrerin, Frau Korn, hatte ihre anstudierten Geschichtskenntnisse über sie alle ausgeschüttet und hoffte darauf, daß genug davon hängen bleiben würde. Jeder von den zwanzig Schülerinnen und Schülern sollte einen Tagesbericht mit den ganzen mitgelieferten Zahlen und Namen zusammenschreiben. Darüber hinaus wurden Fotos von den Sehenswürdigkeiten gemacht. Fehlte nur noch, daß Heiko, der auch Pavarotti gerufen wurde, weil er nach dem Stimmbruch schon als Opernsänger durchgehen konnte, alle Schlager von Karel Gott in Tschechischer Sprache nachzusingen hatte. Ina hatte Udo mal im Scherz drauf gebracht, den Prager Fenstersturz an Paul, dem Prediger nachzuspielen. Paul war ein Bibelfreak und bildete sich ein, der gottesfürchtigste Typ auf Erden zu sein. Einige riefen ihn deshalb "Papst Paul", andere "Jesus 2.0".

"Nachher macht der noch was, daß wir alle in die Hölle runterrutschen, und die hat auch 'ne Jungs- und 'ne Mädchenabteilung", hatte Udo darauf gesagt. Ina mochte Paul nicht, weil er sie immer, wenn die Temperaturen draußen über zwanzig Grad kletterten, wegen ihrer kurzen Klamotten runterzuputzen meinte.

"Hast du Angst vor dem Möchtegernpapst?" Fragte Ina.

"Vor dem selbst nicht. Aber wegen den zwei Verweisen will ich mir nicht ausgerechnet im Ausland was anhängen lassen, womit die mich von der Penne schmeißen können, Ina", hatte Udo verächtlich geantwortet. So überließ er es den anderen Jungen, Paul zu piesacken und die Höllenfahrtstiraden und Bußrufe dieses armen Irren auszuhalten. War sowieso 'ne Clique für sich, Paul, Johnny und Boris. Der eine der totale Bibeltyp, der zweite ein verhinderter Wissenschaftler und der Dritte ein Geschichtsstreber, Kornis williger Nachläufer. Der hatte den Prag-Aufsatz schreiben dürfen und damit wohl allein so viel abgeliefert, wie die anderen zusammen. Die bewohnten eine Bude. Wer wollte auch mit einem Papst, einem Eierkopf oder einem wandelnden Geschichtsbuch zusammen in einem Raum liegen?

"Hey, Paul, denk ans Zölibat!" Rief Richi spöttisch, als Paul gerade mit Judith und Melanie zusammenstand.

"Paß auf deine eigene Seele auf, Richard", schickte Paul zurück. Richi lachte albern und sagte, daß er sowas nicht habe.

"Wunder dich dann aber nicht, wenn du vor dem Herrn stehst und gesagt bekommst, daß du doch eine hast", antwortete Paul. Dieses Geplänkel gehörte zu den üblichen Nickligkeiten der Klasse. Udo langweilte das schon. Wenn Paul meinte, sich an Melanies sündigen Schenkel dummglotzen zu müssen oder sich mit Judith über die Frage nach der Rückkehr zur christlichen Werteordnung in postkommunistischen Staaten austauschte, sollte der doch. Ihn interessierte viel mehr, wie der alte Hausdiener das gerade anstellte, die schwere, weil randvolle Regentonne so leicht anzuheben, als wenn da kein Wasser drin wäre. Da gingen doch sicher zweihundert Liter rein, machte also schon mal so um die zweihundert Kilo Wasser. Udo sah Ina an und deutete auf den Wasserträger. "Kuck dir das an. Kein Hauch von Muckis und der schleppt 'ne volle Tonne weg wie'n Sack Federn. Ist der bionisch oder'n Alien?"

"Frag den doch, wie der das macht", erwiderte Ina schnippisch. Ihre stahlblauen Augen glotzten jedoch voller Bewunderung auf den kleinen, hageren Mann mit dem grauen Schopf, der die randvolle Regentonne ohne Anstrengung hinter das große alte Landhaus schleppte, das zur Zeit von Österreich-Ungarn der Sommersitz eines böhmischen Grafen gewesen sein sollte, laut Korni und Boris.

"Ich will wissen, was der einschmeißt, um so topfit zu sein", knurrte Udo. Er war zwar kein Bodybuilder, weil er Schnellkraft höher schätzte als Maximalkraft. Doch wenn da einer, der viermal so alt wie er war und absolut nicht nach Arnold Schwarzenegger aussah, zweihundert Kilo und mehr rumschleppen konnte, mußte er das wissen. Hoffentlich gab der sich keine nur im Osten zu kriegenden Anabolika, wie sie die Sportler aus Rußland klammheimlich einwarfen. Doch als Udo den Hausangestellten fragte, wie das ging, tat der wieder mal so, als könne er nicht reden. Statt dessen deutete er mit seinem Kopf auf das Haus, wo gerade Carlov herauskam und die Jungen anhielt, sich nicht zu nahe mit den Mädchen zu befassen. Das brachte dem von Paul ein zustimmendes Nicken ein. Die Klassenlehrerin bekam das mit und fragte, was vorgefallen sei. Udo war froh, im Moment nicht am Tatort zu sein. Doch der alte Hausangestellte erinnerte ihn mit einem deutlichen Fingerstupser in die Seite, daß er ihm im Weg stand. Udo wollte jedoch noch einmal in die Tonne hineinsehen, ob da wirklich Wasser drin war. Er folgte dem Hausangestellten bis in den Garten, wo die Regentonne in ein Auffangbecken für Regenwasser umgefüllt wurde. So konnten die Carlovs das Frischwasser sparen, wenn sie das eigene Gemüse und die Obstbäume bewässern wollten. Udo sah, daß wirklich Wasser aus der Tonne lief und beschloß, sich nicht mit einem sprachunwilligen Kraftprotz anzulegen. Aber er würde ihn ab heute weiter beobachten.

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Die erste der drei Wochen war rum. Udo fühlte sich nicht sonderlich wohl. Irgendwie kam ihm das Sonnenlicht heller vor, und wenn er aus der Dusche kam fühlte er sich total schlaff, als habe ihm das Wasser Kraft abgesaugt. Außerdem stellte er fest, daß er immer wieder Heißhunger auf rohes Fleisch hatte. Die Carlova kochte gerne und vor allem viel mit Gemüse. Aber wenn sie in der Küche ein Suppenhuhn zurechtschnippelte, ertappte sich Udo dabei, wie er schon auf dem Weg zur Küche war, um sich an dem ihm in der Nase kitzelnden Geflügel was abzuzweigen, bevor es gekochtt wurde. Er stellte fest, daß auch die anderen immer mehr der Sonne aus dem Weg gingen, obwohl die jetzt, wo es knapp vor den Osterferien war, noch nicht so heftig schien wie im Sommer. Zumindest fühlte sich das von den Temperaturen her nicht so an. Doch wenn Udo im kurzen Turnzeug seine Runden auf dem hauseigenen Sportplatz drehte, meinte er, jeden einzelnen Strahl wie auf der Haut kribbeln zu fühlen. War das noch normal?

Merkwürdigerweise wurde er dann, als die Sonne unterging immer wacher, und sein Hunger auf rohes, bluttriefendes Fleisch stieg an. Er fragte seine Klassenkameraden, ob die auch so seltsames Zeug fühlten. Richi meinte, die Sonne in Böhmen sei wohl stärker als in Köln, wohl weil sie näher an ihrem Aufgangsort wären. Zumindest kam sie ihm heller vor. Er verwies ihn an Johnny, den Wissenschaftscrack. Udo mochte es zwar nicht, ihn wegen was ansprechen zu müssen, aber dieser Zustand beunruhigte ihn.

"Sonnenlichtunverträglichkeit rührt vielleicht von Hautirritationen her", erzählte Johnny ihm im Stil eines Uni-Professors. "Hast du beim Duschen was verwendet, was die anderen nicht benutzen?"

"Nix, was die andren nicht auch haben. Allerdings denke ich, die haben was ins Wasser reingemixt. Machte mich heute morgen ziemlich platt. Könnte so'n Reinigungszeug ähnlich wie Chlor sein."

"Das ist bedauerlich, daß ich meine Chemieausrüstung nicht mitnehmen durfte", erwiderte Johnny. "Sonst hätte ich das Wasser analysieren können."

"Ina hat erzählt, daß ihr auch nicht so wohl war, wie sie aus der Dusche kam. Die hat auch Probs mit der Sonne."

"Ich höre mich um, ob die alle hier diese Probleme haben", sagte Johnny. "Aber interessant ist es schon. Ich habe das ja mitbekommen, wie der Klempner die Dusche reparierte und unsere Herbergsmutter vor dem fließenden Wasser zurückgezuckt ist, als könne es sie verbrühen oder verätzen. Hoffentlich ist in den Leitungen kein Krankheitserreger."

"Wegen der alten Rostrohre, meinst du. Dann kriegen die Tschechos aber tierischen Ärger."

"Na ja, in manchen Schwimmbädern, auch im Westen, können sich in den Klimaanlagen Legionellen einnisten, ein gefährliches Bakterium. Ich lese mich gleich mal über die Symptome schlau."

"Du und dein Schlepptop", feixte Udo. "In zehn Jahren hast du einen implantiert mit Internetanschluß und so."

"Das dann hoffentlich nicht, weil wir dann alle dazu verpflichtet werden könnten, derartige Implantate zu tragen, ähnlich diesen Borg aus Star-Trek."

"Widerstand ist zwecklos. Ihr werdet assimiliert", konnte Udo darauf nur mit bedrohlich klingender Stimme erwidern. Johnny verzog das Gesicht. Er hielt mehr von ernster Science als von haarsträubender Fiction. Zumindest gab er das immer wieder zum besten, wenn die anderen Jungs ihn zu den Sachen aus Star-Trek oder Perry Rhodan fragten, wann dieses oder jenes ginge, ob es in echt keinen Hyperraum geben könne und wozu sie dann überhaupt lebten, wenn sie eh nicht aus dem Sonnensystem rauskämen. Udo kannte und wußte das und beließ es entsprechend bei seinem Zitat.

"Wobei es schon genug Gründe für die Erforschung implantierbarer Technologie gibt, wie zur Wiederherstellung verlorener Sinnesorgane oder Heilung von Querschnittslähmung", fing Johnny nun an, über das Thema Mensch-Maschine-Verkopplung zu dozieren. udo erwähnte noch den alten Hausdiener und die Kraftnummer mit der Regentonne.

"Ich denke nicht, daß der Hausdiener künstliche Arme hat. Womöglich mußte er nur immer schon größere Lasten bewegen und hat eine entsprechend verteilte Muskulatur."

"Ich kriege das auch so raus, wie der das macht", grummelte Udo.

"Wie erwähnt lese ich mich über alle Formen von Sonnenlichtunverträglichkeit noch mal klug", sagte Johnny. Da kam Paul, sein bibelfester Bettnachbar herein.

"Oh, hat unser Verehrer des Götzen Fußballs sich in der Zimmertür geirrt?" Fragte Paul leicht verächtlich.

"Nöh, wollte was von Doc Laptop. Kannst also ohne mich zur Nacht beten."

"Das würde dir auch sehr gut tun, dich dem Herren wieder anzuvertrauen, Udo. Gerade wer ihn ständig versucht sollte sich seiner Gnade versichern."

"Amen!" Knurrte Udo und verließ das Zimmer mit den zwei Etagenbetten, das aber nur von drei Jungen bewohnt wurde.

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Udo mmerkte in den nächsten Tagen, daß das mit der Sonne immer schlimmer wurde. Johnny und die anderen fühlten jetzt auch, daß die heller schien. Aber bei ihm war es wohl am heftigsten. Er wäre einmal fast umgefallen, als er sich morgens geduscht hatte. Auch wurde sein Verlangen nach rohem Fleisch immer größer. Johnny und Paul standen immer wieder beisammen und ergingen sich in wilden Debatten. Offenbar stritten die beiden, die sich sonst nicht ins Gehege kamen über etwas grundsätzliches. Die Schüler mieden die Sonne oder zogen sich dicke Kleidung und Hüte an. Selbst die bei Frühlingswetter so zeigefreudige Ina trug lange Hosen und langärmelige Oberteile. Paul zückte immer wieder sein silbernes Kreuz, daß er von seinem Großonkel, einem Gemeindepfarrer, zur Kommunion bekommen hatte und betrachtete es, als könne ihm das religiöse Schmuckstück verraten, was um und mit ihm passierte. Merkwürdigerweise dachte Udo, als er das sah, daß ein Kreuz Vampire vertreiben oder bei Berührung sogar verbrennen konnte und daß Vampire kein Sonnenlicht vertrugen. Wie abgedreht man schon denken konnte! Doch Udo konnte es sich auch nicht erklären, warum er die Sonne nicht mehr länger als nötig aushielt und warum er so auf rohes Fleisch Hunger hatte, vor allem, wenn er an das Blut dachte, das daran klebte. Aber an Vampire glaubte er nicht. Sowas gehörte in die Gruselecke oder irgendwo weiter östlich von hier in die rückständigen Dörfer der Karpaten.

"Du säufst hier das Wasser weg wie ein verdurstender Ochse", bemerkte Richi mal wieder, weil Udo nach mehreren Runden Dauerlauf und Konditionstrining wieder einen Liter Wasser auf Ex in sich hineinschüttete.

"Mein Motor läuft heftiger als der von euch anderen. Da muß der immer gut gekühlt und gefüttert werden", knurrte Udo.

Am Abend fühlte sich Udo so frisch und munter, als habe er mehrere Rollen Traubenzucker plus Iso-Drinks eingeworfen. Sobald die Sonne fort war kam er sich so vor, als könne er Bäume ausreißen. Doch da war wieder dieser Hunger. Zum Abendessen hatte es Steaks gegeben. Niemand hatte protestiert, weil mehrere davon halbroh waren. Alle hatten zugelangt und die Fleischportionen weggefuttert wie ein Rudel Wölfe nach sibirischem Winter. Und jetzt war Udo wieder hungrig, oder war es eher Durst? Er war jedenfalls nicht müde. Er schlich zur Küche. Eigentlich durfte er dort nicht hin. Doch das kümmerte ihn gerade nicht. Er brauchte noch nicht einmal Licht. Das von draußen hereinsickernde Mondlicht reichte ihm völlig aus. Er betrat die Küche, in der trotz der nachgerüsteten Abzugsvorrichtungen immer noch ein anregender Hauch von gebratenem Fleisch hing. Er schlich an den zwei gewaltigen Kühltruhen vorbei, blickte über die drei großen Herde, auf denen kübelgroße Kochtöpfe aufgesetzt werden konnten und tastete mit seinem Blick die verschlossenen Gewürz- und Lebensmittelschränke ab. Dann sah er die Tür, die in die Vorratskammer führte. Irgendwas dahinter roch so, als müsse er dorthin. Er schlich so leise er konnte auf die Tür zu und öffnete sie.

Es war ein fensterloser Raum. Außer dem durch die Küchenfenster dringenden und von den Wänden silbriggrau widerscheinendem Mondlicht drang nichts an Licht in diesen Raum vor. Udo sog laut Luft in seine Nase ein. Dann schnupperte er wie ein neugieriger oder jagender Hund. ER folgte dem ihn immer mehr anregenden Geruch bis zu einer Nische. Hinter mehreren Stapeln Salz- und Mehltüten sah er den kleinen Blecheimer. Was machte der hier? Er ging näher heran und erkannte, daß der Eimer bis zu zwei Dritteln mit einer dicken, dunklen Flüssigkeit gefüllt war. Udo fühlte sein Herz schneller und kräftiger Schlagen. Der Geruch und das Aussehen sagten es ihm überdeutlich. In dem Eimer war Blut, dem Geruch nach das, was am Abend noch an den Steaks gehaftet hatte. Sicher hatte die alte Herbergsmutter die Rinderstücke frisch vom Metzger bekommen und in den Eimer abtropfen lassen. Und jetzt war das ganze ... herrliche ... Blut in diesem Eimer. Was wollte die noch damit? Warum stand der Eimer unverschlossen in der Vorratskammer? Udo verdrängte die Frage, weil ihn der Anblick und der Geruch immer mehr berauschten. Er bekam es nur am Rande mit, wie er sich auf die Knie fallen ließ, zu dem Eimer hinkrabbelte und seinen Kopf hineinsteckte, um von einer bisher selten gefühlten Gier übermannt daraus zu trinken. Er fühlte, wie das halbgeronnene Naß durch seine Kehle floß und ihn wie eine Aufputschdroge erfüllte. Keinen einzigen Gedanken verschwendete er daran, daß er hier gerade etwas verbotenes, etwas für ihn früher undenkbares tat. Erst als der Eimer zur Hälfte leer war hielt er inne. Denn nun erkannte er, daß er den Behälter ankippen mußte, um weiterzutrinken. Diese Erkenntnis ließ ihn darüber nachdenken, was er da gerade tat. Er erschauderte. Wenn ihm das wer vor zwei Wochen gesagt hätte, daß er einen Blecheimer Rinderblut leersaufen würde, er hätte ihm voll eine reingehauen. Doch nun hatte er es wirklich getan, und sogar genossen, ja neue Kraft dadurch erhalten. Das war doch absolut nicht normal! Er war nicht mehr normal! Irgendwas passierte da mit ihm. Oder war es schon passiert? er dachte wieder daran, wie er es weit von sich gewiesen hatte, daß es die Vampire aus den Grusel- und Horrorgeschichten gab. Aber gerade eben hatte er sich selbst so verhalten und gefühlt wie einer, und der anblick des restlichen Blutes löste auch keinen Ekel, sondern immer noch ein Verlangen aus. Doch sein Verstand kämpfte gegen diese Begierde an. Das war doch krank, was er da tat! Er hatte sich irgendwas eingefangen, daß ihn verändert hatte. Er riß sich vom Anblick des noch nicht ganz leeren Eimers los, sprang auf die Füße und stürzte aus dem Vorratsraum hinaus. Er dachte nicht daran, leise zu machen. Erst als er im Flur war und einen Moment im dunkeln stand blieb er stehen und lauschte. Er hörte Stimmen und Geräusche aus den Zimmern. Doch die waren im anderen Trakt des alten Landhauses. Hier gab es nur die Küche, den Speise und Aufenthaltsraum. Wieso konnte er hören, was Richi gerade zu Heiko sagte? Sie sprachen über Angie und Ruth, die beiden Topmodels aus der Klasse, die sich aber für die Jungs aus der dreizehnten Klasse erwärmten. Die Leidenschaft, mit der Richi Angies schlanken Hals beschrieb, brachte Heiko dazu, von ihren Brüsten zu schwärmen. "Mann, bei der wäre ich gerne'n Baby. Jeden Tag dran nuckeln und alles raussaugen, was da reinpaßt, und das ist viel."

"Joh, du alter Vielfraß, sähe dir ähnlich", erwiderte Richi, mindestens fünfzig Meter und durch mehrere Wände von Udo Hingsen getrennt. Er lauschte und hörte Angie, über die gerade gesprochen wurde, mit Ina über ihn, Udo reden. Ina beichtete Angie, daß sie darauf lauerte, mit Udo heimlich ins Bett zu steigen. Sie wolle ihren siebzehnten Geburtstag nicht als Jungfrau erleben. Aber offen zu ihm hingehen und ihn fragen wollte sie nicht, weil sie ihm das Gefühl geben wollte, sie dazu überredet zu haben und sich als toller Mann fühlen zu können. Sie wollte nicht als billige Nutte rüberkommen.

"Nur weil der Typ so stramme Arme und Beine hat und auch bestimmt richtig lange durchhielte tu ich mir so'n Bubi nicht an, Ina. Ich will einen erwachsenen Mann haben, der klar hat, was im Leben läuft."

"Will sagen, einen der schon hundert Jahre alt ist", feixte Ina. "Oder glaubst du echt noch, daß Männer erwachsen werden. Wenn ich mir meinen Großvater anguck, der mit über sechzig noch ein Porsche Cabrio haben mußte und davon schwärmt wie Richi von seinem Mofa weiß ich zumindest, daß Jungs immer Jungs bleiben."

"Und, aber was wissen und können sollten die schon außer dran zu denken, wie sie uns rumkriegen, sofern das bei so Dingern wie dir überhaupt nötig ist."

"Hahaha, wackelst mit deinen Dingern und deinem Hintern rum und hältst mich für leicht zu kriegen. Wenn dir wer 'n Haus mit großem Auto zum viel Einkaufen anbietet machst du sicher schon die Beine auseinander, blöde Gans!"

"Gut jetzt, ihr zwei, bevor hier noch Federn fliegen", maulte Lisa, die dem erst schwärmerischen und dann zickigen Gespräch der beiden Mädchen wohl zugehört hatte. Udo fand jetzt wieder zurück in seine eigene Gegenwart. Er konnte Leute hören, die weit weg waren. Er hatte gerade mehrere Liter Tierblut getrunken, ohne sich davor zu ekeln. Er Vertrug keine Sonne mehr, und jetzt viel ihm ein, daß den Geschichten nach Vampire auch nicht in fließendes Wasser geraten durften. Das unterschied sie von den Werwölfen, die tagsüber ganz normal rumlaufen konnten. Aber wenn er echt zu einem Vampir geworden war oder noch wurde, dann hätte den doch so einer beißen müssen. Er befühlte seinen Hals. Doch er fand keine nebeneinanderliegenden Pickel, die auch Bißwunden sein konnten. Dann erinnerte er sich, daß Vampire sich auch nicht im Spiegel sehen konnten und lief ins Badezimmer.

Aus dem Spiegel über dem ersten Waschbecken rechts starrte ihn eine blutverschmierte Fratze an. Dieser Anblick erschreckte ihn erst. Doch dann freute er sich irgendwie, sein Gesicht zu sehen. Aber dann war er doch kein Vampir. Er beleckte seine oberen Zähne. Da waren keine Unebenheiten, seitdem er vor zwei Jahren die letzte Zahnspange hatte rauslegen und weit fortwerfen dürfen. Er grinste sich selbst zu. Außer daß seine Zähne noch leicht blutverschmiert waren hatte sein Gebiß nichts von Dracula & Co. an sich. Doch er wurde das Gefühl nicht los, daß irgendwas in ihm war, daß ihn diese vampirtypischen Sachen fühlen und nachmachen ließ. Doch zuerst mußte er sich das Rinderblut aus dem Gesicht waschen. Er zog den Hebel des Wasserhahns nach oben. Laut rauschend stürzte ein Miniwasserfall in das relativ neue Waschbecken und verschwand gluckernd im Abfluß. Udo hielt sein Gesicht an den kalten Wasserstrahl und fühlte, wie es ihn anwiderte, sein Gesicht hineinzuhalten. Er fühlte, als er das Wasser über seine Nase und vor allem über seinen Mund laufen ließ, wie etwas ihm ein ganz leichtes Schwindelgefühl bereitete. Er keuchte, als habe er gerade einen 2000-Meter-Lauf abgehandelt. Er fühlte sich matter als vor einer Minute noch. Der Gedanke, noch einmal in die Vorratskammer zu schleichen und den Rest des Blutes zu trinken piesackte ihn. Doch er verdrängte ihn am Ende. Er fragte sich, wie er sich diese Krankheit oder was es war eingehandelt hatte. Dann erkannte er, daß er nicht alleine verändert wurde. Alle anderen veränderten sich auch, Richi, Heiko, Ina, Angie. Denn sie alle mieden die Sonne. Also wirkte das Virus oder was es war schon in jedem. Nur er hatte erkannt, was es war, beziehungsweise, was es mit ihm anstellte. Er fragte sich nun, ob der Vampirglaube daher kam, daß es eine solche Krankheit gab und das das andere dazuerfunden wurde, um zu zeigen, daß das alles vom Teufel stammte. Er verließ das Badezimmer für Jungen wieder. Er hörte Paul das Vaterunser beten, inbrünstig und flehendlich. Vor allem die Stelle: "Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen!" betete er in einem Ton, als wolle er um Gnade winseln. Johnny motzte ihn an, daß er damit aufhören solle. Udo lief zum Zimmer des ungemochten Trios und klopfte an, obwohl es schon nach der Bettzeit war.

"Der Typ behauptet, wir wären alle von Vampiren verseucht und würden bald dem Satan geopfert oder so", knurrte Johnny. "Sicher ist das Zeug, was die uns in das Wasser getan haben skandalös. Aber wenn es die Vampire gäbe, die Stoker und andere Phantasten sich ausgedacht haben müßte der Papst da schon längst von seinem eigenen Silberkreuz verbrannt worden sein."

"Howk, quod erat demonstrandum", grummelte Boris, das lebende Geschichtsbuch. "Womöglich haben wir uns alle ein Virus eingefangen. Ähm, du siehst auch so aus, als hättest du dich mit wem angelegt. An deinem Hals klebt blut." Wie Boris das sagte und wie er Udo dabei ansah ließ den Sportlertypen erschauern. Hatte er sich nicht gründlich genug gewaschen? Paul betete weiter das Vaterunser. Doch auch sein Blick klebte an Udos Hals. Der Nachtwanderer strich sich mit dem Zeigefinger darüber und fühlte etwas klebriges, krustiges. Er führte den Finger vor sein Gesicht und sah, daß Boris recht hatte. Dann leckte er sich den Finger ab und fühlte ein gewisses Unbehagen. Das schmeckte schon nicht mehr wie das frische Rinderblut. Johnny und Boris starrten Udo an und machten Anstalten, auf ihn zuzuspringen. Doch im letzten Moment verharrten sie. Johnny sagte rasch:

"Wir müssen morgen früh alle in Quarantäne. Wenn es ein psychoaktives Virus ist, daß uns blutgierig macht, müssen wir einzeln isoliert werden, bevor wir uns gegenseitig anfallen. Paul, ist gut jetzt! Dein himmlischer Vater hört dich nicht!"

"Satans Saat, wir werden dem Leibhaftigen verfallen, zu seinen Sklaven werden und unsere Seelen für immer unter das Joch der Hölle verlieren", wimmerte Paul und drückte sich das silberne Kreuz an die Stirn.

"Das Ding hilft dagegen nicht, Papst. Wenn wir echt Vampire würden hättest du jetzt ein Brandmal oben wie Mina Harker", stellte Boris fest und spulte ohne Anfrage alles herunter, was die Geschichtsschreibung über Vampirismus festgehalten hatte. Johnny legte noch damit nach, daß es Lichtallergien gab, wie die Xeroderma pigmentosa oder die Porphyrie, dies aber nicht mit gesteigertem Verlangen nach Blut oder einer Scheu vor fließendem Wasser einhergehe und sie am besten alle mit ihrer Lehrerin in eine Seuchenstation eingewiesen gehörten.

"Das ganze Haus hier gehört niedergebrannt. Wer weiß, ob hier nicht die Nazis mit irgendwelchen Viren experimentiert haben, um nachtaktive Soldaten zu züchten", spekulierte nun Boris auf einer anderen, eigentlich ebenso absurden Ebene. Johnny wagte es nicht ganz abzustreiten. Denn Hitlers skrupellose Ärzte hatten so manche Verbrechen an Menschen verübt, um Krankheiten zu erforschen, Medikamente möglichst schnell herzustellen oder einfach ihre krankhafte Weltanschauung von vorherrschenden Menschenrassen durch medizinische Versuche zu bestätigen. Da klopfte es wieder an der Tür. Alle waren schlagartig ruhig. Frau Korn kam herein. Sie wirkte kreidebleich und sah die vier Schüler erst tadelnd an, um dann, nachdem sie einmal tief durchgeatmet hatte, Udo anzulächeln. Dieser sah genau, daß die Lehrerin für Geschichte und Erdkunde etwas überstehende Eckzähne besaß, nicht überragend, aber auf Grund der bisherigen Überlegungen schon auffällig.

"Ihr braucht keine Angst zu haben", sagte sie, nachdem sie die Tür geschlossen hatte. "Was uns passiert wird uns stärker machen als alle anderen. Wir dürfen uns freuen. Wir sind die ersten Kinder einer neuen Zeit." Die vier Jungen starrten sie verblüfft an. Paul hielt ihr das silberne Kreuz entgegen. Doch sie grinste darüber nur.

"Wenn es dir nichts tat macht es auf mich auch keinen Eindruck, Paul. Du wirst genauso wie Johannes erkennen, daß vieles von dem, was sich mehr oder weniger talentierte Schriftsteller ausgedacht haben, nur auf der Annahme basiert, daß es einen klaren Gegensatz zwischen Gut und Böse zu geben hat und das Gute nur durch den Gott der Christen verkörpert wird. Oder denkt ihr echt, daß es nur diesen einen Gott gibt."

"Du bist bereits eine Dirne des Satans", rief Paul und warf der Lehrerin das Kruzifix ins Gesicht. Doch außer, das es Frau Korn an der linken Wange traf und dann auf den Boden fiel passierte nichts.

"Setzen, sechs!" Schnarrte Frau Korn mit triumphalen Lächeln. "Du hast mir nicht zugehört und das gehört sich nicht."

"Was sagten Sie, daß wir Kinder einer neuen Zeit würden?" Fragte Johnny. "Soll das heißen, Sie und wir unterliegen einem gezielten Umwandlungsversuch, einer durch virulenten Stoff erfolgenden Mutation unserer DNS?"

"So verhält es sich, die jungen Herren. Wir alle durften die ersten wirklich erfolgreichen Testkandidaten eines neuen Verfahrens werden, mit dem die Welt um eine neue Rasse bereichert wird, die unabhängig vom Licht existieren kann, stärker ist als jeder gewöhnliche Mensch und vor allem, unverwüstlich und langlebig."

"Ich will so nicht sein. Ich will meine Seele nicht dem Höllenfürsten darbringen!" Rief Paul. "Gott der Herr wird mich vor dem Fluch bewahren."

"Allein schon, daß du das Wort "Gott" aussprechen kannst sollte dir zeigen, daß dieses Gerede von dem Teufel und seiner Hölle blanker Unsinn ist. Denn in euch allen reift die Saat. Ihr könnt es nicht mehr aufhalten. Udo und ich werden die ersten sein, die die neuen Kinder sein werden. Schon morgen nacht werden wir beide zu ihrem Reich gehören. Und ihr werdet folgen, durch das neue Verfahren oder auf die althergebrachte Weise", schnarrte die Lehrerin. Dann schien sie in sich hineinzuhorchen. Sie nickte und sagte dann noch: "Wir bleiben morgen alle hier. Sie will, daß wir alle den neuen Weg zu Ende gehen, um zu ermitteln, ob es wirklich funktioniert."

"Wer Sie, Lilith, die Mutter der Dämonen?" Fragte Paul. Frau Korn grinste und zeigte, daß ihre Eckzähne in der Zeit, in der sie sprach eine Winzigkeit länger geworden waren. Die Vampirwandlung schritt in ihr voran. Auch Udo fühlte nun einen sachten Druck in seinem Oberkiefer. Noch waren seine Zähne gleichlang. Doch er wußte nun, daß das nicht so bleiben würde.

"Sie ist unsere Mutter und Königin, die Herrin von Nocturnia, dem Reich ohne Grenzen", antwortete die Lehrerin. "Ihr werdet sie alle in euch hören, wenn ihre Gabe in euch die volle Kraft entfaltet hat."

"Niemals!" Rief Paul und sprang zum Fenster. Das Zimmer lag im zweiten Stock. Paul wollte sich sicher umbringen. Doch die Lehrerin sprang an Udo vorbei und packte den Schüler mit einer Hand. Sie riß ihn zurück und versetzte ihm einen gezielten Kinnhaken.

"Spätestens in drei Tagen wirst du deine Torheit bedauern, Paul Hofmeister. Ruhe dich aus und ..." Johnny sprang vom Bett auf und versuchte, die Lehrerin anzugreifen. "Ich lass mich nicht von irgendwelchen wahnhaften Kurpfuschern für ethisch verwerfliche Versuche heranziehen", schnarrte er. Udo sah, wie der sonst eher schmächtige als sportliche Junge sich in einen regelrechten Ringkampf hineinsteigerte und versuchte, die Klassenlehrerin niederzudrücken. Udo fühlte das Verlangen, Johnny zu helfen. Doch dann dachte er, daß er lieber ihr helfen sollte. Die beiden miteinander streitenden Gedanken hielten ihn zurück. Boris beobachtete den Kampf, bis Johnny einen Handkantentreffer an die Stirn kassierte und ohnmächtig wurde.

"Sie hat uns ausgesucht, und ich soll euch helfen, mit mir zusammen in ihr neues Reich einzutreten. Udo, du kommst mit mir! Sie hat mir gesagt, daß du die Probe schon bestanden hast. Deshalb sollst du diese Nacht nicht zu den anderen zurück. Der Versuch darf nicht verfremdet werden."

"Ich sehe es ein, daß Sie stärker sind, Frau Korn", tat Boris unterwürfig. "Ich bitte Sie nur darum, uns mehr über diesen Versuch zu erzählen, bevor wir uns zu irgendjemandem bekennen sollen, den wir nicht kennen."

"Wie erwähnt wirst du es fühlen, wenn ihr Erbe in dir ganz erwacht und du sie in dir hören kannst, Boris. Bis dahin verhaltet euch ruhig." Da hörten sie ein lautes summen und sahen, wie vor dem offenen Fenster eine massive Stahljalousie herabglitt. Udo hörte, daß überall im Haus dieses Geräusch erklang. Boris starrte auf den Rolladen, der nach dem herablassen laut klickend im Mauerwerk verankert wurde. Das Fenster war versperrt. Damit war klar, daß eine Flucht nicht mehr gelang.

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Das rote Licht, das sie aus kleinen Deckenleuchten anstrahlte, wirkte wie Kohlenglut. Die beiden Frauen, die in diesem versteckten, weitläufigen Labor herumgingen, wirkten bei dieser Beleuchtung wie blutrote Gespenster. Ihre Laborkittel gaben das auf sie treffende Licht zu fast 100 Prozent zurück. Ihre sonst bleichen Gesichter wirkten wie unter hohem Blutdruck. Dabei war der Lebenssaft der beiden eher weiß. Um sie herum gluckerten, summten, brodelten und säuselten Apparaturen und Retorten. Regale voller Reagenzgläser, Glaskolben und Destillationsvorrichtungen säumten die Wände. In der Mitte stand eine steinerne Arbeitsbank mit Gas- und Wasseranschlüssen. In einer Ecke säuselte das Kühlgebläse eines Computers, über den viele Meßergebnisse liefen, verrechnet und/oder gespeichert wurden.

"Du wirst wohl jeden Tag zehn Liter Blut trinken müssen, um die Menge Eigenblut verschmerzen zu können, die für dein Projekt nötig ist, Mutter", sagte eine der Frauen, die vom Alter her auch als Schwester der zweiten durchgehen mochte. Doch das war ein Trugschluß. Denn jene, die als Mutter angesprochen worden war, lebte schon seit über dreihundert Jahren. Doch äußerlich sah sie wie eine Frau Mitte dreißig aus, ähnlich wie Elvira Vierbein, die Frau, die gerade gesprochen hatte. Allerdings war Elvira erst seit einem Jahr Griselda Hollingsworths neue Tochter, eine Tochter der Nacht, eine Vampirin. Griselda, die sich nur mit Mutter oder Mylady Nyx ansprechen ließ, nickte ihrer Gesprächspartnerin zu.

"Solange diese Umhüllung tatsächlich nur bei Menschen wirkt bin ich bereit, von meinem Blut zu geben", sagte Lady Nyx. "Wieviele von denen hast du mit dem Mittel behandelt?"

"Alle auf unterschiedliche Weise. Arnold bringt gleich noch die Endergebnisse der Versuchsreihe", erwiderte Elvira. "Aber wir können schon prognostizieren, daß eine Gesamtaufnahme von insgesamt 20 Gramm den Umschlagpunkt bezeichnet. Wenn wir mit der Mixtur aus einem Liter Blut 100 Gramm Agens erstellen können heißt das, daß du fünf Menschen damit erfolgreich einbürgern kannst." Nyx lächelte nun auch und entblößte damit auch ihr Vampirgebiß.

"Das mit dem Körpergewicht hast du beheben können?"

"Das Mittel wirkt nun als eine Art Virus. Es reproduziert sich im Wirtsblut selbst. Allerdings kann erst die gesamtaufnahme von 20 Gramm den Umschlag unumkehrbar machen. Vorher mußten wir noch fünf Gramm pro Kilogramm Körpergewicht ansetzen. Aber durch die Selbstvermehrung des Wirkstoffes ist das nicht mehr wichtig. Allerdings muß jeder Neubürger in ununterbrochener Folge davon einnehmen. Sonst besteht die Gefahr einer Adaptation und möglicherweise Immunität."

"Gut, wenn auch nur einer in einer Ansiedlung wunschgemäß darauf anspricht kann der als Direkteinbürgerungshilfe eintreten", erwiderte Nyx darauf. Elvira nickte. Dann schritt sie noch einmal die aufgebauten Apparaturen ab. Für die beiden Vampirinnen reichte das rote Licht völlig aus, um selbst die kleinsten Veränderungen zu erkennen. Außerdem schonte diese Beleuchtung die empfindlichen Eiweißstoffe, mit denen Elvira experimentierte. Vier Monate Arbeit zahlten sich nun aus. Nyx hatte immer wieder Obdachlose und Straßenkinder in verschiedenen Teilen der Welt restlos leergesaugt, um genug Eigenblut zu bilden, um ihr verhängnisvolles Mittel herstellen zu lassen. Jetzt, wo es so wirkte wie sie wollte, konnte sie sich etwas zurücknehmen, womöglich auch weitere eigene Abkömmlinge erschaffen. Der durch den weiten Kittel gerade nicht sichtbare Bauch der Vampirlady war stark gerundet. Immer wieder, wenn sie neues Blut saugte, quoll der in ihr verborgene Mitternachtsdiamant an und bereitete ihr Unannehmlichkeiten. Doch immer, wenn sie von ihrem eigenen Blut abgab und fühlte, wie ihr wichtigster Besitz dabei pulsierende Ströme in sie aussandte, schrumpfte der Stein auch wieder. Es war eine besondere Beziehung, die sie zu diesem Stein hatte. Anfangs hatte die ihm innewohnende Wächterseele es verabscheut, im Körper einer Frau zu stecken. Doch dann hatte die Wächterseele es begrüßt, einen ausführenden Körper zu besitzen und hatte sich mit seiner Trägerin zu dieser dunklen Symbiose verbunden. Das war für Nyx nicht immer nur angenehm. Wenn sie in Todesgefahr geriet, versteinerte sie einfach. Wenn sie eigene Kraft schöpfen wollte, mußte sie doppelt so viel Blut saugen, weil der Mitternachtsdiamant ihr die darin steckende Kraft absaugte. Doch nun, wo Nocturnia von einer reinen Idee zur greifbaren Wirklichkeit geworden war, zahlte sich die im Mitternachtsdiamanten gelagerte Kraft aus.

ein leises Knacken erklang, und aus einem Lautsprecher klang die Stimme eines Mannes. "Elvira, jetzt sind alle durch. Dieser Richi war der letzte. Ich schick dir die Enddaten auf den Rechner."

"Ja, mach das!" Rief Elvira Vierbein zurück. Jetzt waren alle einundzwanzig Versuchspersonen vollständig umgewandelt. Nyx konzentrierte sich und dachte an Richi. "Halten wir fest, wer schneller die benötigte Menge aufnimmt durchläuft auch schneller alle Stadien. Wieso hat Richi sich erst jetzt verwandelt?" Fragte Elvira Vierbein.

"Weil der Bengel sich in der Freizeit heimlich mit Bier eingedeckt hat. Alkohol verzögert wohl die Mutationsgeschwindigkeit. Wir müssen wohl die Dosierung erhöhen."

"War auch wichtig", erwiderte Elvira Vierbein. "Aber jetzt haben wir einundzwanzig neue Mitbürger."

"Ja, und sie werden ihre Verwandten ebenfalls dazu bewegen, Mitbürger Nocturnias zu werden", frohlockte Nyx. Ihr Plan ging auf. Das Reich ohne Grenzen konnte sich nun richtig über die Welt ausbreiten. Allerdings wollte sie dafür nicht nur ihre direkten Abkömmlinge, sondern auch menschliche Handlanger, leute, die am Tag ohne Solexfolien herumlaufen konnten und auch in die Nähe von Fließgewässern gehen konnten. Hierfür liefen bereits zwei Projekte an.

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Der deutsche Zaubereiminister Heinrich Güldenberg wurde selten wütend. Aber wenn, dann richtig. Er hatte gedacht, Ostern im Kreise seiner Familie verbringen und die Ruhe genießen zu können, die seit dem Sturz des britischen Massenmörders über Europa lag. Doch die Ruhe war ihm gründlich abhandengekommen, als Eilenfried Wetterspitz, sein Untersekretär, ihm in eigener Person vor die Tür appariert war und "Vampiralarm in Köln!" gerufen hatte. Güldenberg hatte sich sehr verärgert von seiner Frau und den beiden die Osterferien genießenden Enkeln Ottokar und Friedrich verabschiedet und war direkt zurück, das bei Begründung des deutschen Bundes im 19. Jahrhundert genau in der Mitte zwischen Berlin und Wien errichtet worden war. Zwar gab es Expresskamine in Niederlassungen aller zum deutschen Staatsgebiet gehörenden Hauptstädte. Aber der Großteil der Verwaltung geschah hier.

"Was ist genau passiert, Eilenfried?" Fragte der Zaubereiminister.

"Das kannst du nachher noch mit deinem böhmischen Kollegen Wenzel Kronstein bereden, Heinz", entgegnete Wetterspitz. Da sie gerade im magisch wie nichtmagisch unabhörbarem Büro saßen sprachen sie sich mit Vornamen an, wie sie es seit ihrer Greifennes-Zzeit gewohnt waren. "Eine Muggel-schulklasse aus Köln Ehrenfeld war bis ran an deren Osterferien in der Gegend von Pilsen in einem Landhaus untergebracht, das mal einem Grafen von da drüben gehört hat als Bähmen noch bej Östreich woar. Seitdem die Tschechen, zu denen Böhmen jetzt gehört, ja auch ihren eisernen Vorhang aufgemacht haben fahren da viele westliche Schulklassen hin, um die ganze Geschichte da zu atmen. Das es da Vampire gibt wußten wir bis heute nicht. Aber offenbar müssen die alle von diesen Langzähnen geküßt worden sein. Jedenfalls haben mehrere Muggelfamilien in der Gegend Fernsprechtelefonnotrufe losgeschickt, ihre Kinder wollten sie beißen, glaubten wohl Vampire zu sein. Offenbar ist das bei einem von unseren Horchern in Köln angekommen, und der hat sofort die reinische Lichtwache losgeschickt, weil wir beide nicht erreichbar und Gefahr im Verzug war. Aber irgendwie haben sich die Leute schon abgesetzt. Wir haben nur noch die Familie einer Angelika Schmidt erwischt, die wohl gerade losfahren wollten. Alle sind Vampire."

"Gewesen oder noch immer?" Schnarrte Heinrich Güldenberg.

"Joseph hat gesagt, daß die gerade in der Lichtwache Köln in Ferrifortissimum-Zellen auf Nummer sicher sind. Wir wollen ja wissen, von wem die gebissen worden sind und ..." ein lautes Plopp im Kamin ließ die beiden ranghöchsten Zauberer Deutschlands herumfahren. Ein schwarzhaariger Frauenkopf hockte auf dem Rost, vom darum herum brennenden Feuer völlig unbeeindruckt.

"Ah, Sie haben ihn gefunden, Herr Wetterspitz. Herr Minister, es gelang uns gerade, die Klassenlehrerin Frau Hannelore Korn mit ihrem Mann aus dem Zug nach Paris zu holen, beziehungsweise, Monsieur Grandchapeaus Leute haben sie gefunden. Sie haben sich gewehrt. Einem von Granchapeaus Leuten muß da ein Eichenholzbolzen Mit Sonnenquarzspitze ausgerutscht sein. Die Vampirin ist tot."

"Na wunderbar, Frau Kohlhas. Wir hätten die gerne gefragt, von wem die sich hat küssen lassen."

"Ungefähr wissen wir das. Sie rief vor dem letzten Angriff auf die Franzosen noch was von Nocturnia. Sie wissen, was das heißt?"

"Ist das hier ein Ratespiel oder was?!" Bellte Güldenberg. "Natürlich weiß ich, was das heißt. Das dieses amerikanische Vampirflittchen Nyx meinen Osterurlaub versaut hat, zum Donnerwetter!"

"Jupp hat die Familie dieser Angie sicher. Wir kriegen das raus oder kriegen noch die anderen."

"Ja, nach dem sie noch ein paar Dutzend leute gebissen, und wenn wir großes Glück haben, ganz leer und tot gesaugt haben. Sonst könnte dieses Blutweib uns eine deftige Vampirpestepidemie bescheren, gegen die der schwarze Tod am Ende lachhaft harmlos aussieht. Ziehen Sie den Kopf ein! Ich komme selbst rüber nach Düsseldorf, um dann nach Köln weiterzuapparieren."

"Wie Sie meinen, herr Minister", sagte der Hexenkopf im Kamin.

"Eilenfried, du hältst hier die Stellung und kontaktfeuerst die Niederlassung D-Dorf nur, wenn diese Seuche schon in anderen Ecken unseres Zuständigkeitsbereiches auftritt. Ach, und dem Herrn Kronstein darfst du einen Blitzboten schicken, ich käme heute Abend noch bei ihm vorbei um mir das Haus anzusehen, wo Nyx ihre neuen Kinder ausgebrütet hat."

"Soweit ich mitbekam wird das Haus gerade untersucht, nachdem wir weitergemeldet haben, wo die Schüler gewesen sind. Aber ich sage ihm, er soll sein bestes Bier kaltstellen."

"So wie ich gerade gestimmt bin würde das laut zischend verdampfen, wenn es in meinen Bauch gerät, Eilenfried. Bis nachher." Heinrich Güldenbergs Gesicht war knallrot. Seine Stirnadern pulsierten bedrohlich. Er meinte, gleich zu explodieren, wenn er nicht augenblicklich was unternahm. Soeben schaffte er es noch "Niederlassung Rheinland", zu rufen, als er im grünen Flohpulverfeuer stand. Es fauchte, und Güldenberg verschwand.

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Das Landhaus lag im Sonnenlicht vor ihnen. Die zwanzig auf Besen fliegenden Zauberer wußten, das sie vielleicht mit tagaktiven Vampiren zu rechnen hatten. In drei Sprachen verhieß das Schild neben der Zufahrt, daß hier ein Landschulheim stand. Das Haus hatte sich seit der politischen Wende in der Muggelwelt als beliebtes Reiseziel für westdeutsche und österreichische Schulklassen empfohlen. Aber auch aus Schweden, Frankreich und Rußland kamen immer wieder Schülergruppen her. Hier also sollte die Vampirpest ausgebrochen sein. Unvorstellbar, wenn in diesem Haus schon lange diese Blutsauger hausten und womöglich noch mehr Schulklassen angesteckt hatten. Natürlich würden diese Geschöpfe behaupten, sie hätten nur neue Kinder gezeugt, das natürliche Recht einer jeden Lebensform. Aber damit würde jetzt auf jeden Fall schluß sein.

"Mal sehen, ob dieses Ding aus Amiland was taugt", sagte der Anführer der Kampfgruppe und holte einen silbernen, gurkenförmigen Gegenstand aus seinm Rucksack. Nach dem Ende Voldemorts und dem Aufruhr, den Volakin verursacht hatte, hatte das nordamerikanische Laveau-Institut zwanzig Vampirspürgeräte an verschiedene Gruppen verteilt, die gegen dunkle Kräfte und menschenfeindliche Zauberkreaturen kämpften. "Keine Vampire im Haus. Die Flattermänner sind ausgeflogen", grummelte der Führer der Kampfgruppe. Er überlegte, ob sich eine Erstürmung dann überhaupt noch lohnte und befand, daß sie zumindest nach Spuren suchen sollten.

Die Türen waren für die Zauberer kein Problem. Sie durchsuchten das Haus und entdeckten, daß in jedem von Schülern betretbaren Zimmer winzige Kameras und Mikrofone installiert waren. "Schon bald wie zu alten Ostblockzeiten", knurrte Pavel Vondraczek. Der Sohn magieloser Eltern hatte das alles noch mitbekommen, wie die von Rußland aus dirigierten Marionetten in seiner schönen Heimatstadt Prag das Volk unterjocht hatten. Daher kannte er Kameras und Mikrofone.

"Vampire, die Muggelgeräte benutzen?" Fragte der Gruppenführer, Daniel Bernau.

"Ich hörte, daß diese Vampirlady aus den Staaten lange unter Muggeln gelebt hat", erwiderte Vondraczek. Das nahm Bernau so hin. Allerdings stellte er die Frage, was die Überwachungsgeräte sollten.

"Nyx hat damit ihre Leute überwacht, womöglich auch, wie die Schüler sich gegenseitig zu Vampiren gemacht haben, als einer von ihnen einer wurde", vermutete Vondraczek.

"Von wo aus?" Fragte Bernau und ließ noch einmal ausschwärmen. Da regte sich eine der Kameras und schwenkte auf Bernau ein. Dann glomm ein rotes Licht über der Tür Auf.

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"Elly, zwanzig Stabschwinger haben unser Versuchslabor betreten. Wo ist Mutter?"

"Die ist in Moskau, unsere Hilfstruppen sichern", sagte Elvira Vierbein über die Gegensprechanlage. Eigentlich konnten die beiden auch in Gedanken zueinander sprechen. Doch sie hingen noch zu sehr an ihrem früheren Leben. Und dieses ganze Umfeld hier verlangte nach passender Kommunikation.

"Na toll. Was sollen wir jetzt mit den Spitzhüten und Zauberstabschwingern machen, die in unser Freilabor rein sind?"

"Mach sie doch weg! Mutter hat doch gesagt, wenn sie uns draufkommen und das Haus stürmen sollen wir es hochjagen."

"Stimmt, hast recht", grummelte Arnold. Doch dann umspielte ein schadenfrohes Lächeln seinen bleichen Mund. Er drückte einige tasten auf seinem großen Schaltpult. die vier mal sechs Monitore, die an einer Wand aufgereiht waren, zeigten ein rötlich eingefärbtes Bild der im Carlov-Haus herumstrolchenden Zauberer. Ein leises Piepen zerlegte die Zeit in einzelne Sekunden. "Und Tschüs!" Stieß er aus, als ein langer Piepton erklang und auf allen Bildschirmen die Worte HAUS ABGERISSEN in blutroter Schrift aufleuchteten. Soeben waren sieben Zentner Semtex, die Nyx über verschiedene Kanäle zusammengerafft hatte, mit einem Schlag gezündet worden. Das Landhaus flog jetzt sicher schon mehr als fünftausend Meter über Grund, mit allen, die darin oder einige Hundert Meter davon entfernt gewesen waren. Das Testlabor Neubürger existierte nicht mehr. Es hatte seinen Dienst mehr als erfüllt.

"Konnten die sich noch wegbeamen?" Fragte seine Frau und Vampirschwester.

"Die werden wohl das rote Signallicht noch gesehen haben, das Mutter eingebaut haben wollte, um im Zweifel noch eine Sekunde zum Wegbeamen zu haben. Aber wenn die nicht gerafft haben, was es bedeutet sind die jetzt alle über den Wolken oder sausen gerade die lange Schwefelrutsche runter zum Gehörnten."

"Hoffentlich landen wir da nicht mal", erwiderte Elvira Vierbein.

"Wenn es das alles gäbe könnten uns auch normale Leute mit ihren heiligen Symbolen erledigen. Da sie das nicht können, gibt es das nicht. Quod erat demonstrandum", erwiderte Arnold. Seine Frau reagierte da nicht drauf.

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Wladimir und Nikolai waren auf dem Weg zu ihrem Chef. Der letzte Auftrag war glatt gelaufen. Die Polizei hatte nicht mitbekommen, wie Sergej Gregorow auf Nimmerwiedersehen das Land, ja die ganze Welt verlassen hatte. Jetzt konnte ihr Chef seine Kontakte nach Belgrad und Berlin gefahrloser nutzen. Zumindest dachten die beiden, daß sie ihren Auftrag glatt erledigt hatten. Denn hätten sie das Risiko gewagt, näher an ihr Opfer heranzugehen, so hätten sie vielleicht erkannt, daß ihre nadelfeinen Giftpfeile nur eine täuschendecht nachgebildete Puppe getroffen hatten, die geschickt hinter dem Fenster von Gregorovs Arbeitszimmer ferngesteuert worden war. Zwar blickten sie sich immer wieder um, ob sie verfolgt wurden. doch die Polizei ließ sich nicht sehen. Besser, sie war nicht als solche zu erkennen. Auf der Straße fuhren alte, vom Rost zerfressene Modelle aus Sowjetzeiten neben funkelnden Nobellimousinen aus dem Westen. Einige der Wagen waren schwer gepanzert. Die Zeiten waren unsicher geworden, und wer in der altehrwürdigen Hauptstadt zu Ruhm und auch zu geld kam stand schnell auf der Abschußliste von Wladimirs und Nikolais Kollegen. Vorsorge war das Zauberwort.

"Wielange meinst du, brauchen die Bullen, bis sie raushaben, das der Vogel nicht mehr singen kann?" Fragte Wladimir.

"Spätestens morgen, wenn er im Panzerwagen zum Gericht soll, mein Freund. Die haben gedacht, ihn in dieser Proletensiedlung abzulegen würde ihm helfen. Hätten den besser im Gefängnis lassen sollen."

"Nicht nachdem der Chef seinen Erzfeind da hat umlegen lassen, Nikolai", erwiderte Wladimir.

"In was kriegen wir unsere Belohnung?"

"Euros, du Idiot", erwiderte Nikolai verstimmt. Immer mußte Wladimir diese Frage stellen. Sicher hätte er gerne mal anderes Geld, vor allem wertvolleres Geld in der Hand gehabt. Aber der Chef zahlte noch in Rubel, obwohl er an Franken, Dollar, D-Mark und Pfund herankam. Die von den Westeuropäern angestrebte Gemeinschaftswährung bestand im Moment nur im Computer und würde erst in drei Jahren als Bargeld unters Volk geworfen.

"Wie überaus lustig, Brüderchen", schnaubte Wladimir. Dann hielt er inne. Ein dunkelblauer Mercedes bog gerade von rechts in die Straße ein, auf der die beiden Auftragsmörder entlangliefen. Irgendwas an dem Wagen gefiel Wladimir nicht. Doch erst, als dieser keine fünf Meter mehr von ihm entfernt war wußte er auch was. Es war die nicht geschlossene Kofferraumklappe. Ehe Wladimir seinem Begleiter diese Merkwürdigkeit zeigen konnte, sprang der Wagen beinahe zu ihnen hinüber. Die Kofferraumklappe flog weit auf, und zwei maskierte Männer in dunklen, ziemlich dicken Anzügen sprangen heraus. Wladimir griff trotz der zusehenden Öffentlichkeit zu seinem Revolver. Doch die beiden anderen hatten bereits Waffen gezogen und schossen. Doch es knallte nicht. Kleine Pfeile zischten durch die Luft und trafen Nikolai und Wladimir am Hals. Die Auftragsmörder fühlten es brennen und wußten, daß sie wohl keine Chance mehr hatten. Betäubungsmittel oder tödliches Gift, das war die einzige Frage, die Wladimir sich noch stellen konnte, ehe sich die Welt um ihn immer schneller drehte, um dann in einem schwarzen Loch zu verschwinden, das ihn ebenfalls einsog.

Die Frau, die wie eine liebenswerte Großmutter gekleidet war sah die beiden Verbrecher taumeln und dann schlaff wie nasse Säcke hinschlagen. Sie sah, wie die beiden Maskierten und ein hühnenhafter Mann aus dem Rückraum des Wagens auf ihre Opfer zusprangen und sie federleicht aufhoben. Drei weitere Sprünge brachten die beiden Maskierten zurück in den Kofferraum, dessen Deckel zuschlug. Das Auto wendete und raste davon. Die alte Dame wollte schon weitergehen, weil eine Entführung von Muggeln nicht in ihren Zuständigkeitsbereich fiel. Doch als ein rostiger Lada hinter dem fliehenden Mercedes herfuhr und dieser auf einmal im Nichts verschwand wie aufgelöst, erkannte sie, daß es doch in ihren Zuständigkeitsbereich fiel. Sie suchte und fand einen verlassenen Hauseingang und fischte einen Fichtenholzstab aus ihrem Rock. Sie tippte damit das Türschloß an und wartete, bis dieses aufsprang. Dann schlüpfte sie schnell in den stickig riechenden Flur, drückte die Tür zu und drehte sich mit erhobenem Stab auf der Stelle. Mit einem leise durch das Haus hallenden Plopp verschwand die alte Dame.

Zur selben Zeit jagte der nur außen alterschwache Wagen hinter dem Mercedes her. Die beiden Spezialagenten des russischen Innenministeriums hofften, die Entführung noch beenden zu können, bevor die beiden Mörder von einer Konkurrenzbande erledigt werden würden. Seit Monaten suchten sie schon nach einer Möglichkeit, Anatoli Kamarov zu erwischen. Er hatte sich als neuer Mann der moskauer Unterwelt etabliert und versuchte, die alten Seilschaften aus der Sowjetzeit zu unterwandern, wobei er auch Hilfe aus dem Ausland bekam. Er hatte noch einen Sohn, der in der ehemaligen sowjetischen Botschaft in Ostberlin gearbeitet hatte und sich nach dem Zerfall der kommunistischen Staaten dort als Übersetzer für Russisch, Deutsch, Englisch und Polnisch einen neuen Arbeitsplatz geangelt hatte. Kamarov konnte zum König der Unterwelt werden, wenn nur die Hälfte von dem stimmte, was über ihn so verbreitet wurde. Gregorov war der einzige greifbare Faden, der zu Kamarovs Organisation führte. Nur durch einen Glücksfall hatte das Innenministerium mitbekommen, daß jemand den Unterbringungsort ausgeplaudert hatte. Tatsächlich hatte es auch nur einen halben Tag gedauert, bis Kamarovs neue Vollstrecker ihre berüchtigten Giftpfeile durch das Fenster geschossen hatten. Und diese beiden wurden jetzt selbst von solchen Pfeilen niedergestreckt und entführt.

"Verdammt, der zieht an wie eine Proton", knurrte der Fahrer des Verfolgers. Sein Kollege wollte schon über verschlüsselten Funk die Autonummer und den Fahrzeugtyp durchgeben, als er meinte, in einen Traum geraten zu sein. Der Wagen flirrte einen Moment, sprang dabei mehr als fünf Meter vorwärts und war dann einfach nicht mehr zu sehen.

"Siehst du ihn noch?" Fragte der Sonderagent seinen Fahrer.

"Der Wagen ist weg. Wie geht sowas?"

"Weiß ich sowas? Aber er ist weg, unsichtbar oder aufgelöst. beides unmöglich."

"Verdammt, das geht nicht an. Wir müssen die Zentrale rufen."

Wenige Minuten später war der Polizeiapparat von ganz Moskau auf den Beinen. Aber nicht nur die gewöhnliche Polizei. Denn von Irina Rugova, einer eigentlich gerade im Urlaub befindlichen Mitarbeiterin des Büros zur Überwachung magischer Aktivitäten in der magielosen Welt erfuhr Rußlands Zaubereiminister Maximilian Arcadi auch sehr rasch von der ungewöhnlichen Entführung. Er setzte sofort seine Experten darauf an, mehr über die Entführten zu erfahren und möglicherweise zu klären, wer sie entführt hatte. Als er erfuhr, daß es sich um zwei bezahlte Mörder handelte, die gerade vorhin einen für ihren Auftraggeber gefährlichen Mitwisser zu beseitigen hatten fragte sich Arcadi, was eine Gruppe von Zauberern oder Hexen mit diesen Banditen vorhatte. Er ließ seine offiziellen und inoffiziellen Kontakte spielen und hörte sich um, ob vielleicht jene obskure Hexenschwesternschaft dahintersteckte, die für die Entomanthropen und die Vernichtung Volakins verantwortlich gewesen war. Allerdings fragte er sich schon, was diese Hexen mit diesen Berufsverbrechern vorhatten. Wollten sie diese dazu zwingen, ihren Auftraggeber auszuliefern, um so ein Bein in die russische Unterwelt zu bekommen? als er sich diese Frage stellte, erkannte Arcadi, daß es durchaus auch andere Gruppierungen gab, die dieses Ziel verfolgen mochten. Er sah ein bleiches Frauengesicht vor sich. Das Zaubereiministerium der USA hatte ihm und anderen europäischen Zaubereiministerien Bilder von dieser Nyx alias Griselda Hollingsworth zukommen lassen. Von dieser wußte er schon seit einigen Monaten, daß sie die Vampire Europas und Afrikas unter ihren Befehl zwingen wollte. Sie hatte sogar einige als gefährliche Dunkelmondvampire aktenkundige Blutsauger töten lassen, wohl zur Abschreckung derer, die sich ihr widersetzen mochten. Wenn sie jetzt darauf ausging, gewöhnliche Verbrecher zu ihren Dienern zu machen, konnte sie die ganze Welt terrorisieren.

"Generalbefehl Mondfinsternis!" Teilte Arcadi allen Ministeriumsabteilungen mit. Mit diesem Kennwort war nicht mehr und nicht weniger gemeint als die systematische Aufspürung und vorwarnungslose Vernichtung aller Vampire in Rußland und allen Ländern, in denen Arcadis Wort ebenfalls Einfluß hatte. Wenn er alle für diese Lady Nyx arbeitenden Vampire erledigte, traf er keinen Unschuldigen. Falls jemand anderes für die magische Entführung verantwortlich war, dann konnte er diese Täter immer noch ermitteln und dingfestmachen lassen.

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Der Verlust von Tyche Lennox schmerzte schon sehr. Das erkannte Anthelia, als sie nach Hinweisen suchte, die auf die übermächtige Vampirin hindeuteten. Einige ihrer Bundesschwestern hatten ihr geschrieben, daß gemäßigte Vampire vor der Errichtung eines Reiches namens Nocturnia gewarnt hatten. Dunkelmondler wie Hellmondler mochten in diesem "Reich ohne Grenzen" eine Aufwertung ihres Daseins sehen. Die neue Anthelia wußte von Louisette Richelieu, daß die Vampireheleute Sangazon von einer Truppe der Liga gegen dunkle Kräfte vernichtet worden waren. Nyx' einverleibte Macht hatte sich selbst gegen den Gesteinsvermehrungszauber behauptet. Austère Tourrecandide, die jene Vampire zuerst gefunden hatte, war bei diesem Unternehmen unter Zurücklassung ihrer Kleidung und Ausrüstung verschwunden. Das ließ Anthelia aufhorchen. Einen Moment lang dachte sie daran, daß auch sie einmal ihre Kleidung und Ausrüstung unfreiwillig zurückgelassen hatte und scheinbar verschwunden war. Sie hatte Louisette bitterböse angestarrt, weil die ihr diese möglicherweise so entscheidende Nachricht erst Monate nach dem Vorfall übermittelt hatte. Doch da Louisette kein Mitglied der Liga war und somit nur auf die Spekulationen von Gilbert Latierre oder den Verlautbarungen ihres offiziellen Arbeitgebers, des Zaubereiministers, angewiesen war, hatte es eben gedauert.

"Leda und Lysithea sind untergetaucht, nachdem Hyneria sie angegriffen hat. Tourrecandide verschwand am selben Tag. Ihre Kleidung und Ausrüstung blieb zurück. Kann das mit ihrer achso edelmütigen Unternehmung auf der Insel der hölzernen Wächterinnen zu tun haben? Dann könnte sie dort sein, wo vorher Daianira war. Oder sie ... Was für ein mächtiger Zauber dieser Fluchumkehrer doch ist", dachte die neue Anthelia. Sie entsann sich, wie ihr Teil-Ich Naaneavargia von Julius Latierre mit diesem Zauber belegt wurde, der alle schädlichen Kräfte in ihr Gegenteil oder zumindest etwas unschädliches umwandelte. Mochte es angehen, daß durch diesen gegen Daianira geschleuderten Zauber nicht nur Daianira von der werdenden Mutter zur Ungeborenen verkehrt wurde, sondern eine besondere Verbindung zwischen Tourrecandide und ihr geknüpft wurde? Aber Daianira war von Leda übernommen und als deren Tochter neu geboren worden. Sollte Tourrecandide nun als zweites spätes Mutterglück ohne männliches Dazutun in Ledas fruchtbarem Schoß heranreifen? Sie ärgerte sich, daß sie keine Kundschafterin mehr bei den schweigsamen Schwestern in den Staaten hatte. Zu gerne hätte sie erfahren, was genau zu Hynerias Verschwinden geführt hatte und warum Leda mit ihrer aus Tourrecandides und Anthelias Gnaden entstandenen Tochter untergetaucht war. Die Zurücklassung der Kleidung ließ sich für Anthelia/Naaneavargia nicht anders deuten, als daß Tourrecandides Körper sich aufgelöst oder in etwas anderes, weit entfernt wiedergekehrtes verwandelt hatte. Sicher würde Leda Greensporn gut daran tun, eine neuerliche Schwangerschaft ohne benennbaren Vater zu verheimlichen. Die Spinnenfrau dachte daran, daß die genaue Enthüllung dieses Vorkommnisses sehr wichtig werden konnte. Einen Moment stellte sie sich jene Närrin vor, wie sie unverhofft in Ledas Leib zu sich kam und sich fragte, was sie dorthin verschlagen hatte. Dann kam ihr noch ein verwegener Gedanke: Was wäre, wenn Hyneria irgendwas angestellt hatte, daß die als Ledas Tochter wiedergeborene Daianira schlagartig hatte altern lassen? Hatte Pandora nicht einmal etwas von einem geächteten Kasten erzählt, den Morgaine, Daianiras Vorgängerin, erfunden haben sollte? Der hatte irgendwas mit rascher Alterung zu tun, ähnlich wie der Zauber, den sie gegen den Täuscher Wishbone verwendet hatte, um ihn entweder rasant vergreisen zu lassen oder, wie am Ende auch geschehen, in die innigste Obhut seiner Tante und heimlichen Geliebten übergehen zu lassen. Ende Mai, anfang Juni würde er wohl zurück ans Licht der Welt kommen. Vielleicht bekam er eine heimliche Kameradin, die in einem ähnlichen Zeitraum erneut den ersten Atemzug tun würde. Falls Morgaines Alterungskasten Daianiras verjüngten Leib aufgenommen hatte, mochte eine Verquickung mit den beiden Zaubern stattgefunden haben, jenem, den Tourrecandide auf sie und Anthelia angewandt hatte und der Umkehrwirkung durch die mächtige Magie der hölzernen Wächterinnen. Womöglich hatte diese Verbindung trotz der Transgestation gehalten. Wären beide normal weitergealtert wäre wohl nichts weiteres passiert. Doch falls Daianira ihre Bezwingerin Tourrecandide durch einen Alterungszauber überholt hatte ... "Ich muß darauf gefaßt sein, dieser vorwitzigen Schulmeisterin wiederzubegegnen, die sich zu früh freute, mich als ihre Tochter großziehen zu dürfen", dachte Anthelia. Sie fragte sich, ob Leda und die anderen entschlossenen Schwestern auch nur ahnten, was mit Anthelia und Naaneavargia geschehen war. Bisher hatte sie es nur ihren getreuen Bundesschwestern offenbart. Für die anderen war sie Anthelias Erbin, die zudem noch fremde Zauber kannte, wie den, Silber zu einem Magneten für Silber zu machen. Allerdings war da noch Julius Latierre. Er hatte die Stimme Ailanorars aus der Himmelsburg zurückgeholt. Falls dies nur deshalb geschah, weil ihr in seinem eigenen Machtgegenstand hausender Bruder es bemerkt hatte, daß sie, Naaneavargia, sich mit einer anderen Hexe zu einem wieder mehr menschlichen Gesamtwesen verbunden hatte ... Ja, das mußte sie voraussetzen. Falls Julius keinem Geheimhaltungszwang unterlag, hatte er denen, denen er vertraute, sicherlich erzählt, was er erfahren hatte. Somit dürfte es seine Schulmeisterin Faucon wissen, womöglich auch seine frühzeitig angetraute Ehefrau. Dann war die Überraschung dahin, wenn sie sich wieder an die Öffentlichkeit traute. Doch was sollte es. Sie war nun einmal stärker geworden und lebte nun schon seit mehr als fünf Monaten in diesem Verbund von Geist und Körper. Es gab nichts, was diese Verbindung wieder trennen konnte. Denn die Tränen der Ewigkeit vereitelten jeden magischen Eingriff. Sollte Julius das doch herumerzählen. Schaden konnte er ihr damit nicht. Sie ertappte sich, daß sie es anderen nicht lange hätte durchgehen lassen, mehr über sie zu wissen, als gut für ihre Pläne war. Doch dem jungen Zauberer verzieh sie das. Denn er hatte ihr zweimal geholfen, ohne es natürlich zu beabsichtigen. Ohne ihn wäre Anthelias Anteil wohl als Daianiras Tochter wiedergeboren worden und naaneavargia hätte weitere Äonen in der roten Festung verbringen müssen.

Patricia Straton apparierte in der Empfangshalle der Daggers-Villa. Sofort fühlte die Führerin der Spinnenschwestern, wie hunderte von glühenden Nadeln auf sie einstachen. Patricia trug das Sonnenmedaillon der Inkas bei sich, daß nach seiner Entwendung aus Daianiras Besitz stärker geworden zu sein schien, wohl weil Patricia eine jüngere und damit aussichtsreichere Trägerin abgab. Für die neue Anthelia war dieses Medaillon ein Graus. Denn nach der Selbstvernichtung von Dairons Seelenmedaillon steckte ein Teil seiner Kraft in ihrem Körper und hatte sie gegen Sonnenmagie allergisch gemacht. Das natürliche Sonnenlicht vertrug sie problemlos. Aber dieses medaillon der einstigen Hochkultur Mittelamerikas wirkte mit allen Arten der Sonnenmagie auf seine Umgebung ein. Es war die stärkste Waffe gegen gewöhnliche Vampire. Nyx war trotz Mitternachtsdiamant damit in die Flucht geschlagen worden. Aber auch Anthelia verband mit diesem Kleinod unangenehme Erinnerungen. Natürlich würde Patricia Straton es nicht freiwillig ablegen, wenn sie sich der höchsten Schwester näherte. Das Medaillon der Inkas stellte sie auf die gleiche Stufe mit ihr, der Anführerin des Spinnenordens.

"Höchste Schwester, bist du zu Hause?! Rief Patricia Straton. Anthelia rief mit hörbarer Stimme zurück, daß sie im Versammlungsraum sei. Sie hütete sich davor, ihre Gedanken frei in den Raum entweichen zu lassen.

"Darf ich vortreten?" Fragte patricia.

"Ich komme zu dir!" Rief Anthelia zurück. Der Versammlungsraum war nicht groß genug, um genug Abstand zwischen sich und dem Medaillon der Inkas zu halten. So apparierte sie in die große Empfangshalle. Dort war das Piesacken des magischen Schmuckstücks zwar noch stärker. Doch Anthelia konnte nun mehr als zwanzig Meter von der braunhaarigen Hexe entfernt verweilen, ohne ihr Unwohlsein offen verraten zu müssen.

"Ich komme zu dir, höchste Schwester, weil ich vermute, daß Nyx langsam zum großen Feldzug ansetzt. In Moskau wurden zwei Männer entführt, die laut Kriminalbehörde im Verdacht stehen, einer Verbrecherorganisation anzugehören. Die Muggel benennen alle Organisationen dieser Art als Mafia, obwohl die Russen, Japaner, Chinesen und Inder mit den sizilianischen Clans so gut wie nichts gemeinsam haben, außer vielleicht geschäftliche Beziehungen hier und da."

"So, und wieso kommst du auf Nyx, Schwester Patricia?"

"Weil die Entführung beobachtet wurde. Die Muggelordnungshüter haben einige Personen erkennen können und Bilder von ihnen nachzeichnen können. Einer sieht aus wie der von Schwester Vera zeitweilig festgehaltene Vampir, den sie wegen einer Keilerei mit Riesen oder Halbriesen Einzahn nennen."

"Soweit ich weiß war der doch Volakins Lakei", wunderte sich Anthelia. Doch dann nickte sie und fügte hinzu: "Womöglich hat Nyx alles geerbt, was von Volakin noch brauchbar war. Ich verstehe deine Besorgnis, Schwester Patricia. Du fürchtest, daß die beiden Verbrecher dazu benutzt werden sollen, Nyx einen Zugang zu deren Organisation zu verschaffen. Dann hätte sie nicht nur von ihr kontrollierbare Vampire um sich herum, sondern auch gewöhnliche Räuber, Beutelschneider und Mordbuben, denen sie keine so raren Folien zum Schutz vor der Sonne übergeben muß."

"Wenn ihr das gelingt, sich auch bei gewöhnlichen Verbrechern Rückhalt zu verschaffen, dann kommen wir ohne Hinweise aus der Muggelwelt nicht mehr weiter, höchste Schwester."

"Es ehrt dich, daß du den Mut hast, diese ungeliebte Wahrheit auszusprechen", schnarrte Anthelia. Denn sie dachte bereits weit genug, sich vorzustellen, daß Nyx auf Grund ihrer Muggelweltkenntnisse leichteres Spiel haben würde, die ahnungs- und magielosen menschen zu infiltrieren. Es wurde wirklich Zeit, sie aufzuhalten. Mit ihrer neuen Waffe würde es wohl gelingen, bevor Nyx durch den Schutz des Mitternachtsdiamanten unverwundbar wurde. Doch wo sollte sie die Gegnerin finden?

"Wie bist du an diese Neuigkeiten gelangt?" Fragte Anthelia Patricia. Diese lächelte tiefgründig und sagte nur: "Cecil Wellington." Anthelia übersah die Überlegenheit, die ihre Bundesschwester bei Nennung dieses Namens ausstrahlte. Denn nur sie, Patricia Straton, konnte noch mit dem ehemaligen Kundschafter Anthelias ungefährdeten Kontakt aufnehmen und ihn anleiten, im Sinne der Schwesternschaft zu arbeiten. Sie fragte sie, wie es dem Jungen ginge.

"Er entwickelte sich zum Schwarm junger Frauen, die ihn nicht nur als Sohn eines reichen und einstmals mächtigen Mannes begehren, sondern auch wegen seines von dir geschenkten Körpers, höchste Schwester." Anthelia dachte daran, daß der Senator, der in der Vorstellung gehalten worden war, in den letzten Jahren mit seinem echten Sohn zusammengelebt zu haben, durch eine lächerliche Liebelei mit einem ehemaligen Freudenmädchen erst seine Ehre, dann sein Amt und dann seine Familie verloren hatte. Somit war er für Anthelia wertlos geworden, und sie hatte kein Problem damit gehabt, daß Cecil, der früher Benjamin Calder geheißen hatte, nun sein ganz eigenes Leben lebte. Verraten konnte und würde er nichts, da war sich Anthelia sicher. Niemand würde ihm diese Geschichte abkaufen. Es bestand auch die Gefahr, daß er deshalb in einer dieser Nervenheilanstalten verschwand und nie wieder daraus hervorkam. Allein diese Bedrohung reichte aus, daß er schwieg.

"Hast du ihn in jene Nachrichtenverbreitungsnetze Einblick nehmen lassen, die für gewöhnliche Sterbliche unzugänglich sind?" Wollte Anthelia noch wissen. Patricia Straton nickte.

"Dort, wo er jetzt für sein berufliches Leben lernt, kommt er an noch bessere Rechengeräte heran. Außerdem hat er gelernt, bestimmte Zugangswege zu öffnen, ohne dabei von denen ertappt zu werden, die eigentlich dafür sorgen sollen, daß Staatsgeheimnisse vor der Öffentlichkeit verborgen bleiben, höchste Schwester. Allerdings habe ich ihm geraten, daß er sich nur dann in diesen unzugänglichen Bereichen umschaut, wenn es etwas konkretes zu suchen gibt. Ich muß zudem auf ihn aufpassen, weil ich fürchte, daß eine bestimmte Familie der Cosa Nostra darauf verfallen könnte, er könne noch in Kontakt mit Laura Carlotti stehen. Bisher ist niemand darauf gekommen, ihn zu überwachen. Das liegt jedoch nur daran, daß die Bundesermittlungsbehörde noch nicht alle erhaltenen Informationen ausgewertet hat." Patricia berichtete nun noch einmal, was sie bei der Überwachung der Carlottis und warum diese hatten fliehen müssen enthüllt hatte. Anthelia verzog immer wieder das Gesicht. Ihre blaugrünen Augen funkelten einmal, dann wieder. Doch dann nickte sie. Damals hatte ja niemand damit gerechnet, daß sie als freie und machtvolle Hexe zurückkehren würde. Patricia hatte damit nur den Auftrag befolgt, den sie, Anthelia, ihr vor dem Duell mit Daianira erteilt hatte, nämlich sicherzustellen, daß Cecil Wellington sein eigenes Leben leben konnte. Da der Senator damals schon für die Spinnenschwestern wertlos geworden war, konnte Patricia ihn auch in diese gemeine Falle locken. Allerdings interessierte es Anthelia, woher Patricia das mächtige Liebeselixier bezogen hatte, um den auf seine achso hohen Werte pochenden Heuchler und Schattenwirtschafter derartig mit seiner ehemaligen Jugendliebe zusammenfinden zu lassen, daß diese nun einen Sohn von ihm hatte. Natürlich wußte Anthelia von den Aktivitäten jener Gruppe, die sich den Decknamen Mora Vingate zugelegt hatte. Diese Leute, die noch heimlicher zu Werke gingen als die zögerlichen und entschlossenen Hexenschwesternschaften, hatten sich die Vermehrung der magischen Menschen auf die Fahnen geschrieben. Insofern schon sehr verwegen, daß Patricia einen der stärksten Liebestränke dafür verwendet hatte, zwei Muggel zusammenzubringen. Doch bisher war es dieser Gruppierung wohl nicht aufgefallen, was passiert war.

"Ich könnte dir einige Namen nennen, höchste Schwester. Legst du es darauf an, dir Magier mit diesem Trank gefügig zu machen?"

"Hmm, da diese Tränke den Kindersegen vorantreiben möchte ich zunächst darauf verzichten. Allerdings kann es nicht schaden, eine Quelle für wirksame Aphrodisiaka zu kennen. Doch bisher komme ich auch so wunderbar zurecht." Bei diesen Worten umspielte ein wollüstiges Lächeln Anthelias makellose Lippen. Doch sie mußte daran denken, sich bald wieder wen zu suchen. Sie hatte da auch schon eine Idee, wo sie ihn finden würde. Vorerst beauftragte sie Patricia Straton damit, Cecils Umgebung im Auge zu behalten. Es mochte gut passieren, daß die Geheimnishüter der Unfähigen ihm doch auf die Spur kommen mochten. Patricia sah dies ein und bat um die Erlaubnis, sich wieder in ihr eigenes geheimes Hauptquartier zurückziehen zu dürfen. Anthelia genehmigte das.

"So, willst du dir also schnödes Gesindel als Handlanger heranziehen, Griselda Hollingsworth. So muß ich wohl bald ergründen, wo du dich herumtreibst", dachte Anthelia. Doch der Anteil Naaneavargias in ihr gierte nach baldiger Verlustierung mit einem willigen Mann, nicht zu jung und nicht zu alt. Hatte sie dieses Bedürfnis erst einmal gründlich genug ausgelebt, konnte sie klarer über die Jagd auf die Königin der Vampire nachdenken.

__________

Wladimir erwachte als erster aus der Betäubung. Um ihn herum war es dunkel und kalt. Doch seine für Einsätze im Dunkeln geschulten Ohren vermittelten ihm nach seinen ersten Atemgeräuschen, daß er sich in einem größeren Raum befand. Er drehte den Kopf und prüfte die Beweglichkeit seiner Arme und Beine. Dabei stellte er fest, daß er auf einer harten Unterlage, einer Bank oder einem Tisch, gefesselt war. Sie hatten ihm Handschellen um die Fußgelenke, um jedes Handgelenk und eine Stahlkette um den Brustkorb gelegt. Dann fühlte er auch, daß er splitternackt war und irgendwas an seinen Geschlechtsteilen befestigt war. Da dämmerte ihm, daß die Konkurrenz ihn erwischt hatte. Nikolai war bestimmt in einem ähnlichen Raum. Sollte er ihn rufen? Er versuchte, den Kopf weit genug zu heben. Da jagte ein höchst schmerzvoller Stromschlag genau durch seine intimsten Körperteile und ließ ihn aufschreien. Sein Kopf knallte zurück auf die Unterlage. Was sollte das?

"Nah kleiner Schlagetot, hat gut gezogen, wie?" hörte er eine Männerstimme aus einem Lautsprecher. Sie sprach russisch mit einem georgischen Akzent.

"Schweinehund!" Rief Wladimir, darauf gefaßt, gleich noch einen Stromstoß durch seinen Körper abzukriegen. Die Lautsprecherstimme lachte und sagte dann:

"Wenn du und dein netter Genosse unsere neuen Brüder und Mitbürger seid denkst du anders über mich."

"Arschloch!" Rief Wladimir zurück und fing sich den vorhin schon befürchteten Stromstoß ein, der diesmal einige Sekunden vorhielt und ihn schreien ließ. "Mehr hältst du wohl nicht aus. Unsere Mutter und Königin mag keine zerbrutzelten Klöten."

"Ach, wollt ihr mich der zum Vernaschen hinlegen oder was?!" Stieß Wladimir aus.

"In gewisser Hinsicht. Aber wir wollen vor allem euren großen Boss haben. Der ist uns wichtig."

"Da mußt du mich wohl umbringen, Sausack!" Schleuderte Wladimir seinem unsichtbaren Gesprächspartner entgegen. Dieser lachte wieder und gab dem Gefangenen den dritten Stromstoß zu spüren. "Schon lustig, was die magielosen Leute für geniale Ideen hatten, wie man wen richtig laut schreien lassen kann", kommentierte die Stimme die Schmerzenslaute des Auftragsmörders. Dann hörte Wladimir eine Tür aufgehen. Er fühlte instinktiv, daß jemand eintrat. Doch er hörte keinen Laut, bis ein Hauch von erregendem Parfüm in seine Nase drang. "Iwan, ich habe dir gesagt, du sollst ihn nur damit quälen, wenn er sich zu rühren versucht", sagte eine Frauenstimme direkt neben ihm. Er fühlte eine schmale Hand auf seiner Brust. Sie fühlte sich kalt an. "Ich hörte, du wärest der beste, den Kamarov gerade für sich arbeiten hat."

"Wer soll das sein?" Fragte Wladimir. Da fuhren ihm fünf scharfe Fingernägel sehr unangenehm über die Brust. Er fühlte es brennen, als seine Haut aufgekratzt wurde. Dann meinte er, nicht mehr recht bei der Sache zu sein. Denn die Unbekante beugte sich überihn. Er fühlte ihren nackten Oberkörper, zwar sehr kalt, jedoch ausgesprochen weiblich und spürte etwas feuchtes über seine Brust streichen und fühlte, wie zwei kräftige Lippen sich auf seiner Haut festsaugten. Das konnte es doch nicht wirklich geben, daß dieses Frauenzimmer gerade an der ihm beigebrachten Kratzwunde saugte.

"Wunderbar, du hast das Betäubungsmittel sehr gut verdaut. In zwei Stunden bist du ganz bestimmt sehr lecker."

"Bist du auf dem Vampirtrip, du Schlampe?" Fragte Wladimir. Die Aussprache der Fremden klang ihm irgendwie amerikanisch, auch wenn sie fließend Russisch sprach.

"Seit mehr als dreihundert Jahren, Süßer", erwiderte sie und räkelte sich ungeniert über seinem Körper. "Schade, daß Iwan darauf besteht, daß ich deinen Intimschmuck nicht wegnehmen darf, sonst hätte ich dich so richtig zu meinem neuen Sohn werden lassen. Aber vielleicht hätte da auch etwas anderes gestört, was mir noch wichtiger ist."

"Häh? Sohn?! Du bist ja irre."

"Nicht viel irrer als jemand, der sein Geld damit verdient, für einen Unmenschen andere Leute umzubringen und das auch noch genießt. Wir sind uns ähnlicher, als du dir denken magst. Nur ich kann neues Leben geben, während du nur tötest."

"Geh von mir runter, du Nutte!" Schnaubte Wladimir.

"Andersrum wäre es dir sicher lieber. Aber das geht leider erst, wenn wir zwei uns vertragen haben", lachte die Fremde. Dann rollte sie sich von Wladimirs Körper herunter und entfernte sich, wieder ohne einen Laut zu machen. Womöglich lag auf dem Boden ein sehr dicker Teppich, der die Schritte nackter Füße schlucken konnte, dachte Wladimir, bevor ihm klar wurde, daß er, der eiskalte Mörder, in ein Irrenhaus geraten war. Ein Folterknecht, der ihm mehrere hundert Volt durch sein bestes Stück jagte und eine irgendwie auf Vampir machende Nymphomanin, die sich daran hochzog, daß er gerade hilflos war. Die wäre wohl glatt über ihn hergefallen und hätte ihn sich ganz unproblematisch genommen. Aber das konnte durchaus noch kommen. Er dachte daran, daß dieses Weib wohl die Vampirnummer so gründlich durchzog, daß es ihn auch in den Hals beißen und sein Blut trinken wollte. Das würde ihn todsicher umbringen. Doch wenn er diesen Verrückten verriet, wo Kamarov war, würde der ihn umbringen. Es war nicht das erste mal, daß Auftragsmörder sich gegenseitig umbrachten, weil der eine gesungen oder einen Auftrag verbockt hatte und der andere genauso nur dem Geld verpflichtet war statt der Kameradschaft unter Berufskollegen. Vielleicht waren das auch solche, die es genossen, ihre Opfer erst verrückt zu machen und dann umzubringen. So oder so sah er für sich keine Chance mehr, den nächsten Sommeranfang zu erleben.

Er lauschte angespannt in die Dunkelheit. Langsam fühlte er ein gewisses Drängen. Wenn er jetzt einfach so unter sich ließ würde ihn Iwan sicher gleich wieder allen Strom der Umgebung durch die Leitung jagen. Doch wenn er nicht gesittet abstrahlen konnte starb er denen glatt noch an Blasenriß weg. Wie schmerzvoll war dieser Tod? Wollte er den wirklich ausprobieren? Da hörte er einen kurzen Aufschrei aus gewisser Entfernung und vergaß seinen Harndrang. Das war Nikolai. Wladimir wand sich in seinen Fesseln. Wenn sie Nikolai jetzt umgebracht hatten, wollte er ihm so schnell wie möglich folgen. Da jagte ihm ein Stromschlag von der Körpermitte her bis in Kopf und Füße. Diesmal war der Strom so hoch eingestellt, daß der Berufsverbrecher nicht nur schrie, sondern bewußtlos wurde.

Als er mit brummendem Schädel und kribbelnden Armen und Beinen wieder erwachte, fühlte er, wie etwas oder jemand sich an ihn kuschelte. "Ich habe ihm gesagt, er soll deine kleinen Klunker nicht kaputtbrennen. Fast hätte Iwan es vergessen. Aber jetzt bist du wieder wach, und wir können dran gehen, daß du wiedergeboren wirst, mein Sohn", hauchte ihm die Fremde ins Ohr.

"Nichts für ungut, du Schlampe. Aber wenn du mir echt das Blut aussaugst bin ich mausetot. Nix Wiedergeburt. Das gibt's nur im Kino."

"Stimmt, wenn nur ich von deinem Blut trinke stirbst du mir weg. Aber wenn wir unser Blut vereinen, und du wie ich wirst, dann lebst du ein neues Leben."

"Spinn nicht rum. Ich beiß dir bestimmt nicht in den Hals oder wo du es gern hättest, um dein Hurenblut zu saufen, bevor ich ins Jenseits entschwinde. Da will ich lieber einen Wodka haben."

"Das Zeug wirst du nachher widerlich finden", sagte die scheinbar verrückte Unbekannte. "Damit es keinem auffällt, nehme ich mir dein Handgelenk vor." Sie fingerte an seinem linken Arm und suchte das Handgelenk. Sie rüttelte ein wenig an der Handschelle und befand, daß sie so nicht richtig rankam. Wladimir schöpfte ein wenig Hoffnung. Wenn sie so dumm war, ihm eine Hand loszumachen, konnte er sie damit vielleicht bewußtlos schlagen und womöglich zusehen, wie er den anderen Arm und die Beine auch noch freibekam. Er fühlte, wie sie wieder von ihm wegschlüpfte. Als sie wieder bei ihm war hantierte sie mit einem Schlüssel an der Handfessel. Diese sprang auf. Wladimir hatte seinen Arm schon angespannt und wollte gerade voll damit zuschlagen, als ihn acht stahlharte Klammern am Arm ergriffen, ihn hochrissen und festhielten. Er schaffte es nicht, ihn auch nur um einen Millimeter weiterzubewegen. Da fühlte er den Schmerz, als ramme ihm jemand zwei spitze Nägel gleichzeitig in das Handgelenk. So ähnlich mochte sich Jesus gefühlt haben, als sie ihn kreuzigten, schoß es dem Killer durch den Kopf, bevor ihm endgültig klar wurde, daß die Fremde stärker als er war und nun gierig schmatzend an seinem Handgelenk saugte. Er fühlte, wie ihm das Gefühl aus der Hand schwand. Sein Herz pochte wild. Er fühlte den Schwindel. Dieses Höllenweib brachte ihn wahrhaftig um wie ein Kinovampir. Doch nach einer ihm nicht bewußten Zeit ließ sie von ihm ab. Er fühlte es warm und pulsierend von seinem Arm herabfließen. Da warf sie sich ungestüm über ihn. Er versuchte, seinen freigemachten Arm zu bewegen. Doch ein Gefühl großer taubheit hinderte ihn daran. Sein Arm fühlte sich wie ein schlaffes Stück Gummi an, aus dem weiterhin Blut drang. Wladimir öffnete den Mund. Da drückte ihm dieses weibliche Ungeheuer ihre üppige Brust zwischen die Zähne. Er fühlte, wie etwas daraus in seine Mundhöhle sickerte. "Saug es ein, dein neues Leben", zischte seine Peinigerin. Er biß zu. Doch statt zu schreien und von ihm abzulassen jauchzte sie höchst angeregt. Er fühlte, wie ihm das Zeug, das in seinen Mund rann in den Rachen geriet. Er schluckte eher aus Reflex als aus Absicht und fühlte, wie ihm die Flüssigkeit ein anregendes Gefühl bot. "Komm, mein kleiner, trink dich satt und stark!" Säuselte die scheinbar völlig verrückte ihm ins Ohr. Er roch ihren Atem. Er roch nach frischem Blut, seinem Blut. Doch diese Erkenntnis hielt nur einen Moment vor. Dann überkam ihn der drang, wie ein Säugling an der ihm aufgenötigten Quelle zu saugen, die ein wenig mehr sprudelte. Was er trank wußte er nicht, Blut, Milch oder ein anderes Zeug. Es tat ihm gut, und er fühlte, wie davon neue Lebensgeister in ihn einströmten. Einige Minuten lang hielt er sich dran. Dann entwand sich ihm die Fremde, die sein größtes Verlangen und sein größter Schmerz zugleich war. Sie griff sich wieder den bereits ausblutenden Arm und saugte sich daran fest. Wieder überkam ihn eine immer größere Taubheit und Müdigkeit. Doch zugleich fühlte er, daß in ihm etwas neues, etwas fremdes prickelte. Konnte es denn wirklich sein, daß die Kinogeschichten recht hatten? Wurde er gerade von einer echten Vampirin beharkt, und hatte er Vampirblut getrunken, um durch dieses zu ihrem Artgenossen zu werden? Im Moment empfand er weder Ekel noch Grauen bei dieser Vorstellung. Wenn es wirklich eintrat, dann würde er unsterblich, von einer sehr üblen Sonnenallergie und Ablehnung von knoblauchhaltigem Essen abgesehen. Er fühlte, wie ihm die Besinnung zu schwinden begann, wie er immer mehr in einen schwächenden wie glückseligen Strudel hineingeriet. Noch einmal bekam er die Brust der Fremden und trank daraus, wohl nur noch auf die ursprünglichen Reflexe zurückgreifend, die ihn die ersten Lebensmonate hatten überstehen lassen. Taumel und Anregung schaukelten sich immer mehr auf. Dann schwand ihm das Bewußtsein. Der Berufsmörder Wladimir starb. Doch in nicht einmal einer Stunde, weil das in ihm wirkende Blut der Vampirkönigin es beschleunigte, würde er als Nocturnias Bürger Wladimir wiedergeboren.

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Kamarov hatte seine Quellen. Er hatte schnell erkannt, daß die Polizei ihm doch auf der Spur war. Zwar ging er davon aus, daß Gregorov erledigt war und damit seine Schwachstelle ausgemerzt worden war. Doch wenn die beiden Vollstrecker von der Konkurrenz aufgegriffen worden waren, und die aus den beiden rausfolterte, wo er zu finden war, gnade ihm jeder Gott, an den irgendwer mal geglaubt hatte. Er mußte fort, ins Ausweichquartier und das ganz schnell. Er hatte immer einen gepackten Koffer mit Sportzeug, gehobener Abendgarderobe, zwei Anzügen und zwei Alltagsgarnituren plus Unterzeug parat. Diesen Koffer holte er nun und fuhr in mitten einer Kolonne aus sieben gleich aussehenden Autos mit verdunkelten Fensterscheiben zu einem heimlichen Flugfeld, wo er einen Hubschrauber stehen hatte. Dieser war bereits vollgetankt. Er ließ die übliche Flugerlaubnis einholen, daß seine Maschine zu einem Reiseservice gehörte, der betuchte Gäste von Moskau aus nach St. Petersburg flog. Dorthin wollte er sich absetzen, um dann mit seiner Luxusyacht über die Ostsee hinüber nach Finnland, wo er in den tiefen Wäldern seinen geheimen Unterschlupf hatte. Dort wollte er erst einmal zusehen, daß er nur die Geschäfte weiterführte, die nicht direkt in Rußland stattfanden. Über seine Kontakte würde er wohl mitbekommen, ob die Grippeepidemie, wie er einen Fall wie diesen nannte, bereits abgeklungen war.

Vier stunden später tuckerte seine Yacht bereits auf der Ostsee dahin. Ohne es zu ahnen, war er einem großen Verhängnis gerade noch entkommen. Doch er wußte nicht, daß jene Macht, die ihn persönlich angreifen wollte, auch Verbindungen nach Berlin unterhielt. So bekam er einen großen Schreck, als er zwei Tage später zu hören bekam, daß sein Sohn von Wladimir und Nikolai aufgesucht worden war, weil sie ihn selbst nicht antrafen. Sie hatten sich korrekt mit den üblichen Erkennungssätzen und unter Auslassung der für Gefahren oder Polizeiaktionen vereinbarten Warnworten vorgestellt. Dann sei Juri mit den beiden mitgefahren und seitdem nicht wieder aufgetaucht. Erst als drei weitere Tage verstrichen waren meldete sich sein Sohn wieder und gab das Codewort "Frühlingsschauer" durch. Das hieß, daß es ihm gut ginge, aber er für's erste nicht mit ihm persönlich zusammentreffen durfte. Kamarov atmete tief durch, als er diese Meldung erhielt. Sein Sohn war in Sicherheit. Doch daß Juri nicht mehr sein Sohn war, sondern der von Lady Nyx, wußte er nicht. Und er hätte mit diesem Wissen nur etwas anfangen können, wenn er Lady Nyx selber begegnet wäre.

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Er hatte eigentlich gedacht, er würde sie nie wiedersehen, als er am Abend des 18. April im Vergnügungsviertel Granadas umherstrolchte, um sich eine willige Begleiterin für eine unverbindliche Nacht zu suchen. Es war im Februar gewesen, wo er sie zum ersten Mal getroffen hatte, diese überirdische Frau mit der blassen Haut mit leichtem Goldton und den blaugrünen Augen. Er hatte sich ihr damals als José vorgestellt, weil er wegen seiner Anstellung großen Wert darauf legte, daß ihm keiner drauf kam, was ihn alle paar Wochen nach Granada führte. Sie hatte sich ihm damals als Celestina vorgestellt. Er war sich sicher, daß sie ihm auch nicht ihren richtigen Namen genannt hatte. Doch das war ihm egal. Die unvergleichliche Liebesnacht, die er mit dieser Frau verbracht hatte, überstrahlte immer noch alles, was er davor und auch schon danach erlebt hatte. Und jetzt sah er sie wieder, hier in dieser halbdunklen Bar am Rande der sündigen Meile von Granada. Eigentlich hatte er darauf gehofft, Loli noch einmal zu treffen. Denn außer ihr war keine mit dieser Celestina vergleichbar gewesen. Vielleicht hätte er es noch mal darauf anlegen sollen. Aber jetzt war sie da. Sie trug wieder jenes kurze, bei gutem Licht hellgrün schimmernde Kleid, das mehr ent- als verhüllte. Sie lächelte ihn an und verströmte jenen anregenden Duft, von dem José nicht wußte, ob es Parfüm, Deodorant oder Haarpflegemittel war.

"Ich dachte, du würdest irgendwo in der Welt verschwinden", hatte José dieses Wunderwesen begrüßt. Sie hatte darauf geantwortet:

"Die Welt ist nicht so groß wie du denkst, José. Aber schön, daß wir uns hier wieder treffen. Ich denke noch oft an unsere gemeinsame Zeit zurück." Das reichte aus, um jeden Argwohn in ihm verstummen zu lassen. Warum nicht noch einmal mit dieser Superbraut, die irgendwie wußte, was er gerade wollte und es ihm verschaffte? Sie schenkte ihm ein sehr warmes Lächeln und bedeutete ihm, ihr zu folgen. Beim letzten Zusammentreffen hatte er sie in eine kleine, saubere und verschwiegene Absteige geführt. Doch dahin wollte er mit ihr nicht zurückkehren. Für sein Ansehen war es nicht gut, wenn er mit einer Frau zweimal an einem bestimmten Ort zu sehen war. Er ließ sich also gefallen, wie Celestina ihm mit einem Taxi in eine kleine Ferienwohnung außerhalb der üblichen Touristenrouten führte. Im Moment war wohl nicht viel Los, wo die meisten Winterurlauber, die in der Sierra Nevada Skilaufen wollten keine Ferien mehr hatten und es für Sommerurlauber noch zu früh war, zumal diese dann eher an der Costa del Sol zu finden waren. Er war gespannt, welche Wonnen der Venus sie ihm diese Nacht zeigen würde. Doch zunächst heizte sie seine Begierden durch einen ruhigen Abend mit Tanz und Wein an. Erst gegen elf, als sein Geschlechtstrieb unübersehbar nach Befridigung verlangte, hatte sie sich erbarmt und ihn in das geräumige Schlafzimmer gelotst, wo sich beide langsam aller vorgeschriebenen Verhüllung entledigten und nach zärtlichem Abtasten und Streicheln immer enger zusammenrückten, bis beide dann alle Hemmungen verloren und sich auf dem breiten, frischbezogenem Bett wiederfanden. Sie war mal wieder unersättlich, ließ nicht von ihm ab, bis er nur noch wild keuchend dalag und meinte, das Bett, das Zimmer und das ganze Haus würden sich um ihn drehen und wie bei einem starken Erdbeben schwanken. Seine Gespielin wirkte dagegen noch putzmunter. Sie strahlte ihn aufmunternd an und prüfte, ob er nicht doch noch mehr schaffte. José fragte sich, ob er nicht demnächst die kleine blaue Wunderpille dabei haben sollte, die einem Mann längeres Durchhaltevermögen verschaffte. Irgendwie fühlte er jedoch, daß seine Partnerin ihn noch nicht genug ausgekostet hatte. Ja, offenbar ging noch was. Doch er konnte sich nicht mehr bewegen, geschweige denn, sie so führen und festhalten, daß er ... Doch das war überflüssig, erkannte er. Denn nun übernahm sie die Führung, nahm ihn, hielt ihn und genoß ihn. Er mußte sich nur so bewegen, daß er nicht total schlaff oder total steif dalag. Als sie ihm einen sehr leidenschaftlichen Kuß gab fühlte er ein gewisses Prickeln, daß von ihrer auf seine Zunge überging und vermeinte, dadurch neue Lebensgeister zu erhalten. Jedenfalls verflog das Schwindelgefühl. Kraft und Lust kehrten zurück, und er gab seiner Geliebten, wonach sie hungerte. Irgendwann nach einer ungemessenen Zeitspanne war jedoch auch ihr großer Hunger gestillt. Beide kuschelten sich aneinander und fühlten ihren Atem aufeinander. José keuchte:

"Mann, Celestina, aus einer wie dir machen andere zwei."

"Wer sagt dir, daß ich nicht mal zwei war und jetzt zu einer verschmolzen bin", hörte er seine unübertreffliche Geliebte säuseln. Er mußte grinsen. Das wäre wirklich zu abwegig, sich ein Paar Zwillingsschwestern vorzustellen, das durch einen Transporterfehler oder einen Zauberspruch dazu verdammt war, als eine Frau weiterzuleben, aber dann mit der doppelten Ausdauer, wie auch den doppelten Begierden ausgestattet war. Doch das eben, daß sie ihm seine Erschöpfung aus dem Leib geküßt hatte, das war schon merkwürdig gewesen. Immer wieder hatte er während der Stunden an sein eintöniges Dasein denken müssen. Als Bankangestellter im höheren Dienst jonglierte er zwar jeden Tag mit vielen Millionen Peseten. Doch irgendwie war da keine Spannung bei, wo es nicht sein eigenes Geld war. Sicher, er verdiente nicht schlecht, weil seine Chefs ihn nicht an die Konkurrenz verlieren wollten. Aber dieses Frauenzimmer, ihre Brüste, ihr warmes, leidenschaftliches Geschlecht, das war echt, das war nicht nur Computerspielerei. Seine Eltern hatten ihm zwar immer geraten, sich endlich eine Freundin zu suchen, die dann irgendwann zu so einem bürgerlichen Hausweibchen umgemodelt werden mochte. Doch sowas schuf neue Abhängigkeiten. Das mit Celestina war wild, aber auch unverbindlich. Morgen früh würden beide wieder ihrer Wege gehen. Aber er wußte, daß er von nun an nur noch an sie denken konnte, wenn er es mit einer Frau tat. Vielleicht kam nur die milchkaffeehäutige Loli an diese Klasse heran.

"Woran denkst du, Süßer?" Fragte Celestina und drückte sein Gesicht fest an sich, daß er fürchtete, zwischen ihren üppigen Brüsten ersticken zu müssen. An und für sich auch ein schöner Tod, dachte er einen Moment lang. Er wandte sich gerade so stark um, daß es nicht als Abweisung verstanden werden konnte und brachte erschöpft heraus:

"Das du Luder mich jetzt restlos verdorben hast. So wie du kann das keine andere tun. Wenn du morgen aus meinem Leben verschwindest und ich aus deinem, kriege ich keine mehr ab, die so heiß und begabt ist wie du."

"Du hast deine kleinen Geheimnisse genauso wie ich, José. Deshalb ist es gut, wie es zwischen uns ist. Glaube mir, wenn du mich nicht nur als heiße Geliebte um dich hättest würdest du mich irgendwann hassen. und das müssen wir ja nicht haben."

"Wieso, bist du in Wirklichkeit eine Hutzelhexe, die nur einmal im Monat jung und schön sein darf?" Fragte er amüsiert.

"Das nicht gerade", lachte Celestina. "Aber mit meiner Berufswahl könntest du Probleme kriegen. Immer unterwegs und immer darauf aus, alle anfallenden Angelegenheiten allein zu regeln. Aber wir wollten uns ja nicht von unserem Leben erzählen, weiß ich noch." Der Mann, der sich José nannte, bejahte es verschämt. Beinahe hätte er den Zauber ihrer unverbindlichen Beziehung zerstört. Denn wenn er wissen wollte, was sie sonst so tat, dann kam er nicht darum herum, ihr entweder was vorzulügen oder ihr sein Leben auszuliefern. Beides behagte ihm nicht. Wer nicht fragte bekam auch keine dummen Antworten, so hatte er sich bisher durch sein Privatleben gehangelt. Andere Frauen bekamen Geld, wenn sie besonders nett zu ihm waren. Nur Celestina hatte es genossen, ihn bei sich zu haben. Wußte er, ob dieses überragende Frauenzimmer nicht wie er ein Doppelleben führte und tagsüber sittsame Hausfrau und vielleicht sogar Mutter sein mußte? Dann war der Typ, für den sie das Haus in Ordnung hielt aber ein Idiot, wenn er die Fähigkeiten seiner Frau nicht so ausnutzte wie er. Oder es war ein alter Sack, der froh war, gerade so noch einen Erben auf den Weg gebracht zu haben und jetzt nichts mehr davon wissen wollte, was für Bedürfnisse seine Frau noch hatte. Geben tat es das alles, und er hatte in seinem offiziellen Leben schon genug ältere Herren mit blutjungen Ehefrauen angetroffen, wo er sich immer gefragt hatte, wie viel Geld einer Frau die erzwungene Enthaltsamkeit wert sein mußte. An eine Paarung reicher, alter Herr und junge Frau aus armen Verhältnissen, die nur aus Liebe zusammen waren, glaubte er jedenfalls nicht. Doch was tat er da? Er verdarb sich diese herrliche Stimmung, in der er gerade war, mit schnöder Grübelei. Celestina erkannte das wohl auch. Denn sie kuschelte sich wieder eng an und forschte nach, ob er nicht wieder in Stimmung gebracht werden konnte. Dieses Teufelsweib war wahrlich unersättlich. Wehe einem Mann mit Herz-Kreislaufproblemen, der an diese Frau geriet. Der würde keine Nacht mit ihr überleben, dachte er. Er wunderte sich eh, daß sein Kreislauf vorhin nicht schlappgemacht hatte. Verwundert stellte er fest, daß Celestina immer noch Reserven aus ihm herauslocken konnte. Erst als es hell wurde fühlte sie sich wohl endlich satt und zufrieden. Sie deckte ihn zu und ließ ihn schlafen. Er mußte ja erst morgen wieder in seiner Firma antreten. Außerdem hatte sie aus seinem Geist alles über seine einmalige zeit mit einer gewissen Loli herausgelesen. Sie kannte dieses andere Geschöpf. Eigentlich hätte sie die Vorstellung, sich von etwas berühren zu lassen, was dieses Ungeheuer bereits zu sich genommen hatte, angewidert fühlen müssen. Doch sie wollte diesem Burschen zeigen, daß sie besser war als dieses Abgrundsflittchen. Und sie wollte wissen, wo er dieses Frauenzimmer getroffen hatte. Nun wußte sie, daß dieses Geschöpf sich immer wieder unter die rein menschlichen Liebesdienerinnen mischte. Offenbar galt sie unter ihnen als besondere Vertraute. Denn José, der in Wirklichkeit Miguel hieß, hatte mitbekommen, daß sie von den anderen Liebesdienerinnen wie eine mütterliche Anführerin angesehen wurde. Das mochte diesem Geschöpf ähnlich sehen, die eigenen Begierden dort auszuleben, wo ihr die Beute förmlich in den Mund und sonst noch was hineinkroch. Im Moment legte die Frau, die sich Celestina nannte, es nicht darauf an, mit jener über Kreuz zu geraten, die sich Loli nannte. Genau deshalb war ihr klar, daß sie sich für die nächste Zeit von José und dieser Stadt weit genug fernhalten mußte, sofern Nyx nicht meinte, ausgerechnet hier ihr Hauptquartier anlegen zu müssen. Aber dann, das wußte die Unersättliche, würde sie genug Krach mit dieser Loli bekommen. Womöglich mußte sie, die eigentlich Anthelia und Naaneavargia hieß, sich dann nicht mehr länger mit Nyx herumschlagen. Wäre sicherlich spannend, eine Begegnung zwischen den beiden herauszufordern. Wenn sie dann zusah, wer übrigblieb, hatte sie eben nur noch eine Gegnerin, wenngleich beim Untergang Itoluhilas noch immer eine Wache und sechs schlafende Schwestern in der Welt waren. Doch was Nyx gerade anschob mißfiel ihr mehr. Und jetzt hatte sie endlich den ganzen angestauten Hunger nach männlicher Nähe gestillt, um sich darauf zu konzentrieren, Nocturnia, dem Reich ohne Grenzen, doch noch eine ganz und gar unüberwindliche Grenze zu setzen.

Gegen Mittag brachte sie José in die Gegend zurück, wo sie ihn wiedergefunden hatte. Der Abschied fiel kurz und im Verhältnis zur verbrachten Nacht sichtlich unterkühlt aus. Doch als Anthelia/Naaneavargia ihren Fang vom letzten Abend in einem Taxi davonfahren sah dachte sie nur noch daran, bald gegen Nyx vorgehen zu können.

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Das US-amerikanische Zaubereiministerium war in heller Aufregung. Seit dem ersten Februar, in dem Minister Cartridge einen Brief erhalten hatte, in dem die durch Verfasseranzeigezauber als Griselda Hollingsworth alias Lady Nyx identifizierte Schreiberin verlangte, er, Cartridge solle in jedem flächenmäßig großen Bundesstaat Siedlungen für die "Bürger Nocturnias" errichten lassen und überhaupt die Koexistenzbeschränkungen für alle in den USA lebenden Vampire aufheben, war ihm und allen seinen Mitarbeitern klar, daß nach der Sardonianerin und ihrer zur Riesenspinne verwandlungsfähigen Nachfolgerin eine neue, weltweite Gefahr drohte. Nyx hatte ihm nicht verziehen, wie er versucht hatte, ihre Expansionsversuche zu vereiteln. Zwar wäre er ohne die fremden Hexen, die mit mächtigen Artefakten gegen sie gekämpft hatten sicher von ihr getötet oder zu ihrem willfährigen Abkömmling gemacht worden. Doch was nicht war konnte noch werden. Um sich selbst hatte er keine große Angst. Er konnte jeden Tag genug Knoblauch essen und sich auf dem Potomac in einem von seinem Vorvorgänger Pole gekauften Hausboot auf fließendem Wasser verbergen. Aber seine Frau, sein geborener Sohn Maurice und noch auf dem Weg zur Welt befindliche Nachwuchs boten eine gute Zielscheibe für Nyx. Nach der grausamen Episode um die Entomanthropenkönigin Valery Saunders traute er Nyx zu, durch Antiapparierwälle hindurchzubrechen. Das Ministerium war also ein unsicherer Ort, wenn er von einer Hexe ausgehen mußte, die als Vampirin auch noch eine besonders große Macht erhalten hatte. Hinzukam, daß diese Spinnenhexe, die Stillwell erledigt hatte, ebenfalls aus Antidisapparierflüchen freikam. Über sie wußte Cartridge mittlerweile, daß sie zwischen Dezember 1997 und Oktober 1998 in Australien ihr Unwesen getrieben hatte. Offenbar hatte Anthelia vor ihrem sicheren Strahlentod noch einen Handel mit dieser Kreatur abgeschlossen, daß diese ihre Nachfolgerin wurde. Somit blieb Cartridge zur Beruhigung nur, seine schwangere Frau und Maurice weit genug fort in einem Fidelius-Haus zu verstecken, das von genug Hauselfen betreut wurde, um sie nicht verhungern oder verkümmern zu lassen. Das durfte aber nach außen hin niemand wissen. So hatte er Gary Bowman, einen Inobskurator, über den Dienstweg null den Auftrag erteilt, seinen Sohn zu spielen. Ronin Monkhouse, der für das Ministerium in verdeckte Missionen ging, konnte sich zwar ohne Vielsafttrank in einen anderen Menschen verwandeln, jedoch nur in einem engen Größenrahmen. Ein Kleinkind konnte der auch nur durch Vielsaft-Trank darstellen. Gary war nicht besonders erbaut gewesen, daß er in den nächsten Monaten in Windeln herumlaufen und sich wie ein gewöhnliches Kleinkind benehmen mußte. Doch er sah es ein, daß die amerikanische Zaubererwelt bedroht war und der Minister als Familienvater ein leichtes Ziel abgab, wenn es den feindlichen Gruppen gelang, seine Frau oder seinen Sohn in ihre Gewalt zu bringen. Maurice hatte für diese Täuschung sein ganzes Kopfhaar lassen müssen. Zumindest konnte Gary damit nun sieben ganze Wochen lang Maurices Sachen anziehen. Schwieriger war es für Lilian Grover, eine weitere Inobskuratorin, Godiva Cartridge zu verkörpern. Denn die Heiler konnten nicht mit sicherheit ausschließen, daß mit einem Haar oder Stück Fingernagel seiner Frau nicht auch ein Stück des gemeinsamen Kindes verbunden war. Zwar mußte die Doppelgängerin in Umstandskleidung herumlaufen. Aber wenn die Verwandlung zwischen ihr und dem Ungeborenen irgendwie stecken blieb, war niemandem geholfen. So blieb nur die Partielle selbstverwandlung und ein hautfarbener Beutel, der paßgenau vor Lilians Körpermitte befestigt wurde. Um die Regungen des Ungeborenen zu simulieren waren in dem Beutel kleine Wasserblasen eingelassen, die durch einen Zufallszauber immer mal mehr oder weniger ausbeulten. Nach einem Tag geheimen Trainings, wie Godiva ging und sich bewegte übernahm Lilian ihre Rolle im Ministerium. Außer vier eingeschworenen Hauselfen und drei vertrauenswürdigen Zauberern hatte niemand das Wechselspiel mitbekommen. Zumindest konnten sich die Doppelgänger gegen mögliche Entführer, ob Hexen oder Vampire ausgiebig wehren

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Irgendwo sollte es ihn noch geben, diesen Dientevoraz, den sein Herr und Erzeuger Hirudazo einst als möglichen Nachfolger ausgedungen hatte. Doch seit dem Kampf, bei dem Hirudazo und seine Gefolgschaft in Espinados Burg vernichtet worden war, hatte weder Mensch noch Vampir irgendwas von ihm gehört. Lady Nyx hatte nach ihrer Vernichtungsaktion gegen Dunkelmondvampire beschlossen, sich einige von denen im Westen gefügig zu machen. Denn eins machte diese Dunkelmondler zu sehr brauchbaren Vasallen, sie waren vollkommen Schmerzunempfindlich und waren besonders skrupellos. Solche Wesen mußte eine wie sie zumindest in kleiner Stückzahl behalten, um eine schlagkräftige Kriegertruppe aufbieten zu können.

Ihr Projekt mit der Vampirherberge war eigentlich gut gelaufen, wußte sie von den Vierbeins. Allerdings war es zu früh aufgeflogen, daß dort drei ihrer Diener gelebt und vor Ort das Experiment mit ihrem Blutpulver überwacht hatten. Arnold hatte das Versuchshaus in die Luft gesprengt, weil es wertlos geworden war. Dieser Güldenberg machte nun offen Jagd auf jeden Vampir. Das würde sie diesem feisten Sauerkrautfresser bald heimzahlen, wenn Nocturnia von seinem westlichen Stützpunkt aus zur vollständigen Ausbreitung ansetzte. Aber es konnte nichts schaden, wenn sie alte Strukturen in Spanien und anderswo wieder zusammenflickte. Dientevoraz solte ihr helfen. Denn er wußte, wer damals alles zu Hirudazo gehört hatte. Trotz der immer stärkeren Macht, die sie dem Mitternachtsdiamanten verdankte, konnte sie ferne Nachtkinder nur dann unterwerfen, wenn sie ihre Gesichter und Namen zusammenbekam. Da sie Dientevoraz bisher noch nie zu Gesicht bekommen hatte, mußte sie ihn persönlich aufsuchen.

Sie erinnerte sich daran, daß Dientevoraz vor zehn Jahren als Kundschafter nach Sevilla in Spanien geschickt worden war. Womöglich lebten noch einige Abkömmlinge von ihm dort. So reiste sie im Schutz der Solexfolie und der Unverwüstlichkeitsaura des Mitternachtsdiamanten auf dem Landweg nach Andalusien und mischte sich unter die arglose Bevölkerung. Um nicht von einem zufällig mit der Zaubererwelt paktierenden Menschen erkannt zu werden hatte sie sich zu der Schutzfolie noch eine Maske aus mehreren Gummiteilen über ihr Gesicht gezogen und eine tiefschwarze Perücke aufgesetzt. Um den aufgetriebenen Bauch zu kaschieren trug sie einen weiten Mantel. Immer wieder wisperte die Wächterseele des Mitternachtsdiamanten, daß sie ihm bald wieder Blut geben möge. Durch die Aktionen der letzten Wochen war sie zu einer regelrechten Blutumwälzanlage geworden, und ihr einverleibter Talisman hatte sich daran gewöhnt, jeden Tag frisches Blut zu verarbeiten. Aber im Moment wollte sie den Vierbeins kein frisches Blut von sich geben. Die fünf kleinen Ansiedlungen, die sie damit beglücken konnte, würden entweder Keimzellen ihres Weltreiches oder von Menschen mit oder ohne Magie niedergebrannt. Kam eine durch, war das für sie bereits ein wichtiger Sieg. Denn dann konnte sie jeden Zaubereiminister nachhaltig erpressen. Vor allem würde sie bald Cartridge und seine Familie heimsuchen. Sie hoffte nur, daß dieses Weib Anthelia und ihre Gehilfin mit dem verhaßten Sonnenmedaillon ihr nicht wieder dazwischenfuhrwerkten. Denn die beiden gingen sicher davon aus, daß sie das Ministerium wieder heimsuchen mochte.

Beim Anblick zweier gerade erblühter junger Frauen fühlte sie ihren eigenen und den ihres einverleibten Kleinods Durst nach frischem Blut immer größer werden. Das waren Dirnen, also frühere Berufskolleginnen von ihr. Es wäre sicher ein weiterer Fuß in der Tür zur Weltherrschaft, wenn sie solche Frauenzimmer zu ihren Werberinnen machte. Denn aus eigener Erfahrung wußte sie, daß viele Kunden von Prostituierten keinem auf die Nase banden, solche zu sein. Das mochten unter glücklichen Umständen hochrangige Männer aus Politik, Wirtschaft und Unterhaltungsindustrie sein. Warum nicht einen Armeegeneral, der in Nocturnias Reihen focht. Warum nicht ein Industrieller, der seine Geschäftspartner zu Bürgern des Reiches ohne Grenzen machte? Warum also nicht?

Sie blickte eines der beiden Straßenmädchen genauer an. Sie wußte, wie sie sie dazu kriegen konnte, es auch mit bedürftigen Frauen zu tun, wenn sie sie richtig motivierte. Auch sie hatte nicht nur Männer bedient, als sie noch in Sacramento gearbeitet hatte. Damals hatte sie um ihr Leben gefürchtet, weil eines Tages eine der neun Abgrundstöchter in ihrem Arbeitshaus aufgetaucht war. Doch diese hatte sie nicht bemerkt oder für zu unbedeutend gehalten, um sich mit ihr anzulegen. Heute hatte sie keine Angst mehr, mit deren Schwestern zu tun zu bekommen. Aber zuerst galt es, ihre neue Idee in die Tat umzusetzen.

Nyx fühlte die Abneigung gegen eine heiße Stunde zwischen zwei Frauen. Doch nach einigen schmeichelnden Sätzen und dem Vorzeigen einer größeren Summe Bargeld schmolz die auserwählte dahin. Nyx ließ sich auf ihr Zimmer führen und handelte mit der jungen Prostituierten genauer aus, was sie für wieviel bekommen würde. "Damit das klar ist, ohne Gummituch geht nix", sagte die Straßendirne. Nyx stimmte dem Vorgehen zu. Hatte sie sowas dabei? Sie war doch auch eine Hexe. Sie konnte ein für gefahrlose Liebkosungen zwischen zwei Frauen wichtiges Hilfsmittel aus dem Nichts beschwören. Aber ihr Blutdurst war langsam übermächtig. So gab sie der Dirne die ausgehandelte Summe und sah ihr tief in die Augen. Gleich würde sie völlig unter ihrem Bann stehen und sich von ihr küssen lassen, wie sie noch keiner oder keine geküßt hatte. Da fühlte sie einen merkwürdigen Widerstand, der jedoch nicht gegen ihre gesteigerte Kraft ankam. Sie schaffte es, die junge Hure gänzlich willenlos zu machen und wollte gerade ansetzen, ihr den Biß in den Hals zu versetzen, als eine Aura unbändiger Kraft in das Zimmer flutete. Nyx wirbelte herum und sah eine ihrer gefährlichsten Gegnerinnen. Sie erinnerte sich noch zu gut, wie sie beide nach dem Mitternachtsdiamanten gegiert hatten. Und da stand sie auf einmal im Zimmer einer freischaffenden Hure. Wie kam das?!

"Du?!" Schrillte die schwarzhaarige Frau mit der milchkaffeebraunen Haut und den wasserblauen Augen. "Ich dachte, dich hätte Volakin erledigt. Laß die Krallen, Hauer und was auch immer von meinen Mädchen, du Stück Dreck! Oder ich zermalme dich wie die Mühlsteine das Korn."

"Guck mich mal besser an, du Ausgeburt einer kranken Kreatur!" Schnarrte Nyx und schlug ihren weiten Mantel auf. "Ich habe mich mächtiger gemacht als alle vorher, du Schlampe!"

"Selber Schlampe!" Fauchte Itoluhila. Sie war wütend. Das konnte Nyx ihr deutlich ansehen. Sie fühlte, daß die Aura des Mitternachtsdiamanten sie umgab. Die hatte doch schon gelernt, daß sie diese nicht durchbrechen konnte.

"Denkst du, ich hätte noch einen Grund, vor dir und deinen aus einem verirrten Leibwind heraus entstandenen Schwester Angst zu haben, Itoluhila? Ich will dieses und alle anderen Mädchen, die ich für passend ansehe einladen, Bürgerinnen eines großen Reiches zu werden. Sie werden es besser haben als bei dir, du Wassertreterin."

"Oh, du meinst, ich hätte damals schon alles ausgepackt, was ich drauf habe, du bleicher Blutegel, und meinst, weil du seinen Stein in dich reingestopft hast und jetzt aussiehst wie eine Zwillingsmutter vor dem Werfen könnte ich dir nichts. Dann paß mal auf!"

Unverzüglich quoll nebel aus den Wänden. Nyx wurde von einer Mauer aus eiskaltem Dunst umgeben. Sie fühlte es in sich ruckeln und rollen. Der Mitternachtsdiamant hielt gegen den Nebel. Sie lachte und zog ihren Zauberstab hervor. "Antiscotergia!" Rief sie und hoffte darauf, das die von ihr ausgehende Zerstreuungskraft gegen dunkle Kräfte wirkte. Doch ihr Zauberstab ruckelte protestierend, und von irgendwo aus ihren Eingeweiden drang der Tadel: "Damit nicht, du Närrin!"

"Na, war wohl nix, Nyx", knurrte Itoluhila, die sich wohl sichtlich abmühen mußte, um die Vampirin zu vernichten. Diese versuchte es mit dem Elementa-recalmata-Zauber. Damit blies sie den Nebel zwar von sich weg, aber nur, um im nächsten Moment in einem hammerhart auf sie eindreschenden Hagelschauer zu stehen. Mit ihren Vampirohren hörte sie andere Frauen über und unter sich fluchen, daß auf einmal kein Wasser mehr da sei. Itoluhila versetzte also alles verfügbare Wasser und wandelte es um. Wenn sie ihr die dunkle Flut schicken konnte wie Anthelia sie gegen Volakin benutzt hatte sähe es bedeutend schlechter für Nyx aus. Die Hagelkörner hieben auf sie ein, sammelten sich um sie herum und schlossen sie immer mehr ein. Sie wuchsen zu einem Hügel aus Eis. Sie kämpfte mit ihren Körperkräften dagegen an, eingeschlossen zu werden. "Meteolohex recanto!" Rief sie. Da entfiel ihr der Zauberstab. Sie sah noch, wie er unter mehreren Eisbrocken begraben wurde.

"Ohne dein Stöckchen bist du nur ein Blutegel, Kleines", spottete Itoluhila und machte Gesten, die den von ihr beschworenen Hagelschauer verstärkten. Doch Nyx gab nicht auf. Sie tauchte nach unten, wühlte mit großer Anstrengung im herniederprasselnden Eis und zog den Zauberstab heraus. Da trafen sie zwei Eispfeile am Brustkorb. Sie fühlte, wie die Solexfolie durchlöchertwurde und das Eis in sie eindrang. Als wäre in ihrem Leib ein wilder Kreisel in Bewegung geraten fühlte sie den Mitternachtsdiamanten, der die mit dunkler Kraft angereicherten Geschosse bekämpfte oder gar ihre Macht in sich selbst einsog, wie er es mit Todesflüchen vermochte. Doch offenbar widerte ihn diese tödliche Kraft an. Die Wächterseele stieß gedankliche Verwünschungen aus:

"Mit ekelhafter Kraft verdorbenes Leben. Weg damit!" Drei weitere Pfeile flogen aus Itoluhilas Händen. Dafür hörte der Hagelsturm auf.

"Nah, wegfliegen wie damals und die Dinger so einfach parieren geht nicht. Ich kann Wasser hier stärker bündeln als damals, du dummes Ding!" Spottete sie.

"Du bist ein dummes Ding, daß du glaubst, mich damit ..." keuchte Nyx. Doch ihr wild vibrierender Bauch und der Umstand, daß sie sich nicht mehr richtig auf den Beinen halten konnte zeigten ihrer Todfeindin, daß diese wohl zuletzt lachen durfte. Außerdem schwoll die Wölbung von Nyxes Leib wieder ab. Der Mitternachtsdiamant verlor seine Substanz. Noch ein Eispfeil traf sie genau im Bauchnabel. Nyx und die Gedankenstimme der Wächterseele schrien laut auf.

"Ja, wer niederkommt schreit", lachte Itoluhila. "Und dein schwarzes Ei wirst du gleich legen, wenn es dich nicht von innen zerbröselt, kleines Mädelchen!"

"Ich tanz noch auf deinem Grab, du Schleimklumpen aus einerdreckigen ... Aaarg-nnnnng!" Schrie Nyx und fiel hin. Der Mitternachtsdiamant sprang und stieß in ihr herum. Seine Wächterseele schrie vor Wut, weil die in seiner Trägerin hineinwirkende Kraft stärker als sie und er wurde. Nyx schrie ihre Qual hinaus. Sie fühlte, daß der Stein in ihr immer kleiner wurde. Bald würde er ihr entfallen, wenn er so weiterrumorte. Vielleicht sollte es so sein. Aber Itoluhila sollte ihn nicht bekommen.

"Mach die Beinchen auseinander, kleines Bluthexlein, damit die gute Tante Loli dir das böse Steinchen rausholen kann, daß dich so quält!" Flötete Itoluhila.

"Nieieiemhahals!" Riefen Nyx und die Gedankenstimme ihres aufgewühlten Innenlebens zugleich. Nyx fühlte einen Impuls in sich, den Zauberstab hochzureißen und Itoluhila den Todesfluch entgegenschleudern. Doch der grüne Blitz zerstob um den Körper der Abgrundstochter. Doch dafür ließ für einen Moment die in der Vampirlady wirkende Gewalt nach. Nyx erkannte, daß Flucht im Moment die bessere Lösung war und sprang auf die Beine. Ehe Itoluhila ihr noch einen Pfeil aus Eis in den Leib treiben konnte, knallte es, und Nyx war fort.

"Ich muß dich ohne deinen Stecken packen, du mieses Stück", schnarrte Itoluhila. Sie merkte, daß ihre dunkle Wassermagie noch eine winzige Verbindung zu Nyx aufrechthielt. Sollte sie ihr nachspringen? Nein, sie hatte eine bessere Idee. Sie vollführte einige Gesten um sich herum und über der die ganze Zeit in tiefer Vampirhypnose gebannten Straßendirne und murmelte alte Formeln, die ihre Mutter ihr und ihren Schwestern beigebracht hatte. Dafür mußte sie zwar vier weitere Leben aus sich freigeben. Doch dann war der Bannspruch vollendet. "Wage dich nie wieder in mein Revier, du dummes Huhn, oder dein in dir liegendes Ei wird endgültig von mir verfrühstückt!" Rief Itoluhila der Vampirin über die kurz vor dem Zusammenbruch stehende Verbindung noch zu. Dann erstarb die Macht, die sie gegen Nyx gewendet hatte.

Nyx hörte und fühlte die sie bedrohende Zauberkraft und hörte auch ihren wahren Namen, Griselda Hollingsworth heraus. Dann wußte sie, daß die Macht, die ihr gerade zugesetzt hatte, sie überall dort sofort peinigen würde, wo Itoluhila ihr Revier hatte.

Erst nach einer halben Minute erlosch die Eismagie, die Itoluhila gegen Nyx verwendet hatte. Der Mitternachtsdiamant hörte mit seinem Spektakel auf. Nyx überlegte, daß wo er jetzt so stark eingeschrumpft war, daß sie ihn mühelos aus ihrem Körper ziehen konnte, es vielleicht besser war, ihn nicht mehr länger zu tragen. Doch dann erkannte sie, daß ihr Projekt Neuzeitkinder dann nicht mehr zu erfüllen war. Denn hierzu mußte sie den Mitternachtsdiamanten als magischen Katalysator mit ihrem Blutkreislauf vereint haben. "Trink mich wieder groß!" Befahl der Wächter des magischen Steines. "Trink mich wieder groß!!" Diese drängende Aufforderung überflutete Nyxes Verstand. Sie wußte, daß sie, um die Macht behalten zu können, keine Wahl hatte, als die Aufforderung zu erfüllen. So zog sie aus, um in einer Nacht sieben arglose Menschen restlos leerzusaugen, ohne sie in den fragwürdigen Genuß kommen zu lassen, Bürger ihres Reiches zu werden. Daß dieses Reich auf wackeligen Fundamenten ruhte wußte die selbsternannte Königin der Nacht. Denn ihr war wieder einmal klargeworden, warum Itoluhila und ihre Schwestern Jahrtausende und tausendfache Anfeindung überstanden hatten. Solange sie Leben anderer in sich selbst bündeln konnten, waren sie den meisten anderen Wesen überlegen. Nur wer es schaffte, den Fokus ihrer Lebensenergien zu zerstören, wie es Anthelia wohl getan hatte, der konnte ihnen wahrhaft gefährlich werden. Doch Itoluhila hatte sie gerade an den Rand der endgültigen Vernichtung getrieben. Die nächste Begegnung mit ihr würde sie sicher nicht überstehen. Ein gewisses Vergnügen bereitete ihr eine Nachricht aus den Staaten, die sie im Moment nicht betreten wollte, solange sie nicht wieder wen fand, der so bereitwillig mit ihr hoch über dem Meer fliegen würde.

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Freddy Kessler war leidenschaftlicher Bergsteiger. Mit seinen vier Freunden Jack, Bill, George und Gary bildete er ein eingespieltes Klettergespann. Immer wenn im Frühling die letzten Lawinen talwärts gedonnert waren und der Winterschnee schmolz, kribbelte es Freddy in Händen und Füßen, bald wieder einen Berg zu erklimmen. Die Rocky Mountains waren auch zu verlockend für jemanden, der nicht das Geld hatte, die echten Herausforderungen im Himalaya zu suchen.

Freddy war als erster in der Saison dran, die zu erklimmenden Höhen auszuwählen und das Quartier zu machen. Als kleiner Büroangestellter konnte er nicht gerade in Luxusherbergen absteigen. Jack und Bill hatten ähnliche Probleme. Gary und George hätten zwar das Geld, hatten aber gelernt, daß es der Freundschaft nicht lange bekam, wenn es darum ging, wer sich was leisten konnte und wer nicht. Wer drankam fuhr auch. So lautete die ungeschriebene Übereinkunft der fünf, die sich "die Bergaffen" nannten. Selma, Freddys langjährige Lebensgefährtin in wilder Ehe, hatte schon früh lernen müssen, daß sie bei einer direkten Konkurrenz zu den steinernen Riesen der Rockies den kürzeren ziehen würde. So ließ sie ihrem Freddy den Spaß, auch wenn sie wußte, daß es gefährlich werden konnte. Wie gefährlich es dieses mal werden würde ahnte niemand.

"Guck, da ist dieses Nest, Buffalo Creek", grummelte Jack, der gerade mit seiner Zigarette Nummer sechs fertig war. Keiner außer ihm kapierte es, wie er trotz einer Schachtel pro Tag diese Ausdauer behalten konnte, stundenlang an einer Steilwand hochzukrackseln. Bill, der für seine gerade dreißig Jahre schon eine beachtliche Glatze besaß, grinste über das leicht verrottete holzschild, auf dem der Ortsname stand.

"Wetten in dem alten Wegweiser da wohnen mehr Holzwürmer als Menschen in diesem Kaff", feixte er. Freddy war sogleich mit der Antwort zur Stelle:

"Nach der letzten offiziellen Zählung sind's dreihundertachtundneunzig Menschen, davon hundertvierzig Männer, hundertdreißig Frauen und hundertachtundzwanzig Kinder zwischen Windelalter und Oberschulabschluß." Er sah gerade die ersten Häuser rechts und links der knapp zehn Meter breiten Straße, die den passenden Namen Hauptstraße trug. Er bremste fast voll ab. "Ups, da wäre ich glatt voll durch deren Stadtmitte durchgerauscht", grinste er, als er das große Backsteinhaus rechts voraus mit dem dahinterliegenden Platz sah.

"Ähm, Freddy, bist du dir echt sicher, daß hier unser Quartier is'?" Fragte Gary skeptisch. Der breitschultrige Straßenbauarbeiter war bei so kleinen Siedlungen immer so drauf, wußte Freddy. Deshalb sagte er ruhig:

"Siehst du nicht dahinten den kleinen Campingplatz?" Dabei war nirgendwo ein Campingplatz zu sehen. Statt dessen zierte eine rote Leuchtreklame ein dreistöckiges Haus, das mit dem Backsteinhaus und der Kirche die einzig wirklich hohen Gebäude darstellte. "Zur goldenen Brücke Hotel und Restaurant" lasen die fünf Bergaffen und lachten.

"Mann, die sind aber sehr selbstbewußt hier", bemerkte George, der sich unter einem Hotel was größeres und aufwändigeres dachte. Freddy zeigte kurz mit der linken Hand auf die Leuchtreklame und die Eingangstür darunter und sagte, daß sie hier ihr Quartier hatten.

Mehrere Halbwüchsige kamen aus den Seitengassen und blickten den dreißig Jahre alten Dodge Freddy Kesslers an. Die fünf Bergsteiger dachten sich schon, daß die Burschen hier selten Fremde zu sehen bekamen. Sie hofften nur, daß die in Großstädten grassierende Respektlosigkeit vor anderer Leute Eigentum diesen versteckten Ort noch nicht erreicht hatte. Freddy Kessler bremste, weil zwei der Teenager gerade auf der plattierten Hauptstraße standen. Er kurbelte das Fenster herunter und bat im lockeren Tonfall darum, zumindest auf den Parkplatz fahren zu dürfen. Die Jungen lachten ihn an, gaben aber den Weg frei. Freddy kurbelte das Fenster wieder hoch und bugsierte den Wagen auf den zum kleinen Hotel gehörenden Parkplatz, wo gerade einmal zehn Autos der Mittelklasse platzfinden mochten. "Okay, Jungs, hier ist das Quartier."

"Und dieser Ort hat echt 'ne Internetseite?" Fragte George. "Hätte mich jetzt nicht gewundert, wenn die hier noch mit Rauchzeichen kommunizierten."

"Die weißen hatten Kurierreiter", verbesserte Jack den Freund.

Die Neuankömmlinge sprachen sich so schnell im Ort herum oder waren bereits vom Wirt der goldenen Brücke vorangekündigt worden. Jedenfalls gab es auf der Straße keine Minute nach der Ankunft der fünf einen Menschenauflauf. Erst kamen die Kinder, dann deren Mütter. die erwachsenen, die gerade nicht arbeiteten. Freddy stellte fest, daß es hier wohl nur Hausfrauen gab. Denn sein auf Zahlen getrimmtes Gehirn vermerkte, daß die von ihm bereits erwähnten 130 Frauen vollzählig zur Begrüßung der Bergaffen angetreten waren. Zwei von denen trugen Schürzen und kamen aus dem einzigen Gasthaus heraus. Freddy versah seine Zuständigkeit für die Quartiernahme und stellte seine vier Freunde und Kletterbegeisterten vor. Ein Mann mit einer Lederweste, auf der ein altertümlich wirkender Sheriffstern prangte, begrüßte Freddy Kessler und seine vier Freunde und sagte mit tiefer Stimme: "Ich bin Gordon Tucker, Auge und Arm des Gesetzes hier. Ich hoffe, wir geraten nicht aneinander."

"Nur wenn es verboten ist, auf Berge zu klettern", erwiderte George grinsend. Ein echter Sheriff. Der Großstädter kannte sowas nur aus Wildwestfilmen.

"Die Besteigung von Bergen über einundzwanzigtausend Fuß ist strengstens verboten", griff der Ordnungshüter Georges Bemerkung auf. Er sprach so, als amüsiere er sich darüber. Aber sein Gesicht war ernst, und er öffnete den Mund gerade mal soweit, um seinen Worten genug Platz zum hinausschlüpfen zu geben. Freddy lachte. Denn in den USA gab es keinen Berg, der einundzwanzigtausend Fuß oder höher war. Jack sah die anderen an. Eigentlich müßten die doch mal lächeln. Doch sie zeigten überhaupt keine Regung.

Jack und Freddy teilten sich das eine der beiden Doppelzimmer. In dem zweiten logierten George, Bill und Gary. Während Freddy und Jack ihre Ausrüstung sortierten sagte Jack: "Irgendwas ist mit denen nicht normal. Keiner von denen hat gelächelt, als hätten die Angst, ihnen könnten Fliegen in den Mund reinfliegen oder jemand würde ihnen die Zähne rausnehmen."

"Sie klingen freundlich, sehen aber so aus, als wüßten sie nicht, ob sie uns auf die Schultern klopfen oder in der Luft zerreißen sollen. Sie sind das halt nicht gewohnt, Besuch zu haben."

"Klar, und dann nennt sich die Bude hier Hotel", knurrte Jack und deutete im Zimmer herum. Es war zwar sauber, war aber mindestens schon zwanzig Jahre oder mehr nicht mehr tapeziert oder gestrichen worden. Das bißchen Teppich, das zwischen den zwei Betten ausgelegt war, war als Neuling sicher mal drei- oder vierfarbig gewesen. Doch jetzt lag da nur noch ein eher weißbraunes Stück verwobene Kunstfaser. "Nur wir Kletteraffen würden in so'ner Bude Quartier machen. Wenn ich die nächste Tour anschiebe biwackieren wir besser wie im letzten Sommer."

"Wir haben die Tour noch gar nicht angefangen, Jack", grummelte Freddy. Jedes Jahr dasselbe. Jack hatte immer gleich was zu motzen, wenn er nicht das Quartier besorgte. Er hätte wohl noch was zum Meckern gefunden, wenn sie im erwähnten Waldorf Astoria in New York abgestiegen wären. Aber da gab's keine natürlichen Kletterparadiese.

"Wir treffen uns gleich unten in dem, was die hier Restaurant nennen und bequatschen unsere erste Klettertour morgen", grummelte Freddy. Er prüfte, ob er alle Karabiner mitgenommen hatte und setzte sich kurz auf das frischbezogene Bett. Es gab ein lautes Quietschen und Knarren von sich.

"Na super, da müssen wir uns ja voll müde klettern, damit wir hier überhaupt schlafen können", maulte Jack und prüfte sein Bett. Auch dieses knarrte und quietschte. "Ich glaube, wir fragen, ob die uns zwei Schlafsofas hier reinstellen. Das Gestell quietscht ja lauter als Cassy."

"Tja, wohl weil es schon viele Paare erlebt hat, die so stürmisch sind wie Cassy und du", parierte Freddy Jacks Bemerkung.

"Klar, das reinste Flitterwochenparadies hier", grummelte Jack. Doch Freddy grinste darüber nur. So ließ Jack die Meckerei bleiben.

Als sich Freddy nach dem Studium der Geländekarte mit den eingetragenen Höhenangaben noch einmal auf den großen Marktplatz stellte und die Berge im Hintergrund der Holzhäuser fotografieren wollte, gesellten sich mehrere Bewohner ins Bild. Freddy kannte es von Touristenzielen in Asien und Afrika, daß die Eingeborenen da wohl wußten, ihr eigenes Bild zu vermarkten, ob mit Kamelen am Führstrick, in traditioneller Aufmachung oder vor ihren landestypischen Behausungen. Deshalb dachte Freddy, gleich mehrere Dollar für die unerbetene Menschengruppe im Bild lockermachen zu müssen. Doch nichts dergleichen geschah. Die Männer, Frauen und Kinder stellten sich nur hin, warteten, bis Freddy abgedrückt hatte und trollten sich. Vielleicht schrieb ihnen Brody, der Wirt von der goldenen Brücke die Fotoparade auf die Rechnung. Wenn er schon keinen Fernseher und keine Zimmer mit eingebautem Bad anbieten konnte. Aber die Leute lächelten nicht. Sie blickten nur kurz in die Kamera und winkten. Aber sie lächelten nicht. Freddy verknipste einen ganzen Film, bis er alle Berge einmal richtig eingefangen hatte. Zu Weihnachten würde er wohl eine der neuartigen Digitalkameras bekommen, um gleich zu sehen, ob die Bilder was taugten. Die drei verbleibenden Filmrollen wollte er dann auf der Tour vollknipsen.

Das Essen im hauseigenen Speiselokal war ländlich und einfach, aber sättigend und lecker. George wisperte Freddy und Jack zu, daß die hier wohl noch keinen Knoblauch kannten, weil in den hausgemachten Hamburgern kein einziger Hauch dieser Gewürzpflanze verhackstückt war. Aus der antik wirkenden Musikbox plätscherte mittelschnelle Countrymusik durch den einem alten Westernsaloon ähnelnden Gastraum. Außer den fünf Bergaffen speisten nur noch der pummelige Bürgermeister, der Gemeindeprediger und der Sheriff hier. Die hatten keine Frauen zu Hause oder aßen lieber wo, wo wer kochen konnte, vermutete Freddy.

Da im Ort Buffalo Creek außer diesem Gasthaus nichts anderes war, wo man abends noch hingehen konnte, und weil die fünf wegen ihrer Fitness wenig Alkohol tranken, hatten sie auch keine Probleme, als der Wirt um elf Uhr abends zur letzten Bestellung aufrief. "Wie in London", warf George ein, der dort schon mal Urlaub gemacht hatte.

"Irgendwie habe ich den Eindruck, die Leute hier werden immer wacher als müder", meinte Jack, als er mit Freddy im Doppelzimmer war und die schirmlose Deckenlampe ihre Unterbringung ausleuchtete. Freddy nickte. er sah auch, wie draußen immer noch viele der vierhundert Bewohner auf der Hauptstraße und den kleinen, von großen Autos nicht zu durchquerenden Straßen herumliefen, als wenn sie gerade ausgehen wollten.

"Hoffentlich steigt bei denen um Mitternacht nicht die große Fete, wenn wir gerade pennen wollen", grummelte Jack noch. Freddy stimmte ihm zu. Irgendwas gefiel ihm an diesem Ort nicht, obwohl er ihn selbst ausgesucht hatte. Es kam ihm so vor, als wäre die sich Stadt schimpfende Gemeinde umgepolt worden. Zwar hatten viele Bewohner sich gezeigt, als es Nachmittag war. Aber irgendwie hatten die sich alle nicht lange mit den Neuen aufhalten wollen. Sie hatten sie nur angesehen, begutachtet und fertig. Außerdem meinte Freddy beim Blick aus dem kleinen Fenster zur Hauptstraße hin, daß die Menschen da unten sich verändert hatten. Im nach außen entweichenden Licht der Lampe schimmerten deren Gesichter so hell, als würde das Licht auf weißgetünchte Wände treffen. Darüber hinaus wollten die Leute offenbar nicht mit Kunstlicht angeleuchtet werden. Denn sie beeilten sich, aus dem Lichtschein herauszukommen und verschmolzen mit der Dunkelheit. Jack pflanzte sich neben Freddy und sah ebenfalls hinaus in die Nacht. "Keine Straßenbeleuchtung?" Brachte er eine als Frage daherkommende Verwunderung an.

"Spart Strom", grummelte Freddy. "Jeder läuft dann halt mit Taschenlampe oder Laterne draußen rum."

"Ach ja? Wer denn?" Fragte Jack und machte eine kurze Schwenkbewegung mit der Hand, um in beide Richtungen der Straße zu deuten. Freddy erkannte, daß Jack recht hatte. Da unten lief niemand mit eigenem Licht herum. Die konnten doch nicht etwa im Dunkeln sehen wie Eulen? Jedenfalls herrschte dort unten ein reges Treiben. Aber, und das machte Freddy sehr stutzig, ohne einen einzigen Laut. Die dort unten bewegten sich so leise, als gelte es, bloß nicht gehört zu werden. Das und die rege Völkerwanderung dort unten auf der Straße alarmierten ihn. Er wußte nicht, woher diese Beklemmung auf einmal kam. Aber irgendwie fühlte er sich auf einmal nicht mehr so behaglich und sicher hier. Er hatte sogar das Gefühl, irgendwas oder irgendwer belauere ihn. So hatte er sich nur einmal gefühlt, als er zu spät von einer Betriebsfeier nach Hause gefahren war und dabei durch einen bei Dunkelheit nicht unbedingt anzusteuernden Stadtteil hatte fahren müssen. Da hatte er den guten alten Dodge mit Bleifuß durch die Straßen gejagt. Er hatte herumlungernde Jugendgruppen und verwegen herumschleichende Gestalten gesehen. Er war sich sicher gewesen, daß er sofort überfallen worden wäre, hätte er auch nur einmal angehalten. Genau dieses Gefühl überkam ihn hier. Nur saß er hier nicht in seinem Auto. Das stand zwei Stockwerke und drei verschließbare Türen von ihm getrennt.

"Jack, mir gefällt das hier nicht", raunte er so leise er konnte. Er blickte noch einmal hinaus und erhaschte gerade noch den Blick auf sieben Männer, die knapp außerhalb des Lichtvierecks standen, das die Deckenlampe aus dem Zimmer auf die Straße zauberte. Jack grinste seinen Freund verächtlich an. "Du hast dieses Nest ausgesucht, Freddy", knurrte er wie ein gereizter Wachhund. Freddy Kessler konnte das nicht abstreiten. Aber das änderte nichts an seinem Gefühl, das immer stärker wurde. Er sah Jack an und erkannte, daß auch ihm etwas nicht so geheuer war. Jack gehörte zu der Sorte Männer, die ihre Angst durch Verärgerung überlagerten. So verdrossen wie Jack nun aussah mochte auch er gerade von einer gewissen Beklemmung befallen sein.

"Ich weiß nicht, ob wir nicht besser ganz schnell anderswo hinfahren sollten", wisperte Freddy, weil er nicht wollte, daß es außerhalb des Zimmers gehört wurde.

"Du bist ein echtes Goldstück, Fred Kessler. Erst mit uns in dieses verschlafene Nest juckeln und dann die Flatter kriegen, weil die da unten 'ne Mondscheinparty feiern", blaffte Jack. Freddy war sich nun sicher, daß Jack ebenfalls stark verunsichert war. Aber der würde sowas nie zugeben, sondern jedem eine reinhauen, der ihm sowas auch nur zu unterstellen wagte.

"Der nächste Ort liegt zweihundert Meilen von hier weg. mit dem Auto sind wir in vier Stunden da, wenn wir uns beim Fahren abwechseln."

"Superidee. Aber ich glaube, die anderen sind schon am pennen", maulte Jack.

"Läßt sich rauskriegen", schnarrte Freddy und wandte sich der Zimmertür zu.

"Freddy, ich kapier's, das dir die Kiste da unten auf der Straße nicht so astrein vorkommt. In so'nem Nest klappen sie sonst schon um sieben abends die Bürgersteige hoch und holen die Häuser rein. Aber wenn du die anderen jetzt aus der Pofe rüttelst sieht dich Bill nicht mehr mit dem Arsch an." Freddy verzog das Gesicht. Jack hatte recht. Bill war ein Typ, der sich mit allem und jedem anlegte. Wenn dem wer sagte, er würde bei einem Ringkampf mit einem Alligator draufgehen, würde Bill darauf bestehen, den größten Alligator der Everglades zum Ringkampf herauszufordern. George, der von seinem Elternhaus her an hochqualitative Unterhaltung gewöhnt war, würde Freddy schief angucken, weil der auf einmal auch nichts mehr von Buffalo Creek hielt. Gary schließlich würde darauf bestehen, zumindest die Nacht hier schlafen zu können.

"Ich muß es riskieren, Jack", entschied Freddy schweren Herzens. "Lieber lasse ich mich von Bill eine Feige Ratte, von George einen unzuverlässigen Idioten und von Gary einen Ruhestörer nennen, als mich am Ende in der Küche von dem Laden hier in der Tiefkühltruhe wiederzufinden."

"Wann hast du das letzte mal "Psycho" gesehen?" Schnarrte Jack.

"Klar, das das jetzt kommen mußte, Jack. Ich habe den vor sieben Jahren einmal gesehen und danach drei Tage nicht mehr duschen können. Reicht die Antwort?"

"Ach, das war in dem Sommer, wo wir den McKinley geknackt haben", erwiderte Jack mit verächtlichem Grinsen. Dann stutzte er. Etwas hatte geknarrt. Das war keines der Betten gewesen. Es klang eher nach einer Holzbohle draußen im Flur. Freddy und Jack lauschten angestrengt. Doch es rührte sich nichts anderes. Freddys Unbehagen wurde jedoch in dem Moment zur nackten, wenn auch noch nicht panischen Angst. Doch die könnte ihn auch noch packen, wenn er nicht endlich klarbekam, was er hier und jetzt machen sollte. Das Holz zog sich wohl zusammen. Pure Schulphysik. Was abkühlte zog sich zusammen. Holz knarrte und knackte dann das eine oder andere Mal. Wollte er sich davon ins Bockshorn jagen lassen?

"Dachte schon, dem Wirt seine Alte wollte uns anscheißen, wir seien zu laut. Die hätte dann aber die passende Antwort gekriegt", knurrte Jack. Da passierte es. Mit leisem Piff erlosch die Deckenlampe. Die pure Dunkelheit stürzte in das Zimmer hinein und verschlang die beiden Hobbybergsteiger. Jack unterdrückte eine verärgerte Bemerkung. Denn daß das Licht gerade jetzt ausging, wo draußen im Flur eine Diele geknackt hatte kam ihm auch nicht geheuer vor. Er tastete statt dessen nach dem Schrank und langte durch die nicht verschließbaren Türen hinein nach seinem Rucksack. Mit geübten Griffen öffnete er diesen und angelte eine leuchtstarke Stablampe heraus, deren Batterien er vor dem Aufbruch gegen randvolle ausgetauscht hatte. Ein Griff, und er hielt die Handleuchte sicher in der rechten und zielte damit auf die Tür. Er stieß den Schiebeschalter nach vorne. Mit einem leisen Klicken brannte die Lampe ein Loch in die dunkelheit. Eigentlich hätte Jack erwartet, daß er mit dem Licht die Tür bestrahlte. Doch der Lichtkegel fiel auf ein Wandstück weiter dahinter. Die Tür stand offen! Als Fred und er das sahen, knisterte es, und auch der lichtstarke Strahl der Handlampe erlosch. Freddy und Jack standen einen Moment da und blickten in die wieder vollkommene Dunkelheit hinein. Freddy meinte, einen Luftzug zu spüren. Da hörte er ein lautes Rumpeln und Jacks wütenden Aufschrei:

"Scheiße, ein Überfall!" Freddy vergaß, daß die Taschenlampe nicht so einfach hätte ausgehen dürfen. Die unverkennbaren Kampfgeräusche und die hinausgebrüllte Wut seines Freundes entfachten in ihm die pure Angst. Er fischte unter sein Bett, riß seinen dort geparkten Rucksack hervor und fühlte eher als er es sah, wie jemand auf ihn zusprang. Er wußte nicht, wieso. Aber er wich nach rechts aus. Wer immer ihn anfiel landete auf dem Bett. Es kreischte protestierend. Freddy hörte, wie Jack jemandem etwas über den Schädel zog. Womöglich war es die Stablampe. "Mistsack! Verreck!" Brüllte Jack. Doch sein aus Angst geborenes Wutgebrüll erstarb in einem Röcheln, als würge ihm wer die Luft ab. Gleichzeitig krachte es hohl nachhallend aus der Richtung, wo der Flur lag. Das war ein Pistolenschuß. Bill ging nie ohne seine Magnum auf Tour, wußte Freddy. Das war eindeutig der Knall dieser Waffe. Doch Freddy hatte keine Zeit, sich weiter darüber gedanken zu machen, auf wen Bill da geschossen hatte. Denn sein Angreifer stieß sich vom Bett ab. Freddy hieb mit der linken Faust nach vorne und traf auf ein ihm entgegenfliegendes Hindernis. Der angreifer prallte zurück. Freddy wich zum Fenster zurückund fühlte wieder, wie jemand ihn ansprang. Er tauchte nach rechts weg. Sein unsichtbarer Gegner krachte mit lautem Klirren durch die Fensterscheibe. Ein Splitterregen ergoß sich über den Freizeitbergsteiger. Doch diesem kam ein wahnwitziger Gedanke. Er hechtete rückwärts durch das nun offene Fenster hinaus und ließ sich fallen. Mit der linken hand bekam er die hölzerne Außenbank zu fassen, streifte seinen Rucksack mit einem Riemen über und packte mit der freigewordenen Hand zu. Das Haus war aus Brettern gebaut. Genug möglichkeiten, dran herunterzuklettern. Jack war wohl noch beschäftigt. Freddy wollte ihm zurufen, daß er durch das Fenster flüchten sollte, als er ihn laut schreien hörte. Gleich darauf vernahmen seine durch die nackte Angst geschärften Ohren ein gieriges Schmatzen und Saugen. Freddy Kessler ahnte es eher als es zu wissen, daß sein Freund wohl keine chance mehr hatte. So blieb ihm selbst nur die Flucht. Denn er war sich sicher, daß die drei anderen gerade ebenfalls überfallen wurden.

Freddy blickte kurz nach unten. Er war schwindelfrei und vertrug den Blick in gähnende Abgründe. Doch als er sah, wie etwas von unten die Wand heraufkletterte wie eine große Spinne fühlte er sich doch sehr unwohl. Das Etwas besaß menschliche Form und krallte sich mit den Händen in die Bretterwand, um nach oben zu kommen. Freddy wußte, daß er diesem Etwas unterlegen war, wenn er jetzt nach unten kletterte. Doch ihm kam eine andere Idee.

Er zog sich mit einem Ruck hoch und bekam seinen linken Fuß auf die Außenbank. Diese knarzte bedrohlich. Doch sie hielt ihn aus. Er stellte sich aufrecht auf die Außenbank. Jetzt hatte er beide Hände frei. Er löste den Rucksack von seiner Schulter. Mit einem Ruck zerrte er den Reißverschluß auf. Gleich der Erste Griff war ein Glückstreffer. Er erwischte ein aufgerolltes Seil mit Hakenkarabiner. Dieses holte er heraus und ließ es fallen. Das mehrfach gedrehte, aber nur fingerdicke Nylonseil war mehr als lang genug. Er rammte den Haken mit Bloßer Hand in die Wand über dem Fensterrahmen. Er zog einen kleinen Hammer frei und klopfte dreimal fest auf den Haken. Der saß nun sicher. Dann sah er, wie der Klettermax von unten schon fast auf seiner Höhe war. Ein Griff in den Sack beförderte einen Eispickel zu Tage. Freddy hatte dieses Hilfsmittel nie zu vor als Waffe eingesetzt. Doch jetzt durfte er keine Skrupel zeigen. Er wartete, bis er den Kopf des Fremden sah und rammte die Spitze des Pickels mit aller Wucht nach unten. Der Stoß traf voll. Er hörte es knirschen und spritzen. Sein möglicher Gegner verlor den Halt und stürzte ab. Hatte Freddy gerade wen getötet? Das durfte er jetzt bloß nicht überlegen. Überleben war angesagt. Wollte er überleben, durfte er keine Rücksicht zeigen. Zwar hatte er den Eispickel bei diesem Einsatz verloren. Doch nun war der Weg nach unten frei. Er zerrte die Lederhandschue aus dem Rucksack und streifte sie sich über, bevor er das praktische Gepäckstück halb verschloß und nach dem neben ihm baumelnden Seil griff. Er stieß sich ab und hangelte sich zwischen klettern und Rutschen hinunter. Er fühlte, wie das Nylonseil sich in das Leder der Handschuhe brannte. Er roch den Gestank angesengten Leders. Doch er achtete nicht weiter darauf. Er erreichte nach nur fünf Sekunden festen Boden und federte den Aufprall mit Händen und Füßen ab. Dann ließ er das Seil los und peilte um das Haus herum. Da sah er sie, schattenhafte Gestalten, die nun auf ihn zukamen. Er wußte, daß er sich damit zur Zielscheibe machte. Doch er brauchte Licht. Er griff an die Seite des Rucksackes, wo eine Taschenlampe an einem Lenyard festgehakt war. Diese löste er mit schnellem Griff und schaltete sie ein. Da sah er genau, wer da vor ihm stand. Es waren mindestens dreißig Bewohner von Buffalo Creek. Sie wichen dem Licht aus und schlugen die bleichen Hände vor ihre Augen, weil es sie blendete. Ihre Gesichter waren kreidebleich. Doch wo der Lichtkegel nur einen Ausläufer bildete, und die ihn belauernden sich nicht die Hände vor die Augen hielten sah Freddy die Gesichter genau. Jetzt lächelten die einheimischen, und Freddy erkannte, warum sie vorhin nicht lächeln wollten. Freddy glaubte, in einen Horrorfilm geraten zu sein, nicht "Psycho", sondern "Dracula".

Im Schein der Lampe blitzten die messerscharfen Vampirzähne ihn an. Deren Träger rückten näher. Freddy schwenkte die Lampe wie einen Fächer und erreichte, daß die Bewohner vor dem grellen Licht zurückprallten. Freddy rechnete jedoch jeden Moment damit, daß auch seine Lampe ausgehen würde. Er verstand nun, was passiert war. Hieß es nicht von Vampiren, daß sie künstliches Licht ausschalten konnten, um in ihrem Element, der Dunkelheit, über ihre Opfer herfallen zu können? Aber offenes Feuer und Sonnenlicht fürchteten und haßten sie wie die Pest. Freddy hielt die vor ihm stehenden Gestalten mit seiner Lampe auf Abstand und peilte kurz nach hinten. Er hatte sich nicht geirrt. Von hinten kamen sie auch. Sie huschten lautlos wie Schatten durch die Straße. Der flackernde Widerschein der hektisch hin und hergeschwenkten Lampe ließ sie wie in schwachem Feuer wirken. Ihre bleichen Gesichter hoben sich am deutlichsten ab. Freddy wußte, daß er nur noch wenige Sekunden zur erfolgreichen Flucht hatte. Er rannte los, wobei er seine Lampe gezielt auf Augenhöhe der vor ihm aufgereihten Gestalten führte und die ihm nächsten länger anstrahlte. Einige von ihnen machten hektische Gesten gegen das sie peinigende Licht. Es flackerte für einen kurzen Moment, leuchtete aber weiter. Freddy rannte weiter, Sicher würden die hinter ihm laufenden Unholde gleich auf Sprungweite heransein. Deshalb zielte er schnell nach hinten, ohne im Lauf anzuhalten. Tatsächlich hörte er wütende Aufschreie. Dann stieß er seine Lampe fast selbst vom grellen Licht geblendet nach vorne und erhellte das fahle Gesicht einer älteren Frau, die genau vor ihm stand. Sie wich zurück. Er versetzte ihr einen gezielten Tritt in den Bauch. Das machte ihr zwar körperlich nicht so viel aus wie der Lichtstrahl in die Augen, brachte sie jedoch aus dem Gleichgewicht. Freddy durchbrach die Barriere aus Blutsaugern und warf sich nach links, um auf sein geparktes Auto zuzurennen. Er rechnete damit, daß ihn dort auch Vampire erwarten würden. Er fingerte in seine linke Hosentasche und zerrte den Wagenschlüssel hervor. Der Dodge stand noch da, wie er ihn geparkt hatte. Allerdings hockte ein junges Mädchen auf der Motorhaube. Sie trug nichts außer ihr schulterlanges, weizenblondes Haar am Leib. Freddy erstarrte für einen Moment. Das junge Ding räkelte sich genüßlich und verlockend auf der Motorhaube und winkte ihm zu. Normalerweise hätte ihn hier wohl seine Männlichkeit überwältigt. Doch ein winziger Umstand verhinderte dies. Die Halbwüchsige hatte eine kreidebleiche Haut, als flösse in ihren Adern kein Blut mehr. Sie lächelte ihn an. Damit stand für ihn fest, daß sie auch eine von denen war. Sie wurde vom Strahl der Taschenlampe getroffen. Geblendet schlug sie ihre Hände vor die Augen und schrie laut "Tucker!" Da sirrte etwas haarscharf an Fred Kesslers linkem Ohr vorbei. Gleichzeitig hörte er den Knall. Er warf sich nach vorne. Zwar wurde er dadurch langsamer und konnte leichter von hinten angesprungen werden. Doch er wollte nicht von hinten abgeknallt werden.

"Nelly, krall ihn dir!" Rief Gordon Tuckers Stimme. Das war das Zeichen für die Vampirin auf der Motorhaube. Sie hechtete auf Freddy zu. Dieser riß reflexartig die Handlampe nach oben und hieb sie der Blutsaugerin voll ins Gesicht. Er erwischte sie mit dem Metallrahmen der Lampe am Mund. Es knirschte. Offenbar hatte er dem Vampir-Teenie die spitzen Fangzähne angeknackst. Nelly schnaubte und versuchte, Freddy zu packen. Dieser Wirbelte herum. So bekam die Vampirin nur den Rucksack voll an den Kopf. Da darin noch etliche Metallgegenstände waren hatte das Gepäckstück ein beachtliches Gewicht. Das reichte, um die Vampirin zur Seite kippen zu lassen. Freddys Schwung wurde dadurch zwar gebremst, aber so hatte er nun die restliche Meute vor sich und schwenkte die Taschenlampe.

"Laß fallen, Freddy. Wir wollen dich auch zu uns holen!" Rief der Sheriff und richtete seine Pistole auf den Bergsteiger. Dieser hielt ihm dafür die Lampe auf Augenhöhe entgegen. "Laß das verdammte Ding fallen!" Keuchte der Sheriff und versuchte, gezielt zu schießen. Doch die drei Schüsse gingen fehl. Einer erwischte wohl die Vampirin Nelly. Die übrigen Blutsauger rückten nun wieder vor. Freddy sah, wie einer seinen Eispickel schwenkte. An diesem klebte etwas weißgraues. Freddy unterdrückte den Ekel, der ihn überkommen wollte. Wenn er jetzt auf die straße kotzte hatte die Teufelsbrut da vor ihm alle Zeit der Welt, ihn endgültig auszulöschen. Freddy trat nach hinten und erwischte wohl was weiches. Er hörte eine Mädchenstimme knurren. Er warf sich herum und sah Nelly, wie sie gerade wieder vor ihm stand. Sie versuchte, ihn anzusehen. Doch er hielt ihr sein Licht entgegen, so daß sie geblendet zurückzuckte. Er kannte es aus den Filmen, daß Vampire ihre Opfer mit hypnotischem Blick einlullen konnten. Diese bisher nicht auf Echtheit überprüfte Annahme rettete ihm wohl das menschliche Dasein. Denn Nelly schnaubte verstimmt und lief mit drei schritten zurück, um ihn anzuspringen. Freddy wartete eine Sekunde. Als Nelly lossprang ließ er sich auf die Knie fallen, um im nächsten Moment mit dem Kopf voran voll in den Unterleib der Vampirin zu stoßen. "Ey, Wüstling!" keuchte die Blutsaugerin, während sie vom Anprall zurückgeworfen wurde. Freddy hechtete nach links und jagte mit drei schnellen Schritten auf sein Auto zu. Der Sheriff wollte ihn wohl mit einer Kugel ins Bein stoppen. Doch er traf wohl wieder Nelly, die laut "Tucker, du Blödmann!" rief.

Freddy fühlte, wie sein Herz wie eine wild gedroschene Trommel pochte. Doch er hatte es gleich. Er bohrte seinen Zündschlüssel ins Schloß der Fahrertür und warf ihn herum. Er zerrte den Schlüssel zurück und riß am Riegel. Die Tür flog ihm förmlich entgegen. Aus einer von ihm nie für möglich gehaltenen Bewegung heraus tauchte er den Kopf voran in den Dodge. Der Rucksack flog vom Schwung über seinen Kopf hinweg auf den Beifahrersitz. Freddy zog die Beine an und warf sich in eine aufrechte Sitzhaltung.

"Nix da, Freddy. Du hast noch 'ne Verabredung mit mir", hörte er Nelly rufen. Sie stand vor dem Wagen und lächelte. Ihre weißen Fangzähne glänzten im schwachen Gegenlicht der Taschenlampe. Freddy warf die Tür zu und stieß den Schlüssel ins Zündschloß. Er drehte kräftig. Rrrrummm! Der Motor erwachte laut röhrend zum Leben. Freddy atmete kurz auf, dann kippte er den Schalter für die Scheinwerfer um und stellte das Fernlicht auf volle Reichweite. Er vergeudete keinen Moment damit, sich anzuschnallen. Er legte mit einer hundertfach erprobten, aber nie so schnell wie jetzt ausgeführten Handbewegung den Automatikhebel von "Parken" auf "Fahrt" um. Dann rammte er seinen rechten Fuß auf das Gaspedal. Der Dodge sprang mit aufbrüllendem Motor vorwärts. Im gleißenden Scheinwerferlicht stand sie da, Nelly, ein junges Mädchen, wohl gerade die süßen sechzehn Jahre alt, bleich wie eine Kalkwand. Freddy sah ihre ungeniert enthüllte Vorderseite und erkannte zwei gerade zuwachsende Einschüsse und ein Rinnsal einer bleichen Flüssigkeit, das sich zwischen Nellys Beinen ergoß. Da knallte der Kühlergrill auch schon gegen die junge Vampirin. Die Wucht schleuderte sie hoch in die Luft. Sie wirbelte aus dem Erfassungsbereich der Scheinwerfer davon, während Freddy knapp an der zur Hauptstraße weisenden Ecke des Hotels vorbeifuhr. Er ließ den Fuß wie ein zentnerschweres Bleigewicht auf dem Gaspedal, während er mit der Lenkung rang. Die Automatik klackerte, weil sie die unempfohlene Höchstbelastung durch schnelles Umschalten in die nächsthöheren Gänge auszugleichen hatte. Jedenfalls konnte Freddy auf die Hauptstraße einbiegen. Da sprang von links ein Schatten heran. Gleichzeitig knackte es zweimal, als zwei Kugeln durch Heck- und Frontscheibe schlugen und sternförmige Durchschüsse hinterließen. Wenn der Sheriff auf die Reifen zielte war Freddy geliefert. Doch der Angreifer von links war gefährlicher. Freddy stieß schnell den Riegel der Fahrertür nach unten. Dieser erwischte bei seinem Sprung gerade noch den Außenspiegel, der laut knackend abbrach. Damit war der Dodge auch den Vampir los. Freddy wunderte sich. Er hatte für einen Sekundenbruchteil das wütende Gesicht des Vampirs im Spiegel gesehen. Hieß es nicht, daß Vampire kein Spiegelbild besaßen? Dann sah er wieder welche vor sich. Sie bildeten eine lebende Straßensperre aus zwei ineinander verkeilten Reihen. Freddy duckte sich hinter das Steuer und hielt es so fest wie er konnte. Mit dumpfem Knall prallte der Dodge auf die lebende Mauer und verlor dabei einen Teil seines Schwunges. Doch er fuhr weiter. Freddy atmete keuchend ein und wieder aus. Er war durchgebrochen! Er hatte es geschafft, diesen Wall zu durchschlagen! Der Wagen nahm wieder Fahrt auf. Die Kolben des alten Motors röhrten wie ein Rudel wütender Raubkatzen. Doch sie trieben das Auto weiter voran. Freddy sah auf den Tacho. Er hatte schon die offiziell zugelassenen fünfundfünfzig Meilen in der Stunde erreicht. Er zweifelte daran, daß Vampire zu Fuß so schnell folgen konnten. Dann fragte er sich, warum sie keine Fledermäuse geworden waren und ihn im Flug angegriffen hatten, wie es in den einschlägigen Filmen immer wieder gezeigt wurde? Vielleicht konnten sie das erst, wenn sie mehrere Menschen leergesaugt hatten. Bei dem Gedanken fiel ihm mit erbarmungsloser Klarheit ein, daß er gerade seine vier Freunde im Stich gelassen hatte. Jack war wohl schon nicht mehr zu retten gewesen. Aber die anderen drei? Er hatte Bill noch schießen hören können. Es wäre seine Pflicht gewesen, ihn, George und Gary zu helfen. Aber was hätte er machen können? Er war entkommen, weil sein Fluchtinstinkt stärker gewesen war als seine Freundschaft. Hätte er die drei Freunde zu retten versucht, hätte ihm Nelly oder der Sheriff sicher auch die höllischen Hauer in den Hals geschlagen. Er konnte fliehen. Doch was nun? Er hatte seine Freunde im Grunde auf dem Gewissen, weil er sie in diesen verfluchten Ort geführt hatte. Womöglich würden auch sie zu diesen Monstern, die sogar Bleikugeln aushielten. Aber einen der Banditen hatte er mit dem Eispickel erledigt. So unsterblich waren die also doch nicht. Oder war in seinem Eispickel vielleicht Silber drin. Unfug! Erstens war Silber zu weich, um damit in nackten Fels zu rammen. Zweitens half das Metall wohl nur bei Werwölfen. Werwölfe? Diese Monster konnten bei Tag normal herumlaufen. Vampire flohen vor der Sonne in ihre Verstecke, weil sie entweder in der Sonne zu Asche verbrannten oder einfach zu schwach wurden, um den Tag zu überstehen. Aber wenn das mit dem nicht vorhandenen Spiegelbild schon nicht stimmte, dann mochte das mit dem Sonnenlicht wohl auch eine reine Erfindung sein. Womöglich wollten die Leute ihm und Jack nur einen Schrecken einjagen. Aber nicht auf diese Art und nicht mit scharfer Munition. Nein, die hatten ihn töten wollen, wie sie Jack bestimmt getötet hatten. Er hatte es mit echten Vampiren zu tun gehabt. Daß er ihnen entwischt war war wohl wie ein Hauptgewinn im Lotto oder drei Einzelzahlgewinne beim Roulette in direkter Reihenfolge. Einen winzigen Moment schauderte er. Er wechselte vom Gas zum Bremspedal und brachte den Dodge zum Halten. Schnell sah er hinter die Vordersitze. Er atmete auf. Kein blinder Passagier mit langen Zähnen im Fußraum oder auf der Rückbank. Er öffnete die Türverriegelung und stieß die Fahrertür auf. Er schwang sich heraus und lief zum Heck. Wenn die Vampire ihn noch immer verfolgten waren die noch mindestens zwei oder drei Meilen entfernt. So hatte er Zeit. Er öffnete mit einem Ruck den Kofferraum und blickte hinein. Gähnende Leere ließ ihn aufjauchzen. Auch dort hatte sich niemand versteckt, um ihn dann anzugreifen, wenn er nicht mehr damit rechnete. Doch nun hörte er fernes Motorengebrumm aus der Richtung, in der Buffalo Creek lag. Sie kamen mit Autos hinter ihm her. Er mußte weiter.

Wieder mit einem schnellen Sprung zurück in seinem Dodge trat Freddy auf das Gaspedal und zog erst die Fahrertür zu, als der Fahrtwind ihm zu stark ins Gesicht blies. Er blieb nun mit dem Fuß auf dem Gas. Seine einzige Chance war die Flucht in einen größeren Ort. Er hoffte nur, daß sich die Vampirseuche nicht auch schon dort ausgebreitet hatte.

Als er eine Autobahnauffahrt fand und sich zwischen vereinzelte Autos einsortierte fiel ihm noch ein Stein vom Herzen. Er blieb zwar oberhalb der erlaubten Höchstgeschwindigkeit. Doch wenn ihn jetzt die Autobahnpolizei jagte und wegen massiver Geschwindigkeitsübertretung einbuchtete war das alle mal besser, als von der nackten Nelly den Hochzeitskuß bekommen zu haben. Was würde er der Polizei auftischen? Wenn der Sheriff aus Buffalo Creek rumtelefonierte und ihn als flüchtigen Verbrecher anschwärzte konnte das sogar noch übel ausgehen. Dann fiel ihm was ein. In seinem Rucksack steckten noch die Kamera und die Filme. Wenn er die Vampire alle mal auf den einen Film bekommen hatte, dann würde sich zeigen, ob er mit echten Gespensterwesen zu tun gehabt hatte. Es sei denn, Vampire konnten genauso geknipst und gefilmt werden wie sie ein Spiegelbild hatten. Falls das stimmte sah es für ihn doch ziemlich schlecht aus. Auf die Gefahr, von den Vampiren auch auf der Autobahn verfolgt zu werden nahm er dann doch den Fuß vom Gas und bremste auf die zulässige Geschwindigkeit. Nicht auffallen, bevor er mit der Geschichte an die Öffentlichkeit ging, war angesagt. Wenn er sich kassieren ließ und Vampir-Sheriff Tucker ihn echt schon zur Fahndung ausgeschrieben hatte war er schneller weg vom Fenster, als er wollte. Eine Stunde lang fuhr er auf der Autobahn weiter, ohne daß hinter ihm eine Sirene heulte oder ein Wagen ihn einzuholen versuchte. Er überlegte, wie weit er schon außerhalb der Zuständigkeit von Buffalo Creek war. Wenn der Sheriff ihn nicht mit vollem Orchester verfolgt hatte, als er aus der Stadt geflüchtet war, so hatte der wohl nach dem Überschreiten der Bezirksgrenze erkannt, daß er sich selbst damit eher auslieferte als der flüchtende Besucher es wert war. doch nun überkam Freddy ein anderer grauenvoller Gedanke. Wenn sie Jack und die drei anderen zu ihren Artgenossen machen konnten, dann würden die bald wissen, wo genau er zu finden war. Er war den Höllengeschöpfen nur entkommen, bis sie ihn dort fanden, wo er wohnte. Selma, sie war in Gefahr! Er mußte nach Hause, um sie zu holen, bevor die Monster aus Buffalo Creek sie in ihre Krallen bekamen. Nein, sie mußte verschwinden, bevor jemand nach ihr suchte. Denn der Weg nach Hause war weit. Sie hatten zwei Tage gebraucht, um nach Buffalo Creek zu kommen. Doch er hatte ja noch sein Mobiltelefon. Beim nächsten Tankstop würde er sie anrufen und warnen, aber vor wem? Die würde ihm kein Wort glauben. Sie würde ihn für einen Verrückten halten, der nicht mehr zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden konnte. Nein, er mußte erst eine klare Begründung finden. Sollte er ihr erzählen, daß in Buffalo Creek eine Verbrecherbande ihr Unwesen trieb und die Bergaffen ihnen draufgekommen waren? Tja, dann mußte er das aber auch der Polizei so erzählen. Falls der Sheriff dann behauptete, Freddy habe seine eigenen Kumpels umgebracht und sei abgehauen, stand Aussage gegen Aussage. Doch die Vampire waren eine Gefahr für die ganzen Staaten. Egal ob sie aus der Hölle stammten oder durch ein Virus so geworden waren, wie es in einigen eher Science-Fiction-mäßigen Filmen behauptet wurde, würden sie womöglich ihre Seuche auf andere, unschuldige Menschen übertragen. Das mußte auf jeden Fall verhindert werden. Also mußte er wohl in die nächste größere Stadt und da Meldung machen. Das war seine Pflicht als Staatsbürger. Dann konnte er immer noch Selma anrufen und sie warnen. Besser, er sollte bei der Gelegenheit seinen Freund, einen Rechtsanwalt, anrufen und ihn vorwarnen, daß vielleicht demnächst die Hölle über ihn hereinbrechen würde.

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Anthelia verwünschte mal wieder den Umstand, daß ihre Verbindungen ins Zaubereiministerium der vereinigten Staaten gekappt worden waren. Sie fragte sich zwar, ob Tyche die Entführung durch die Haie überlebt hatte und ob diese nun gänzlich im Körper einer Meerfrau weiterleben mußte. Doch damit würde sie ihr, Anthelia, keinen Dienst mehr erweisen können. Vor allem aber verdammte sie Hyneria Swordgrinder, die Donata getötet hatte. Auch wenn es hundertmal nach den Regeln der entschlossenen Schwesternschaft geschehen war hatte dieses Weib damit einen schweren Schlag gegen Anthelias Gruppe gelandet. Gut, nachdem, was sie mitbekommen konnte, hatte Hyneria ihre Großmachtpläne sehr rasch wieder begraben müssen. Angeblich war sie in ihrem Haus verbrannt. Doch Anthelia glaubte es nicht wirklich. Nach dem Getue um Leda Greensporn und deren späte Tochter Lysithea mußte Anthelia davon ausgehen, daß etwas anderes passiert war. Die Spinnenführerin fragte sich, ob es nicht besser sei, das Hauptquartier zu verlegen und sich dort niederzulassen, wo ihre unsichtbaren Fäden noch straff und stabil waren. Von Vera Barkow wußte sie, daß Nyx sich im Moment auf Rußland und den Balkan konzentrierte. Doch von da aus war es nicht mehr weit nach Westen, Österreich, Deutschland oder Italien. Auch erfuhr sie von Mitschwestern aus Tunesien, dem Senegal und Marokko, daß dort bereits bleichgesichtige Kreaturen in der Nacht umgingen. Als sie aus Spanien die Meldung erhielt, daß Nyx sich wie sie selbst in Itoluhilas Revier verirrt hatte, beziehungsweise versucht hatte, es zu erobern, mußte sie verächtlich grinsen. Nyx und Itoluhila waren bei Sevilla aneinandergeraten. Es endete in einem Unentschieden, weil Nyx gegen die Vereisungszauber Itoluhilas immun war. Warum konnte dieses Abgrundsweib nicht auch eine mit dunkler Magie geladene Flutwelle rufen, um diese Blutsaugerin wegzuspülen? Innerlich triumphierte Anthelia darüber, daß sie diese mächtige Vernichtungskraft lenken konnte, auch wenn diese sie fast selbst getötet hätte.

Sie war froh, daß Unsichtbarkeitszauber sie noch verhüllen konnten, wo Verwandlungen nicht mehr griffen. So vertrieb sie sich manche freie Stunde, wo sie sich nicht um ihren Zögling Dido Pane kümmern mußte, mit Besuchen der nahen Kleinstadt Dropout. Die Bewohner der nach dem verheerenden Bandenkrieg wiedererrichteten Stadt gingen ihrem Tagewerk nach, vertrieben sich die Zeit mit Geplauder, Fernsehen oder Ballsport. Anthelia tauchte immer wieder in der Nähe von Roy Cramers wiedereröffnetem Eisenwarenladen auf und forschte in den Gedanken des Ladenbesitzers nach den Fortschritten seiner Tochter Donna, die nun in New York Publizistik studierte, die Fachrichtung, die ermöglichte, richtig zu recherchieren und so zu veröffentlichen, daß bei den Empfängern der Nachrichten bestimmte Informationen ankamen oder bestimmte Gedanken angestoßen werden konnten. Sie dachte daran, daß Donna womöglich mit Ben Calder zusammengezogen wäre, wenn sie ihn nicht zu ihrem Kundschafter gemacht hätte. Insofern hatte sie das Leben der jungen Frau maßgeblich verändert. Wozu das? Benjamin Calder existierte nicht mehr, und der aus ihm entstandene Doppelgänger Cecil Wellingtons war für sie unzugänglich geworden. Alles nur, weil sie mehr über die Welt der Unfähigen, die die gegenwärtigen Hexen und Zauberer Muggel nannten, wissen wollte. Doch was sie gelernt und vor allem erreicht hatte rechtfertigte dieses Vorgehen. Denn ohne Cecil Wellington hätte sie Bokanowskis Burg nicht so rasch und zielgenau aufspüren können. Dieser Lebenspfuscher hätte dann seinen heimlichen Invasionsplan vollenden und in allen Zaubereiministerien durch Hydrablut zu Doppelgängern gemachte Ableger seiner Selbst untergebracht. Dann würde er jetzt die Welt beherrschen. Das er das nicht tat und nie wieder anstreben konnte lag an Anthelias Voraussicht, einen Kundschafter in der magielosen Welt zu benötigen. Außerdem konnte Patricia Straton ihn noch in ihrem Sinne führen. In ihrem Sinne? Wessen Sinne? Anthelia konnte den Gedanken nie ganz aus dem Kopf verbannen, daß Patricia ihre neue Rangstellung und Gegenkraft gegen Anthelia wohl auch für sich zu nutzen wußte. Die durch die Fusion mit Naaneavargia erstarkte Hexenlady ging davon aus, daß es eines Tages zu einem schweren Konflikt mit Patricia kommen mochte, wenn etwas zu tun war, was dieser zu wider war. Im Moment brauchte sie die Trägerin des Sonnenmedaillons, weil diese Kenntnisse ihrer von Riddle getöteten Mutter besaß und weil sie eben noch Verbindung zu Cecil Welllington halten und damit in der magielosen Welt weiterforschen konnte.

Anthelia nutzte die Besuche in Dropout auch, um die alte Zauberfertigkeit zu üben, ohne Besen oder anderes Fluggerät zu fliegen. Durch die Fusion gelang ihr diese den begüterten von Altaxarroi bekannte Fertigkeit immer besser. So konnte sie mal schnell durch die Luft rasen wie ein Falke oder sanft dahinsegeln wie eine Feder. Zwar zehrte dieser Zauber immer gut an der Ausdauer. Doch je häufiger sie ihn übte, um so leichter fiel er ihr, zumal Naaneavargias Erinnerungen ja schon umfangreiche Erfahrungen damit enthielten. Sie landete einmal unsichtbar auf dem Dach der wiedererrichteten Kirche von Dropout. Wenn es nach den Vorstellungen der Muggel ging durfte das eigentlich nicht gelingen, weil Kirchen für Wesen wie sie unbetretbar zu sein hatten. Doch sie hatte dieses Gebetshaus auch schon mehrmals heimlich betreten, ohne daß sie beim Überschreiten der Schwelle von einer unsichtbaren Gewalt zurückgeschleudert oder im Feuer der Hölle verbrannt worden war. Innerhalb des kleinen, einfach eingerichteten Sakralbaus hatte sie auch keine Schmerzen oder Schuldgefühle empfunden, wie es den Dienern des christlich-jüdischen Satanas zugeschrieben wurde. Immerhin konnte sie unsichtbar fliegen und hatte dadurch einen mehr als gleichwertigen Ersatz für ihre frühere Animagus-Fertigkeit erhalten, als sie noch als große Krähe heimlich zwischen den Menschen herumfliegen konnte. Mittlerweile wußte sie auch, daß der Waisenknabe Riddle die Kunst des hilfsmittellosen Fliegens beherrscht hatte. Er hatte sie seinen treuesten Todessern wie Bellatrix Lestrange und Severus Snape beigebracht. Jetzt waren alle drei tot und begraben. Snape hatte in seiner Heimatstadt ein muggelsicheres Denkmal erhalten. Das wußte sie von ihren britischen Mitschwestern. Besucht hatte sie es noch nicht.

"Höchste Schwester, wo bist du?" Schwirrte ihr Patricias Gedankenstimme durch den Kopf.

"In der Stadt", erwiderte Anthelia ebenso für Ohren unhörbar. "Was gibt es?"

"Hier im Fernsehen kam gerade eine Meldung von einer Kleinstadt in Montana, die von Vampiren bewohnt sein soll. Ein Trupp Bergsteiger wollte dort die Nacht vor einer Kletterpartie zubringen. Von fünf Männern entkam nur einer. Der erzählte was von Vampiren, die dort hausten."

"Wie heißt die Stadt?" mentiloquierte Anthelia.

"Ein 400-Seelen-Nest namens Buffalo Creek, Höchste Schwester."

"Bring mir die genaue Lage und andere wichtige Einzelheiten über die Stadt in unseren Versammlungsraum!" Schickte Anthelia einen Befehl aus. Sie fühlte die Aufregung. Eine nur von Vampiren bevölkerte Stadt? Das wuchs sicher auf Griselda Hollingsworths Drachendung. Sie selbst brach ihre zweitäglichen Flugübungen ab und apparierte direkt im Weinkeller der Daggers-Villa. Keine fünf Minuten später meinte sie, in einen Schwarm brennender Pfeile geraten zu sein, die sie von allen Seiten trafen. Sie keuchte und wimmerte, als sie Patricia Straton sah, die direkt im Weinkeller appariert war. Anthelia/Naaneavargia sah das sie peinigende Sonnenmedaillon unter Patricias Bluse rötlich flackern. Es kämpfte gegen die vampirische Kraft, die in Anthelias Körper eingewoben war.

"Leg alles auf meinen Geburtstisch", preßte Anthelia hervor. Ihre Augen brannten, wenn sie Patricia genau ansah. Ihr ganzer Körper schien zu lodern. Sie dachte an den Cruciatus-Fluch. Was sie gerade verspürte war nicht mehr weit von dessen Wirkung entfernt. Patricia mußte es erkennen, wie ihre Anführerin unter der Präsenz des Sonnenmedaillons litt. Doch sie vertat keinen Moment damit, sich darüber auszulassen. Sie förderte aus ihrer Handtasche mehrere Seiten Papier und breitete diese auf dem langen Steintisch aus, auf dem Anthelia ihren zweiten Körper erhalten hatte. Die Spinnenfrau kämpfte gegen den Drang an, ihre Schmerzen hinauszuschreien. Blitze tobten vor ihren Augen. Sie hörte ihr Blut in den Ohren pochen und meinte, es würde gleich sieden und sie von innen her zerkochen. Patricia sah ihre Anführerin an und sagte nur: "Ich denke, das ist alles, was du benötigst, höchste Schwester." Dann ploppte es, und Patricia und die Pein des Sonnenmedaillons waren fort.

"Ohne die Tränen wäre ich sicher in diesem Feuer verbrannt", fauchte Anthelia. Dairons Rache hatte sie wahrhaftig getroffen. Doch nun galt es, die Nachrichten über die Vampirstadt zu lesen.

Anthelia fühlte die Wut in sich aufsteigen. Durch die Verschmelzung mit Naaneavargia hatte sie ihre Selbstbeherrschung nicht mehr so sicher im Griff wie früher. Doch sich jetzt an unschuldigen Möbeln oder Menschen zu vergreifen schaffte das, was sie las nicht aus der Welt. Zwar glaubten die Behörden dem Bergsteiger Freddy Kessler nicht, das dieser mit seinen vier Kameraden in ein Vampirnest hineingeraten war, zumal er berichtete, daß die Blutsauger am Tag wie ganz normale Menschen ausgesehen hatten, in der Nacht aber zu jenen bleichen Ungeheuern geworden seien, wie sie in Büchern und Kinofilmen dargestellt wurden. Kessler war wegen Mordverdachtes verhaftet worden. Sein Anwalt hatte die Presse eingeschaltet. Denn Kessler hatte von seinem Ausflug nach Buffalo Creek photographische Aufnahmen mitgebracht, auf denen die Bewohner leicht verschwommen zu sehen waren, während der Hintergrund gestochen scharf erschien.

"Ich muß dort hin, bevor die LI-Leute oder Cartridges Vasallen diese Stadt entvölkern, ohne herauszukriegen, wie die Vampire dort hinkamen", dachte Anthelia. Sie fragte sich, ob Buffalo Creek die einzige von Vampiren verpestete Siedlung sein mochte. Womöglich gab es auf der Welt noch mehrere solcher Vampirnester. Falls dies zu Nyxes Plan gehörte, so versprach dieser einen großen Erfolg. Das durfte sie nicht hingehen lassen.

Sardonias Mantel schmiegte sich an ihren Körper. Über diesen trug sie einen dunkelblauen Umhang mit Kapuze. Der rustikalen Standuhr im Salon der Villa nach war es nun fünf Uhr nachmittags. Das hieß, daß es in Buffalo Creek in Montana gerade vier Uhr nachmittags war. Im Moment lag über den Rocky Mountains eine vollständige Wolkendecke, was zur völligen Ausfilterung des Sonnenlichtes führte. Wenn es dort wirklich Vampire gab, die mit der Sonnenschutzfolie ausgestattet waren, so konnten diese unbehelligt - welch passendes Wort - in ihrer Umgebung herumlaufen. Nur mit dem Fliegen würde es nichts werden. Das war der Vorteil. Anthelia schnallte sich die Drachenhautscheide mit Yanxotahrs Schwert auf die Schulter. Um den Griff nicht weit sichtbar glänzen zu lassen hatte sie ihn persönlich mit schwarzer Farbe angemalt. Denn außer ihr konnte niemand diese waffe berühren, ohne sich mit der darin steckenden Seele Yanxothars anzulegen, die sicherlich sehr verärgert war, daß die Vereinigung Anthelia/Naaneavargia sie überwunden hatte und damit Herrin der mächtigen Klinge geworden war.

So leise sie konnte apparierte Anthelia nun in der Nähe der kleinen Stadt. Sie wirkte den vorübergehenden Unsichtbarkeitszauber und sang dann die Worte der Loslösung von der Schwerkraft. Sie fühlte die Kraft dieser Worte in jede Faser, jede Zelle ihres Körpers strömen und fühlte auch die Leichtigkeit, die immer größer wurde. Sie stieß sich sanft ab und stieg wie ein Ballon in die Höhe. Sie konzentrierte sich auf die Richtung, in der die Stadt lag und wünschte sich, immer schneller zu fliegen. Sie streckte die Arme und Beine so weit aus, wie es ging und verringerte damit den Luftwiderstand so sehr, daß sie bald wie ein unsichtbarer Pfeil in geringer Höhe dahinglitt, über die Felsbrocken und Bodenunebenheiten hinweg. Dann überflog sie eine schmale, zweispurige Straße für die pferdelosen Wagen der modernen Muggel und sah in der Ferne das spitze Dach einer Kirche, der man keinen Glockenturm zugebilligt hatte. Die Straße teilte bald drei Häuserreihen links und rechts. Die Häuser bestanden größtenteils aus Holz und trugen mit Schilf und Teer abgedichtete Dächer. Und sowas durfte sich Stadt nennen? Anthelia/Naaneavargia bezweifelte, daß diese Bezeichnung gerechtfertigt war. Sie lauschte auf mögliche Aktivitäten, vielleicht sogar Schlachtgetümmel. Nichts dergleichen erlebte sie. Erst, als sie nur noch zweihundert Meter vom im Wind knarzenden Ortschild BUFFALO CREEK entfernt war, empfing sie die Gedanken von drei Männern. Einer litt Schmerzen. Wie er litt deutete darauf hin, daß er gerade im Umwandlungsprozeß gefangen war. In diesem Mann ging der Keim der Vampirseuche auf. Sie las aus den ihr zuwehenden Gedankensplittern des sich verwandelnden, daß es ein Staatspolizist, ein Sergeant Mayfield war, dem dieses Schicksal widerfuhr. Dann schnappte sie noch Gedanken von herumstrolchenden Männern und drei Frauen auf, die der Blutdurst umtrieb. Ja, hier war sie richtig. In dieser Siedlung hausten Vampire. Doch gab es hier auch gewöhnliche Menschen? Anthelia suchte mit ihrem Gedankenspürsinn nach Leuten, die sich aus Angst vor den Vampiren versteckt hatten. Doch sie erheischte nur die geistigen Regungen von bereits vollendeten Vampiren, die im Schutz von etwas, das einer als Solexfolie andachte, im gefilterten Tageslicht herumlaufen konnten. Zwar schien die Sonne nicht, und über der Kleinstadt lag eine bleigraue Wolkendecke, aus der es immer wieder heraustropfte. Doch für ungeschützte Vampire war es trotzdem noch schmerzhaft, sich diesem winzigen Rest von Tageslicht auszuliefern. Anthelia konnte den Blutsaugern nachempfinden, wie es sich anfühlte, der Kraft der Sonne ausgesetzt zu sein. Doch die Frage, wer der erste Vampir in dieser Stadt war hatte sie bis jetzt nicht beantworten können. Es galt, einen der Blutsauger zu fangen und zu verhören. Das konnte dann Patricia Straton übernehmen. Die Pein des Sonnenmedaillons würde einen Vampir sicher ärger zusetzen als ihr, die nur die Anteile vampirischer Lebenskraft in sich trug.

Eine Schule, eine Bank, ein Sheriffbüro und eine Tankstelle. Das machte diesen Ort schon zur Stadt? Anthelia mußte das wohl erst einmal so anerkennen. Dann war da noch das dem Sheriffbüro angeschlossene Gefängnis mit vier Zellen. Alle waren belegt. Darin saßen vier Staatspolizisten, die nachsehen wollten, was an Fred Kesslers Bericht überhaupt dran sein sollte. Sie hatten Angst. Denn sie fühlten bereits den Keim des Vampirismus in ihnen wirken. Anthelia schwirrte wie eine unsichtbare Hornisse genau auf das Gefängnis zu, als etwas von ihr ausgehendes die Aufmerksamkeit von zwei Vampirinnen erregte, die ganz beiläufig vor dem Sheriffbüro miteinander schwatzten und berieten, was sie in der kommenden Nacht anstellen mochten. Vielleicht war es das ungewohnte Rauschen in der Luft, vielleicht die Ausstrahlung von Anthelias Körper, oder deren Geruch nach frischem Blut. Jedenfalls blickten sie nach oben und sahen niemanden. Doch genau das alarmierte sie. Sie stürmten in das Sheriffbüro. Auch der diensthabende Ordnungshüter gehörte bereits den Nachtgeborenen an. Anthelia erkannte, daß sie nur drei Möglichkeiten hatte. Sie konnte kämpfen. Sie konnte die Feinde überlisten oder sie mußte fliehen. Sicher, in der Luft war sie im Moment nicht zu erwischen, solange die Blutsauger da unten ihre Schutzhäute nicht ablegen und zu fledermäusen transformieren konnten. Doch ihr ging es ja darum, einen Vampir lebendig zu fangen, um herauszufinden, wie er und die anderen so schnell entstanden waren. Mochte es angehen, daß Nyx bereits in den Staaten angekommen war?

Der Vampirsheriff Gordon Tucker ließ sich von Mrs. Fleet und Mrs. Stonewall schildern, was diese mitbekommen hatten und eilte mit einer Schnellfeuerpistole bewaffnet nach draußen. Anthelia fühlte die Wut des Vampirs, daß ein fliegender Eindringling über dem Städtchen war, noch dazu ein unsichtbarer. Sie erlauschte aus den immer wütender schwingenden Gedanken, daß auf einem bestimmten Zettel stand, daß sie sich vor unsichtbaren Leuten hüten sollten, die ohne Flugmaschine fliegen konnten. Denn das seien die Feinde Nocturnias. Da hatte sie es quasi amtlich, daß diese Sache mit Nyxes Traum vom Weltreich der Vampire zu tun hatte. Aber was für ein Zettel sollte das sein? Da erkannte sie, daß sie zunächst auf der Hut vor sie anfligenden Bleikugeln sein sollte. Laut ratternd spie die Maschinenpistole des Scheriffs ihre tödlichen Geschosse in die Höhe, genau in Anthelias Flugbahn. Die Spinnenführerin wich zwölf Kugeln aus. Doch eine prallte unangenehm auf ihren Brustkorb, pfiff aber dann laut davon. Da mußte sie fast lachen. Metallgeschosse konnten ihr nichts. Die Magie der Tränen wirkte wie eine hauchdünne, aber undurchdringliche Panzerung. So stürzte sich die Spinnenfrau genau auf Tucker, dessen wild belfernde Schußwaffe ihr weitere Bleikugeln gegen den Körper schleuderte. Doch die Kugeln prallten ab und jaulten, miauten und pfiffen in alle Richtungen davon. Dann landete Anthelia vor dem Sheriff und löste die Unsichtbarkeit auf.

"Du kannst mich damit nicht töten, Blutsauger", zischte Anthelia, als der Sheriff erneut auf sie zielte. Mit ihrer Telekinese hieb sie die Schnellfeuerwaffe aus den Händen des Vampirs, der daraufhin mit seiner übermenschlichen Kraft auf die Hexenlady losging. Doch genau das wollte sie. Der Sheriff wußte, was hier gelaufen war. Er hatte an Nocturnia gedacht. Also konnte er ihr alle geforderten Antworten geben. Doch in ihrem Menschenkörper war Anthelia nicht sonderlich stark. So schaffte es der Vampir, sie umzustoßen. Doch Anthelia blieb keine Frau. Sie ließ Wut und Kampfeslust durch ihren Leib schießen und fühlte ihre Erscheinungsform wechseln. Keine Sekunde später lag eine schwarze Spinne mit allen acht Beinen nach oben am Boden. Für einen Käfer wäre das eine besonders hilflose Lage. Doch Naaneavargia hatte in dieser Gestalt schon genug Erfahrung gesammelt, um sich schnell wieder umzudrehen. Der Vampir erschrak über die plötzliche Metamorphose und wollte flüchten. Weitere Vampire, vom Lärm der Schußwaffe erst gepeinigt und dann angelockt, stürmten auf die einzige Straße dieser Winzstadt. Das war für Anthelia eine zu große Übermacht. Doch sie wollte den Sheriff haben. Der sollte ihr berichten, wie er zum Vampir wurde und was er mit Nocturnia zu schaffen hatte. So zog sie die Beine an, streckte die rechten vier mit wucht zur Seite, wobei sie gegen die Wand des Hauses stießen und bekam dadurch genug schwung, um nach links in die Bauchlage zurückzurollen. Sofort war sie wieder auf den haarigen Beinen und wirbelte herum. Fünf Vampire glotzten sie an. Damit hatten sie nicht gerechnet. Anthelia fühlte trotz des Spinnenkörpers etwas auf ihrem Rücken liegen. Das Schwert Yanxothars war nicht in jenen nur von Magietheoretikern erklärbaren Zustand übergegangen, in den alle bei Animagus-Verwandlungen am Körper getragenen Dinge wechselten. Die fünf Blutsauger erzitterten. Anthelia fühlte den Kampf zwischen Fluchtinstinkt und Angriffslust. Sie ergriff die Initiative und rannte gegen die vor ihr stehenden Nachtkinder an. Diese flogen beim Anprall zur Seite wie morsche Zaunlatten im Sturm. Wieder krachten Feuerwaffen. Wieder prallten Kugeln auf ihren Körper. Doch der Spinnenpanzer schmetterte diese Geschosse noch wuchtiger von ihr ab. Deshalb fingen sich zwei der fünf gerade zur Seite geschleuderten Vampire Querschläger auf Brusthöhe ein. Ihre Konstitution verdaute zwar die Treffer. Doch die Sonnenschutzhäute wurden durchlöchert. Das mochte den Getroffenen trotz der Bewölkung ein schmerzhaftes Brennen bereiten. Der Sheriff stürmte in sein Büro. Anthelia/Naaneavargia erfaßte, daß er jemanden anrufen wollte, der mit Nocturnia zu tun hatte. Das durfte sie nicht zulassen. Mit lautem Getöse brach die Spinne durch die massive Eichenholztür. Aus dem Türrahmen flogen Splitter heraus. Die Türangeln knirschten. Doch die Spinne war jetzt im Arbeitszimmer des Gesetzeshüters. Dieser hatte bereits den klobigen Telefonhörer in der Hand, als das gerade mehr Naaneavargia als Anthelia seiende Ungeheuer mit der rechten Beißschere nach dem Kabel schnappte und es durchtrennte. Der Sheriff wirbelte übermenschlich schnell herum. Doch gegen die nun vorherrschende Gewandtheit und Stärke der Spinne kam er jetzt nicht mehr an. Er wurde mit gnadenloser Gewalt gegen die Wand geschmettert. Weitere Vampirbürger drängten durch die zertrümmerte Tür und versuchten, mit ihren Vampirkräften die Spinne zu packen. Diese vollführte eine blitzschnelle Wende und spie den Bedrängern einen Schwall Verdauungssaft entgegen. Zwar wußte sie, daß die Sonnenschutzhäute schwache Säuren überstanden. Doch das Gemisch aus zersetzenden Säften überstieg die Beständigkeit der Schutzfolien. Die gewöhnliche Kleidung zerrann bereits, als die ersten Schutzhäute rissen und sich das ätzende Gemisch in die Körper der Vampire fraß. Schreiend vor Schmerz und Angst wichen sie zurück. Anthelia fühlte, wie einer der Blutsauger von rechts über sie langte und wohl versuchte, ihr das Schwert wegzureißen. Doch dies bekam ihm absolut nicht. Als der Vampir den übermalten Griff der altaxarroischen Waffe zu packen bekam, fauchte es laut, und ohne einen einzigen Schmerzenslaut von sich zu geben zerfiel der Vampir in einem orangeroten Flammenblitz zu schwarzer Asche. Das trieb die noch in das Sheriffbüro drängenden Blutsauger endgültig zur Flucht. Anthelia hatte es jetzt nur mit dem Sheriff zu tun, der gerade seine Vampirkräfte spielen ließ und seinen Schreibtisch hochriß, als bestehe dieser aus reiner Pappe. Anthelia klappte ihre Tastorgane zurück, duckte sich und nahm den ihr entgegengeschleuderten Tisch mit dem Kopf. Ihre Beinkrallen knirschten im Holzboden des Hauses, als die Spinne die mörderische Wucht des geworfenen Möbels wegsteckte. Sie fühlte zwar ein leichtes Brummen im Kopf. Doch das würde gleich wieder vergehen. Der Sheriff wollte an das Funkgerät. Doch zwischen ihm und diesem lauerte schon die schwarze Spinne. Sie hieb mit ihrer linken Beißschere in das Stromkabel des Drahtlossprechgerätes. Ein wütender, heißer Stoß durchraste ihren Körper. Funken sprühten knisternd. Dann knallte es, und die Hauptsicherung war durchgebrannt.

"Jetzzzt gehörssst du mir", schleuderte die Spinne dem Vampir ihre Gedanken zu. Der Blutsauger mit Sheriffstern zog noch eine Handfeuerwaffe, die nur einzelne Geschosse ausstoßen konnte. Doch Anthelia ließ ihn nicht zum Schuß kommen. Sie hieb ihm die Waffe mit dem vordersten linken Bein aus der rechten Hand. Dann wirbelte sie erneut herum und präsentierte dem Vampir ihren Hinterleib. Dieser versuchte, über die Spinne hinwegzuflanken. Doch da hatte ihn schon ein klebriger Fangfaden am Bauch erwischt und haftete an. Die schwarze Spinne verspritzte eine Menge ihrer Spinnseide und verklebte damit die Arme und Beine des Vampirs, der zwar mehrere Fäden zerriß und sich mit lautem Ächzen gegen das Einspinnen sträubte. Doch gegen die Flut flüssiger Spinnseide kam er am Ende nicht an. Er haftete nun an der Wand an, während seine Überwinderin die aushärtenden Fäden mit schnellen und geschickten Beinbewegungen so miteinander verwob, daß er förmlich in einem grobmaschigen Netz an der Wand hing. Da erfaßte sie die Gedanken der Polizisten in den Gefängniszellen. Sie hatten die Tortur der Transformation überwunden und wollten nun aus den engen Zellen. Für normalstarke Menschen waren die Gitter unüberwindlich. Doch für die frischentstandenen, quasi neugeborenen Nachtgeschöpfe waren sie wie Gummi, das nur zur Seite gebogen werden mußte. Auch der an die Wand gefesselte Vampirsheriff erkannte wohl, daß seine neuen Blutsgeschwister ihr neues Dasein begonnen hatten. Er rief: "Brüder, kommt mir zu Hilfe!"

"Dir hilft keiner mehr", gedankenschnarrte die schwarze Spinne. Sie sprang vor die Zugangstür zu den vier Gefängniszellen und lauerte wie eine Katze vor dem Mauseloch. Es dauerte nur eine Minute. Zwar rief der Sheriff den neuen Brüdern eine Warnung zu. Doch die vier überhörten sie und rissen die Tür auf. Die Spinne erkannte, daß die vier schneller aus der Erschöpfung der Umwandlung erwacht waren als übliche Vampire. Denn sie stürzten sich sofort auf das Ungetüm vor der Tür. Dieses schleuderte ihnen eine breitfächernde Ladung Verdauungssaft entgegen. Schreiend wichen die vier davon getroffenen zurück. Doch das fleischauflösende Sekret versah bereits seinen zerstörerischen Dienst. Alle vier Vampire fühlten, wie ihnen das umgewandelte Fleisch von den Knochen fiel. Selbst mit ihrer neuen Konstitution kamen sie nicht dagegen an.

"Netter Versssuchchch", gedankenzischte die schwarze Spinne ihrem Gefangenen zu. Da empfing sie über ihre Tastorgane und Beinhaare Geräusche von draußen. Es klang nach Stimmen und lautem Fauchen, Prasseln und Zischen. Ihr wurde klar, daß Buffalo Creek gerade von Angehörigen der Zaubererwelt gestürmt wurde. Insofern hatte sie wohl gerade noch rechtzeitig eingegriffen, um an Informationen zu gelangen. Doch der Träger dieser wichtigen Mitteilungen mußte erst sichergestellt und in eine auskunftsfreudigere Stimmung versetzt werden. Als Spinne konnte sie den Sheriff nicht in eine Disapparition mitnehmen.

"per Solem Benedico!" Hörte sie eine Männerstimme rufen. Das war eindeutig. Sie lauschte auf Gedankenausstrahlungen. Die Angreifer hielten ihre Gedanken nicht verhüllt, wohl auch, um für Mentiloquismus zugänglich zu sein. Daher erfuhr die schwarze Spinne, daß es sich um ministerielle Inobskuratoren handelte, die Abwehrtruppe gegen dunkle Wesen. Einer hatte eine Vampirortungsvorrichtung dabei, die er als Vampirgurke bezeichnete. Offenbar gingen die Abwehrzauberer gerade gegen die blutsaugenden Bürger vor. Diese wehrten sich gerade mit Schußwaffen.

"Hierher, Leute! Ich bin gefesselt! Bringt das Monster um!" Brüllte der Sheriff. Die schwarze Spinne hieb ihm mit dem rechten Vorderstbein über den Mund. Dann wich sie zurück. Dann dachte sie mit aller verbliebenen Willenskraft an ihre menschliche Gestalt und fühlte, wie ihr Spinnenkörper dagegen aufbegehrte, verwandelt zu werden. Doch anders als früher, wo Naaneavargia große Probleme hatte, sich in ihre angeborene Erscheinung zu verwandeln, brach der innere Widerstand der Spinnennatur nach nur einer Sekunde zusammen und fügte sich dem Willen der menschlichen Seite, die nun von innen nach außen floß und Anthelias neuer Menschengestalt Raum gab. Die Hexe brauchte einige Sekunden, um sich wieder daran zu gewöhnen, nur fünf Gliedmaßen, den Kopf eingeschlossen, zu besitzen, ja überhaupt einen drehbaren, neigbaren Kopf zu tragen. Doch als sie nun mit ausgebildeten Menschenohren hörte, wie die Zauberer das Sheriffbüro erreichten, war ihr klar, daß sie nur noch Sekunden hatte, bevor die Übermacht der Magier sie um ihren Gefangenen bringen würde.

"Anderthalb Vampire da drin!" Hörte sie einen Truppführer Mentiloquieren. Sie riß ihren Zauberstab hoch und schleuderte einen Feuerball durch die zertrümmerte Tür hinaus und genoß es, wie die sieben anrückenden Zauberer zur Seite sprangen, um dem Glutball zu entgehen. Womöglich würden gleich welche apparieren. Doch Anthelia rief drei Worte, die in der Sprache Altaxarrois den Schutz der Mutter Erde anriefen. Dabei schlug sie mit dem Zauberstab einen Bogen vom Boden vor ihren Füßen zum Boden hinter ihren Füßen. Mit lautem Getöse entstand eine dunkelrote Innenverkleidung, die zu einer großen Sphäre wurde, die Anthelia und ihren Gefangenen in einer Sekunde vollständig einschloß. Dort hinein konnte nun für einen hundertstel Tag, also knapp anderthalb Minuten, niemand auf natürlichem oder zeitlosem Weg vorstoßen. Die Erdmeister des alten Reiches hatten diesen Zauber soweit ausgefeilt, daß er auch zum Erstarken von Festungen in Wände und Bodensteine eingewirkt werden konnte. Doch für Anthelia sollte diese kurze Zeit ausreichen. Sie hörte das scharfe Knallen und schmerzhafte Schreie, als die Inobskuratoren des Zaubereiministeriums versuchten, in die rote Sphäre hineinzuapparieren und ziemlich unsanft zurückgeschleudert wurden. Naaneavargias Anteil in Anthelias Persönlichkeit gab ihr sogar ein, beim nächsten Mal auch die Strafe der großen Mutter mit einzuwirken. Dann würde jeder, der die Sphäre berührte oder in sie hineinzuapparieren wagte versteinert, bis er mit der Gnade der großen Mutter wiederbelebt wurde. Doch Anthelia ging es jetzt darum, den Gefangenen fortzubringen. Denn was schon in der Sphäre war, vor allem, wenn es die Person war, die sie heraufbeschworen hatte, konnte sie den kurzen Weg gehen. Allerdings zerplatzte die Schutzblase dann sofort und konnte einen vollen Tag lang nicht mehr an dieser Stelle aufgebaut werden.

"Die da draußen kommen nicht mehr zu uns rein, Blutsauger. Du weißt was, was mich sehr interessiert", schnarrte Anthelia und zielte mit dem Zauberstab auf den gefesselten Sheriff. "Damit du mir mit deinen Vampirkräften nicht den Hals umdrehst, wenn ich mit dir disappariere stelle ich dich besser ruhig. Perithanasia!" Sie zielte auf den Kopf des Vampires. Ein giftgrüner Strahl flirrte aus dem Zauberstab und traf genau zwischen die Augen des Gefangenen. Sie fühlte, wie die Macht ihres Zaubers gegen die Überlebenskraft des Vampires ankämpfte. Doch mit eiserner Willenskraft hielt sie den grünen Lichtstrahl aufrecht und schaffte es, den Vampir innerhalb von zwanzig Sekunden derartig mit ihrem Zauber zu durchdringen, daß er stocksteif an der Wand hing. Perithanasia, der Bann der Todesnähe, versetzte jedes lebende Wesen ohne widerstrebende Magie innerhalb weniger Sekunden in einen Zustand, der von jedem Unkundigen als tot erkannt wurde. Tatsächlich aber wurden nur alle Körperfunktionen auf ein Tausendstel abgesenkt. Anders als ein zauberschlaf hielt dieser Zustand jedoch solange vor, bis jemand den Vivinflatus-Zauber wirkte. Den würde Anthelia dem Vampir erst gönnen, wenn dieser sicher im Hauptquartier war. Als der Zauber seine volle Wirkung erreicht hatte, löste Anthelia mit "Diffindo" die Spinnseide vom Leib des Gefangenen. Sie erkannte, daß es nicht so einfach war wie sonst. Denn die Seide der schwarzen Spinne war reißfester als gewöhnlicher Stoff. Es dauerte jedoch nur zehn weitere Sekunden, bis sie den scheintoten Vampir freigelegt hatte. Er fiel steif wie ein Brett in das Zentrum der roten Leuchtblase. Anthelia bugsierte den Gefangenen mit "Mobillicorpus" zu sich hin und packte ihn beim Arm. Dann fiel ihr ein, daß sie vielleicht auch die Notizen des Sheriffs mitnehmen konnte. Sie hoffte, daß die nicht in diesem grauen Kasten steckten, der beim Wurf des Schreibtisches umgerissen worden und ziemlich heftig eingedrückt worden war. "Accio Notizen!" Rief sie, während von draußen andere Zauberworte erklangen. Einer rief: "Elementa recalmata!" Doch das brachte nur einen hohlklingenden Knall und einen wütenden Aufschrei des Zauberers zu Wege.

"Idiot, das ist ein statischer und kein fließender Elementarzauber!" Bekam der dann noch von einem Kollegen zu hören. Anthelia erheischte trotz der roten Sphäre die Gedanken der anderen und las die Verärgerung, aber auch die Schadenfreude aus den Gedanken des Zauberers, der seinen Kollegen gemaßregelt hatte. Diesem war durch magischen Rückstoß der Zauberstab aus der Hand geprellt worden. Anthelia fing derweil mehrere Aktenordner und Notizbücher auf, die ihrem Aufrufezauber folgten. Sie schrumpfte die Unterlagen ein und ließ sie in ihrem Umhang verschwinden. Als nach dem vierten "Accio Notizen!" keine weiteren Unterlagen aus Papier zu ihr hinflogen, wirbelte sie mit ihrem Gefangenen im Zentrum der steinharten roten Blase herum und disapparierte. Sie wußte, daß gleich ein lautes Prasseln und ein leichtes Erdbeben die Implosion der Schutzblase begleiten würden. Doch was sie erreichen wollte hatte sie erreicht. Sollten Cartridges Inobskuratoren die Vampirstadt von dieser bleichhäutigen Pest reinigen.

Zurück in ihrem Hauptquartier kettete sie den Gefangenen auf dem Tisch fest. Dann mentiloquierte sie an Patricia Straton: "Buffalo Creek nur von Vampiren bewohnt. Habe dortigen Ordnungshüter gefangennehmen können und mit seinen Aufzeichnungen in die Villa gebracht. Komm in drei Minuten her und übernimm das Verhör!"

"Bin in drei Minuten da", kam Patricias Antwort durch Raum und Zeit zurück.

"Vivinflato!" Sprach Anthelia mit beschwörender Betonung, während sie den Zauberstab über den Leib des Gefangenen führte. Ein blutroter Lichtstrahl flirrte nun aus dem Stab und hüllte den Vampir in eine fast glühende Aura ein. Anthelia fühlte, wie der Wiederbelebungszauber gegen die Eigenschaften des Vampirblutes wirkte. Die Wiederbelebung würde der Blutsauger also nicht so schmerzlos erfahren wie normalblütige Wesen. Tatsächlich keuchte und stöhnte der Vampir, als die ersten drei Sekunden verstrichen waren. Dann schüttelte ihn ein starker Krampf, der ihn, der eigentlich schmerzunempfindlich war, aufschreien ließ. Er fühlte die ihn haltenden Ketten und kämpfte dagegen an.

"Vergiß es, Gordon Tucker. Diese Ketten sind mit dem Ferifortissimum-Zauber gehärtet. Damit kann man sogar einen Drachen fesseln."

"Wo bin ich? Wer bist du? Nocturnias Henker sollen dich holen", spie ihr der Vampir entgegen. Seine Fangzähne glänzten im Licht der Öllampe, die Anthelia entzündet hatte.

"Du bist gefangener der schwarzen Spinne, falls du das noch nicht mitbekommen haben solltest", erwiderte Anthelia mit kindlichem Vergnügen. "Und die schwarze Spinne will wissen, wie du wurdest, was du jetzt bist und woher du von Nocturnia weißt. Du hast noch zwei Minuten, es mir zu erklären und alle Fragen zu beantworten. Ansonsten überlasse ich dich meiner Mitschwester, die wesentlich unangenehmere Mittel bei sich hat, dich zu beeindrucken."

"Silberkreuze oder was. Das macht uns nichts", schnaubte der Vampir. "Nocturnia ist bereits in der Welt. Ich werde dir nicht verraten, wie ich ein Bürger dieses erhabenen Reiches wurde."

"So, kann ich das nicht. Ich könnte dich in einen Strom fließenden Wassers halten und zusehen, wie du davon erledigt wirst. Ich könnte mit dem Öl aus dieser Lampe ein kleines Feuerchen auf deinem Bauch anzünden und mir ansehen, wie es dich verbrennt. Ich kann dir auch, was selbst die Muggel kennen, einen Pflock aus altem Eichenholz durchs Herz treiben oder dir den Kopf abschneiden. Das alles kann ich machen und werde dabei kein Mitleid empfinden. Wo ist Nyx?"

"Such sie, die große Königin", knurrte der Sheriff. Anthelia versuchte, es aus seinen Gedanken zu erlauschen. Doch diese wurden nur noch von Wut und dem Drang zur Flucht überlagert. Die Hexenlady versuchte es mit Legilimentik. Doch der Geist des Gefangenen wehrte sich. Sie mußte selbst aufpassen, daß die gerade erst erwachenden Bannkräfte, die ein Vampir über seinen Blick wirkte, nicht in ihr wirkten. Sie fragte weiter nach Nocturnia, Nyx und dem Grund, warum sie alle Vampire geworden waren. Denn eigentlich hätte ja ein lebender Vampir die Stadt heimsuchen und einige Leute beißen müssen. Womöglich war es sogar Nyx gewesen. Dann wäre die bereits in den Staaten.

"Die Königin wird dich in der Luft zerreißen, du halbgelbe Hexenschlampe", schrillte Tucker.

"Oder ich sie, du niederer Lakei einer mit Größenwahn geschwängerten Straßendirne", schrillte Anthelia zurück. Dann lächelte sie ihren Gefangenen warmherzig an.

"Wenn du mir hilfst, sie zu finden, sorge ich dafür, daß du ein legitimierter Vampir wirst. Dann darfst du im Schutz der Zauberergesetze dein Leben fortsetzen und auf Anfrage auch eine Ehefrau und Kinder haben, sofern die das wollen."

"Du kannst mir nichts erzählen, du Flittchen. Die Königin ist mächtiger als alle anderen."

"Woher weißt du das. Hat sie dir das ins Ohr geflüstert, nachdem sie dich leidenschaftlich geküßt hat?" Säuselte Anthelia, wobei sie Naaneavargias Unersättlichkeit in Form einer anregenden Begierde fühlte. Sie ließ mit "Diffindo" die Sheriffsuniform und dann auch die Sonnenschutzhaut aufreißen. Darunter sah sie die bleiche Haut des Vampirs, der sich schnaubend in den Ketten herumwarf. Anthelia konnte die Halspartie erkennen. Sie stutzte. Das konnte nicht angehen. Die Einstiche fehlten. Die für von Vampiren gebissenen typischen Wundmale waren nicht da! Das rüttelte ernsthaft an Anthelias Überlegenheit. Der da vor ihr auf dem Tisch war eindeutig ein Vampir. Er fürchtete das Licht, hatte die Zähne und strahlte Blutgier aus. Außerdem war er übermenschlich stark und schnell. Aber ihm fehlte das Stigma des Vampirbisses. Dann dachte sie, daß Nyx oder einer ihrer Vasallen ihn anderswo gebissen haben mußte und entkleidete den Gefangenen vollständig. Doch die bleiche Vampirhaut wieß keinen einzigen Einstich auf. Der Gefangene lachte sie aus, ob sie noch nie einen nackten Mann gesehen habe, weil sie so verstört wirkte.

"Ich kann sie nicht mehr zählen, du bleicher Blutegel. Wie bist du Vampir geworden?" Schnarrte die Hexenlady und griff hinter ihrem Rücken nach dem Schwert.

"Versuch das mal rauszukriegen, du Hure!"

"Mit Flittchen kann ich besser leben. Huren liebkosen nur für schnöden Zugewinn", knurrte Anthelia und zog das magische Schwert frei. "Kuck mal hier! Fühlst du das?" Sie führte die Klinge mit den eingearbeiteten Flammenmustern über den Körper des Vampirs. Dabei fühlte sie, wie das Schwert in ihrer Hand vibrierte und sah, wie die Flammen leicht erglühten. Offenbar witterte Yanxothars Klinge die Nähe eines Nachtgeborenen. Einer hatte sich an dem Schwert ja selbst eingeäschert.

"Was ist das?" Gab der Vampir erschrocken von sich. "Nimm es weg!"

"Das ist gegen sowas wie dich geschmiedet worden, eine Waffe des Feuers gegen euch Nachtgezücht", knurrte Anthelia. "Vielleicht stirbst du, wenn ich es dir kurz über den Wanst ziehe. Vielleicht verglühst du sogar, wenn ich dich damit anstupse. Einer deiner Blutsbrüder hat das ja schon erfahren, daß ihr es besser nicht berührt."

"Nimm das Ding weg!!" Rief der Vampir.

"Warum hast du keine Bißverletzung?" Fragte Anthelia und hielt die Feuerklinge knapp einen Zentimeter über den Brustkorb des Blutsaugers, der heftig keuchte und angstvoll auf die schwach glimmende Klinge blickte.

"Ich wurde nicht gebissen, du Miststück. Ich bin so aufgewacht. Dann habe ich ihre Stimme in mir gehört, daß ich der Sheriff von Nightville sei und die anderen auch meine Brüder würden. Jeder, der zu uns käme dürfte von uns leergesaugt werden."

"Wieso bist du so? Hat sie dir das gesagt?"

"Nein, hat sie nicht. War auch nicht nötig. Wir wissen das alle, woran das liegt."

"Hmm, ich denke, ich schneide dir mal das Gestrüpp von deiner bleichen Brust weg", sagte Anthelia und drehte die Klinge so, daß sie wie ein Rasiermesser durch die üppige Brustbehaarung schnitt. Dabei zischte es, und Tucker schrie wie am Spieß.

"Verdammt, das Wasser war's. Wir haben das aus unserem Wasser, verdammt!!" Schrie der Vampir, während ein Geruch von verbranntem Horn in der Luft hing und feine schwarze Asche auf der Brust des Blutsaugers lag. Anthelia zog die Klinge wieder zurück und steckte sie fort.

"Du willst mir sagen, daß diese Pest dich und die anderen durch euer Trinkwasser heimgesucht hat? Das ist unmöglich!" Keifte Anthelia. Die Erklärung entsetzte und verärgerte sie gleichermaßen. Der Vampir jammerte, daß es aber wahr sei. Er habe das sogar aufgeschrieben. Sie müsse dafür aber in das Büro und die Akten durchsehen. Anthelia lächelte ihn an und eröffnete ihm, daß sie sämtliche Niederschriften von ihm habe.

"In einigen Minuten kommt meine Bundesschwester. Ihr wirst du verraten, ob es stimmt, daß ihr durch Trinkwasser vergiftet und verwandelt wurdet. Erhol dich gut, Süßer!" Anthelia verließ den Weinkeller. Sie holte in ihrem Schlafgemach die Unterlagen des Scheriffs hervor. Dabei hörte sie die Gedanken Didos, die gerade von Louisette Richelieu auf dem Besen nach Hause begleitet wurde. Sie mentiloquierte Louisette, mit Dido noch zwei Stunden draußen zu bleiben, aber schön weit weg von Dropout zu fliegen. Dann prüfte sie die Unterlagen. Dabei las sie bis Patricias Ankunft, daß vor genau zwei Wochen die ersten Anzeichen einer Veränderung aufgetreten waren. Es hatte erst die erwischt, die viel Wasser getrunken hatten und war dann nach und nach auf alle anderen übergesprungen. Als auch der Sheriff bemerkte, daß er nicht mehr lange in die Sonne konnte und sich nicht näher als zwanzig Meter an den kleinen Fluß heranwagen konnte, der schon eher ein Bach war, war es bereits zu spät für Gegenmaßnahmen. Außerdem hinderte ein ständig steigender Unwille den Sheriff daran, einen Arzt zu rufen oder eine Seuche zu melden. Anthelia erschauerte, als sie aus den Aufzeichnungen las, wie sich die Stimmung und Gemütslage des Ordnungshüters geändert hatte. Vor zwei Tagen war der Moment der Vollendung erreicht. Die Stadtbewohner wußten, was sie waren und wußten auch, woher es kam. Irgendwer mußte die aus den Bergen gespeisten Wasserreserven mit einem Giftstoff, einem Virus versetzt haben, daß sie alle zu Vampiren gemacht hatte. Anthelia dachte wieder an die zu ihrer ersten Lebzeit angestellten Versuche, den Vampirismus ebenso wie die Werwut zu ergründen und die Erreger zu finden und je nach Gesinnung ein Gegenmittel zu finden oder den Erreger ohne die üblichen Bißverletzungen auf lebende Menschen zu übertragen. Sollte es dieser Nyx gelungen sein, das bis dahin unmögliche erreicht und eine Vampirismuslösung ersonnen zu haben, die unter gewöhnliches Wasser gemischt werden konnte? Eine auch für die grauenhaftes gewohnte Anthelia/Naaneavargia grauenhafte Vorstellung.

Anthelia spürte die Ankunft der Mitschwester, weil von unten jene unangenehme Strahlung des Sonnenmedaillons auf die Spinnenführerin wirkte. Diese mentiloquierte an Patricia, den Vampir zu fragen, wieso er sicher war, durch das Wasser zum Vampir geworden zu sein und woher sie die Schutzfolien hatten. Sie hörte den Gefangenen laut vor Schmerzen schreien. Sie konnte es dem zum Blutsauger gewordenen Sheriff nachempfinden, wie dieser wohl litt, wo das Medaillon noch näher bei ihm war als bei ihr und er nicht durch die Tränen der Ewigkeit geschützt wurde. Sie hörte Patricia über die Schmerzenslaute des Vampirs hinweg die Fragen stellen. Zwei Minuten später schickte Patricia ihrer Anführerin die erbetenen Antworten zu:

"Er wollte es nicht denken. Etwas blockierte seine Gedanken. Das Medaillon der Inkas hat seine größte Todesangst herausgekitzelt. Offenbar hast du ihm schon gut zugesetzt. Okay, die Antworten: Einer von Nyx gedungenen Lakeien hat die Folien per Fallschirm aus einem Frachtflugzeug abgeworfen. Irgendwo in den Staaten muß noch eine Fabrik für die Dinger sein. Tucker ist sich sicher, daß der Vampirkeim im Trinkwasser steckt. Das wäre ja schon wie ein von den Muggels befürchteter Biowaffenanschlag, wenn das stimmt. Wenn das stimmt besteht Ansteckungsgefahr für die Umgebung. Nachher wirkt das Zeug noch auf niedere Tiere, und dann kriegen wir Vampirratten oder Vampirfüchse oder sowas."

"Danke für deine Hilfe, Schwester Patricia! Weißt du auch, wo Nyx ist?"

"Sie versucht wohl, ihn hier zu erreichen. Aber dein Fidelius-Zauber leitet die Rufe um das Haus herum. Er horcht immer wieder auf eine Botschaft."

"Interessant, du hast recht. Er versucht immer wieder, eine neue Anweisung zu empfangen oder seine Gefangennahme weiterzumelden. Dann bleibt er hier, und ich untersuche sein Blut auf typische Vampirismusagentien."

"Brauchst du mich noch? Ich meine, willst du die Fabrik für die Sonnenschutzfolien finden?"

"Das auf jeden Fall. Setze Cecil daran, ungewöhnliche Aktivitäten in der Kunststoffherstellung aufzuspüren oder andere Behörden darauf anzusetzen? Ich werde gleich noch einmal nach Buffalo Creek apparieren und nach der Trinkwasserquelle suchen."

"Es ist ein Wasserwerk etwa zwanzig Meilen nördlich von Buffalo Creek. Es enthält einen großen Vorratsspeicher. Dort könnte jemand der oder die apparieren kann den Keim wie auch immer eingebracht haben", erwiderte Patricia mentiloquistisch.

"Danke für die Mitteilung! Dann werden wir bald wissen, ob dieses Geschöpf wahrhaftig einen Weg gefunden hat, den Keim seines Daseins wie den Cholera-Erreger im Trinkwasser zu verrühren. Sollte das stimmen, droht allen Menschen die Gefahr, zu unfreiwilligen Bürgern dieses Vampirlandes zu werden."

"Soll ich dich begleiten, höchste Schwester?"

"Nein, das mache ich selbst. Die Ministeriumsleute sind sicher noch mit der Ausrottung der Vampire beschäftigt. Bis diese ergründen, wodurch sie entstanden sind, habe ich die Wasserproben", gedankenantwortete Anthelia. Sie atmete auf, als Patricia nach zehn weiteren Sekunden disapparierte und die weitreichende Aura des Sonnenmedaillons nicht mehr vorherrschte. Anthelia wartete noch eine weitere Minute. Dann apparierte sie aus ihrem Privatgemach heraus in der Nähe von Buffalo Creek. Sie mußte zunächst tief durchatmen, weil der kleine Ort sich in einen qualmenden Trümmerhaufen verwandelt hatte. Die Inobskuratoren hatten kein großes Federlesen veranstaltet, als sie herausgefunden hatten, daß hier kein gewöhnlicher Mensch mehr wohnte. So sehr mußte Nyxes Vorhaben schon auf die Ministeriumszauberer wirken, daß sie rigoros alles mit Vampirzähnen auslöschten und sei es, die Häuser über diesen Wesen anzuzünden. Hoffentlich war noch keiner auf das Wasserwerk gestoßen.

Sie horchte, ob noch Zauberer aus Cartridges Behörde unterwegs waren. Doch in dieser Gegend schnappte sie keinen Gedanken mehr auf. Sie flog ohne Besen auf und überblickte die Umgebung. Das Sheriffbüro gehörte zu den wenigen Gebäuden, die noch standen. sie wurde wieder unsichtbar und jagte die Strecke den kleinen Fluß entlang zur Wasseraufbereitungsstelle. Sie horchte auf Gedanken. Doch entweder war hier kein denkendes Wesen. Oder die Zauberer hatten das Werk noch nicht als brisant eingestuft. Kunststück, wo sie die Unterlagen des Sheriffs hatte mitgehen lassen. Falls die Zauberer die anderen Vampire gleich umgebracht hatten würden sie nicht wissen, wie diese überhaupt entstanden waren. Doch sie unterstellte Cartridges Leuten die Intelligenz, mindestens zwei oder drei Gefangene zu machen, die sie ähnlich wie sie und Patricia aushorchen und deren Blut untersuchen konnten. Anthelia überlegte, ob die Vampirpest auch über die Luft oder in Wassertröpfchen in den Körper potentieller Rezipienten vordringen konnte. Falls ja, so könnte sie durch den Besuch des Wasserwerkes diesen Keim einatmen wie einen Erkältungserreger. Als ausgebildete Heilerin legte sie es nicht darauf an, sich freiwillig einer gefährlichen Seuche auszusetzen, wenn nicht, um davon bedrohte Menschenleben zu retten. Doch hier kam ja schon jede Hilfe zu spät. Es ging nur noch um die Ursachenforschung. Sie nahm noch einmal die erbeuteten Aufzeichnunen und las sie sich in Ruhe durch. Dann atmete sie auf. Die Menschen, die zu Vampiren geworden waren, hatten das Wasser getrunken. Anthelia setzte also darauf, daß ihre besondere Konstitution sie vor sonstigen Ansteckungswegen schützte. Zudem schuf sie noch eine Kopfblase, um nur in reine Luft verändertes Atemgas ohne schwebende Giftstoffe oder Keime einzuatmen. Dann pirschte sie leise an das Tor zum Wasserwerk heran. "Homenum Revelio!" Murmelte sie. Der Menschenfinder verriet keine weitere Person in einer unsichtbaren Kugelzone von hundert Metern Umkreis. So setzte Anthelia noch auf den Vivideo-Zauber zur Aufspürung lebender Wesen. Doch innerhalb des Gebäudes erkannte sie keine grüne Lebensaura. Sie lauschte auf das andauernde Brummen und rauschen, das die Umwälzpumpen und Aufbereitungsmaschinen von sich gaben. Irgendwie wurde sie das Gefühl nicht los, daß sie in eine Falle gehen würde, wenn sie durch das Tor eintrat. So umschritt sie leise den Bau und murmelte dabei jenen Zauber, mit dem sie in Virginia die Ruine der Coals untersucht hatte. Da zuckte ihr Zauberstab heftig in der Hand. Sie unterdrückte ein wütendes Schnauben. Tatsächlich, in dem Gebäude war etwas, daß jemand heimlich dort untergebracht hatte. War das der Vampirkeim oder was anderes? Sie zielte genauer auf die Quelle der verdächtigen Regung und schickte mit dem Mentijectus-Zauber eine Art geistige Erweiterung ihrer Wahrnehmung in den Bau hinein. Sie ließ ihre geistigen Fühler bis zu einer Halle vorstoßen, die bis oben hin mit gelblichgrünem Brodem angefüllt war, der aus einer mannshohen Flasche herausquoll. Dann sah sie zwei Inobskuratoren. Ihre übliche Uniform war fahl wie gebleichte Knochen. Ihre Gesichter wiesen großflächige Verbrennungen auf, als habe jemand ihnen eine Säure hineingeschüttet. Sie lagen in einer verkrampften Haltung am Boden. Anthelia wußte, daß die Zauberer dem grünlichen Brodem zum Opfer gefallen waren. Das Gas mochte eine abgeschwächte Wirkung wie Drachengallengas besessen haben. Offenbar waren die Zauberer ungesichert in dieses Werk Appariert und hatten zu spät erkannt, daß sie besser eine Kopfblase hätten zaubern sollen. Sie bedachte diese Stümper mit einem verächtlichen Lächeln. Jeder Heiler lernte, daß man nicht so einfach in ein Gebäude hineinapparieren durfte, wenn die Gefahr von Feuer oder giftigem Rauch bestand. Doch wer rechnete wohl in einem Wasserwerk mit solch einem tödlichen Dunst. Sie überlegte, ob ihre Kopfblase und Sardonias Mantel ausreichen würden, sie vor dem Gas zu schützen. Sicher, atmen konnte sie sicher frei. Aber die ungeschützten Hautpartien würden dem tückischen Dunst ausgesetzt. Sie würde einen besonderen Schutzanzug benötigen, wie ihn jene Alchemisten trugen, die mit giftigen Dämpfen in Berührung kommen konnten. Sie dachte auch daran, daß sie mit den Tränen der Ewigkeit in ihrem Körper jedem Gift standhielt und sie als Spinne noch stärker gegen Gifte und Feuer gefeit war. Also wechselte sie im Schutz der Rückwand ihre Gestalt und trippelte behutsam in das Gebäude, bereit, sofort umzukehren, wenn das darin wabernde Gas, das ihrer Einschätzung nach schwerer als Luft am Boden lag, ihr irgendwie zusetzte. Sie betrat eine Halle und witterte einen befremdlichen Geruch, den sie irgendwo her kannte, nicht aus eigener Erfahrung, sondern aus den Erinnerungen eines anderen. Sie verhielt und überlegte, von wem und woran die Erinnerung genau gewesen war. Schließlich sah sie Ben Calder, der mit seinen Schulkameraden in der örtlichen Badeanstalt von Dropout war. Der typische Geruch dieser Schwimmbecken stammte von einer aggressiven Substanz namens Chlor, wie es laut den Muggeln auch im elektrisch angeregten Zustand ein Bestandteil des Kochsalzes bildete. Ja, das mmußte es sein. Denn nun erinnerte sie sich auch daran, daß Bens Freund Willy, der nicht nur Basketballspieler sondern ein Musterschüler in nichtmagischer Alchemie war, davon gesprochen hatte, daß sie das Becken schon wieder heftig überchlort hatten und hoffentlich kein Leck in der Chlorgasanlage bestand. Offenbar reinigten die Muggel damit größere Wassermengen von schädlichen Keimen. Doch wie alles machte die Dosis das Gift. Hier in diesem Wasserwerk war die zum Gift führende Dosierung wohl schon mehr als erreicht. Sie trippelte weiter, fühlte, wie die aus der vergasten Halle kriechenden Schwaden ihre Atemöffnungen betrafen. Doch sie fühlte sofort, wie die Kraft der Tränen der Ewigkeit dagegenhielt und trippelte weiter. Sie meinte, pures Feuer einzuatmen, das jedoch sofort von kühlenden Strömen in ihrem Körper gelöscht wurde. Doch in der für Menschen tödlichen Atmosphäre sah sie nichts außer der zerstörten Zufuhr zu den Tanks. Dann erkannte sie eine sich langsam zersetzende Gestalt, die hinter der Aufbereitungsvorrichtung lag. Sie trug die Überreste derber Kleidung, die dem ätzenden Gas immer mehr zum Opfer fiel. Anthelia konnte noch erkennen, daß es sich nicht um einen üblichen Menschen handelte. Sie konnte deutlich die spitzen Eckzähne erkennen. Hier lag ein Vampir, womöglich als Ausführer eines Selbstmordunternehmens, dessen Ziel es war, die Spuren zu verwischen und zugleich eine tödliche Falle für überneugierige aufzustellen. Dann fühlte sie eine weitere Bedrohung, die nicht von einem lebenden Wesen ausging. Es war, als würden irgendwo in der Nähe regelmäßige, unsichtbare Wellen schwingen. Sofort suchte sie nach der Ursache für diese Erregung und entdeckte eine kleine Vorrichtung, die über ein langes isoliertes Kabel mit mehreren Röhren verbunden war. Sie erkannte diese Röhren als für besonders helles Kunstlicht nötige Vorrichtung, sogenannte Leuchtstoffröhren. Die Vorrichtung, die daran angeschlossen war, befand sich dort, wo wohl sonst der Schalthebel zur Zündung dieser Lichtquelle angebracht war. Sie sah ein winziges Fenster. Ihre Spinnenaugen vermochten nicht, scharf zu sehen, was in dem Fenster passierte. Doch das regelmäßige Vibrieren in der Luft kam ihr so vor wie ein Taktschlag, ein Metronom oder ein Zählwerk. Ein Zählwerk? Anthelia erstarrte einen winzigen Moment, überflog dann noch einmal die Vorrichtung und wirbelte herum. Auch wenn das Chlorgasgemisch nun noch heftiger in ihren Atmungsorganen brannte jagte sie aus der Halle hinaus und auch aus dem Wasserwerksgebäude. Hinter ihr zischte weiterhin das tödliche Gas aus seinem Behälter und waberte schwerer als Luft am Boden entlang, sickerte in alle Ritzen und Kellerräume. Doch Anthelia interessierte es nicht, wo das Gas hinlief. Sie dachte nur daran, daß jemand eine weitere, tödliche Falle gestellt hatte. Sicher waren diese Röhren keine Lichtröhren, sondern enthielten Sprengstoff. Und die Vorrichtung war die Zeitzündvorrichtung, die die Explosivladung zu einer bestimmten Zeit entzünden sollte. Ähnlich hatte sie es mit Bokanowskis Burg gemacht, wo sie mit dem Retardo-Zauber die Zündung einer Glutgasladung lange genug hinausgezögert hatte, um aus der Nähe der Burg zu entkommen. So rannte sie nun, vielleicht um ihr zweites beziehungsweise drittes Leben. Denn sie hatte nicht sehen können, ob es sich um eine zeitanzeige oder ein Herunterzählwerk handelte. In wildem, mit acht Beinen schwer durchzuhaltendem Spinnengalopp flitzte Anthelia einen Hang hinunter, hin zum schmalen Fluß, der eher ein Bach war und dem Buffalo Creek seinen Namen verdankte. Sie warf sich in die Fluten. Das tat sie zum einen, weil sie damit das ihr noch anhaftende Chlor abwaschen konnte und zum anderen, weil sie hier unten vor einer Druckwelle sicher war, wenn die Sprengvorrichtung explodierte. Sie schwamm, tauchte, reinigte sich von den Spuren des Giftgases und trieb dabei mit der Strömung, die wegen der Schneeschmelze in den Bergen viermal so stark war wie im Hochsommer. Als sie etwa einen Kilometer zurückgelegt hatte krallte sie sich im Ufer des Flusses fest und benutzte ihre Spinnenaugen, um nach dem Wasserwerk zu sehen. Noch stand es. Sie wälzte sich noch zweimal im Wasser, um sicher zu sein, daß sie die letzten Spuren des Giftes abgespült hatte und kletterte in Windeseile zur Straße hinauf, die die niedergebrannte Stadt durchzog. Sie rannte noch einige hundert Meter weiter, bevor sie anhielt und sich in ihre neue Frauengestalt zurückverwandelte. Die während der Tiergestaltphase nichtstofflich mitgeführten Sachen hatten keine Spuren des Giftes aufgenommen. Sie brannten nicht und reagierten nicht mit giftigen Stoffen, wußte Anthelia. Mit ihren Menschenaugen sah sie sich noch einmal nach dem Wasserwerk um. Es stand immer noch. Doch Sie hatte jetzt auch was anderes vor. Wenn sie schon keine Probe des frischen Wassers bekommen konnte, dann mußte es eben in der Stadt gelingen. Sie apparierte direkt in die Stadt hinein und suchte nach einem Haus, das noch stand. Das einzige intakte Gebäude war jedoch das Sheriffbüro. Offenbar hatten die Brandschatzer des Ministeriums nach der Entführung des Sheriffs keinen Grund gesehen, es niederzubrennen. Anthelia suchte rasch nach Menschen und Lebewesen in der Umgebung. Niemand außer ihr war hier. Sie schlüpfte durch die zertrümmerte Tür und fand den Waschraum, zu dem auch eine Toilette mit Zisterne gehörte. Anthelia lächelte. Sich über die Alltagseinrichtungen der modernen Zeiten kundig zu machen zahlte sich aus. Sie hob die Abdeckung der Porzellanzisterne an und füllte drei mitgebrachte Phiolen mit dem darin lagernden Wasser. Sorgfältig verkorkte sie die Phiolen und versiegelte sie mit Wachs, damit auch kein Tropfen daraus verloren ginge. Dann wollte sie disapparieren. Doch als sie es versuchte, hielt sie etwas zurück, legte sich auf ihren Körper wie eine dicke decke. Gleichzeitig fühlte sie ein Tasten. Dann hörte sie ein mehrfaches Krachen und ploppen. Anthelia erkannte, daß es wohl gründlicher gewesen wäre, nicht nur nach Lebewesen, sondern nach Zauberfallen und Meldezaubern zu suchen. Doch diese Nachlässigkeit ließ sie kalt. Auch als zehn Zauberer in der Kleidung der Inobskuratoren hereinstürmten und mit vorgestreckten Zauberstäben auf sie zielten, blieb sie ruhig.

"Ah, Sie. Wir wußten, daß Sie das waren, die uns den Sheriff und seine Notizen entzogen hat", knurrte einer der Zauberer. "Lassen Sie den Zauberstab fallen und nehmen Sie die Hände hoch!"

"Gratulation, die Herren! Sie haben damit gerechnet, daß ich nach dem, was ich über den Sheriff erfahre wieder herkommen würde. Aber Sie täuschen Sich, daß ich mich von Ihnen festnehmen lasse", erwiderte Anthelia. Sie sah die Männer an. Es waren nur Männer. Für sie, die mit Naaneavargia verschmolzen war, waren Männer nur niederes Spielzeug.

"Zauberstab fallen lassen und Hände hoch!" Bellte der Führer des Greifkommandos. Doch Anthelia führte den Zauberstab so schnell gegen sich und sprach ihm unbekannte Worte, daß er zu spät reagierte. Als er einen Schocker auf Anthelia abfeuerte, zerstob dieser an der Macht von Sardonias Mantel. Anthelia selbst wurde gerade von einer rosaroten Aura umhüllt, die sich ausbreitete. Die Zauberer starrten sie erst verwundert und dann verzückt an. Aus der Verzückung wurde Begehren. Dann rückten sie auf Anthelia zu, wobei sie sich gegenseitig anstießen. Das wiederum führte dazu, daß sie einander aus dem Weg stoßen wollten. Sie wurden aufeinander wütend und begannen, einander zu schlagen. Anthelia prüfte, ob der sie hier haltende Zauber bereits wieder verklungen war und wich gerade noch einem nach ihr springenden Zauberer aus. Dieser wurde von seinem Kollegen mit den Worten: "Pfoten weg von ihr. Die gehört mir!" mit einem Schlag zu Boden gestreckt. Anthelia wich bis zur Wand zurück und grinste die nun offen miteinander kämpfenden Zauberer verächtlich an. Dann drehte sie sich auf dem Punkt. Es knisterte laut. Doch dann krachte es, und die in einem rosaroten Leuchten gekleidete Hexe war verschwunden. Mit ihr verflog auch der Zauber, den sie in ihre Umgebung gewirkt hatte. Die kämpfenden erwachten aus der Besessenheit, es mit der schönsten und willigsten Frau überhaupt zu tun zu haben und alles zu tun, um sie ganz alleine für sich zu haben. Mehrere von ihnen lagen am Boden und waren bewußtlos oder benommen. Die, die noch standen erkannten, daß die Fremde sie gründlich ausgetrickst hatte. Dabei hatten sie noch Glück. Anthelia hätte sie auch mit ihrem berüchtigten Feuerring erledigen können.

Die Führerin der Spinnenschwestern machte sich sogleich daran, die gesicherten Wasserproben zu untersuchen. Dabei fand sie heraus, daß im Wasser winzige Sphären trieben, die kleine Kristalle umschlossen. Als sie durch Destillation mehrere dieser Kleinstsphären ausgefiltert hatte und mit ihrem Vergrößerungsglas die winzigen Kristalle untersuchte, stellte sie fest, daß sie wohl in Verbindung mit menschlichen Magensäften zu Vampirblut wurden, jedoch auch die Eigenschaft hatten, gewöhnliches Blut abzubauen. Nyx war eine höchst beachtens- wie verachtenswerte Methode eingefallen, Vampirblut bis zur Aufnahme in den menschlichen Verdauungstrakt zu konservieren. Die die Kristalle umhüllenden Sphären reagierten auf die alchemistischen Untersuchungen wie Kohle, allerdings fand sie auch Eisenanteile darin. Es war so, als habe jemand die roten Blutkörperchen eines Menschen wie eine Ballonhülle aufgeblasen, um die kristallinen Vampirblutanteile und das Normalblutabbauagens darin einzulagern.

"Ich hoffe, du gönnst mir, dich lebend zu fangen, Nyx. Denn dieses Geheimnis mußt du mir verraten", dachte Anthelia. Danach untersuchte sie den gefangenen und nun kleinlauten Sheriff, entnahm ihm Magensäfte, Blutproben, strich Schleim aus seinem Mund und seiner Nase aus und schnitt ihm einige Kopfhaare ab. Insgesamt dauerte ihre Untersuchung unter Verwendung mehrerer Gegenproben mehrere Stunden. Dann hatte sie heraus, daß der Gefangene wahrhaftig durch ein Gift umgewandelt worden war, das in seinem Magen den vampirisierenden Prozeß ausgelöst hatte. Damit hatte Nyx eine schlagkräftige Waffe, um Feinde zu willigen Sklaven und unbescholtene Menschen zu braven Bürgern ihres Reiches zu machen. Zwar ging Anthelia davon aus, daß Buffalo Creek nicht mehr als ein Versuch gewesen war. Doch so erfolgreich wie er verlaufen war, würde es nicht mehr lange dauern, bis Nyx ihr Vampyrogen, wie Anthelia das kombinierte Mittel nannte, bald an größeren Siedlungen anwenden würde. Vielleicht würde sie die Herren dieser Städte vorher warnen und wohl zu erpressen versuchen. Vielleicht bereitete sie aber auch den großen Schlag vor, der einen Teil der Menschheit in Nachtgeborene verwandeln sollte. Denn alle Menschen würde sie nicht zu Vampiren machen. Kein Fuchs legte es darauf an, sämtliche Hühner und Gänse zu töten, wenn er danach nichts anderes mehr fressen konnte.

"Welch ein perfides Spiel du doch treibst", knurrte Anthelia an Nyxes Adresse. "Aber ich werde dir schon verleiden, die halbe Welt in deine niedere Art zu verwandeln, damit du sie alle mit diesem kalten Stein Iaxathans versklaven kannst. Ich werde ihn dir mit Yanxothars Klinge aus dem Leib herausschneiden."

__________

Buffalo Creek wurde zum Inbegriff der Demütigung. Zumindest titelte die US-amerikanische Zaubererweltpresse so, als die Ereignisse um den Muggel Fred Kessler von Leuten wie der hellhörigen Linda Knowles oder der weit herumkommenden Willow Sweetwater aufgeschnappt worden waren. Zaubereiminister Milton Cartridge sah sich gezwungen, bei einer Pressekonferenz zusammen mit Flavius Partridge zu betonen, daß Nyx das Koexistenzabkommen endgültig gebrochen hatte und sie damit ihre Artgenossen zu unerwünschten höchsten Grades abgewertet hatte. Die gertenschlanke, dunkelhäutige Willow Sweetwater hatte es doch dann glatt gewagt, zu fragen, ob der Minister wieder darauf hoffe, daß ihm außenstehende Organisationen aus der Bredullie helfen mochten. Cartridge hatte seinen Mitarbeiter Partridge angesehen und ihm damit das Wort erteilt.

"Nun, da wir zum einen nicht wissen, wen Sie genau meinen, Ms. Sweetwater und zum anderen nicht auf das Wohlwollen nichtministerieller Organisationen angewiesen sein möchten, deren Führungspersonen wir nicht kennen, kann und muß ich diese Frage mit einem klaren Nein beantworten, auch wenn Sie den Minister persönlich angesprochen haben. Da ich jedoch seit dem Verscheiden von Mrs. Archstone hauptverantwortlicher Organisator des ewigen Kampfes gegen die Machenschaften schwarzmagischer Menschen und Kreaturen bin, darf ich mir diese Antwort erlauben." Cartridge hatte darauf sehr entschieden genickt. Linda Knowles nahm jedoch den von ihrer Konkurrentin geworfenen Quod an und wandte ein, daß das Ministerium doch wisse, wer gemeint sei, wo es bei der Vernichtung von Valery Saunders und dem Totentänzer doch klar hervorgegangen sei, daß die sardonianische Gruppe auch nicht damit einverstanden war, daß ihr andere Kreaturen Rang und Ruhm abliefen und bei alle dem klar zu Tage getreten sei, daß deren Anführerin wohl nicht so dumm sein konnte, daß sie Cartridges Nachfolger und aktuellen Vorgänger offen ermordet und noch dazu einen Zeugen zurückgelassen habe. Partridge hatte die kaffeebraune Sensationsreporterin dann gefragt, ob sie allenernstes glaube, daß der Mord an Wishbone nicht von jener dubiosen Person begangen worden sei. Willow Sweetwater grinste die Konkurrentin an. Doch diese blieb ruhig.

"Wenn Sie Wishbone wirklich ermordet hätte, hätte sie entweder keinen Zeugen zurückgelassen oder jemanden unter Imperius-Fluch oder als magisch erzeugter Doppelgänger von wem anderem gehandelt. Das kann ich nach meiner Erfahrung mit dieser Person sagen."

"Mag sein, daß Anthelia tot und zerfallen ist, werte Ms. Knowles. Aber ihre Nachfolgerin hat mit dem Erbe auch die Schuld übernommen. Wenn sie weiterhin auf Anthelias und damit Sardonias Pfad wandelt, ist sie ähnlich unerwünscht wie die Vampire. Und wir werden wohl kaum den Drachen mit dem Basilisken austreiben wollen, nicht wahr?" hatte Partridge darauf geantwortet. "Aber ich kann Sie beruhigen, daß wir vom Zaubereiministerium bereits ein Mittel in Aussicht haben, um der Vampirplage entgegenzuwirken. Näheres dazu dann, wenn es bruch- und feuersicher auf dem Weg ist."

"Jetzt machen Sie mich aber neugierig", hatte Linda Knowles darauf gesagt und ein beipflichtendes Nicken von Willow Sweetwater geerntet.

"Nun, wir möchten wie erwähnt noch nicht mit genauen Einzelheiten an die Öffentlichkeit gehen, da noch einige endgültige Prüfungsergebnisse ausstehen. Aber wenn die Ergebnisse unseren Erwartungen entsprechen werden wir uns an Sie wenden", hatte Flavius Partridge darauf geantwortet. Damit war die Pressekonferenz zu Ende gegangen.

Was die beiden attraktiven Hexen mit den flotten Federn nicht erfuhren war, daß unmittelbar nach der Konferenz eine Geheimkonferenz im Zaubereiministerium begann. Hierzu waren außer dem Zaubereiminister und seinem Strafverfolgungsleiter auch der Leiter der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe, dessen Mitarbeiter aus dem Zauberwesenbüro, Elysius Davidson, Zachary Marchand und Quinn Hammersmith aus dem Laveau-Institut in einem magisch gegen unerwünschte Belauschung und Eindringlinge gesicherten Raum zusammengekommen.

"Nun, war hoch gepokert, Mr. Partridge", begann Davidson, als der Minister sie alle miteinander bekanntgemacht hatte und dabei den muggelstämmigen Zauberer Marchand mit einem kurzen, tadelnden Seitenblick bedacht hatte. "Glauben Sie, Lino und Sweety schlucken das mit dem Mittel. Mir wäre nicht bewußt, daß es gegen diese neue Form der Vampirwerdung eines gebe. Dieses Weib hat genau das gemacht, was man im mittelalterlichen Europa den Juden und den Hexen und Zauberern unterstellte, sie hat sich als Brunnenvergifterin betätigt."

"Es ist bedauerlich, daß wir diesen Sheriff nicht dingfest machen konnten oder dessen Aufzeichnungen sicherstellen konnten. Diese schwarze Spinne kam uns dazwischen", knurrte Partridge. "Aber meine Alchemisten sind schon dran, Ihre Vermutung zu prüfen, Elysius."

"Meine sind schon fertig", erwiderte Davidson und grinste Hammersmith an, der bestätigend nickte. "Es gelang uns, das primäre Agens, also das progressive Gift, nachzuweisen. Irgendwer hat es geschafft, in eine uns unbekannte Eiweißhülle mit Eisenanteil kristallines Vampirblut einzulagern, das bei der Verdauung in menschlichen Körpern die Vampirsaat aufkeimen läßt. Wir müssen nur noch ausrechnen, wie viel jemand davon aufnehmen muß, um den Prozeß unumkehrbar zu machen und ein Gegenmittel oder zumindest einen Blockadestoff zu entwickeln."

"Da sitzen die Heiler auch schon dran, seitdem ein Tourist, der in seine Heimat zurückwollte, mit einer in sein Gepäck geschmuggelten Phiole dieses künstlichen Erregers gefunden wurde. Dieses Spinnenweib ging wohl davon aus, uns mit der Ursache auf die Sprünge helfen zu müssen", maulte Partridge. Denn es gefiel ihm überhaupt nicht, daß tatsächlich erst durch diesen Fingerzeig daran gedacht worden war, das Trinkwasser zu untersuchen.

"Soweit ich weiß hat sie es", wandte Marchand ungefragt ein. "Das FBI bekam den Tipp von einer anonymen Frau mit tiefer Stimme." Der Minister funkelte Zachary sehr verdrossen an. Mußte der es jetzt echt ausplaudern, daß dieses Spinnenweib eine Wasserprobe gezogen hatte und wohl auch den Sheriff und dessen Aufzeichnungen eingesackt hatte?

"Ich möchte außer der Sache mit dem angeblichen Gegenmittel gegen Nyxes Vormarsch noch zwei Sachen wissen", setzte Davidson an. "Erstens, wie wollen wir es den Muggeln verkaufen, daß sie womöglich in Gefahr schweben, sich über ihr Wasser eine tückische Krankheit einzufangen. Zweitens, was passiert mit diesem Freddy Kessler. Sie können doch nicht im Ernst davon ausgehen, daß der immer in dieser Nervenklinik sitzen muß, nur weil er was erlebt hat, was seine Mitmuggel für verrückt halten. Der Mann hat seine Freunde nicht ermordet, und er hat uns geholfen. Außerdem ist die erste Befürchtung, er könne durch das vergiftete Wasser auch zu einem Vampir mutieren, mittlerweile ausgeräumt. Offenbar hat er noch nicht die für die Unumkehrbarkeit nötige Dosis aufgenommen. Wir müssen ihm jetzt auch helfen."

"Dafür ist es in der Hinsicht schon zu spät, Elysius. Wenn sein Anwalt nicht die Schreiberlinge und Sensationsjäger der Muggelwelt auf die Sache angesetzt hätte, wäre es kein Problem gewesen, ihn aus dieser Institution herauszuholen. So aber würde es auffallen, wenn er beispielsweise keine Erinnerungen mehr an den Vorfall hat", sagte der Minister mit Bedauern in der Stimme.

"Will sagen, der Typ ist selbst Schuld, daß er ausgerechnet dann nach Buffalo Creek gefahren ist, als dort alle zu Vampiren geworden sind", warf Marchand mit unüberhörbarem Sarkasmus ein. Der Minister funkelte ihn dafür noch verärgerter an. Wenn der sich noch mal so eine Frechheit leistete ...

"Nun, im Moment sitzt Mr. Kessler dort sicherer als bei seiner Familie", sagte Partridge. "Für mentalsensible Geschöpfe stellt die verwirrende Gedankenausstrahlung geisteskranker Menschen mitunter eine größere Barriere dar als mancher Schutzbann."

"Das gilt für Wesen, die Gedanken hören können, Mr. Partridge", warf Davidson ein. "Die Abgrundstöchter werden von solchen Orten ferngehalten. Dementoren meiden sie auch, sofern sie nicht selbst Menschen in den Wahnsinn getrieben haben."

"Leute, das akademische Getue bringt es jetzt nicht. Der Minister möchte Freddy Kessler nicht aus der Nervenklinik holen, solange sich die Presse der Muggelwelt zu sehr für ihn interessiert", schaltete sich nun Quinn Hammersmith ein. "Stellen wir also jetzt die Preisfrage, wie wir die Zuwanderung in dieses Reich Nocturnia stoppen und die amtierende Herrscherin vom Thron werfen können. Also, wie kriegen wir Nyx?"

"Äh, nichts für ungut, Mr. Hammersmith. Aber Sie möchten sich doch bitte an die Gesprächsdisziplin halten und erst ums Wort bitten", tadelte der Minister den Ausrüstungsexperten des LIs. Doch dieser blieb ruhig. Dieses Getue des Ministers war doch nur Übertünchung. Denn genau die Frage stellte Cartridge sich doch schon seit Nyxes Wiederkehr. Flavius Partridge ergriff nach einem fragenden Blick an seinen Vorgesetzten das Wort:

"Nun, wie Sie alle hier wissen, führt die Lady Nyx genannte Vampirin jenen ominösen Mitternachtsdiamanten mit sich, von dem es offenbar zurecht heißt, daß er die Fähigkeiten eines Vampirs, der ihn berührt, vervielfacht und ihm willentliche Macht über alle anderen Vampire gibt. Gut, Volakin mag ein Sonderfall gewesen sein. Doch der wurde zu unserem Glück erledigt, wenngleich wir vom Ministerium für Zauberei schon sehr ungehalten sind, daß wir diesen Vampir nicht festnehmen und erforschen konnten, um Exemplare wie ihn in Zukunft zu verhindern. Der Mitternachtsdiamant schützt seine Trägerin gegen alle Formen der magischen und nichtmagischen Gewalt. Geschosse, Flüche und Elementarzauber prallen an einer Schildaura ab. Daher müssen wir wohl auch davon ausgehen, daß die von Daianira Hemlock gegen die Entomanthropin Valery benutzten Decompositus-Wurfgeschosse keine Wirkung zeigen werden." Quinn blickte Partridge herausfordernd an. Flavius Partridge bedachte ihn und seinen Vorgesetzten Davidson mit einem verdrossenen Blick und sprach dann weiter: "Was zeigt, daß wir mit Fernwaffen nichts ausrichten können, solange Nyx den Mitternachtsdiamanten bei sich trägt." Davidson bat ums Wort und sagte:

"Sagen wir es klar, daß sie ihn nicht nur bei, sondern regelrecht in sich trägt. Sie mißbraucht ihre Anatomie dazu, einen der gefährlichsten Gegenstände der Welt überall dabeizuhaben. Wir müssen sogar davon ausgehen, daß sie und der Stein eine magische Symbiose eingingen, die die Macht von Lady Nyx gesteigert hat."

"Lady? Haben Sie auch schon längere Zähne?" Fragte Partridge Davidson. Dieser schüttelte den Kopf und lächelte so breit, daß alle sich von der ebenmäßigkeit seiner Zähne überzeugen konnten. Dann übergab er das Wort an Quinn Hammersmith:

"Okay, wir müssen also davon ausgehen, daß wir die Vampirkönigin nicht töten können, weil die diesen Stein immer und überall im kleinen Unterschied spazierenträgt. Ziemlich sicher wirkt sich diese Symbiose schon dahin aus, daß ihr Blut um ein vielfaches schneller Menschen zu Vampiren macht, wodurch sie lediglich etwas davon spenden muß, um aus großer Ferne arglose Leute zu ihren Nachtkindern zu machen. Soweit so gut. Also gilt es doch, sie von diesem Stein zu trennen oder sie mit etwas anzugreifen, das beide so sehr schwächt, daß sie ihn von sich aus verliert. Pataleóns Leute haben doch von diesem magischen Aufruhr in Sevilla geschrieben, wo dunkle Elementarzauber freigesetzt wurden. Die spanischen Ministerialzauberer wissen, daß bei denen eine von den wachen Abgrundsschwestern umgeht. Dann hat sich Nyx wohl mit der angelegt oder umgekehrt. Sie ist also nicht ganz unbesiegbar. Wir müssen ihr den Stein irgendwie abjagen oder sie dazu bringen, ihn freiwillig wegzuwerfen oder sowas." Der Minister und Partridge schauten Hammersmith sehr ungeduldig an. "Ich komme schon zum Punkt: Wenn wir mit Wurfgeschossen oder Flüchen nicht an sie rankommen, hat es schon mal wer versucht, sie mit einem Portschlüssel in Berührung zu bringen?"

"Sie etwa?" stieß Partridge aus. Quinn Hammersmith schüttelte den Kopf, sagte aber sofort:

"ich habe aber eine Idee, wie das gehen kann und vor allem, wohin dieser Portschlüssel sie dann tragen soll, wenn sie sich darauf einläßt." Dann eröffnete er den versammelten Ministeriumsleuten einen kühnen Plan, der nur um das eine wichtige Element bereichert werden mußte, nämlich womit die Vampirin geködert werden mußte, damit sie auf jeden Fall dort hinkam, wo die Falle auf sie wartete, auch wenn sie damit rechnen mußte, daß man ihr eine Falle stellte. Da erbat der Leiter des Zauberwesenbüros das Wort:

"Nun, wir müßten ihr vorgeben, daß wir was hätten, was uns gegen alle Vampire der Welt schützt und sie sogar vernichtet. Soweit ich noch weiß, hatte der dunkle Magier Bokanowski weiße Fledermäuse gezüchtet, die Vampirblut tranken und diese Wesen dadurch noch vergifteten. Wir müßten schlicht behaupten, daß wir diese Züchtung endlich genauer untersucht hätten und nun unsererseits nachzüchten könnten. Wohl gemerkt könnten, weil wir durch diese verdammte Sardonianerin ja keine Unterlagen über diese kleinen Biester bekommen konnten."

"Och, dann hätten Sie liber unter einem von Bokanowskis Klonen gedient, Lionel?" Fragte Zachary Marchand. Cartridge griff nach dem Zauberstab. Doch Flavius Partridge schüttelte den Kopf und ergriff das Wort:

"Gut, der Kollege hat sich ein wenig in der Wortwahl vertan. Er wollte wohl sagen, daß wir nicht wegen dieser einen für uns nützlichen Züchtung Bokanowski und seine ganze Monsterarmee erdulden wollten. Abgesehen davon weiß Nyx nicht, ob nicht von seinen Züchtungen welche überlebt haben und nun von Arcadi und uns erforscht werden können, natürlich um neuerliche Züchtungen dieser Art zu verhindern. Die Idee mit den weißen Antivampiren ist schon ein sehr guter Köder und damit die Antwort auf Ihren Einwand, ob wir nicht ein wenig zu hoch gepokert haben. Allerdings hängt dieses Vorgehen an einem Haken, und das leider ziemlich wörtlich. Denn wir brauchen einen Wurm, an dem unser dicker Fisch anbeißen muß, wollen wir ihn angeln, im Klartext, jemanden, der oder die sich freiwillig meldet, notfalls von Nyx niedergerungen und leergesaugt zu werden. Ich melde mich hiermit freiwillig. Meine Familie kann nicht mehr ruhig schlafen, seitdem diese Nyx ihr Unwesen treibt. Meine Nichte kann nur im Schutz ministerieller Inobskuratoren Quodpot spielen, und ich will, daß sie mit ihrer Mannschaft den goldenen Pot verteidigt. Daher biete ich mich an, Mr. Hammersmiths Plan umzusetzen."

"Flavius, das sollten Sie sich gut überlegen", schnarrte der Minister. Doch sein Mitarbeiter schüttelte den Kopf und bestand darauf, die Aktion durchzuführen. Der Minister sah Quinn Hammersmith an:

"Sie haben gerade erwähnt, daß es keine Garantie gebe, daß dieses Vorhaben zum gewünschten Ergebnis führt. Ihnen dürfte klar sein, daß Sie gerade das Leben eines meiner wichtigsten Mitarbeiter aufs Spiel gesetzt haben, Mr. Hammersmith. Wie auch immer diese Sache ausgeht möchte ich hier und jetzt klarstellen, daß Sie uns dafür in Zukunft zuvorkommender behandeln als bisher."

"Zum einen, Herr Minister, bin ich Mr. Hammersmiths Vorgesetzter und verfüge somit über seine Erfahrung und seine Arbeit", schaltete sich Davidson sofort ein. "Was Sie ihm hier abnötigen wollen ist nichts anderes als, daß er fortan für Sie zu arbeiten hat. Das verbitte ich mir, zumal es sich leider schon mehrfach erwiesen hat, daß die Macht eines Zaubereiministers leicht zu unschönen Taten treiben kann. Wir vom Laveau-Institut waren damals unabhängig, sind es heute und bleiben es in Zukunft. Schlagen Sie sich also den Gedanken aus dem Kopf, daß Mr. Hammersmith Ihnen noch weiter entgegenkommt als er es mit den Vampirspürartefakten schon getan hat. Oder haben Sie für uns im Gegenzug weitere Retroculare aus Frankreich erbeten? Nein, haben Sie nicht, zumal Sie es wohl nicht können. Zum zweiten hat Mr. Hammersmith Mr. Partridge nicht darum gebeten, sich als Wurm am Angelhaken anzubieten. Das hat er aus ganz eigenen Erwägungen getan, wie wir alle hören durften." Flavius Partridge nickte schwerfällig. "Also können Sie meinem fähigen Mitarbeiter nicht dafür die Schuld in die Schuhe schieben. Natürlich hätten auch meine Leute diesen Plan ausführen können. Sie verdanken nur meinem Wohlwollen und dem Wunsch, daß die offizielle Zaubereiadministration nach den Rückschlägen der letzten Jahre wieder ein besseres Ansehen genießt. Denn die Vernichtung von Hallitti, Bokanowski, Valery Saunders, Volakin und diesem Totentänzer sind Rückschläge für Ihr Bild in der Öffentlichkeit, Herr Minister."

"Nicht zu vergessen den Umstand, daß in Ihren Reihen offenbar eine Spionin dieser Anthelia umging, die in letzter Konsequenz den Tod von Jane Porter mitverschuldet hat", keilte der Minister zurück. "Also unterlassen Sie es gütigst, mir oder meinen Vorgängern und derzeitigen Mitarbeitern eine Liste von Versäumnissen und Fehlschlägen vorzubeten! Danke!" Davidson verzog nur das Gesicht. Dann sagte Marchand:

"Das ist genau das, was Nyx will und was jeder andere will, der oder die unsere Zaubereiverwaltung diskreditieren will. Teile und herrsche, Gentlemen. Dieses Prinzip, so alt es ist, ist weiterhin sehr brauchbar, wenn jemand die alleinige Macht haben will und die möglichen Gegner in einen dauernden Streit miteinander zwingt, damit sie seine Vorherrschaft nicht gefährden. Genau dieses Prinzip funktioniert, solange wir uns gegenseitig herunterputzen. Wenn Mr. Partridge meint, sich als Köder anzubieten, so verdient er auf jeden Fall Respekt. Denn er könnte nicht nur angebissen, sondern regelrecht verschlungen werden, bevor die Falle zuschnappt. Ob das unser Verhältnis zueinander neu festlegt können wir gerne klären, wenn alle Abgrundstöchter aus der Welt sind, dieser Sardonia-Club aufgelöst wurde und wir diese schwarze Spinne eingefangen haben. Außerdem darf ich dran erinnern, daß Valerys wiedervermenschlichte Kinder immer noch auf freiem Fuß und im Besitz ihrer unaufspürbaren Zauberkräfte sind und es irgendwo in Indien noch ein Rudel Wertiger gibt. Das alles zwingt uns, die wir uns für anständiger als diese Kreaturen halten dürfen dazu, von derselben Seite am selben Strang zu ziehen. Vielen Dank!" Cartridge mußte nicken. Die respektlosen Einwürfe des ehemaligen Sondermitarbeiters waren damit vergessen. So legten sie nun fest, wie und bis wann die Aktion durchgeführt werden sollte. Wegen der Metaphern aus der Fischerei und dem Kernstück des Plans wurde das Unternehmen "Kabeljau" genannt. Damit würde es so schnell keinem klar, was es genau beinhaltete. Zum Abschluß sagte der Minister noch einmal, daß er sich für die Zukunft ein ähnlich enges Bündnis zwischen seiner Administration und dem Marie-Laveau-Institut wünsche, eben weil die von Zachary Marchand erwähnten Gefahrenherde noch bestanden. Davidson, Marchand und Hammersmith wollten sich nicht auf ein solches neues Bündnis festlegen. Erst einmal mußte herausgefunden werden, ob Quinns kühner Streich gelang. Falls nicht, dann hatte Flavius Partridge sich ganz umsonst geopfert, und Nyx wäre gewarnt und würde von da an nur noch aus dem Hintergrund agieren. Damit endete am 20. April 1999 die geheime Konferenz zur geplanten Vernichtung von Nyx und ihrem Reich ohne Grenzen.

__________

Anthelia erfuhr über Patricia und Cecil, daß das Wasserwerk von Buffalo Creek auf Grund eines Chlorgaslecks und eines Kurzschlusses explodiert war. Sprengstoff war keiner gefunden worden. Das war auch nicht nötig, da elementares Chlorgas die unangenehme Eigenschaft hatte, bei ausreichend hellem Licht mit dem Umgebungssauerstoff explosionsartig zu reagieren. Also hatte der Attentäter die Zeitschaltvorrichtung wirklich nur an lichtstarke Leuchtelemente angeschlossen. Über die niedergebrannte Stadt wurde jedoch nichts weiteres vermeldet, als daß deren Einwohner wegen der freigesetzten Chlorgaswolke geflüchtet waren und erst geklärt werden müsse, wann sie ihre Häuser wieder aufsuchen konnten und ob überhaupt.

Das vergiftete Wasser hatte jedoch noch ein spätes Opfer gefordert. Der wegen vermeintlichen Mord an seinen Bergsteigerkameraden in Untersuchungshaft genommene Fred Kessler veränderte sich langsam. Offenbar hatte er schon von dem Wasser getrunken. Da wohl auch die Ministerialzauberer davon ausgingen, daß er nur deshalb noch kein vollständiger Vampir wurde, weil er dafür eine bestimmte Menge hätte aufnehmen müssen, reichte es aus, ihn schlicht weg für tobsüchtig und von der Wahnvorstellung besessen zu erklären, ein Vampir zu sein. Somit wurde der bedauernswerte Mann von der Gefängniszelle in eine Gummizelle verlegt. Anthelia war sich sicher, daß das Zaubereiministerium irgendwann einen Grund erfinden würde, ihn auf Nimmerwiedersehen verschwinden zu lassen, sofern er nicht auf halbem Weg in der Verwandlung steckenblieb.

Anthelia warnte ihre Kontakte in aller Welt und hielt sie an, nach ähnlichen Vorkommnissen zu fahnden. Sicher würde Nyx nicht nur in den Staaten das Vampyrogen ausprobieren. Die oberste der Spinnenschwestern war mehr denn je darauf aus, die Ausbreitung von Nyxes Vampirbrut zu stoppen und Nocturnia, das Reich ohne Grenzen, in sich zusammenfallen zu lassen. Zu gerne hätte sie erfahren, wie sie dieses Mittel herstellte. Denn falls es ein großes Labor gab, so ließ sich dieses vielleicht zerstören, wie sie es mit Bokanowskis Brutstätte der Ungeheuer und Doppelgänger gemacht hatte. Sicher, die Zaubereiministerien, die nun wußten, mit welcher Gefahr sie rechnen mußten, waren garantiert schon auf den gleichen Gedanken gekommen. Der Brand in einer Kunststofffabrik in Kalifornien zeigte Anthelia, daß die Ministeriumsleute auch daran dachten, die Verbreitung der Sonnenschutzfolien einzudämmen. Denn wenn die Vampire nicht mit diesen Schutzhäuten ausgestattet wurden, blieben sie auf die Nachtstunden beschränkt und konnten am Tag besser in ihren Verstecken erledigt werden.

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Sie hatte im Traum vorausgesehen, wie sie es machen mußte. Als sie dann das kleine Jagdschloß mit einem langwierigen Zauber vor feindlichem Zutritt geschützt hatte grinste Nyx. Gegen diesen der Erde und der Dunkelheit verbundenen Zauber konnte kein Moderner Zauber etwas ausrichten. Sie traf sich dann noch einmal im großen Festsaal des Schlosses. Sie sah ihre neuen Getreuen, knapp fünfhundert Vampire reihten sich um den Tisch und bevölkerten die Empore auf halber Höhe des zwölf Meter hohen Raumes. "Brüder, Schwestern, Söhne und Töchter. Von hier aus wird Nocturnia den unaufhaltsamen Siegeszug um die ganze Welt antreten. Menschen, Sabberhexen, Kobolde, Zwerge und Wergestaltige werden lernen, den Namen unseres Reiches mit Furcht und Verzweiflung zu nennen. Die Ära der Nachtkinder klopft an das Tor der Geschichte. Öffnen wir dieses Tor, und geleiten wir sie in die Welt!" Sprach sie zu ihren Artgenossen. Der Mitternachtsdiamant war in den letzten Tagen wieder derart angeschwollen, daß ein Beobachter meinen konnte, sie müsse jeden Moment niederkommen. Doch sie fühlte sich außer dem zusätzlichen Gewicht frisch und stark wie lange nicht mehr.

"Die Russen jagen unsere Leute. Wir werden uns das Land holen", sagte einer der Fünfhundert, der mit slawischem Akzent sprach. Nyx sah in die Runde und erwiderte:

"Erst holen wir uns den Westen. Arcadi soll ruhig die restlichen Dunkelmondler erledigen, die nicht auf unserer Seite standen. Arcadi sonnt sich im Rausch seiner Erfolge. Wir aber werden unsere Fahne über seinem Grab errichten", peitschte Nyx ihre bleichen Artgenossen weiter an. "In dieses Schloß wird niemand eindringen, den ich hier nicht will. Es sei von heute an unser Brückenkopf, die Botschaft des Reiches Nocturnia, von der aus unsere Art ihren Anspruch auf Lebensrechte und Mitbestimmung durchsetzen wird. Verbleibt alle hier, bis ich rausgefunden habe, ob ein Gerücht, das ich zu hören bekam, auf echten Vorhaben fußt oder nur eine mir geltende Falle ist, wo einige Narren meinen, mich vernichten zu können. Daher muß ich euch fürs erste verlassen. Auch wenn es sehr unwahrscheinlich ist, daß man mich töten kann, so versichere ich euch, daß mit meinem Ende Nocturnia nicht endet, sondern erst recht beginnen wird. Denn ich habe vorgesorgt, und gehe mit der Sicherheit hinaus in die Welt, um unseren Vormarsch zum Erfolg zu führen. Verbleibt alle in diesen Mauern! Sie schützen euch vor den selbstherrlichen Vampirjägerinnen und Vampirjägern. Ich habe sieben Solexfolien an jene ausgegeben, die Juri Anatolijewitsch Kamarov für die besten Leibwächter ausgegeben hat. Sie werden jedoch nur dann zum Einsatz kommen, wenn ich euch dazu auffordere, das Schloß zu verlassen. Legt euch solange hin und ruht euch aus!" Sie konzentrierte sich. Die Aura des Mitternachtsdiamanten dehnte sich aus. Jedes in diesem Raum anwesende Kind der Nacht wurde von ihr durchdrungen und damit von Nyxes Willen. Lautlos zogen sich die fünfhundert zurück, um in den abgedunkelten Räumen und Kellern in die Überdauerungsstarre zu fallen, bis sie entweder den Befehl zum Aufwachen erhielten oder durch eine Veränderung der sie umgebenden Magie geweckt wurden. Als Nyx sicher war, daß alle schliefen verließ sie das Schloß. Sie mußte über die Mauern steigen, bevor sie es wagen konnte, zu disapparieren.

Vier mächtige Sätze, möglichst weit vom nahen Meer entfernt brachten die Vampirhexe mitten in die USA hinüber. Sie hatte zwar mit dem Gedanken gespielt, dem neuen Mitkämpfer Juri Kamarov zu bitten, sie mit seinem Privatjet über den Atlantik zu bringen. Doch so war sie unabhängiger. Sie traf sich in Pennsylvania mit einem Hellmondler, der es gerade so noch geschafft hatte, den Heschern des Zaubereiministeriums zu entkommen. Seit ihrem Brief vom ersten Februar erdreistete sich Cartridge, alle Vampire zu jagen. Dieses Ding, was half, Vampire zu orten, machte es ihm leicht. Doch einige konnten sich in Sicherheit bringen. Zu ihnen gehörte Nachtauge.

"Wenn die echt diese weißen Killerbiester nachzüchten können sind wir erledigt", zeterte Nachtauge, ein dünner, schon an die zweihundert Jahre alter Vampir. Nyx sah ihn sehr streng an und erwiderte:

"Ich werde es herausfinden, was an dieser Geschichte dran ist. Falls man mich nur in eine Falle locken wollte, werden die Fallensteller sich wünschen, den Tag ihrer Geburt nie erlebt zu haben. Falls es stimmt, daß diese Parasiten nachgezüchtet werden konnten, obwohl ich gehört habe, daß diese Anthelia Bokanowskis Burg mit Stumpf und Stiel niedergebrannt hat, dann gilt es, diese Pest an der Wurzel zu packen und auszurotten, bevor sie richtig ausbrechen kann. Was hast du mir noch über unser kleines Städtchen in Montana zu sagen?"

"Nicht mehr, als was die anderen darüber wissen. Fast alle sind getötet worden, auch die, die nachträglich eingebürgert wurden. Dieser blöde Bergkracksler hat uns alles verdorben."

"Der sitzt jetzt im Vorhof zur Hölle. Da kann er verrotten. Ich gehe zu diesem Partridge, wenn ich höre, daß er seine Drohung wahrmachen will. . Was weißt du über den?"

"Er ist Cartridges Jagdhund und hilft ihm dabei, uns auszulöschen. Hesperos hat versucht, seine Verwandten in Viento del Sol als Geiseln zu nehmen. Doch dieser Kerl hat einen Zaun aus Sonnenzaubern um das Haus seiner Verwandten gelegt. Und sein Bruder, der ein Heiler ist, kennt einen Zauber, um ganze Räume für seine Feinde unbetretbar zu machen. Außerdem essen die jeden Tag Knoblauch."

"Das ist sehr bedauerlich", sagte Nyx. "So können wir Partridge nicht aus seinem Versteck treiben. Nun, so muß ich da hin. Denn nur ich kann mögliche Zauberfallen erkennen und ausschalten. Außerdem wird er wohl einige Vampirabwehrzauber aufbieten, die euch andere vernichten, wenn ihr über die Bannlinien tretet. Aber das wird ihn nicht vor mir schützen, glaub es mir!"

"Und wenn du doch von ihm getötet wirst?" Fragte Nachtauge.

"Dann zieht ihr euch zurück und wartet einen Mond lang ab", sagte sie und überreichte dem ängstlichen Vampir einen Zettel, der mit ihrem Blut beschrieben war. "Lies das, wenn du spürst, daß ich diesen Einsatz aller Erwartung nach nicht überlebt haben sollte!" Nachtauge nickte einverstanden und verbarg den ihm gereichten Zettel. Dann hastete er wieselflink und schattengleich lautlos davon, um nicht zu lange am selben Ort zu bleiben. Nyx vertraute ihrer Unortbarkeit. Der Mitternachtsdiamant verbarg sie weiträumig vor jedem Aufspürzauber. Somit wußte niemand, daß sie in den Staaten war. Noch nicht.

__________

Es war der vorabend zum vierundzwanzigsten April, als Anthelia bei Louisette Richelieu in ihrem behaglichen Wohnzimmer in Monte Carlo saß. Die im französischen Zaubereiministerium arbeitende Spinnenschwester hatte ihre Anführerin über verschlungene Pfade wissen lassen, daß es nach dem Tod der Sangazons zu einem lautlosen Krieg zwischen Hellmondvampiren und Dunkelmondlern gekommen war. Vampire waren von ihresgleichen in ihren Verstecken heimgesucht und mit Eichenpflöcken gepfählt worden. Was Louisette besonders alarmiert hatte waren Vampirtode, wo die Blutsauger am hellen Tag aus ihren Verstecken herausgetragen und der Sonne ausgesetzt worden waren. Da die offiziellen Vampirbekämpfer des Ministeriums so wie die Mitglieder der Liga gegen dunkle Kräfte mit diesen Vorfällen nichts zu tun hatten blieb nur, daß Helfer der verfeindeten Vampirgruppe diese Nachtgeschöpfe umgebracht hatten. Louisette wußte wie die meisten Ministeriumsangestellten von der Sonnenschutzfolie und schloß nicht aus, daß damit geschützte Blutsauger ihre Artgenossen eliminiert hatten.

"Ich verstehe es nicht, Schwester Louisette, daß Nyx das zuläßt. Ihr wäre es doch ein leichtes, die Vampire mit der Kraft des Mitternachtssteins zu unterjochen und als gehorsame Diener zu kultivieren", sagte Anthelia, nachdem Louisette ihr die Einzelheiten dieser Vorfälle geschildert hatte.

"Ich weiß nicht, wo sie gerade ist und ob die Reichweite dieses Steins groß genug ist. Dafür weiß ich zu wenig über dieses Ding." Anthelia konnte ihr da aushelfen, zumal sie aus zwei ergiebigen Quellen schöpfen konnte, Pandora Stratons Berichten vor dem Ausflug nach Monte Negro und den mit sich vereinten Erfahrungen Naaneavargias, die von Iaxathan einiges Mehr über den schwarzen Stein erfahren hatte. "Wenn er von Männern mit normalem Blut geführt wird kann er wohl die halbe Erde umspannen, was bei zwei möglichen Richtungen der Ausstrahlung auch einen ganzen Erdumpfang ergibt. Allerdings befindet sich der Stein nicht im Besitz eines rotblütigen Mannes, sondern einer Vampirin. Ihre eigenen Kräfte werden zwar dadurch wohl verhundertfacht, so daß sie ausdauernder und unverwüstlicher ist und vor der Vampirwandlung beherrschte Zauber wieder und stärker als vorher ausführen kann. Doch ich weiß, daß sie wohl auch Dunkelmondler damit beherrschen kann."

"Hmm, könnte es etwas ähnliches sein wie beim Mentiloquismus, wo Blutsverwandtschaft die Reichweite erheblich verbessert?" Fragte Louisette. Anthelia schlug sich vor die Stirn. Daran hatte sie überhaupt nicht gedacht. Sie straffte sich und stieß sehr erregt aus:

"Natürlich, sie rottet alle die aus, die sich ihr immer noch entgegenstemmen können. Eigene Nachkömmlinge sind ihr auch ohne den Stein zu Willen und mit dem Stein nichts anderes als Werkzeuge, Marionetten ohne einen Hauch von Widerstandsvermögen. Sie merzt also jene aus, die ihren Plänen im Weg stehen könnten, ein Reich williger Blutsauger zu errichten. Wie reagieren die Dunkelmondler auf diese Unternehmungen?"

"Tut mir leid, höchste Schwester, aber dafür müßte ich selber eine sein, um dies zu wissen", erwiderte Louisette abbittend dreinschauend. Anthelia nickte verdrossen. Die Frage war ja auch wirklich an die falsche Adresse gerichtet worden. Doch dann sagte sie:

"Dann wären die noch existierenden Dunkelmondler potentielle Verbündete für uns, um Nyx zu erledigen. Ihr habt noch keinen Vorfall mit einer vollkommen von Vampiren bewohnten Stadt?"

"Bisher nicht, höchste Schwester. Es klingt auch unheimlich, wie sie das in den Staaten gemacht haben soll."

"Es entzieht sich mir, die ich mit Alchemie bewandert bin auch, wie Griselda Hollingsworth, die von Zaubertränken nicht viel verstand, dieses Vampyrogen erzeugen konnte", räumte Anthelia ein und holte einige Pergamente aus ihrer Tasche. Sie hatte die Ballonstruktur des Giftstoffes nach langem Studium unter einem Mikroskop nachgezeichnet und beschrieb ihrer Mitschwester die von ihr ergründete Funktion. "Ich konnte die Wirkungsstadien an dem Gefangenen nachvollziehen. Demnach bin ich zumindest beruhigt, daß das Agens keine niederen Tiere verändert. Es ist durch seine Beschaffenheit nur für Menschen schädlich, sofern diese keine Vampire werden wollen. Demnach vollzieht sich die Umwandlung im zeitlichen Verhältnis zur Menge der aufgenommenen Wirkungsträger, bis eine Blutwandlungsschwelle überschritten ist, oberhalb derer eine Kettenreaktion wie bei umfallenden Dominosteinen stattfindet und die Vollendung der Vampyrogenese herbeiführt. Das heißt, je mehr von dem verseuchten Wasser oder sonstigen Lebensmittel aufgenommen wird, desto schneller überschreitet das Opfer diese Schwelle, den Punkt ohne Wiederkehr. Ich habe keine Ahnung, ob die Heiler und ministeriellen Alchemisten mittlerweile ergründet haben, was in Buffalo Creek geschehen ist. Doch ich hoffe inständig, daß sie doch ermittelt haben, daß die Bewohner nicht von einem lebenden Vampir infiziert und transformiert wurden."

"So wie du es sagst und eben auf den Grund für die Ausrottungsaktion eingegangen bist vermute ich stark, daß das Vampirblut von Nyx selbst stammt. Aber dann müßte sie ja eigenes Blut opfern, um dieses Gift herstellen zu lassen und sie müßte einen mit Alchemie oder Kunststoffchemie bewanderten Helfer haben, um diese Struktur herzustellen", sagte Louisette. Anthelia nickte.

"Natürlich hat sie wertvolle Helfer, die sich mit der Herstellung künstlicher Materialien auskennen und auch mit den Vorgängen innerhalb lebender Organismen befassen. Als Daianira die fragwürdige Ehre hatte, für mich mitzuessen konnte ich trotz ihrer für mein Wohl ablaufenden Körperprozesse gerade so mitbekommen, daß Nyx wohl die beiden Erfinder dieser Schutzfolien zu ihresgleichen gemacht hat. Daianira hatte damals gute Beziehungen in das Ministerium, trotz Wishbones Hexenfeindlichkeit. Soweit ich mich noch erinnern kann haben die beiden sich auf Kunststoffe und Stoffwechselvorgänge, sogenannte Biochemie, spezialisiert. Diese Leute wird sie weiterhin kultivieren, und diese Leute haben ihr sicher die Möglichkeit der Direktkontaktunabhängigen Vampyrogenese ermöglicht."

"Wie bei Riddles Schlangenkriegern, deren Gift er auslagern und in Spritzen abfüllen konnte", seufzte Louisette. "Aber dieses Gift war nicht so dauerhaft wirksam wie eine direkte Übertragung. Weißt du, ob dieses Vampyrogen eine dauerhafte Umwandlung bewirkt hat oder ob es durch Blutaustausch ausgewaschen und der Körper damit zurückverwandelt werden kann?"

"Meine Untersuchungen erbrachten, daß das gesamte Gewebe seines Körpers umgewandelt wurde. Ein vollständiger Blutaustausch hätte da vielleicht nur bedingt geholfen. Ich habe ihn dann aus dem Hauptquartier hinausgeschafft und weit genug fort von der Villa gepfählt, da er mir nichts neues mehr verraten konnte. Falls Nyx wahrhaftig ihr Blut dafür hergibt und damit wie bei einer Zeugung ohne direktes Beilager der Eltern ihre Nachkommenschaft vergrößert, dann bekäme sie ein ganzes Volk zu tausend Promille gehorsamer Söhne und Töchter, ähnlich diesem Fehlschlag Valery Saunders."

"Apropos, ich hörte was, daß einige von deren Abkömmlingen überlebt haben und vollständig zu Menschen zurückverwandelt worden seien. Weißt du da was von?" Fragte Louisette. Anthelia schüttelte den Kopf.

"Daianiras, Wishbones und Hynerias Umtriebe haben mir alle brauchbaren Informationsquellen verstopft. Die letzte, die ich hatte ging bei meiner letzten Unternehmung verloren, was ich leider als Folge eines schweren Unterlassungsfehlers auf mich nehmen muß", grummelte die höchste Schwester des Spinnenordens.

"Ich kenne mich mit Vampiren nur bedingt aus, höchste Schwester. Aber wenn Nyx den Mitternachtsstein immer bei sich hat, verstärkt sich dadurch auch ihr eigenes Blut als Mittel, um neue Vampire zu erschaffen?"

"Da sie ihn nicht nur bei, sondern in sich trägt lebt sie mit ihm in einer organisch-mineralischen Symbiose. Daher dürfte ihr Blut durch ihn als vampyrogenetisches Agens ebenso verstärkt sein wie ihre körperlichen und magischen Eigenschaften. Daher ist es nur logisch, daß es ihr Blut ist, daß zur Herstellung dieses Vampirgiftes herangezogen wird. Sie muß es jedoch durch Frischblutaufnahme immer wieder erneuern, was heißt, daß sie irgendwo eine Art Menschenviehhaltung betreibt, also mehrere arglose Menschen als Nahrungsquelle festhält." Louisette schüttelte sich bei dieser Vorstellung. Anthelia beeindruckte das jedoch nicht. Seitdem sie wußte, daß es dieses Gift gab ging sie mit der Nüchternheit einer Forscherin daran, seine Herkunft, Auswirkungen und mögliche Gegenmittel zu ergründen. Die Wut auf Nyxes perfide neue Methode war dem unbändigen Entschluß gewichen, der von Iaxathans Stein berauschten und beeinflußten Blutsaugerin das Handwerk zu legen und den Mitternachtsdiamanten in ihren eigenen Besitz zu bringen oder zumindest an einem Ort zu deponieren, an dem kein Vampir ihn mehr finden konnte. Ihr schwebte sogar die Vernichtung dieses magischen Steines vor. Doch weil sie sich darüber klar war, daß in diesem dunkelmagischen Objekt ungeheure Kräfte schlummerten, die bei dessen Zerstörung genauso oder schlimmer verheeren konnten wie die Vernichtung von Hallittis Lebenskrug, stellte sie die Zerstörung dieses steines ganz hinten an. Vielleicht gewährte er ihr ja genauso Macht über die Vampire wie damals Iaxathan. So eine Möglichkeit wollte sie nicht außer Acht lassen.

"Mit anderen Worten, da sitzt eine Vampirin, die sich für die Königin ihrer Art hält und läßt sich in regelmäßigen Abständen Blut abnehmen, um damit den Keim ihrer Existenz auszulagern und ohne direkten Kontakt mit ihren Opfern weiterzuverbreiten. Um eigenes Blut zu bilden muß sie ständig Fremdblut trinken oder per Infusion direkt in die Adern gepumpt bekommen. Schon eine grauenhafte Vorstellung."

"Wir sind angetreten, die Welt in eine geordnete Zukunft zu führen, Schwester Louisette. Dabei gilt es, der Unordnung und der Verheerung entgegenzuwirken, notfalls auch mit grauenvoll anmutenden Methoden", erinnerte Anthelia die Ministeriumshexe noch einmal an ihre Aufgaben. Diese nickte und räumte ein, daß im Kampf gegen Ungeheuer wie Nyx oder die Schlangenkrieger des bald ein Jahr nicht mehr existierenden Dunkelmagiers Riddle alias Voldemort wohl keine Skrupel erlaubt waren. Anthelia bestätigte das durch Nicken. Dann übergab sie Louisette eine der Phiolen, die sie noch von ihren Experimenten mit dem vergifteten Wasser aus Buffalo Creek übrig hatte. "Schmuggel diese irgendwie ins Ministerium an die richtige Stelle zu denen, die infektiöse Zauber bekämpfen, vielleicht in die Werwolffangbrigade oder zu den Heilern. Wenn die herausfinden, was es damit auf sich hat, habe ich zumindest der heimlichen Einnistung von Nyxes Nachkommenschaft in unserer erhabenen Heimat vorgebaut."

"Ich höre mich mal um, höchste Schwester, ob der Vorfall aus den Staaten mittlerweile auch in Frankreich bekannt wurde. Vielleicht kann ich es drehen, daß ein argloser Tourist bei der Einreise dieses Mittel bei sich hat und von den Zaubereibehörden überprüft wird. Mehr als eine Gedächtnisveränderung wird ihm dabei nicht widerfahren, hoffe ich", erwähnte Louisette, wie sie das mit der Phiole anstellen wollte.

Weil Anthelia nun einmal hier war sprach sie mit Louisette noch über die Ereignisse der letzten Monate in Frankreich, auch über Tourrecandides Verschwinden. Anthelia interessierte sich sehr für die Schüler, die gerade in Beauxbatons apparieren lernten und wandte verhalten ein, daß Louisette ihr das besondere Verhältnis zwischen der Muggelstämmigen Laurentine Hellersdorf und ihrem Zauberstab ruhig schon früher hätte mitteilen dürfen. Louisette wagte daraufhin einzuwenden, daß Laurentine wohl kaum bereit sei, sich den Spinnenschwestern anzuschließen. "Das kannst du nur eindeutig so befinden, wenn wir wissen, wohin sie sich nach der behütenden Zeit in Beauxbatons wenden wird, Schwester. Insofern solltest du nicht voreilig davon ausgehen, sie sei für uns völlig uninteressant. Geh mal davon aus, daß die hier ansässigen Sororitäten sich auch schon damit tragen, ihr ein Beitrittsangebot zukommen zu lassen, wobei sie natürlich die übliche Beobachtungszeit einhalten müssen, sofern dieses junge Mädchen keine Fürsprecherin bei den Zögerlichen oder Entschlossenen vorweisen kann", entgegnete Anthelia mit unüberhörbar tadelndem Tonfall. "Wenn sie aus der magielosen Welt stammt und deine Nichte dir freimütig und ohne von dir gezielt befragt worden zu sein offenbart hat, daß dieses Mädchen wohl zunächst eine von außen genährte Aversion gegen ihr Hexendasein besaß und jetzt ihr Leben als Hexe mit weit offenen Armen annimmt, so ist doch zu vermuten, daß irgendwas geschehen ist, was diesen Umschwung begünstigt hat und ihren Zauberstab dazu befähigte, sich mit ihr zu einer hochpotenten Einheit zu entwickeln, daß sie gleich die allererste Apparitionsübung mit Erfolg absolvierte, was über neunhundert Promille aller anderen Anfänger versagt ist. Selbst der Ruster-Simonowsky-Zauberer Julius Latierre, geborener Andrews konnte dies nicht beim allerersten Mal. Das müssen wir weiterbeobachten und vielleicht darauf ausgehen, dieser jungen Hexe einen Weg anzubieten, der ihre Talente nutzbringend für uns alle fördert. Natürlich behaupten das auch alle anderen magischen Vereinigungen und ihre Lehrer. Doch das soll uns nicht davon abhalten, zauberkräftige Hexen für unseren Weg zu gewinnen."

"Nichts für ungut, höchste Schwester, aber die Züchtung der Entomanthropen hat dich viele Sympathien bei den Hexen gekostet und nicht wenige waren erleichtert zu hören, daß du das Duell gegen Daianira verloren hast, auch wenn viele darum bangten, Daianira könnte dich mit Zaubern wie Sanctuamater oder Lacta Deditionis zu einer gefügigen Helferin machen. Da nicht nur uns bekannt ist, welches Potential Laurentine Hellersdorf durch ihre Zuwendung zu ihrem Leben als Hexe erworben hat, werden ihr genug Stimmen in den Ohren liegen, uns grundweg abzulehnen. Auch wenn sie jetzt wohl mit der Aversion gegen ihre Natur gebrochen hat und sich wohl von ihren diese Abneigung immer noch pflegenden Eltern abwendet heißt das nicht, daß sie für uns empfänglich ist. Das wollte ich bei allem Respekt für dich erwähnen."

"Womit du ganz nebenbei erwähnt hast, daß du froh bist, daß ich nicht Daianiras kleine, gehorsame Tochter geworden bin und du es lieber hast, daß ich auf eigenen Beinen mit eigenem Willen weitermache, auch wenn dir meine Methode zur Bekämpfung der Schlangenkrieger auch nicht gefallen hat, Schwester Louisette", grummelte Anthelia. Louisette nickte schuldbewußt. "Womit wir wieder bei Tourrecandide sind. Sie verschwand wie ich ohne Kleidung aus der Welt. Ich will nicht ausschließen, daß sie innerhalb der nächsten Monate in anderer Form in die Welt zurückkehren kann, besser, in einem wesentlich jüngeren Körper."

"Du meinst, ihr ist bei dem Kampf mit den Sangazons das gleiche passsiert wie dir. Aber dann hätte Nyx sie ja als ihr Kind ..."

"Unfug!" Schrie Anthelia Louisette an. "Der Auslöser war nicht Nyx. Außerdem kann sie wohl kaum an einem Kind tragen, wenn ihr Schoß bereits von diesem vermaledeiten Klunker ausgefüllt ist. Nein, was immer Tourrecandide aus der Welt hat verschwinden lassen hat mit meiner Befreiung zu tun. Offenbar hat zwischen ihr und Daianira, die ja als Ledas kleines Töchterchen wiedergeboren wurde, eine Verbindung bestanden, die eigentlich dazu da war, daß Daianira von Tourrecandide wiedergeboren werden sollte. Durch den Mutterwechsel riß die Verbindung nicht. In den Staaten ist etwas passiert, was die Verbindung ins Gegenteil umgekehrt hat. Zumindest muß ich das als die wahrscheinlichste Begründung für Tourrecandides Verschwinden annehmen."

"Ins Gegenteil, also daß Tourrecandide zur Tochter Daianiras wurde oder wird? Das geht doch nicht, wenn Daianira erst einmal aufwachsen muß."

"Muß sie das?" Fragte Anthelia. "Ich muß befürchten, daß Daianira alias Lysithea einer rapiden Alterung unterzogen wurde. Ihre Vorgängerin als Führerin der Entschlossenen hat wohl da ein Artefakt benutzt, das Menschen innerhalb von wenigen Minuten vergreisen läßt, egal, wie jung sie waren. Falls dieses Artefakt oder seine Herstellung überliefert wurde und von Hyneria verwendet wurde, so kann es sehr wahrscheinlich dazu geführt haben, daß Daianira ihre zweite Kindheit einfach übersprang und irgendwann älter als jene wurde, die mir aus ihrem Schoß heraushalf, ohne dies zu wollen. Meine Vermutung geht dahin, daß ab dieser umgekehrten Altersdifferenz die zwischen Tourrecandide und ihr errichtete Verbindung zu einem Umkehrzauber wurde, der Tourrecandide zu Daianiras Tochter werden ließ. Vielleicht wurde Daianira dadurch wieder verjüngt, aber gerade soweit, daß sie ohne körperliche Schwierigkeiten ein gesundes Kind gebären kann. Leda Greensporn und ihre Verwandtschaft weiß das sicher genauer. Aber an Leda und ihre Verwandtschaft kommen wir nicht heran. Diese Hexen haben sich wohlweißlich gegen Fernerkundung und gegen Zutritt von mir und anderen ihnen feindlich gesonnenen Hexen und Zauberern abgesichert. So wird, wenn meine Vermutung zutrifft, Austère Tourrecandide, die meinte, meine Herrschaft über alle Hexen bekämpfen zu müssen, am Ende ein ganz neues Leben beginnen dürfen. Sollte sie wie ich bereits weit vor der Geburt ihr Bewußtsein wiedererlangen mag sie sich gerne damit herumplagen, ob das ihre Einmischung wert war, mit der sie mir am Ende besser geholfen hat, als ich es mir selbst ausgemalt habe."

"Womöglich muß Tourrecandides Mutter dann in einem Fidelius-bezauberten Versteck leben, weil wir ja sonst längst davon gehört hätten, daß eine ledige Mutter in den Staaten oder sonst wo in der Welt herumläuft."

"Davon ist auszugehen", knurrte Anthelia. Dann kam sie wegen der Nähe des Themas noch auf eine Gruppe, von der Patricia Straton ihr erzählt hatte und fragte, ob Louisette von ähnlichen Aktivitäten in Frankreich gehört habe.

"Dafür sitze ich wohl im falschen Amt, höchste Schwester. Falls es diese Gruppierung auch hier gibt, die darauf ausgeht, durch forcierte Zeugung magisch begabter Kinder den Anteil von Hexen und Zauberern an der Menschheit zu erhöhen, so wissen wohl nur die Strafverfolgungs- und Familienbeauftragten davon. Ich habe da aber etwas ganz ganz leises läuten hören, daß es vor hundert Jahren in der Familie der Lavalettes eine Hexe gab, die ähnlich wie Ursuline Latierre auf mehrere Kinder ausgegangen ist, allerdings nicht im Rahmen einer monogamen Ehe, sondern mit mehreren vielseitig begabten Zauberern. Dabei soll sie einen Trank verwendet haben, der Liebeslustfördernd wirkte. Ob an den Gerüchten was dran ist müßte ich mit aller nötigen Behutsamkeit prüfen. Noch haben die im Ministerium keinen Grund, mich wegen irgendwas zu verdächtigen. Ich denke, du legst wert darauf, daß das auch so bleibt."

"Größten Wert", bestätigte Anthelia sehr entschieden. "Sollen die Leute Grandchapeaus sich mit noch möglichen Agenten dieser Isolationisten herumschlagen oder die Familien beobachten, deren weibliche Vorfahren mit meiner Tante und mir zusammengearbeitet haben. Aber wenn es darum geht, daß wir begabte Mitglieder hinzugewinnen können, wäge ab, wie weit du dich einem möglichen Verdacht aussetzen kannst, Schwester Louisette! Ich gebe die Hoffnung nicht auf, diese Laurentine Hellersdorf in einigen Jahren als unsere neue Bundesschwester einschwören zu dürfen." Louisette hielt ihre Gedanken gut verhüllt. Daher bekam Anthelia nicht mit, daß ihre Bundesschwester daran dachte, wie schnell Anthelia doch entmachtet werden konnte. Das Duell gegen Daianira und der Kampf mit Volakin hatten klar gezeigt, wie schnell sie ihre hochfliegenden Pläne verwerfen mußte. Sich vorzustellen, daß Tourrecandide nun Anthelias Schicksal erfahren mochte, als Tochter Daianiras wiedergeboren zu werden und von dieser vorher und nachher zu einer gehorsamen Helferin konditioniert zu werden, war aber auch bedrückend.

"Also, bringe die Phiole irgendwie ins Ministerium, ohne als ihre Überbringerin enthüllt zu werden! Melde mir auf den üblichen Wegen, wie Grandchapeaus Leute damit umgehen und ob es in unserem gemeinsamen Geburtsland bereits Aktivitäten gibt, die ein zweites Buffalo Creek zum Ziel haben oder es anderswo in der Welt solche Anschläge gab! Bis dahin gehab dich wohl, Schwester Louisette!"

Anthelia nahm ihren Reiseumhang und disapparierte, nachdem Louisette den wirksamen Antiapparierwall für dreißig Sekunden geöffnet hatte. Louisette gab sich ihren Gedanken hin. War es wirklich richtig gewesen, so freimütig in die Spinnenschwesternschaft zurückzukehren? Damals hatte sie sich ihr angeschlossen, weil sie die Entwicklung in der magielosen Welt und die per Gesetz erlassene Untätigkeit der Magier verachtete. Dies tat sie zwar immer noch. Doch Anthelias Vorgehen hatte sie doch zweifeln lassen. Von den Entschlossenen Schwestern, denen sie angehörte, wußte bisher auch niemand, daß sie Anthelia unterstützte. Auch als Daianira damals zu ihr kam lag es daran, daß diese Rückhalt in der französischen Gruppe der entschlossenen Schwestern gesucht hatte. Und jetzt? Es war so viel passiert, und ob Anthelia, die nun nicht mehr dieselbe war wie vor dem Kampf gegen Volakin, wirklich noch ihr Vorbild sein sollte, wußte sie nicht. Doch für eine offene Abkehr war es noch zu früh. Erst mußte sie sich sicher sein, welchen Weg sie als einzig richtigen weitergehen wollte und konnte, bevor sie sich der Gefahr auslieferte, von Anthelia als Verräterin getötet zu werden. Im Moment haderte sie mit ihrer Einstellung. Vielleicht war in ihr auch das Gewissen erwacht, daß sie alles, was sie tat, immer daran ausrichten mußte, wie es sich auf ihre Umgebung auswirkte und da vor allem auf ihre Nichte Jacqueline. Im Moment würde sie diese wohl bei der gemeinsamen Anführerin Hera Matine als neue Mitschwester vorschlagen. Aber ihr zu raten, zu Anthelias Gruppe hinzuzustoßen, konnte sie hier und jetzt nicht einmal in Erwägung ziehen.

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Am 25. April las Anthelia in der Stimme des Westwinds ein höchst interessantes, wenn auch aus ihrer Sicht etwas einfältig veröffentlichtes Interview von Linda Knowles mit Flavius Partridge, einem Experten aus der Strafverfolgungsabteilung des US-Zaubereiministeriums. Darin verriet dieser Linda Knowles, daß sich das Zaubereiministerium nun lange genug hatte bieten lassen, daß die bisher so friedliche Koexistenz zwischen Menschen und Vampiren von der Seite der nachtaktiven Zauberwesen aus gefährdet worden sei und daß das Ministerium im Einvernehmen mit allen anderen Zaubereiministerien Weltweit beschlossen habe, die Urheber dieses Friedensbruches zu verfolgen und nötigenfalls zur Strecke zu bringen. Partridge erwähnte dem Westwind und Kristallherold bereits erläuterte Fakten über Nyx und erwähnte, daß sie offenbar durch einen Gegenstand, der aus einer längst vergessenen Zeit stamme, dem Größenwahn und unstillbarer Machtgier verfallen sei. Alle Versuche, sie zur Rückkehr zu einem friedlichen Miteinander zu bewegen seien gescheitert, Boten entweder getötet oder zu Vampiren gemacht worden. Kindesentführungen in Europa, die wohl dem Zweck gedient hatten, junge Menschen zu Gehilfen dieser Vampirin zu machen, seien nur deshalb noch glimpflich ausgegangen, weil die europäischen Zaubereiministerien eine Sonderüberwachung für derartige Kriminalfälle in der Muggelwelt eingerichtet hätten. Doch nun sei es an der Zeit, daß man Nyx und ihren Getreuen Einhalt gebiete. Denn sie habe in Rußland und Polen offen damit gedroht, die dortigen Muggel wahllos oder gemäß ihren Fähigkeiten zu "Bürgern von Nocturnia" zu machen. Auf Lindas Frage, was dieser Name zu bedeuten habe erwähnte Partridge, daß damit wohl ein Reich der Nachtgeschöpfe gemeint sei, ein Weltreich der Vampire, wie es vor mehreren Hundert Jahren schon einmal jemand zu errichten versucht habe, dabei jedoch wohl mit einer anderen, den Menschen nicht gerade friedlich gegenüberstehenden Macht zu tun bekommen habe. Doch nun, wo die Anzeichen bestünden, daß Nyx nicht nur Vampire in ihre Reihen aufnehme, sondern sich auch mit Verbrecherorganisationen der nichtmagischen Welt zusammentue, und weil sie bereits versucht habe, den russischen Zaubereiminister anzugreifen, sei es an der Zeit, eine ungeliebte Quelle auszuschöpfen, so Partridge. Auf die Frage, was für eine Quelle das sei hatte Linda nur die Antwort erhalten, daß man nun in der Notlage sei, das Vermächtnis eines bösartigen und längst vernichteten Zauberers zu benutzen, der selbst vom Haß auf Vampire getrieben neuartige Tierwesen gezüchtet habe, die sich von Vampirblut ernährten und den Vampiren dabei ein tödliches Virus in den Leib trieben. Linda vermutete, daß Partridge von Bokanowski spreche. Darauf kam nur die Antwort, daß er über Namen und Lebenslauf des Zauberers keine Angaben machen wolle. Es sei zumindest so, daß es gelungen sei, einige der von diesem gezüchteten Exemplare flugfähiger Vampirjäger zu fangen und deren Entstehung nachzuvollziehen. Das US-Zaubereiministerium würde bald genug Exemplare zur Verfügung haben, um den Wildwuchs der Vampire auszurotten. Auf die Frage, ob diese Züchtungen nicht auch für Menschen gefährlich werden könnten erhielt Linda die Antwort, daß die Züchtungen bei Genuß von Menschenblut starben und das Zaubereiministerium den giftigen Speichel der Züchtungen gut genug untersucht habe und somit ein wirksames Gegenmittel hatte herstellen können, falls doch mal ein Mensch gebissen würde. Dann verkündete er, daß er selbst am achtzehnten Mai die gezüchteten Gegenvampire freilassen würde, wenn es genug von ihnen gab, um einen Gegenschlag von Nyx abhalten zu können. Linda fragte, wie er sicherstellen könne, daß Nyx ihm nicht zuvorkäme. Darauf hatte Partridge nur geantwortet, daß in sein Haus kein Vampir hineinkäme und er bis zum Freilassen der Züchtungen dort verbleiben würde. Mehr kam aus dem Interview nicht herüber. Doch für Anthelia stand fest, daß sich der Ministeriumsmitarbeiter gerade zum bald zu erledigenden Todfeind von Griselda Hollingsworth gemacht hatte. So einfältig konnte doch niemand sein. Außerdem glaubte sie nicht, daß diese Gegenvampire nachgezüchtet werden konnten. Denn sie selbst hatte dafür gesorgt, daß Bokanowskis Burg restlos vernichtet worden war. Und falls doch noch etwas dort die Sprengung und das Höllenglutgas überstanden haben sollte, dann hätte es wohl das russische Zaubereiministerium gefunden und ganz sicher längst diese Nachzüchtungen auf den Weg gebracht, um Nyx zu stoppen. In dem Fall hätte Arcadi wohl kein lautes Trara veranstaltet wie dieser Partridge. Also warum dieses Interview? Sie dachte daran, wie oft sie selbst scheinbar einfältige Verlautbarungen in Umlauf gesetzt hatte, um einen Gegner zu bestimmten Handlungen zu zwingen. Natürlich! Das ganze sollte eine Falle für Nyx sein, der man bisher nicht auf die Spur hatte kommen können. Anthelia ging davon aus, daß Nyx das durchschauen und über diesen Versuch lachen würde. Andererseits mochte es sein, daß Nyx fürchtete, daß ihre vielen neuen Kinder nicht lange zu leben hätten, wenn doch was an dieser Meldung dran war. Was würde sie dann tun? Es darauf ankommen lassen? Oder würde sie Partridge doch auf den Leim kriechen, auch wenn sie auf eine Falle gefaßt sein mußte? Sie dachte an Valery Saunders und daß Daianira mit ihr zusammen versucht hatte, dieses Monstrum zu erledigen und sie beide dabei fast von diesem Ungetüm verdaut und als ihre folgsamen Halbinsekten wiedergeboren worden wären. Es gab halt Situationen, wo man reagieren mußte, auch wenn klar war, daß jemand einen erwartete und an einem bestimmten Ort locken wollte. Nyx würde es sich nicht leisten können, Partridges scheinbar einfältiges Gerede für dummes Geschwätz zu halten. Doch wenn Vampire nicht zu ihm vordringen konnten ... mußte sie ihn wohl mit der in sich gebündelten Kraft des Mitternachtsdiamanten persönlich heimsuchen. Aber was plante das Zaubereiministerium wirklich, wenn es die weißen Antivampirfledermäuse nicht doch nachgezüchtet hatte? Denn wenn dies stimmte hätte Partridge das ganz sicher nicht in die feinen Ohren von Linda Knowles gesprochen, sondern klammheimlich in die Wege geleitet, so daß Nyx unvermittelt von diesen weißen Fluggeschöpfen umgeben war. Anthelia dachte schon, daß sie ihren Ausflug nach Rußland besser aufschieben sollte. Doch Vera Barkows letzte Eulenpost hatte sehr dringend geklungen.

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Anthelia verbrachte zwei Wochen bei ihrer Mitschwester Vera Barkow in Rußland. Dido Pane wurde von Romina Hamton betreut, der einzigen muggelstämmigen Hexe, die noch zu Anthelias engsten Getreuen zählte, ohne in einer anderen Schwesternschaft Mitglied zu sein. Die Führerin des Spinnenordens wußte wohl, daß es immer schwieriger war, die von ihr versteckte und ausgebildete Junghexe, die als Zauberer geboren worden war, weiterhin unbeaufsichtigt zu lassen. Eigentlich müßte Dido ständig bei ihr bleiben um nicht darauf zu kommen, ihren eigenen Weg zu gehen. Nach Thorntails konnte sie Dido nicht lassen, weil dann natürlich nach ihren Eltern gefragt worden wäre und es den Familienstandsüberwachern wohl irgendwann gedämmert wäre, daß da eine Hexe existierte, die sich als Tochter eines britischen Zaubererweltpaares ausgab, das aber nie eine Tochter in die Welt gesetzt hatte. Anthelia wußte, daß sie unter ihrem eigenen Dach eine Unsicherheitsquelle kultivierte. Wenn Dido irgendwann genug gelernt hatte, um zu entscheiden, wo sie hin wollte und endlich die große weite Welt kennenlernen wollte, dann konnte sie Anthelia gefährlich werden. Denn jeder, mit dem sie dann sprach, könnte ihr Fragen in den Kopf setzen oder gar Antworten anbieten, die ihr, Anthelia, nicht gefielen. Aber sie ständig im Zauberschlaf zurückzulassen ging auch nicht. Falls ihre Vermutung bezüglich Daianira und Tourrecandide stimmte, so konnte Daianira, Lysithea oder wie immer sie sich nennen mochte darauf kommen, daß irgendwo eine durch Contrarigenus-Fluch zur Hexe umgewandelter Verwandter der Panes lebte. Anthelia konnte das erst mit Zwölf entstandene Hexenmädchen nicht so unbehütet herumlaufen lassen wie ihre erwachsenen Mitschwestern. Doch sie umzubringen, was rein Vernunftsmäßig nahelag, wollte sie auch nicht. Sie konnte sie aber auch nicht überall hin mitnehmen. Einen winzigen Moment hatte sie sich vorgestellt, jenen Effekt zu reproduzieren, dem sie fast ein Jahr eigenständiger Lebenszeit hatte opfern müssen. Doch dann kamen ihr Zweifel, ob das mit ihrem neuen Körper und den darin enthaltenen Eigenschaften überhaupt gelingen würde, daß sie bei Gelingen körperlich eingeschränkt sein würde und daß sie das Problem nur um weitere Jahre nach hinten verschieben würde. Denn was Daianira versucht hatte, an ihr durchzuführen, war ja gescheitert. Also bestand die Gefahr, daß es auch bei einer entsprechenden Bezauberung Didos scheitern würde. Hinzu kam dann noch, daß sich der Contrarigenus-Fluch damit wieder umkehren würde, vielleicht sogar der, dem ihr zweiter Körper unterzogen worden war, um ihr ein Leben mit gewohntem Geschlecht zu verschaffen. Also mußte sie das auch ausschließen. Es würde wohl höchstens gelingen, wenn eine treue Mitschwester Dido als ihr Kind annahm, offiziell zur Welt brachte, egal ob als Junge oder Mädchen, und dann ganz offiziell aufzog. Dann würde ein Gedächtniszauber reichen, um sie nicht daran zu erinnern, wer sie mal war. Doch sie hatte nicht mehr genügend Mitschwestern, die ihr diese Bürde abnehmen konnten. Die einzigen, die ihr da einfielen waren Marga Eisenhut und Vera, bei der sie gerade wohnte. Doch im Moment ging es um Nocturnia. Vera hatte Anthelia offenbart, daß auch in Osteuropa Vampirdörfer entstanden seien. So war eine 300-Seelen-Gemeinde in Ungarn innerhalb einer Woche zu Vampiren geworden. Ein Ölarbeiterdorf in Rußland war von dem Vampirkeim befallen worden. Das russische Zaubereiministerium hatte jedoch eine Decke des Schweigens darüber ausgebreitet. Die russischen Heiler jagten nun nach den verstrahlten Vampiren Volakins die Überbringer des Vampyrogens. Doch davon durften die unbescholtenen Zauberer nichts erfahren, weil dies das Vertrauen in Minister Arcadis Amtsführung angekratzt hätte. Dieses war nach dem Ende Bokanowskis und Volakins gerade auf einem Höhepunkt angekommen. Das lag auch daran, daß der russische Zaubereiminister eine rigorose Ausrottungspolitik gegen Vampire betrieb und Fabriken, in denen die für den Sonnenschutz nötigen Kunsthäute hergestellt werden konnten, von Kundschaftern überwachen ließ, die mit auf Vampirblut abgestimmten Spürartefakten aufpaßten, daß dort kein Blutsauger ein- und ausgehen konnte.

Nyx hatte dann wohl versucht, über den Iran auf die arabische Halbinsel vorzudringen, was wegen der Sonnenschutzfolien und ihres mineralischen Symbionten wohl kein Problem für sie war. Doch da war sie mit Itoluhilas Schwester Ilithula aneinandergeraten und hatte sich vorerst nach Marokko zurückgezogen.

Nachdem Anthelia mit Vera und anderen russischen Gesinnungsschwestern die Walpurgisnacht gefeiert hatte, wobei sie auch den in Europa bei Erwachsenen möglichen Ausschweifungen allzu gerne nachgekommen war, gingen die Spinnenfrau und ihre Verbündeten nun daran, osteuropäische Verstecke Nocturnias auszuheben. Die Verquickung mit magielosen Verbrecherorganisationen erwies sich dabei als für die Spinnenschwestern hinderlich, da sie zu viel Zeit damit aufbrachten, nach gewöhnlichen Kriminellen zu jagen, die dann nichts mit Nyx zu tun hatten. Einmal mußte Anthelia die Angehörigen einer Bande töten, die ihr und Vera gefährlich zugesetzt hatten. Das mochte ein Vakuum im Gefüge der russischen Unterwelt bewirkt haben. Wer es füllte und wie viele Menschen dabei sterben mußten interessierte Anthelia nicht weiter.

Es war am fünfzehnten Mai. Anthelia hatte gerade mit Vera Barkow ein verlassenes Haus bei Wladiwostok gestürmt und einen dort ansessigen Vampir-Clan vernichtet, als sie einen Hilferuf aus Rechnitz an der Österreichisch-ungarischen Grenze erhielt.

Höchste Schwester!

Dein Eingreifen ist dringend erforderlich. Mächtige Vampir-Zauberer-Vereinigung im Jagdschloß Kobelstein. Könnte eine Invasion der Nocturnianer werden.

Bitte hilf uns!

Hulda Blaustrunk

"Ich muß nach Österreich, Schwester Vera. Offenbar errichtet Nyx dort gerade einen Brückenkopf, um nach Westeuropa einzusickern, nachdem sie in Osteuropa nicht mehr weiterkommt. Bitte behalte die Lage hier unter Beobachtung!" Sagte Anthelia. Hulda Blaustrunk war eine sehr muggelfeindliche Hexe, obwohl ihre Großeltern selbst keine Zauberer waren. Aber weil diese einmal versucht hatten, sie von einem Berg zu stoßen, weil ihre Hexenkräfte offen zu Tage getreten waren, haßte sie diese magieunfähigen Leute. Allerdings war sie mit dieser Einstellung in Greiffennest immer wieder angeeckt. Da sie mit keiner der schweigsamen Schwestern verwandt war und ihr ungestümes Verhalten diesen zu riskant erschien, um sie anzusprechen, war die Hexe zur Einsiedlerin geworden. Anthelia hatte sie ein Jahr nach Beginn ihres zweiten Lebens ausfindig gemacht und ihr versichert, daß sie die Muggel schon auf den richtigen Pfad führen würde. Allerdings dürfe sich Hulda nicht mit Leuten des Waisenknabens Riddle zusammentun. Denn diese hatten auch schon versucht, sie zu gewinnen. Doch sie hatte was gegen selbstherrliche Zauberer und hatte den Abgesandten Voldemorts gegenüber die von ihrer Einsiedelei und ihrem Alter wunderlich gewordene Hexe gegeben. Hulda hatte Anthelia versichert, in Österreich keine Todesser mehr reinzulassen. Aber jetzt schien es, daß sie sich mit den Vampiren um Nyx verbunden hatten.

"Du bist dir sicher, daß dieser Hilferuf berechtigt ist?" Fragte Vera. Anthelia nickte heftig. Wenn Hulda um Hilfe rief, dann nur, wenn sie wirklich nicht mehr weiterkam. So verließ Anthelia Rußland so heimlich, wie sie es betreten hatte und flog auf ihrem Harvey-Besen über Polen und die Tschechische Republik nach Österreich, wo sie am achtzehnten Mai im Bundesland Burgenland, das zu ihrer ersten Lebzeit noch Teil des ungarischen Reiches war, eintraf. Hulda lebte in einem verlassenen Gehöft, daß sie mit Mugggelabwehrzaubern umgeben hatte. Als Anthelia den heruntergekommen wirkenden Bauernhof betrat, galoppierte eine Rappstute zu ihr hin, stieg mit den Vorderbeinen hoch und wurde zu einer schon älteren, gedrungen wirkenden Frau mit wolkengrauem Struwelhaar und derber Rot-weißer Feldarbeitskleidung.

"Wieso deine Animagus-Form, Schwester Hulda?" Grüßte Anthelia die Hexe in astreinem Deutsch. Diese verzog das Gesicht und schnaubte:

"In der Gestalt kann ich schneller laufen, höchste Schwester. Mit dem Apparier'n ist's net mehr so weit her." Anthelia grinste. Als wenn Hulda je wirklich viel vom Apparieren gehalten hätte. Dann bat Hulda die mächtige Besucherin ins Haus.

"Und, fühlst' di immer noch so wohl in deinem neuen Körper?" Fragte sie in ihrem Heimatdialekt. Anthelia strahlte sie an.

"Mit dem bin ich hundertmal besser bedient als mit dem eines meinen Bedürfnissen angepaßten Leib eines verzärtelten Muttersöhnchens. Aber du hast um Hilfe gerufen, weil in einem Schloß in deiner Gegend Vampire sitzen sollen. Ich will dieses Schloß untersuchen."

"I glaub, da sitzt wer von den Deppen aus England drin", knurrte die ältere Hexe und funkelte mit ihren dunkelgrünen Augen in eine bestimmte Richtung, daß Anthelia sich sicher war, dort das gesuchte Schloß zu finden.

"Von denen traut sich im Moment keiner mehr in die Welt hinaus, weil andere Zaubereiministerien und wir sie da sofort erwischen", raunte Anthelia. "Woher weißt du das mit den Vampiren? Ich dachte, du hättest mit denen in eurem Ministerium nichts zu schaffen."

"Der Rosshufler ist auch ein lahmer Gaul. Ich halte mich da an meine vertrauten." Dabei deutete sie aus dem Fenster. Anthelia wußte, daß sie mehrere Singvögel meinte, die sie mit nur ihr bekannten Methoden zu Erweiterungen ihrer Sinne gemacht hatte. "Die haben mir gezwitschert, daß in dem Schloß wer einig'zogen is', der mit diesen Bluttrinkern kungelt. Und weil du ja uns alle ang'schrieben hast, daß wir auf dieses Ungeziefer achten soll'n ..."

"Dann gehe ich davon aus, daß der Herr Rosshufler davon noch nichts weiß?" Fragte Anthelia, obwohl sie die Antwort schon kannte.

"Der kriegt nix davon zu hör'n", schnaubte Hulda Blaustrunk. Anthelia nickte. Andererseits hatte sie schon überlegt, die mitteleuropäischen Zaubereiministerien gegen Nyx einzuspannen. Doch für diesen Einsatz brauchte sie hoffentlich keine Verstärkung.

"Du zeigst mir, wo das Schloß ist. Oder willst du mich begleiten?" Erkundigte sich Anthelia.

"Wenn da echt Vampire herinnensitzen dann hau'n wir die aussi", knurrte Hulda und pfiff kurz auf den Fingern, worauf ein schon ziemlich betagter Besen aus einer kleinen Kammer herausglitt und auf seine Besitzerin zuwischte. Anthelia wußte, daß Hulda eine Menge starker Kampfzauber erlernt hatte. Vor allem Feuerzauber und Wind gelangen ihr wohl ziemlich gut. So hatte sie keinerlei Bedenken, mit der bestimmt schon achtzig Jahre zählenden Hexe gegen ein Vampirschloß zu ziehen, auch wenn dort mehr als nur ein Blutsauger zu finden sein mochte. Außerdem war es gerade hellichter Tag und damit ungünstig für ungeschützte Vampire. Wenn sich Huldas Befürchtung bestätigen sollte, daß dort eine Gruppe Vampire hauste, dann konnte es auch damit erledigt werden, das Schlößchen abzubrennen und alle daraus flüchtenden Vampire von der Sonne erledigen zu lassen. Doch zunächst wollte sie sich das kleine Jagdschloß aus dem 16. Jahrhundert ansehen, das in einem kleinen Waldstück verborgen lag.

Auf dem alten Besen brauchte Hulda knapp eine halbe Stunde, weil das Fluggerät immer wieder schlingerte, nach oben und unten ausbrach oder scheinbar erschöpft verlangsamte. Anthelia wollte schon fragen, ob sich Hulda nicht einen neuen Besen zulegen wolle. Doch da sagte die ältere Hexe schon:

"Langsam wird er alt."

"Erbstücke sind was feines. Aber irgendwann wollen sie nur noch betrachtet und nicht mehr benutzt werden", meinte Anthelia dazu.

"Mag sein", schnaubte Hulda. Dann deutete sie auf den kleinen Wald. Anthelia konnte bereits das Dach des Hauptgebäudes sehen. Rechs davon gruppierten sich mehrere Stallgebäude.

"Das is's es", bemerkte Hulda leise. Anthelia nickte und hielt auf die Lichtung zu, auf der das kleine Schloß errichtet worden war. Die Sonne war gerade auf Mittagshöhe.

Als die beiden Hexen landeten fühlte Anthelia die Aura der schwarzen Magie, die dieses Gebäude umgab. Ihr Körper reagierte darauf wie beim Bad in kaltem Wasser. Dennoch löste dieses Gefühl in ihr auch eine Hingezogenheit aus. Das war das Magiefragment aus dem zerstörten Seelenmedaillon Dairons. Sicher hätte es sich schon längst weit nach vorne geschwungen, wenn sein Schöpfer es nicht zerstört hätte. Anthelia/Naaneavargia hatte es eilig, festen Boden unter die Füße zu bekommen. Denn nur in direktem Kontakt mit der Erde konnte sie einen alten Prüfzauber wirken, der ihr verriet, was die spürbare Kraft bewirkte. Hulda kämpfte mit ihrem alten Besen um eine unfallfreie Landung. Als sie gerade so noch aufrecht gelandet war, hatte die Anführerin des Spinnenordens bereits jenen Zauber ausgeführt, mit dem sie damals die Coal-Villa untersucht hatte. Sofort ermittelte sie, daß um das Schloß der Wall der Mitternacht stand, ein dunkler Erdzauber, der das Schloß für jeden, der es betreten wollte und nicht bestimmten Bedingungen entsprach zu einer tödlichen Falle machte. Je nach Wunschvorstellung des Aufrufers konnte ein Mensch vereisen, innerhalb weniger Minuten austrocknen, in einen unstillbaren Blutrausch verfallen und auf alles draufschlagen oder schlicht im Erdboden versinken wie in einem Sumpf. Doch die Hexenlady kannte aus den vereinten Erfahrungen Naaneavargias den wirksamen Gegenzauber, die Freiheit der Erde, die alle mit der Kraft der großen Mutter verbundenen Sperren aufhoben. Allerdings konnte das dauern, bis sie den Mitternachtswall zerstören konnte. Denn wenn Nyx diesen errichtet hatte, dann mochte er wie von fünf oder sechs gewöhnlichen Hexen errichtet wirken. Anthelia verlor deshalb keine Zeit und begann mit dem Abbau des feindlichen Wehrzaubers.

Hulda lauschte auf die Worte, die Anthelia murmelte. Sie kannte die Sprache nicht. Es waren auch keine Zauberwörter aus der Zeit, wo sie in Greifennest zur Schule gegangen war. Sie hörte immer wieder Abwandlungen des Wortes Madrash oder Madra heraus. Anthelia umschritt im Uhrzeigersinn das Schloß mit ständig zum Boden zuckenden Zauberstab. Zwischendurch sprühten blaue oder grüne Funken heraus. Die österreichische Hexe wagte nicht, die Anführerin zu stören. Sie hatte selbst erfahren müssen, wie gefährlich es war, einen gerade angefangenen Zauber unvollendet und ohne kontrollierten Widerruf bestehen zu lassen. Auch sie hatte erkannt, daß um das kleine Jagdschloß ein mächtiger, bösartiger Zauber stand wie eine unsichtbare Glocke. Minuten vergingen, ehe Anthelias Zauberei eine Wirkung zeigte. Die Luft vor dem Schloß begann zu flimmern. Über dem Dach zuckten blaue und grüne Blitze wie Elmsfeuer. Der Waldboden wurde wie von einer Armee aus Maulwürfen aufgeworfen. Erdreich sprang mehrere Zentimeter hoch. Die entstehenden Erdhügel erzitterten und stürzten wieder in sich zusammen. Doch Anthelia hielt durch. Sie sprach nun mit einer leicht erhöhten Tonlage weiter. Hulda fühlte, wie der böse Wehrzauber und die Bezauberung ihrer Anführerin nun immer stärker gegeneinander ankämpften. Anthelia beschleunigte nun ihren Schritt und vollführte die Zauberstabbewegungen mit doppeltem Tempo. Offenbar galt es nun, den Sperrzauber mit größerer Geschwindigkeit auszuzehren und dann zu brechen. Weitere Minuten verstrichen. Über dem Schloß wetterleuchtete es nun regelrecht. nun schlugen auch aus dem Erdboden blaue Blitze. Prasselnd entluden sie sich in den Himmel oder fauchten als sich aufblähende und dann in winzige Abkömmlinge spaltende Kugelblitze um das Schloß herum. Einer dieser flammenlosen Lichtbälle schwirrte genau auf Anthelia zu, die schnell den Zauberstab hob und "Dogadarim Madrasharu!" Rief. Zumindest verstand Hulda ihre Worte so. Da platzte der anfliegende Kugelblitz in einen Wirbel aus weißen Funken, die zischend in die Erde fuhren. Dort, wo die Energiekugel hergekommen war, zuckte nun eine weiße, senkrechte Linie, wie ein dauerhafter Blitz, der immer weiter ausschwang und dabei ein lautes Fauchen wie von fünfzig Blasebälgern erzeugte. Dann zerfaserte die weiße Leuchterscheinung mit einem lauten Piff und löste ein Feuerwerk von unten nach oben zuckender Blitze in allen Farben aus. Dann meinte Hulda, einen bleigrauen Dunst zu sehen, der das Schloß einhüllte. Anthelia setzte derweil zur nächsten Umrundung an und erhöhte erneut Tonlage und Ausführungsgeschwindigkeit. Hulda bemerkte, wie es die Hexenlady sichtlich anstrengte. Doch ihr Wille war eisern, und ihre Magie noch nicht erschöpft. Aus dem grauen Dunst schlugen lange Schwaden wie die Arme eines gespenstischen Kraken nach Hulda und Anthelia. Hulda wich den Dunstgebilden aus und hob den Zauberstab. Doch gerade rechtzeitig erinnerte sie sich, daß sie nicht in zwei gegeneinander ankämpfende Zauber hineinfuhrwerken durfte, wollte sie keine unbeherrschbare Nebenwirkung heraufbeschwören. Anthelia indes zwang einen der sie angreifenden Nebelarme mit einer schnellen Zauberstabschwingung, auf den Boden zu schlagen, wo mit leisem Prasseln ein Erdloch gähnte. Der Nebelarm zersprühte regelrecht. Der Dunst um das Schloß brodelte nun. Weitere Blitze zuckten heraus und in den Himmel. Anthelia bedeutete Hulda, einige Schritte weiter zurückzuweichen, ohne ihre Zauberei dafür unterbrechen zu müssen. Wie wichtig dieser Hinweis war erkannte Hulda, als dort, wo sie noch gestanden hatte, ein breiter Spalt im Boden klaffte und schwefelgelbe Dampfstrahlen nach oben fuhren, die weit über ihnen von roten und violetten Blitzen durchzuckt wurden. Anthelia fegte mit einer Zauberstabbewegung über ein auf ihren linken Fuß lauerndes Loch und ließ dieses wieder zuwachsen. Dafür knatterte ein Bündel Blitze aus dem sich auffwühlenden Nebel heraus und umtoste die Spinnenfrau, die den Zauberstab kerzengerade zum Erdboden richtete. Die Blitze schlugen um sie herum ein und verbreiteten einen schwefligen Gestank. Dann zielte Anthelia noch einmal in den wild wirbelnden Nebel hinein und rief: "Akatanarou Madrasha Barrkataar Katahaami!" Aus dem Zauberstab schoß lautlos eine silberne Lichtfontäne heraus, die in den Nebel eindrang und diesen vollständig in rotorangem Licht erglühen ließ. Anthelia ließ den Stab dreimal kreisen und deutete dann eine nach unten stoßende Bewegung an. Krachend flog eine Funkenwolke aus dem Nebel nach oben. Dumpf grollend erbebte die Erde. Dann war der Nebel fort. Ein blaues Licht erglühte um das Schloß herum, daß zu einer Spirale wurde, die sich lautlos in die Richtung zu drehen begann, in der Anthelia um das Schloß gelaufen war. Nun lief Anthelia, wobei sie alle vor ihr klaffenden Spalten und gähnenden Gruben mit leichthändigen Zauberstabgesten zuwachsen ließ. Immer wieder zielte sie auf die blaue Lichtspirale, die sich immer schneller drehte. Hulda konnte schon nicht mehr recht hinsehen, weil sie fürchtete, einer hypnotischen Wirkung verfallen zu können. Doch wenn sie kurz hinsah, erkannte sie, das die Spirale Windung um Windung im Boden versank, bis es nur noch zehn Windungen waren. Dann waren es nur noch sieben. Dann vier. Als ein zum Boden leicht schrägstehender Ring verblieben war, rief Anthelia noch mal ein Hulda fremdes Wort aus. Der Ring zersprühte in blaue Funken, die sich in den Himmel entluden. Hulda wurde von einem mächtigen Erdstoß ins Straucheln gebracht. Sie konnte sich gerade noch auf den Beinen halten. Als der Erdstoß abgeklungen war sah sie, daß das Schloß wieder frei zu sehen war. Anthelia keuchte und schnaufte wie eine alte Dampflokomotive. Doch sie strahlte überlegen. Sie hatte offenbar die feindliche Sperre zerstört.

"Dieses Biest muß die Sperre von ihrem unausbrütbarem Ei gelernt haben", kkeuchte Anthelia. "Wird Zeit, daß ihr jemand zeigt, daß sie nicht allein auf der Welt solche Zauber lernen kann."

"Woher kanntest du den Zauber, höchste Schwester? Ist der in der schon drin gewesen, mit der du eins wurdest?"

"Ich verrate nicht zu viel, wenn ich das bestätige", schnaufte Anthelia. Dann deutete sie auf das Schloß. "Im Moment bin ich trotz höherer Ausdauer zu erschöpft, um mich einem Kampf mit Nyx oder ihren Anhängseln zu stellen. Am Besten machen wir noch eine Stunde Pause und essen und trinken was. Noch ist es hell genug, um gegen ungeschützte Vampire vorzugehen.

"Wenn die da drinnen mitbekommen haben, daß du den Sperrzauber zerstört hast werden sie uns schon erwarten", grummelte Hulda Blaustrunk. "Am besten brennen wir die Hütte runter."

"Wenn es ungeschützte und normalstarke Vampire sind werden sie gerade tief und fest schlafen", knurrte Anthelia. Wir können uns eine Stunde Zeit nehmen. Hulda fragte sich, ob die Zauberei nicht einige irgendwo steckende Spürsteine angeregt hatte. Doch dann wäre schon längst eine Gruppe Ministeriumsvolk hier angerückt.

Die beiden Hexen verbrachten zwei Stunden vor der Lichtung. Hulda bewachte Anthelias kurzen Schlaf. Dabei sah sie sich das Schloß aus sicherer Entfernung an. Die Fenster waren mit schweren Läden lichtdicht verrammelt. über den kleinen Ecktürmen wehten Fahnen, nicht die rot-weiß-roten Flaggen Österreichs oder die Banner Ungarns, sondern blutrote Flaggen, die ein nachtschwarzes Symbol zeigten, das an ein N erinnerte. Hulda fragte sich, wie lange dieses Jagdschloß bereits von diesem zauber umgeben wurde und warum sich jemand diesen Aufwand gemacht hatte, wenn nicht, um darin etwas sehr wichtiges zu verbergen.

Als Anthelia wieder aufwachte betrachtete die Spinnenfrau die Fenster und Flaggen. "Hmm, ein großes Ny. Aufschlußreich. Offenbar soll das die Fahne des Reiches ohne Grenzen sein."

"Du kennst das Symbol?" Fragte Hulda Blaustrunk. Anthelia schrieb ihr das griechische Alphabet mit den Aussprachen untereinander hin. Dann sagte sie verächtlich: "In den Staaten hatte Wishbone eine Truppe, die die Entsprechung zum M auf den Umhängen trug. Die hat auch nicht viel ausgerichtet. Einfache Buchstaben machen noch keine wirkungsvollen Symbole. Das werden wir dieser Brut dort im Schloß gleich beweisen. Im Zweifelsfall setzen wir ihnen einen schönen, großen, roten Hahn auf ihr Dach. Aber wenn die Möglichkeit besteht, hier Aufzeichnungen über Nyx zu finden, dann will ich das nicht unbesehen niederbrennen."

"Es ist jetzt drei Viertel drei", stellte die österreichische Hexe nach einem Blick auf ihre große Taschenuhr fest. Anthelia blickte zur Sonne und nickte. Dann bestiegen beide ihre Besen und flogen los. Sie wollten über die Schloßtürme eindringen. Anthelia lauschte, ob im Schlößchen jemand wach war und grummelte, daß dort eine ganze Streitmacht auf sie wartete. Es seien mindestens hundert, wenn nicht noch mehr. Die verdunkelten Fenster und die lichtdichten Türen verhalfen den Blutsaugern zur Bewegungsfreiheit. Aber es mochten noch einige Dutzend Vampire in den Kellerräumen schlafen. Zumindest bekam Anthelia die geistigen Grundschwingungen lebender, aber gerade nicht denkender Wesen mit.

"Die haben bestimmt gemerkt, daß wir ihren Zauber kaputtgeschossen haben", grummelte Hulda, die wußte, daß Anthelia Gedanken aus sicherer Entfernung spüren konnte. Doch nun waren sie schon beim Schloß. Anthelia lauschte, ob da jemand war, die ihre Gedanken verhüllte und ob eine dunkle Kraft aus dem Schloß auf sie einwirkte. Doch da war nichts. Nyx schien nicht zu Hause zu sein. Die hätte sich auch wohl sofort gezeigt. Die Vampire im Schloß waren solange gefangen, wie die Sonne am Himmel stand. Zumindest keine mit diesen Schutzfolien. Offenbar brauchte Nocturnia diese für seine Außendienstmitarbeiter. Aber es galt nun, gegen mehr als hundert Vampire zu kämpfen. Hulda vollführte bereits mit ihrer Goldkette entsprechende Zauber. Wenn sie sich in den Segen der Sonne einhüllte, konte ihr kein Vampir auf den Leib rücken. Anthelia wirkte ebenfalls einen Vampirabwehrzauber, den Mondfrieden, den sie noch durch das Lied der Bindung zwischen Mond und Erde aus Altaxarroi ergänzte. Als Resultat dieser Zauberei umfloß sie eine durchsichtige Aura aus Licht wie ein Hauch sanft pulsierenden Mondlichtes. Dann stiegen die beiden Hexen den Turm hinunter, die Zauberstäbe in den Händen. Anthelia trug unter ihrem blauen Reiseumhang Yanxothars Schwert. Wenn es hart auf hart ging wollte sie es zum ersten Mal einsetzen, auch wenn die Gefahr bestand, daß Nyx es mitbekam, daß sie diese Waffe hatte und ihr kristalliner Machtquell ihr verraten mochte, wie mächtig dieses Schwert war.

Hulda entließ aus ihrem Zauberstab eine frei schwebende, gelbe Leuchtkugel, die genau über ihr blieb. "Besser als das Stablicht oder die Handflammen", wisperte sie. anthelia bewunderte die Hexe, die mit selbst ihr noch neuen Zaubern aufwartete.

Es roch, beziehungsweise stank von unten nach trocknendem Blut. Das waren die Ausdünstungen von mindestens fünfzig Vampiren. Hinter der Zugangstür zum nicht lichtdicht gemachten Turm mochten sie schon lauern. Anthelia horchte auf Gedankenströme und nickte Hulda zu. Sie mentiloquierte ihr: "Gleich welche hinter der Tür!" Dann rief sie auf halber Höhe: "Alohomora!" Laut Klickend löste sich die Tür aus dem Schloß und schwang knarrend auf. Sonnenlicht aus den Turmfenstern flutete in den Gang hinter der Tür. anthelia ergözte sich daran, wie die dahinter lauernden Vampire laut schreiend zurücksprangen. Doch nicht alle hatten Angst vor dem Sonnenlicht. Anthelia konnte gerade noch rechtzeitig erfassen, daß drei von ihnen die Schutzfolien trugenund mit Handfeuerwaffen ausgerüstet waren. Sie schaffte es gerade noch rechtzeitig, Hulda einen telekinetischen Schubser zu versetzen, um sie zu Boden zu stoßen und selbst auf halber Höhe der Treppe flach auf den Rücken zu fallen. Da ratterten ohrenbetäubend laut drei Maschinenpistolen los und schickten einen Schwarm tödlicher Bleigeschosse in den Turm hinauf. Anthelia fragte sich in den Sekunden, wo die Kugeln über sie und Hulda hinwegpfiffen, warum die drei nicht hinausgegangen waren, um zu prüfen, wer da ihren Zauber um das Schloß zerstört hatte. Die drei Vampire rückten vor und gaben weiter Feuer. Anthelia berührte die Treppe mit ihrem Zauberstab und murmelte zwei Worte aus der magischen Sprache des alten Reiches. Ein Erdstoß erfaßte die drei Vampire und ließ sie die Treppe hinunterrollen. Hulda erkannte die Chance und rief "Heliotelum!" Ein gelber Lichtspeer zischte durch die Luft und erwischte einen der Schutzfolienträger an der Schulter, ehe der wieder richtig auf die Beine kam. Laut fluchend feuerte er seine Waffe ab. Doch die Kugeln krachten weit über ihnen ins Gebälk des Turmdaches und verursachten einen Regen aus Holzspänen. Anthelia sah die beiden gerade wieder in Schußhaltung gehenden Gegner und wischte mit dem Zauberstab kurz durch die Luft. Dabei flogen den beiden die Schnellfeuerwaffen aus den Händen und schepperten auf den Boden. Der erste versuchte noch einmal, gezielt zu schießen. Doch da prellte ihm Anthelias telekinetische Kraft ebenfalls die Waffe aus der Hand. Jetzt rief die Spinnenfrau den Todesfluch. Hulda tat es ihr gleich. Das fällte die beiden vordersten Vampire. Der dritte tauchte nach seiner Waffe. Doch diese rutschte von unsichtbarer Hand geschoben davon. Huldas zweiter Todesfluch erledigte auch den dritten Schützen.

"Hätten uns fast in Siebe verwandelt und das ohne Magie", knurrte Hulda. "Was macht dieses Geschmeiß mit Muggelmordgeräten?"

"Morden", erwiderte Anthelia. Dann ließ sie die Waffen einfach verschwinden. Starke Hexen brauchten keine Feuerwaffen. Nun eilten sie die Treppe hinunter und fegten mit Sonnenspeeren den Bereich vor der Turmtür frei von möglichen Nachrückern. Doch die nicht geschützten Vampire hatten sich in nicht einmal vom Widerschein der Sonne erreichbare Seitengänge geflüchtet. Doch dort lauerten sie nun. Anthelia und Hulda wendeten den Flammagellum-Zauber an und ließen flammende Peitschenschnüre aus ihren Zauberstäben schießen, mit denen sie die ersten Vampire so heftig trafen, daß sie laut schreiend zusammenbrachen und sich vor Schmerzen am Boden wälzten. Nun war der offene Kampf im Gange. Die Flammengeißeln schafften zwar je fünf Vampire. Doch dann erloschen sie. Nun halfen nur noch Sonnenspeere und eine Sonnenlichtmauer, die die ungeschützten Vampire zurücktrieb. Anthelia konnte nur einmal knapp verhindern, daß Hulda von einem von der Decke springenden Blutsauger niedergerissen wurde. Die Hexe aus Österreich teilte dann mit einem Feuerstrahl so kräftig aus, daß vier Vampire daran verbrannten. Doch dann rückte von hinten ein todesmutiger Kampftrupp an, der die wenigen Sekunden im gefilterten Sonnenlicht in Kauf nahm, um den Kameraden zu helfen. Hulda konnte gerade noch drei weitere mit ihrem Feuerstrahl erwischen. Doch dann erlosch dieser, und fünf Gegner warfen sich zugleich auf sie. Ein grelles Flacken erfaßte die Blutsauger und ließ sie schreiend zurückzucken. Huldas Sonnensegen bekam ihnen überhaupt nicht. Doch dieser erschöpfte sich beim Ansturm und der Anwesenheit so vieler Vampire. Anthelia sah sich derweil einer Übermacht von zwölf Vampiren gegenüber und erfaßte auch die in ihrem Rücken auftauchende Gruppe. Sie sprang zurück und riß sich den Umhang von den schultern. Sie schickte noch einen Sonnenspeer mitten in die anstürmende Gruppe, bevor sie den Zauberstab in ihre Handtasche fallen ließ und mit links das Schwert aus der Drachenlederscheide freizog. Mit der rechten hand drückte sie ihre Handtasche zu und packte dann ebenfalls den Schwertgriff. Einer der Vampire sprang ihr direkt in die Klinge und hauchte mit einem lauten Fauchen in einer Flammenwolke sein Dasein aus. Anthelia hörte noch Huldas panischen Schrei, weil drei gierige Vampirmäuler über ihr aufklafften. Doch sie konnte ihrer Kameradin nur helfen, wenn sie die ganze Macht des Schwertes beschwor. "Faianshaitargesh!" Rief sie. Mit lautem Fauchen erwachten die Flammenmuster auf der goldenen Klinge zum Leben und ließen das Schwertblatt scheinbar noch länger werden. Die Vampire schraken zurück. Der Anblick des magischen Feuers peinigte und ängstigte sie. Außerdem hatten sie mitbekommen, wie einer ihrer Brüder von dieser Waffe eingeäschert worden war. Anthelia vollführte schnelle Drehungen und fegte voll in die über Hulda herfallenden Vampire, die sich in ihrer Blutgier behindert hatten. Keiner überstand die Berührung mit den Flammen. Sie zerfielen zu Asche, ehe sie zu Boden stürzen konnten. Hulda keuchte, als das brennende Schwert noch einmal über sie hinwegfauchte und drei auf sie niederstürzende Vampire verbrannte. Dann fühlte Anthelia, wie eine unbändige Kraft sie von hinten packte. Sie ließ sich auf die Knie fallen und zielte mit der Klinge an ihrem linken Ohr vorbei, wobei sie den sie bedrängenden Vampir mit der flackernden Spitze im Gesicht traf. Laut schreiend ließ der Blutsauger von Anthelia ab und taumelte zurück, wobei er zwei nachsetzende Artgenossen umstieß.

Hulda lag noch am Boden, als Anthelia bereits wieder in Richtung dunklen Seitengang vorstieß und dabei das Schwert blitzartig hin und herschwang. Fauchend wie eine durch die Luft wischende Fackel fegte das Schwert jeden Vampir gnadenlos aus dem Weg. Hulda raffte sich auf und erkannte, daß hinter ihr wieder Vampire angelaufen kamen. Sie zog ungesagt eine Feuermauer, in die die Verfolger hineinrannten. "Pack!" Schrillte die Hexe, bevor sie sich abtastete, ob ihr auch keiner seine Zähne in den Körper getrieben hatte. Die Flammenwand beeindruckte die Vampire, die den Tod ihrer Artgenossen hatten mit ansehen müssen. Doch die Feuermauer flackerte bedrohlich, als wolle sie jeden Moment erlöschen. Hulda rannte hinter Anthelia her, die wie eine Feuerfurie ihren Weg freibrannte. Da konnte Hulda erkennen, wie ihre eigene Flammenwand zusammenbrach. Sowas hielt doch mehrere Minuten vor. Doch ihre Feuermauer war gerade zwölf Sekunden stabil geblieben. Konnte das an dem Feuerschwert liegen, daß Anthelia führte? Hulda hatte keine Zeit, darüber groß nachzudenken. Sie beschwor statt dessen eine Mauer aus Sonnenlicht herauf. Diese stand nun gleißend hell aber von ihrer Seite her durchsichtig da. Die Vampire, die gerade geglaubt hatten, nun freie Bahn zu haben, prallten darauf und schrien vor Schmerzen. Hulda hoffte, daß die Lichtmauer länger hielt als die Flammenwand und jagte weiter Anthelia nach, bis diese zu einer Abzweigung kam. Hier mußte sie sich gegen von links und rechts anstürmende Vampire wehren. Hulda half ihr mit Todesflüchenaus. Die Vampire waren blitzschnell. Doch die Flammenklinge machte diese Schnelligkeit mehr als wett. Sie versuchten sich zu ducken und die verheerend ausschlagende Klinge zu unterlaufen. Doch anthelia reagierte intuitiv auf diese Absichten und erwischte die Gegner noch an der Schädeldecke, was für diese Wesen das Todesurteil war. Ihre Köpfe zerplatztzten in schwarzen Aschewolken. Anthelia war gerade im Vernichtungsrausch. Dennoch blieb sie telepathisch wachsam und erkannte so noch rechtzeitig, wie ein Vampir sich von oben fallen ließ. Sie hielt nur kurz die Klinge hoch und spießte den Blutsauger auf. Allerdings zerfiel dieser in der ersten halben Sekunde schon zu Asche. Nun umschwirte Anthelia eine dichte Aschenwolke und machte sie prusten. Die anderen Vampire wollten das ausnutzen und die übermächtige Feindin niederrennen, um das mörderische Schwert aus ihrer Hand zu schlagen. Da schwirrten bunte Flammen frei durch die Luft und verfingen sich an der Kleidung der Blutsauger. Anthelia kannte dieses Feuer. Es war die abgeschwächte Form des Dämonsfeuers. Sie sah, wie die kleinen Flammen die Vampire zurücktrieben. Einige blieben dabei auf der Strecke. Anthelia hielt das Schwert wieder nach vorne und fegte auf halber höhe alles vor sich aus dem Weg. Sie wirbelte herum, während die bunten Flammen aus Huldas Zauberstab ebenso herumschwirrten und ihre Gegner bestürmten. Doch die bunten Flämmchen zog es immer zu dem Schwert hin, in dessen Feuer sie ihr magisches Dasein aushauchten. Hulda sah sich nun bestätigt, daß die Flammenklinge die Elementarkraft des Feuers aufsog, um selbst tätig bleiben zu können.

Offenbar wollten die Vampire nicht weniger werden. Es war nur noch eine Frage der Zeit, wann die beiden Hexen zu ausgezehrt waren, um sich noch wehren zu können. Anthelia wußte, daß die meisten der Blutsauger darauf lauerten, daß ihre beiden Gegnerinnen zu erschöpft waren. Bisher hatten sie es nicht versucht, die beiden mit ihrem magischen Blick zu betäuben, zu nahe war die schreckliche Waffe. Anthelia erledigte noch mehrere Vampire aus den Seitengängen. Doch als sie erkannte, daß sich in den größeren Räumen immer mehr dieser Unwesen regten erkannte sie, daß sie auch mit dem Schwert keine Übermacht niederschlagen konnte. Die Klinge hatte sich zwar als Vampirvernichtungswaffe bewährt. Doch was brachte es, wenn sie am Ende doch unterlag? "Rückzug, Hulda. Zu viele!" Rief sie nach hinten. Hulda wandte sich Um. Sie sah die Sonnenlichtmauer. Dahinter mochten noch weitere Vampire lauern. Anthelia lauschte und schüttelte den Kopf. "Die haben schon den Zugang zum Turm verstellt. Noch vier mit Sonnenschutz und Feuerwaffen!"

"Woher du das immer weißt, du Schlampe", brüllte eine höchst verärgerte Männerstimme. Hulda warf sich hin. Anthelia stand da und sah, wie hinter dem Sonnenlichtwall rot-blau flirrendes Mündungsfeuer aufblitzte. Die Bleikugeln hieben durch die Sonnenlichtmauer und wurden dabei glühendheiß. Anthelia hielt das Feuerschwert in die Flugbahn der Geschosse. Diese prallten sirrend von der Flammenklinge ab. Dann mußte Anthelia zusehen, sich schnell umzudrehen. Sie warf sich nach vorne und stieß in das Pulk von Vampiren hinein, das aus dem linken Seitengang hervorbrach. Und immer noch war nicht ein Viertel dieser Ungeheuer ausgelöscht. Da belferte eine zweite Feuerwaffe aus dem linken Seitengang. Anthelia kam nicht dazu, ihr Schwert wie einen Schild zu führen. Doch die Kugeln prallten von ihr ab. Die Tränen der Ewigkeit schütztn sie wie ein unsichtbarer Körperpanzer. Der Schütze staunte nicht schlecht, als Anthelia sich ihm triumphierend als große Zielscheibe anbot. "Damit kannst du mir nichts, Blutsauger", stieß sie ihm auf Deutsch entgegen. Doch der Vampir verstand sie offenbar nicht. Er feuerte noch einmal. Alle Kugeln prallten von der Spinnenfrau ab. Einige schlugen klatschend oder knirschend in die Wände. Viele pfiffen dem Schützen selbst um die Ohren. Anthelia sah ihn konzentriert an und prellte ihm mit Gedankenkraft die Waffe aus der Hand. Dann stürmte sie vor und jagte ihm die brennende Klinge in den Bauch. Laut fauchend verglühte der Vampir. Anthelia wirbelte herum und suchte Hulda. Diese stand breitbeinig im Gang und blickte auf eine silberne Lichtmauer, an der gerade mehrere Salven aus der Schnellfeuerwaffe des Vampirs abprallten.

"Uns mit Muggelwaffen kommen. Schämt euch, Saubande!" Schrie Hulda. der Schütze glaubte seinen Augen wohl nicht. Er hielt weiter auf die silberne Mauer. Anthelia bewunderte Hulda, daß sie diesen Zauber alleine und so schnell hatte aufrufen können. Dann zog der Vampir einen runden Gegenstand von seinem Gürtel. Anthelia erkannte, was es war. "Willst du dir deine empfindlichen Ohren verderben, Blutsauger?!" Rief sie. Doch der Vampir zog bereits den Zünder seiner Handgranate und warf diese in Richtung Silbermauer. Anthelia zielte mit dem Zauberstab auf das Wurfgeschoß und dachte "Vanesco Solidus!" Bevor die Handgranate den Boden berührte, verschwand sie ploppend im Nichts.

"Eure magielosen Waffen langweilen mich", spie Anthelia dem Vampir entgegen, der erstarrt auf den Punkt blickte, wo gerade noch die Handgranate in der Luft gewesen war. "Ich hätte dir das Ding auch selbst zwischen die Beine treiben können. Aber wir brauchen unsere Ohren noch", legte Anthelia nach. Der schütze und Handgranatenwerfer starrte sie und das immer noch lodernde Flammenschwert an. Dann sagte er: "Ihr müßt da beide mal raus, ihr beiden ZuckerKipferl. Oder ihr werdet das Abendmal meiner Brüder und Schwestern. Mit eurem Selbstwegzaubern kommt ihr hier jedenfalls nicht raus. Die Königin hat einen dreifachen Wall dagegen aufgebaut, den keiner niederwerfen kann."

"Ich habe euren Feindesabwehrzauber geschafft. Ich habe Zeit, auch euren Apparitionswall niederzureißen", tönte Anthelia. Dabei wußte sie, daß der Vampir genau wußte, daß sie dafür keine Zeit hatte. Denn sie vernahm bereits näherkommende Gedanken, die von Gier und Hunger geprägt waren.

"Ihr habt eine Wahl, ihr zwei Süßen. Werdet Bürger von Nocturnia. Die Königin wird euch beide willkommen heißen, wenn sie wiederkommt."

"als ich sie das letzte mal traf ließ sie sich noch eine Lady, eine Edeldame rufen, obwohl auch das schon unverdient war", erwiderte Anthelia. Dann erkannte sie, was der Vampir gesagt hatte. Nyx war nicht hier. Denn sonst müßte sie ja nicht erst wiederkommen. Doch war das hier ihr Hauptquartier oder nur eine Nebenstelle ihres Reiches ohne Grenzen?

"Ist das hier das Schloß eurer Königin?" Fragte Anthelia und war darauf gefaßt, gleich mit dem Schwert nach heranstürmenden Vampiren zu schlagen.

"Von hier aus wird Mitteleuropa erobert. Wir sind hier fünfhundert Nachtkinder. Wenn ihre Gabe die richtigen Orte erreicht, werden wir bald eine unbezwingbare Streitmacht sein", knurrte der gerade waffenlose Vampir. Anthelia sondierte gerade mit ihrem Gedankenspürsinn den Weg zum Turm. Dieser war jedoch von den beiden anderen Schutzfolienträgern mit ihren Waffen verstellt. Und von den Seitengängen her schlichen sich bereits weitere Dutzend Vampire an. Gleich würden sie über Hulda und Anthelia herfallen. Die Hexenlady hatte keine Lüge aus den Gedanken des auf sie lauernden Schützen herausgehört. Also mußte sie damit rechnen, nicht disapparieren zu können. Die Mauern waren mehr als einen Meter dick. Dahinter lauerten aber bereits weitere Vampire. Sie hatten sich zu weit ins Innere vorgewagt. Durch die Außenwände wären sie wohl entkommen. Aber so.

"Bürger, Feinde, Futter, ihr beiden Furien. Das ist eure letzte Wahl!" Rief der Vampir, wohl um seinen Artgenossen ein Zeichen zum Angriff zu geben. Anthelia sah Hulda an, die wohl auch verstand. Sie rannten beide auf die silberne Mauer zu. Zumindest konnten sie damit den Ansturm einige Sekunden hinauszögern.

"Feinde, du bleicher Lakei!" rief Anthelia. Hulda erreichte gerade die silberne Mauer. Von ihrer Seite her war sie durchlässig. Sie sprang hindurch und versetzte dem Vampir dabei noch mit einem Sonnenspeer den Todesstoß. Anthelia schaffte es gerade noch, ihrer Kameradin nicht das brennende Schwert in den Rücken zu rammen und durchquerte ebenfalls die Mauer.

"Da vorn stehen die anderen beiden!" Rief sie Hulda zu und überholte sie. "Ich erledige die!" Rief sie noch. Hulda verstand und zog hinter Anthelia eine neue Sonnenlichtmauer hoch, die die nun aus den Seitengängen heranjagenden Vampire zurücktrieb. Laut kreischend und verärgerte Laute ausstoßend stießen die Blutsauger einander an, um aus dem Wirkungsbereich der Lichtmauer zu gelangen. Anthelia rannte los, voll hinein in ihr entgegenschwirrende Bleikugeln. Doch diese taten ihr nichts. Die Unverwüstlichkeit der Tränen der Ewigkeit wehrte alle Geschosse ab. Die beiden Schützen hielten trotzdem weiter drauf, auch wenn sie bald ihre eigenen Kugeln als Rückpraller abbekamen. Die Führerin der Spinnenschwestern teilte kurz mit dem brennenden Schwert aus. Da waren die beiden Schützen auch schon erledigt. Hulda rückte nach.

Als sie im vom natürlichen Sonnenlicht erhellten Turmaufgang standen, holten sie erst einmal Luft. Dann trieb Anthelia die Kameradin weiter nach oben. Dort jedoch erwartete sie eine böse Überraschung. Ihre beiden Besen waren zerstört. nur noch rauchende, verkohlte Holzreste zeugten von ihrer Existenz. Offenbar hatte einer der beiden Schützen es noch geschafft, die beiden Fluggeräte unbrauchbar zu machen. Warum hatte Anthelia das nicht aus den Gedanken des Täters herausgelesen? Egal! Sie mußten außen runterklettern, solange die Sonne noch schien. Allerdings mußten sie dann laufen und hoffen, noch rechtzeitig aus dem Wirkungsbereich des Apparitionswalls zu gelangen, bevor die Vampire ihr Schloß verlassen konnten. Da kam Anthelia der Einfall. Zunächst ließ sie die immer noch brennende Klinge Yanxothars erlöschen und steckte das Schwert zurück in seine Scheide. Dann grinste sie breit und rief hinunter: "Netter Versuch. Aber wir brauchen keine Besen!" Hulda starrte sie an. Da führte Anthelia den Zauberstab gegen ihre Kameradin und wirkte einen Schrumpfzauber. Hulda quiekte wie eine verängstigte Maus. Doch Anthelia belegte sie mit einem Erstarrungszauber, ließ sie vorsichtig in eine Außentasche ihres Umhangs rutschen und sang die alten Worte der Loslösung. Sie stieß sich ab und stieg einige Meter nach oben, bevor sie sich lang nach vorne streckte und mit steigender Geschwindigkeit vorwärtsflog. Womöglich sah das keiner der Vampire im Schloß. Die würden darauf lauern, daß der Sonnenlichtwall zusammenstürzte und es dunkel genug wurde, um auszuschwärmen. Anthelia flog mindestens zwei Minuten lang. Da fühlte sie, wie die Erschöpfung vom letzten großen Zauber sich wieder bemerkbar machte. Sie mußte bremsen und landen. Keuchend schaffte sie es gerade noch, sich auf den Beinen zu halten. Waren sie schon weit genug fort um zu disapparieren? Anthelia fühlte, daß sie für einen derartigen Kraftaufwand wohl nicht mehr genug Konzentration aufbringen konnte. Immerhin schaffte sie es noch, Hulda zu entschrumpfen und ihr die Beweglichkeit zurückzugeben.

"Das hättest du mir aber schon früher sagen dürfen, daß du keinen Besen brauchst", knurrte Hulda Blaustrunk.

"Ich wäre auch gerne noch weiter geflogen. Wir haben wohl gerade fünf Kilometer zwischen uns und das Schloß gebracht. Traust du dir zu, mit mir zusammen zu disapparieren?"

"Hab ich doch gesagt, daß ich das nicht kann", knurrte Hulda. Dann sagte sie: "Aber ich kann dich noch ein paar Kilometer weitertragen. Dann kannst du mit mir disapparieren." Damit ließ sich die Einsiedlerhexe auf ihre Hände niedersinken und konzentrierte sich. Sie wurde größer und höher. Aus ihrer Kleidung wurde nachtschwarzes Fell. Ihre Ohren wurden spitz, und ihr Kopfhaar zog sich zu einer struppigen Mähne zusammen. Ihre Hände und füße wurden zu Hufen, und aus ihrem Steiß wuchs ein langer haariger Schweif. Anthelia begutachtete die Verwandelte und schaffte es, ohne Sattel und Steigbügel auf den Rücken der Bundesschwester zu steigen, die dann antrabte. Anthelia hielt sich an der Mähne der Pferde-Animaga fest und balancierte sich gut genug aus, bevor Hulda losgaloppierte. Anthelia hielt sich mit ihrer gesamten Beinkraft sicher auf dem Rücken der Rappstute, die sicher über die Baumwurzeln hinwegsprang und dem Waldrand zujagte. Dann hielt sie an und schnaubte. Anthelia glitt von Huldas Rücken herunter und bedankte sich, während die Mitschwester sich in ihre menschliche Erscheinungsform zurückverwandelte.

"Das kannst du dir als Ehre anrechnen. Normalerweise lass ich keinen auf mir hocken", erwiderte Hulda. Anthelia nickte, bedankte sich noch einmal.

"Ich brauche noch einige Minuten Ruhe. Dann können wir disapparieren, hoffe ich", sagte Anthelia. Da kam Hulda auf die Idee, zu prüfen, ob sie auch wirklich aus dem Schutzbereich heraus waren. Sie atmete auf, als sie feststellte, daß wohl nur das Schloß davon umgeben war. Anthelia ärgerte sich, daß sie das nicht gleich vor Ort ausgekundschaftet hatte. Dann wären sie schon längst im Haus der Einsiedlerin.

Sie warteten noch eine halbe Stunde, bevor Anthelia Hulda in die Nähe ihres Hauses brachte.

"Ich will noch einmal in das Schloß. Alleine. Ich habe festgestellt, daß ich wohl bessere Chancen habe, wenn die Vampire alle ausgeflogen sind", eröffnete Anthelia ihrer Mitschwester. Diese sah sie verstört an und fragte sie, ob sie das wirklich ernstmeine. Anthelia bestand jedoch darauf. Hulda erkannte, daß sie es ihr nicht ausreden konnte. Anthelia war sich sicher, daß nur sie als Hexe oder Spinne eine Chance hatte, an mögliche Unterlagen heranzukommen. Jedenfalls konnte Nyx den Mitternachtswall nicht mehr in dieser kurzen Zeit aufbauen.

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Flavius Partridge hatte alles erledigt, was jemand zu erledigen hatte, der nicht wußte, ob er die nächste Woche überleben würde. Sein Testament lag im Ministerium und würde nach seinem hoffentlich nicht soo früh eintretenden Tod von selbst zum Vorschein kommen. Seinem Bruder Silvester hatte er seine halbe Pharmakothek mit seltenen Zauberkräutern zukommen lassen. Seine Nichte Venus würde, wenn sie dreißig wurde, einen Verliesschlüssel von Gringotts erhalten. Das Verlies enthielt ganze sechstausend Galleonen. Damit mochte die gegenwärtige Quodpotberühmtheit lange unabhängig sein, ohne in der Vorstellung leben zu müssen, von ihrem Erbonkel ausgehalten zu werden. Er war froh, daß er nicht verheiratet war und keine eigenen Kinder hatte. Sein Ehrgeiz hatten diese Schritte bisher verhindert. Fast wäre er ein Durecore-Bewohner geworden. Doch die Auswahl von Thorntails hatte ihn nach Redhawk gesteckt.

Flavius Partridge blickte auf den breiten Perserteppich im Wohnzimmer. Der wirkte hier irgendwie überzogen, richtig protzig. Doch Flavius Partridge scherte sich nicht darum, wie seine Einrichtung auf andere wirken mochte. Ihm ging es nur darum, daß er diesen Gefahrenherd zum erlöschen brachte, der sich in den letzten Wochen aufgetan hatte. Wenn es dieser Nyx gelang, weiterhin Siedlungen mit ihrem veränderten Keim zu kontaminieren, dann konnte sie überall auf der Welt ihre Abkömmlinge züchten. Damit würde ihre Brut schwerer zu vernichten sein als eine Gruppe Hydren. Es wäre auch vergleichbar damit, ein Buschfeuer mit brennenden Holzschuhen austreten zu wollen. Er hoffte, daß der Plan von Quinn Hammersmith gelang, ohne daß er, Flavius Partridge, dabei sein Leben lassen mußte. Und falls doch, dann hoffte er, daß der Plan zumindest gelang. Denn die Alternative war zu schrecklich, um länger durchdacht zu werden.

Dröhnend schlug die große Standuhr drei Uhr Nachmittags. Noch neun Stunden, dann schriebe man auch hier in den USA den 19. Mai. Er dachte an Jannett, die er an einem 19. Mai vor siebzehn Jahren getroffen hatte. Sie hätte es fast geschafft, sein Junggesellendasein zu beenden. Doch am Ende hatte er sich doch dazu entschlossen, im Inobskuratorentrupp zu bleiben, was für die auf ein sicheres Umfeld erpichte Jannett zu riskant war. Mittlerweile hatte sie ihren Ernährer und Beschützer und von diesem drei quirlige Söhne, von denen der erste in diesem Jahr nach Thorntails kommen würde. Für diesen Jungen und seine Brüder, für seine Nichten und Neffen und alle Anständigen Hexen und Zauberer hielt er nun den Kopf oder besser den Hals hin. Er wähnte sich nicht so sicher, daß eine Supervampirin wie Nyx nicht zu ihm vordringen könnte. Ihre Hexenfertigkeiten mochten durch den in ihr steckenden Höllenklunker ebenso verstärkt worden sein. Dann würde sie sicher die mehrfach gestaffelten Bann- und Fallenzauber ausschalten können, um bis zu ihm vorzudringen. Er würde hier in diesem Raum bleiben. Essen und Trinken stellten ihm die zwei ministeriumshauselfen auch hier hin. Denn wenn der Plan gelingen sollte, dann mußte er Nyx zum Duell in diesem Raum zwingen und lange genug bekämpfen, bis sie meinte, er sei am Ende. Gelang es ihm, sie stark genug zu schwächen, daß sie den Mitternachtsdiamanten verlieren mußte, dann würde der Plan Kabeljau ohne verschluckten Wurm und ohne "das Boot" über die Bühne gehen. Aber er mußte damit rechnen, daß sie es war, die ihn schwächte.

Es geschah um vier Uhr nachmittags. Seine Meldezauber piepsten ihm in den Ohren, das jemand die ersten Schutzzauber durchbrochen hatte. Dazu wären nur drei ausgebildete Hexen oder Zauberer fähig gewesen. Dann erhielt er über eine darauf abgestimmte Küchenuhr die Alarmmeldung, daß jemand die sich kreuzenden Pfade der Sonne durchbrochen hatte, ein Zauber, der jeden gewöhnlichen Vampir und jeden niederen bis mittleren Nachtschatten restlos vernichtet hätte. Jetzt begann die eigentliche Wurstelei, weil die im Haus verteilten Attackierzauber nun den namentlich markierten Feind bekämpfen würden, der eigentlich eine Feindin war. Da hörte er auch schon, wie Nyxes Stimme gegen lautes Fauchen und Prasseln anrief. Er kannte die Worte nicht. Diese Zauber waren ihm unbekannt. Mochte es sein, daß Nyx Zugang zu magischen Fertigkeiten hatte, die alle anderen nicht im Traum erlangen konnten? Jedenfalls rückte ihr wildes Rufen und rituelles Singen immer näher. Die Türen waren mit Decompositus-Fflüchen präpariert. Falls sie den Fehler machte, sie anzufassen, mochte der Mitternachtsdiamant auch dagegen nichts ausrichten. Allerdings wußte er, daß dieser Stein schwarze Magie wie belebende Nahrung schluckte. Avada Kedavra tötete nicht Nyx, sondern den Aufrufer des Todesfluches.

Der Lärm des magischen Kampfes wurde immer lauter, immer bedrohlicher. Flavius spannte sich an. Seine Antivampirartefakte waren bereit. Genauso hielt er seinen Zauberstab Bereit. Er stand mitten auf dem Teppich und hörte, wie Nyx eine Falle und einen Abwehrzauber nach dem anderen zerstreute. Flavius hatte noch fünf Minuten zu warten. Dann erglühte die Tür, erzitterte und zerschmolz einfach. Mit triumphierendem Lächeln, die dolchartigen Fangzähne gefletscht, sprang Nyx in den Salon hinüber und sah Partridge, der unvermittelt zu zerfließen schien und sich in zehn Doppelgänger von sich auflöste. Diese schwenkten ihre Zauberstäbe und riefen unterschiedliche Zauberwörter aus. Aus einigen Stäben schlugen Blitze und Lichtstrahlen. Nyx jedoch ließ sich nicht beirren. Sie schleuderte mit einem Wort eine dunkle Nebelwolke ins Zimmer, die neun der zehn Ebenbilder zerstörte. Nur ein Partridge blieb übrig. Doch dieser erstrahlte unvermittelt im gleißenden Glanz wie von hundert winziger Sonnen. Nyx schrak erst zurück. Dann rief sie: "Tenebrae Maxima!" Schlagartig wurde es stockdunkel. Partridges gleißende Lichter wurden zu roten Pünktchen.

"Glaubtest du wirklich, mich aufhalten und hinhalten zu können, Flavius Partridge. Wenn ich gewollt hätte, trüge deine besenflinke nichte schon Llängst einen neuen Namen und würde sich freuen, meine Tochter zu sein."

"Mir war nicht bewußt, wie stark du bist. Aber das wird dir nicht helfen, mich oder meine Familie umzubringen oder zu deiner widerlichen Brut zu machen, Griselda Hollingsworth. Denn unsere Gegenmaßnahmen laufen schon. Ich habe vor einer Stunde das Okay erhalten, die weißen Fledermäuse loszuschicken. Aber wo du jetzt hier vor mir stehst kann ich dich auch gleich selbst festnehmen." Nyx lachte über diese Überheblichkeit. Doch sie fühlte sich auch etwas verunsichert. Wenn Partridge die weißen Fledermäuse wirklich hatte nachzüchten können, dann war sie vielleicht zu spät dran. Doch das wollte sie nicht glauben. So stieß sie aus, daß sie schon sehr bald aus Flavius Partridge herausgeholt haben würde, ob er sie belog und wenn nicht, wo diese Fledermäuse waren.

"Ich werde ganz sicher nicht dein Blutsohn, Griselda. Dein Schreckensreich Nocturnia wird zu Staub, wie alle deine Abkömmlinge, die zu lange in der Sonne herumlaufen."

"Nocturnia ist bereits unbesiegbar, du Wicht. Aber wenn du erst mein Blut in dir und ich dein Blut in mir fühle wirst du dich freuen, wenn ich dich dort leben lassen möchte. Wir bieten euch drei Möglichkeiten an: Bürger, Feinde oder Futter. Such dir eine dieser Möglichkeiten aus!"

"Als Lebendfutter für euch Blutegel werde ich mich nicht erniedrigen. Daß ich keineswegs euer Mitbürger werden will habe ich gerade gesagt. Also wirst du mich töten müssen, Griselda."

"Lady Nyx, du kurzlebiger Wurm. Aber wenn ich mit dir fertig bin wirst du mich deine erhabene Mutter nennen dürfen."

"Vergiß es!" Schrie Flavius scheinbar in höchster Bedrängnis und Wut aus der Finsternis heraus. Dann schickte er einen Sonnenspeer gegen Nyx. Der Mitternachtsdiamant parierte diesen Angriff mit der Nyx umkleidenden schwarzen Aura. Sie lachte und ging auf das Geplänkel ein. So lieferten sich beide mehr als zehn Minuten ein haarsträubendes Duell, bei dem die Wände des Salons arg in Mitleidenschaft gezogen wurden. Nyx stellte fest, daß Partridge niemals den Todesfluch oder einen anderen der drei Unverzeihlichen benutzte. Er wandte Sonnenzauber, Ungierzauber und Mondlichthämmer an. Alles das steckte Nyx entweder über die Aura des Mitternachtsdiamanten weg oder fegte es mit passenden Gegenflüchen aus der Bahn. Sie schritt auf dem weichen Perserteppich auf Partridge zu, der immer weiter gegen sie focht und keinen Schritt zurückwich. Die Vampirin kämpfte sich immer näher an ihn heran. Dann drosch er noch mit dem Petripugnus-Zauber auf sie ein, der eine magische Kugel wie eine mehrere Dutzend Pfund wiegende Steinfaust gegen sie schleuderte. Sie bekam die Erdelementarmagie voll in den Bauch. Doch sofort hörte sie ein Rauschen und kam wieder zur Besinnung. "Steinzauber. Mehr davon!" Forderte die Wächterseele im Mitternachtsdiamanten. Nyx lachte und fragte Partridge, ob er noch mehr davon habe. Dann jagte sie ihm ihrerseits drei schnelle Flüche entgegen. Er geriet ins stolpern. Sie packte blitzschnell ihren Zauberstab fort und warf sich über ihn. "Komm sei mein, Flavius!" Rief sie und packte den auf dem Teppich liegenden Zauberer so, daß sie ihm im nächsten Moment ihre Fangzähne in den Hals schlagen konnte.

"Verdörrter Kabeljau!" Rief Partridge, als Nyx mit ihrem Arm unter seinen Nacken lante und dabei den Teppich berührte. Die Vampirin wollte gerade etwas sagen, als es über sie und ihn hereinbrach.

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Anthelia fühlte sich nach einem reichhaltigen Abendessen und genug Wasser wieder stark genug, das Schloß aufzusuchen. Doch sie wartete bis kurz vor elf Uhr, bevor sie mit einer Apparition knapp einen halben Kilometer davon entfernt anlangte. Sie lauschte. Vom Schloß her hörte sie nichts. Womöglich suchten die Vampire bereits anderswo nach Opfern. Sie blickte sich um. Außer Bäumen war nichts zu erkennen. Das Blätterdach verhüllte die Sterne. Anthelia fühlte eine unerträgliche Spannung. Wagte sie nicht ein wenig zu viel? Fünfhundert Vampire hatten sich in dem Schloß aufgehalten. Sicher hatten Hulda und sie an die fünfzig vernichtet. Aber dann war dort immer noch eine große Streitmacht. Eigentlich hätte sie bis morgen warten und das Schloß im Dämonsfeuer verbrennen sollen. Doch sie wollte wissen, ob in seinen Räumen noch etwas über Nyxes Pläne zu finden war. Denn die Vampire konnten schlecht was fortgeschafft haben. Wenn sie noch etwas finden wollte, dann mußte sie heute Nacht dort hin, auch wenn es für jeden anderen eine Selbstmordmission darstellte, sich mit fünfhundert Vampiren anzulegen. Sie lief auf das Schloß zu und blickte zu den Fenstern hinauf. Sie glotzten sie wie tiefschwarze Augen an. Zumindest aber konnte Anthelia sehen, daß sie offenstanden. Es waren die Ausflugslöcher der Nachtgeschöpfe. So konnten alle ganz schnell ausrücken und vor Tagesanbruch wieder ... Da war was! Anthelia hatte die Gedankenströme erfaßt. Sie waren genau über ihr. Die Vampire flogen weit über dem Schloß. Sie hatten offenbar darauf gewartet, daß jemand zurückkam. Wie viele waren es? Hundert? Zweihundert? Eindeutig mehr als sie auf freiem Feld bekämpfen konnte. Sie rannte auf die Mauer zu. Dabei fühlte sie schon, wie der Drang zur Verwandlung in ihr aufstieg. Angst und Kampfeswille brachen sich bahn. Naaneavargias Natur flammte auf und verformte die menschliche Erscheinungsform der aus zwei Magierinnen vereinten Hexenlady. Als sie fühlte, daß sie nun als schwarze Spinne auf die Mauer zugalopppierte, hörte und roch sie den auf sie niederstoßenden Schwarm in Fledermauswesen verwandelter Blutsauger. Sie bekam die Mauer unter die Spinnenkrallen, fand in den Ritzen halt und jagte schneller als ein Mensch klettern konnte hinauf. Da rauschte es über ihr, und die ersten Vampire fielen über sie her. Die Reflexe der Spinne ließen sie so schnell ausweichen, daß die ersten Angreifer laut quiekend an ihr vorbeistürzten. Einer prallte zwar auf den harten Rückenpanzer der Spinne, glitt jedoch daran ab und stürzte ebenfalls ab. Dann hatte Anthelia/Naaneavargia die Mauerkrone erreicht und bog nach rechts ab. Dabei fühlte sie den Anprall eines Vampirs in allen acht Beinen und schüttelte den sich an ihr festklammernden Blutsauger ab. Die anderen schwirrten unschlüssig über ihr. Das war doch eben noch eine Frau gewesen, die sie da in der Nähe ihres Schlosses gewittert hatten. Die Spinne war ihnen, die als Sinnbild für Schrecken und Unheil herhalten konnten, zu unheimlich, als sie direkt anzugreifen. Die zur Spinne gewordene Hexenlady fühlte die Verwirrung der Vampire und heizte diese mit Gedankensendungen an die ihr nächsten an.

"Na, wer frisssssst hier wen?" Fragte sie einen besonders hungrigen Vampir, der vor Schreck die lederartigen Flughäute verhedderte und auf der Mauerkrone aufschlug. Zwei weitere Vampire, die nun in Menschengestalt waren, eilten über die Mauer. Sie hatten Schußwaffen mit und feuerten sie ab. Doch die Kugeln prallten wuchtig von der Spinne ab und jagten zwei von der Seite anfligenden Vampiren in die Flughäute. Die Verwirrung steigerte sich, als die Spinne ganz ruhig kehrt machte und auf den Maschinenpistolenschützen zutrottete, um diesem mit ihren Beißscheren erst den Waffenarm abzutrennen und ihm dann ihren ätzenden Verdauungssaft entgegenzuspeien. Die Raubtiernatur des Achtbeiners überlagerte einen Moment Anthelia/Naaneavargias Bewußtsein. Sollte sie das Fleisch des Blutsaugers fressen, ihm alles aus dem Leib saugen, bis nur noch eine trocknende Hülle übrigblieb? Doch dann schaffte es die menschliche Seite ihrer Existenz, die Vorherrschaft zurückzuerobern. Vampire schmeckten erstens nicht. Zweitens würde es zu lange dauern. Außerdem wollte sie sich nicht mit zu vielen Vampiren hier oben einlassen. So setzte sie über den vorverdauten Vampir hinweg und lief zu einem der türme. Dort landeten gerade sechs weitere Vampire. Die schwarze Spinne rannte auf sie zu und prellte sie alle zur Seite. Dann schlüpfte sie durch den Zugang im Turm und jagte die Wendeltreppe hinunter. Nun mußten die Blutsauger von oben nachdrängen, wenn sie sie fangen wollten. Doch dazu mußten sie erst einmal wieder Menschengestalt annehmen. Sie erreichte den Fuß der Wendeltreppe und tastete mit ihrem Gedankenspürsinn um sich. etliche Vampire waren gerade in ihrer Umwandlungstrance, um zu Menschen zu werden. Einige andere blieben Fledermäuse und umkreisten weiter das Schloß. Gleich würden wohl die ersten zurückverwandelten Vampire hinter ihr herlaufen.

Anthelia/Naaneavargia öffnete die Turmtür mit ihrem rechten Vorderstbein und eilte ins Schloß. Ihr war klar, daß sie im Moment nicht zur Hexe werden konnte, weil sie dann nicht mehr so schnell laufen konnte. Sie hieb mit Beißwerkzeugen und Beinen Türen auf und prüfte mit ihren Tastorganen die Luft. Sie suchte den Geruch von Papier, Pergament, Schreib- oder Drucktinte. Dann kamen sie, die in menschliche Gestalt zurückverwandelten Vampire. Die schwarze Spinne erkannte, daß sie, wenn es sehr viele waren besser durch eines der offenen Fenster ... genau da kamen die geflügelten Bewohner des Schlosses auch schon durch die Fenster herein. Die Spinne konnte nicht lange in einem Raum bleiben. Sie mußte schnell zusehen, ob sie eine Bibliothek oder sowas fand. Doch erst der zwanzigste Raum duftete nach beschriebenem Papier. Die Spinnenfrau kam jedoch nicht dazu, sich die schriftlichen Aufzeichnungen anzusehen, weil gleich zwanzig oder dreißig Blutsauger über sie herfielen. Zum Glück schafften sie es nicht, sie zu halten. Sie spie ihren Verdauungssaft oder schleuderte Spinnseide nach den angreifern, schnappte mit ihren giftigen Beißwerkzeugen nach Armen, Händen oder Gesichtern. Solange sie eine Spinne war konnten ihr die anderen Bestien ihre Zähne nicht in den Leib schlagen. Die zwei oder drei, die es versuchten, stellten sehr schmerzhaft fest, daß der Panzer der Spinne stahlhart war und ihre Vampirzähne daran abbrachen. Die würden sich wohl von den Kameraden füttern lassen müssen. Doch an eine Rückverwandlung zur Hexe war im Moment absolut nicht zu denken. Die Spinne fühlte auch, daß sie trotz der höheren Ausdauer wohl irgendwann müde werden würde. Konnte sie wirklich noch mehr als sechs Stunden durchhalten? Sie beschloß, das Heil in der Flucht zu suchen. Sie wälzte und kämpfte sich aus der Woge der sie andauernd bedrängenden Vampire heraus, immer darauf achtend, daß ihr nie mehr als einer zugleich an einem Bein hing. Denn sie wagte sich nicht auszumalen, wenn es mehreren Vampiren doch gelingen mochte, ihr die Beine auszureißen. Womöglich würde sie dann doch verenden ... und damit zum absoluten Horror für diese Ungeheuer. Denn wenn Naaneavargias magisches Erbgut in ihr enthalten war, würde sie wohl auch den alten Vergeltungsfluch über sich ergehen lassen müssen, der bei ihrem gewaltsamem Tod in Kraft trat. Doch noch hatte sie zu viel vor, als sich umbringen lassen zu wollen. Sie stieß und warf, hieb und biß sich ihren Weg frei, spritzte ihre Verdauungsflüssigkeit nach links und dann nach rechts und schaffte es, durch eines der Fenster zu springen und die Außenwand hinunterzulaufen. Die Vampire, die noch Fledermäuse waren, stießen ihr nach und versuchten, sie vom Boden fortzureißen. Als es ihnen fast gelang fühlte Anthelia/Naaneavargia, wie etwas unbeschreiblich heftiges durch die von Gier und Mordlust getriebenen Bewußtseine fegte. Es war wie ein Schrei, der weder männlich noch weiblich klang. Ihm folgte Starre. Kein klarer Gedanke regte sich. Die Vampire, die sie gerade vom Boden fortreißen und hoch in die Luft entführen wollten, sackten wie betäubt neben der Spinne zu boden. Waren sie tot? Nein. Sie sandten noch fragmentartige Gedanken aus, schwach und unverständlich. Was immer sie in diesem Moment getroffen hatte, hatte sie alle auf einmal handlungsunfähig gemacht. Die schwarze Spinne lauschte und vernahm die Todesimpulse auf dem Boden aufschlagender Vampire, die mitten im Flug von jenem mentalen Aufschrei getroffen worden waren. Die Spinne konnte sich aus dem Pulk der erstarrten Vampire lösen und davonlaufen. Knapp hundert Meter entfernt befand sie, sich in ihre menschliche Gestalt zurückverwandeln zu können. Als sie wieder die neue Anthelia war horchte sie noch einmal genauer. Die Vampire waren allesamt halbohnmächtig, zu keiner bewußten Wahrnehmung oder Handlung fähig. Wie lange mochte das vorhalten? Vor allem, was hatte diesen Massenzustand ausgelöst?

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"Ob er das überlebt, wenn sie ihn echt heimsucht?" Fragte Marchand Hammersmith. Der Tüftler des LI wiegte den Kopf. Es war schon einige Zeit her, daß er einen Feldeinsatz mitgemacht hatte. Immerhin verdankten ihm viele Kollegen, daß sie lebend und größtenteils unversehrt aus dem Feldeinsatz zurückkehrten.

"Entweder muß er das Wort rufen oder sterben, Zach. Jedenfalls kann es noch dauern, bis sie hier ankommt." Er deutete um sich herum. Sie schwammen auf einem verankerten Floß mitten in einem sacht dahinfließenden blauen Strom mitten im Meer. Doch das sachte Fließen täuschte. Mehrere Dutzend Kilometer um sie herum strömte das warme Wasser aus dem Golf von Mexiko nach Norden. An dieser Stelle östlich des nordamerikanischen Festlandes, führte der Golfstrom die meisten Wassermengen. Das war hundertmal mehr als alle Flüsse der Erde zusammen führten. Nur die Breite und Tiefe erlaubte es, diese Unmengen Wasser so langsam zu transportieren. Doch beide hofften, daß es reichen würde, um jeden Vampir zu töten. Denn fließendes Wasser entzog jedem Vampir und jeder Sabberhexe Kraft. Der Golfstrom mochte mit seiner natürlichen Kraft tödlich für jeden Vampir sein. Darauf baute die Hoffnung von Quinn Hammersmith und Zachary Marchand. Der FBI-Mann hatte sich freiwillig gemeldet, um selber zu sehen, ob Nyx ihm weiterhin gefährlich werden konnte. Falls ja, dann hatte er es schnell hinter sich. Falls nicht, würde er es aus allererster Hand erfahren. Doch das schlimmste an dieser Aktion war das Warten. Der Golfstrom zerrte merklich am großen Floß. Hätten sie nicht den schweren Anker geworfen, so wären sie sicher schon mehrere Kilometer weit abgetrieben.

"Wir hätten echtes Angelzeug mitnehmen oder zumindest Netze ausbringen sollen", sagte Zach Marchand gerade, als an der Backbordseite des Floßes eine mehrere Meter durchmessende blaue Lichtspirale entstand. Diese umhüllte erst einen wabernden Schemen, der sich nach nur wenigen Sekunden zu einem ineinander verkeilten Paar aus Leibern verfestigte. Zachary konnte auch den schweren Teppich sehen, der unter den beiden lag. Sie waren tatsächlich eingetroffen.

Nyx riß ihren Kopf hoch. Ihr Gesicht war blutbesudelt, und im Hals von Flavius Partridge klaffte eine tiefe Wunde. Also hatte sie ihn noch im Transfer den tödlichen Biß versetzen können. Doch nun bebte Nyx. Sie schrie laut auf, wand sich und keuchte. Um sie herum flirrte die Luft. Schwarze Blitze zuckten um sie herum. Zachary Marchand löste sich aus der kurzen Schrekcstarre und sprang vor. Er packte zu, fühlte, wie zwei der Blitze ihm in den Arm fuhren und ihn fast ertauben ließen. Doch er schaffte es, die immer schwächer werdende Nyx über den Floßrand zu wuchten, so daß sie ins Wasser klatschte. Mit einem langgezogenen Schrei, den Marchand niemals mehr vergessen sollte, trieb sie davon, schien dabei zu schrumpfen. Die Unmenge fließenden Wassers entzog ihr nicht nur Kraft, sondern auch Substanz. Grauen schüttelte den LI-Zauberer, als er sah, wie die nun reglos dahintreibende Nyx immer kleiner und kleiner wurde, bis sie regelrecht zerfloß. Was von ihr übrigblieb war ein taubeneigroßer, pechschwarzer Stein, der auf einer winzigen Eisscholle trieb. Diese wuchs weiter, wurde dicker. Hammersmith betrachtete das schwimmende Objekt, daß Nyxes Macht auf Erden verkörpert hatte und sich gegen sein Versinken wehrte, in dem es das noch sehr warme Wasser zu Eis gefror. Welch mächtige Magie steckte in diesem verderblichen Stück dunklen Kristall?

"Die hat sich ganz aufgelöst, Quinn. Das habe ich bei Vampiren noch nie gesehen."

"Selbst ihr eingepflanzter Talisman konnte die Menge Wasserkraft nicht schlucken, Zach. Es hat sie regelrecht weggespült."

"Der Stein treibt weg, Quinn!" Rief Zachary Marchand noch. Doch Quinn war schon mit einer langen stange, an der ein grobmaschiges Netz hing zu Gange. Er erwischte die Eisscholle und zog sie an Bord des Floßes. "Und ich tauch dich doch da rein und laß dich ganz nach unten durchsacken, du kleiner Kiesel", schwor Quinn dem Mitternachtsdiamanten. Dieser antwortete ihm nicht. Quinn deutete auf das Heck des Floßes, wo ein mannshohes Faß stand. Er öffnete es und hielt die Luft an. Dämpfe quollen heraus, die für Menschen nicht gesund waren. Denn es waren die Dämpfe fast siedenden Bleis. Quinn riß die Eisscholle im Netz hoch, schüttelte das Netz und ließ die Eisscholle in das Faß fallen. Sofort klappte der Deckel zu. Es zischte, Krachte, blubberte und brodelte lautstark. Zehn Sekunden lang hielt das vor. Dann verstummte jedes Geräusch im Faß. Quinn ließ den Deckel noch einnmal aufspringen. Sie sahen einen einzigen Klumpen Blei, von kleinen Kratern durchzogen, in dem das Eis der Scholle sich verteilt hatte. Der schwarze Stein lag halb von hartem Blei verdeckt in der Mitte. Quinn lächelte und ließ den Deckel wieder zuklappen. Dann hieß er Zachary, den verwundeten Flavius Partridge zu versorgen. Doch dieser regte sich schon nicht mehr. Nyx hatte ihr letztes Opfer gefunden. Sie hatte ihm den halben Hals weggerissen. So wütend mochte sie im Angesicht dessen geworden sein, was sie erwartete. Doch für Trauer blieb jetzt keine Zeit. Zachary Marchand umschlang die Halswunde mit einem dicken Verband und half dann Quinn, das an die dreihundert Kilo schwere Faß umzukippen und über die Stämme des Floßes zu rollen, bis es mit lautem Platscher und einer meterhoch aufschießenden Wasserfontäne in die Fluten eintauchte. Keine Sekunde später war es versunken.

"Da frierst du dich jetzt nicht mehr mit hoch, du Kieselstein", triumphierte Quinn Hammersmith. Dann gewahrte er den toten Flavius Partridge. Zach sah das Schuldbewußtsein in den Augen des LI-Kollegen. "Er wollte das tun, Quinn. Sonst hätte ich es machen müssen. Wenigstens haben wir sie erledigt. Damit ist sein Opfer nicht umsonst gewesen."

"Sie hat ihn im letzten Wutanfall umgebracht, Zach. Wie sehr muß dieses Weib getobt haben, als es merkte, daß der alte Perserteppich ein ganz besonderer Teppich war. Tja, jetzt ist sie erledigt, und ihr schwarzes Ei sinkt gerade auf den Meeresgrund. Guck dir das an!" Quinn holte ein großes Fernrohr hervor und richtete es auf die Meeresoberfläche. Zachary sah wie durch klare Luft, wie das schwere Faß in die Tiefe trieb, sich drehte, wand und schaukelte. Die Geschwindigkeit nahm immer weiter zu. Sie beobachteten, wie der Mitternachtsdiamant im Faß immer weiter sank und sank und sank. Nach etlichen Minuten schlug das Faß im schlammigen Meeresboden ein wie ein Geschoß. Sicher würde der darüber hinwegfließende Golfstrom im Lauf der Zeit noch mehr Schlamm und Sand darüberschieben, bis es nicht mehr zu sehen war. Damit war der Mitternachtsdiamant für alle Vampire unerreichbar geworden. Nun galt es, bis zum nächsten Monat alle von ihm abhängig gewesenen Blutsauger aufzuspüren und zu erledigen. Bis dahin mußte die Sache geheimgehalten werden. Dann konnten sie das ganze als Triumph des Ministeriums verkaufen und somit ein wichtiges Zeichen setzen, daß die amerikanische Zaubereiverwaltung gnadenlos gegen überehrgeizige Kreaturen vorgehen konnte und es auch tat.

"Sollen wir Mr. Partridges Überreste nach Hause bringen oder ihm hier die letzte Ruhe gönnen?" Fragte Zachary Marchand. Quinn war dagegen. Seine Familie sollte wissen, was passiert war und ihm eine angemessene Beisetzung ermöglichen. So warfen die beiden LI-Mitarbeiter noch einen Blick auf den Ort, wo der Mitternachtsdiamant nun auf dem Meeresgrund lag, sich selbst in einer Menge Blei versiegelnd würde er nun dort unten bleiben. Sie konnten nur hoffen, daß niemand ihn dort aufspüren und aus der Bleihülle herauslösen würde.

Sie klaubten die Ausrüstung und den Teppich vom Floß, schulterten den Perser und den Leichnam Flavius' Partridges und disapparierten, nachdem Quinn noch ein kleines Feuer entfacht hatte, das in nur zehn Sekunden das Floß komplett erfassen und verbrennen würde. Der Anker würde dann wie das bleigefüllte Faß mit dem Mitternachtsdiamanten für den Rest aller Zeiten auf dem Meeresgrund ruhen.

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Anthelia wollte nicht darauf hoffen, daß die Vampire lange handlungsunfähig bleiben würden. Sie wurde wieder zur Spinne, rannte zum Schloß zurück und betrat den Raum mit den Aufzeichnungen. Sie wurde wieder zur Hexe und klaubte alles auf, was sie finden konnte. Sie schrumpfte es ein und versenkte es in ihre Tasche. Vier Minuten mochte sie damit zugebracht haben. Da fühlte sie, wie wieder Leben in die Vampire zu kommen begann. Sie mußte schnellstmöglich fort. Sie wurde wieder zur Spinne, kletterte zum fenster hinaus, jagte an der Wand hinunter und rannte und rannte und rannte, bis sie sicher sein konnte, daß die Vampire sie in den nächsten zehn Sekunden nicht mehr einholen würden. Denn die Blutsauger fanden wieder zu sich. Anthelia erkannte, daß es ein ganz anderes Erwachen war, so als würden sie nicht aus einer Ohnmacht, sondern einem langen Traum aufwachen. Hieß das etwa, daß etwas, daß sie bis dahin beherrscht hatte, nicht mehr wirksam war? Anthelia riskierte es, eine halbe Minute zu warten. Als sie sich sicher war, daß die Blutsauger gerade mit ihrem eigenen Schicksal befaßt waren und hörte, daß einige von ihnen daran dachten, wie sie gerade eben noch versucht hatten, der inneren Stimme einer Frau zu wiederstehen, wußte Anthelia, daß jemand den Bann gebrochen hatte, den der Mitternachtsdiamant ausgeübt hatte. Sie fühlte eine Mischung aus Euphorie und Verärgerung zugleich. Euphorie, weil jemand Nyx besiegt hatte und damit womöglich ihr und anderen einen großen Gefallen erwisen hatte. Verärgerung, weil nicht sie diejenige war, die dieses Verdienst für sich in Anspruch nehmen durfte. Dann gesellte sich noch die bange Frage in ihren Kopf, ob jemand den Mitternachtsdiamanten hatte an sich bringen können und nun die Vampire beherrschte? Womöglich war es noch eine der Abgrundstöchter ... Aber die hätte dann allen Vampiren der Welt wohl gleich den Befehl zu sterben erteilt. Der Einfluß des Steins Iaxathans war jedoch gänzlich verschwunden, als habe jemand ihn weit weg und außerhalb der Reichweite denkender Wesen verborgen. Oder hatte jemand ihn vielleicht sogar zerstört? Doch dann hätte derjenige womöglich sein eigenes Leben ausgehaucht. Wie dem auch war, sie, Anthelia/Naaneavargia, war gerade soeben einer Übermacht entkommen. Derart leichtfertig in eine solche Lage hineinzurennen sollte sie sich, wo sie ihr drittes Leben gerade so behalten hatte, nicht noch einmal wagen. Doch da waren immer noch fünfhundert Vampire, von denen vielleicht die meisten ihr und anderen Menschen noch zusetzen mochten. Hier und jetzt konnte sie dem Einhalt gebieten. Sie zückte ihren Zauberstab und schickte in jede Richtung Dämonsfeuer aus, bevor sie disapparierte. Sollten die österreichischen Ministerialzauberer sich damit herumschlagen, wer den Wald und das kleine Jagdschloß mit Dämonsfeuer zerstört hatte.

"Und du meinst, einen Schrei gehört zu haben, höchste Schwester?" Fragte Hulda Blaustrunk Anthelia. Diese nickte. "Es könnte Nyxes Todesschrei gewesen sein. Ich hoffe es zumindest."

"Dann hat irgendwer diese Kanallie erledigt? Kannst du das rauskriegen?"

"Das ist das erste, was ich machen werde, wenn ich in meinem Hauptquartier bin", versicherte Anthelia. Dann bedankte sie sich bei Hulda für den Hinweis auf das Schloß. Die dort gerade so noch erbeuteten Unterlagen würde sie erst in der Daggers-Villa lesen. Vielleicht brachen jetzt bessere Zeiten für sie und den Rest der Welt an.

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Anthelia wunderte sich, daß niemand in der Zeitung über einen Sieg über Nyx triumphierte. Das wäre für jedes Zaubereiministerium ein großer Erfolg. Doch als sie drei Tage nach dem Schloß der fünfhundert Vampire erfuhr, wie genau Nyx besiegt worden war erschauerte sie doch ein wenig. So ähnlich könnte man auch sie bezwingen. Flavius Partridge war bei seiner Ködermission zwar gestorben. Aber dafür hatte das LI und das Zaubereiministerium die übermächtig zu werden drohende Feindin überwältigen und den Mitternachtsdiamanten unschädlich machen können, ohne ihn zu zerstören. Das verlangte schon Anerkennung. Sie studierte die hastig eingesammelten Schriftstücke. Nyx hatte tatsächlich Dossiers über jeden der in diesem Schloß lebenden Vampire zusammengetragen und jedem eine Rolle zugewiesen, wie er oder sie bei der Expansion von Nocturnia vorzugehen hatte. Doch als sie las, daß hierzu auch die mit ihrem zu Giftpulver weiterverarbeitetem Blut mehrere Bergdörfer um Wien und München herum zu Vampirkolonien gemacht werden sollten, und das sie das Mittel gut verstaut habe, dachte Anthelia daran, welches große Verhängnis allen erspart geblieben war. Dann stutzte sie, weil sie etwas las, was ihre Euphorie dämpfte:

Ich bin mir der Gefahr bewußt, daß mir eines Tages jemand den Garaus machen könnte. Sollte dabei der Mitternachtsdiamant zerstört werden, so ist Nocturnia wohl gescheitert. Wenn er aber nicht zerstört wird, so haltet euch an meine Nachfolgerin. Sie wird euch in meinem Sinne weiterführen und mit euch Nocturnia auch ohne die Macht des Mitternachtsdiamanten errichten. Denn unsere Art ist zu erhaben, um als niederes Ungezifer oder geduldetes Übel zu gelten.

Meine Nachfolgerin wird sich euch mit meinem euch bekannten Losungssatz zu erkennen geben. Lebt bis dahin ruhig und unauffällig, meine Kinder!

Eure große, wohlwollende Mutter, Lady Nyx

"Du hast eine Nachfolgerin, du mieser Haufen Drachendung. Das was man bei mir vermutet hast du sichergestellt", dachte Anthelia. "Aber ohne den Stein seid ihr alle hilflos gegen Yanxothars Klinge."

Anthelia überlegte, ob sie das US-Zaubereiministerium informieren sollte, daß Nocturnia noch nicht ganz erledigt war. Sie dachte, daß die Ministerien sich erst einmal freuen sollten, daß sie eine Bedrohung beseitigt hatten. Sicher würden sie jetzt wieder verstärkt hinter dem Spinnenorden herjagen. Doch im Moment würden sie wohl arglos sein. Zeit, eigene Pläne vorzubereiten. Louisette hatte ihr geschrieben, daß alle die Apparierprüfung bestanden hatten. Würde sie, Anthelia, sich in einem Jahr an Laurentine wenden, um sie für ihre Sache zu werben? Doch bis dahin galt es noch, die verlorengegangenen Kräfte zu erneuern. Jetzt, wo Nyx aus dem Weg war, würde sie, Anthelia, sich darum kümmern, bei Lavinia die von Hyneria ererbte Schuld einzutreiben. Vielleicht wußte die ja, wo ihre zehn vermißten Schwestern abgeblieben waren.

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Es war schon ein seltsames Gefühl, unangenehm, ja schmerzhaft, und dennoch fühlte er sich dabei überglücklich, als erlebe er gerade etwas überragend angenehmes. Um ihn herum tobte das orangerote Zeug, in das seine neue Herrin und Geliebte ihn hineingezogen hatte. Er fühlte immer noch ihre Nähe. Doch ansonsten empfand er seinen Körper so, als würde dieser von glühenden und dann eiskalten Strömen durchzogen. Mal glaubte er, sich restlos auflösen zu müssen. Dann meinte er, im warmen Wasser dahinzutreiben. Um sich und in sich hineinflutend hörte er die Stimme seiner überragenden Geliebten beschwörende und dann beruhigend klingende Worte sagen. Dann hörte er Schreie aus allen richtungen. Sie klangen wie von einer Stimme, die als umgekehrtes Echo in seine Ohren drang und sich in ihm zu einem unerträglich lauten Schmerzenslaut bündelten. Er hörte sich mit seiner Stimme dagegen anschreien. Doch seine Stimme wurde leiser und leiser. Er sah vor sich Bilder vorbeirasen, hörte Satzfetzen verschiedener Stimmen. Er fühlte, wie die fremde Stimme ihm zusätzliche Qualen bereitete, hörte sich und die fremde Stimme wie ein neugeborener Säugling schreien und fühlte Todesangst, Wollust, Wut und Glückseligkeit einander abwechseln. Er sah riesige Menschen vor sich auftauchen, die ruckartig immer kleiner wurden. Er hörte sie lachen, schimpfen, jubeln und fluchen. Er sah um sich herum eine Gruppe von schwarzgekleideten Männern, die im Gleichschritt marschierten und erkannte einen Fahnenträger, der die Hakenkreuzflagge des nationalsozialistischen Deutschlands vor sich schwenkte. Er sah einen kleinen, schwarzhaarigen Mann mit Schnurrbart und erkannte diesen als Adolf Hitler, den Diktator und Anstifter zum Massenmord an Millionen von Menschen. Dann sah er die Straßen von Sevilla, Loli in aufreizender Bekleidung. Er spürte erst die Abscheu davor, sich dieser Frau zu nähern. Doch dann überwog die Begierde, vor seiner Abreise nach Südamerika noch eine leidenschaftliche Nacht zu verbringen. Er hoffte nur, daß die Hescher der Siegermächte ihm noch nicht auf der Spur waren. Doch hier, in Francos Reich, würde keiner ihn so leicht behelligen, bis er sich auf der "Dulcinea" nach Buenos Aires einschiffte. So genoß er die Leidenschaftliche Nähe. Doch diese wollte nicht nur unzüchtiges Beisammensein mit ihm. Sie ergriff ihn und trug ihn fort. Das letzte, was er noch mitbekam, war, daß sie ihn kopfüber in einen hell leuchtenden goldenen Krug warf und er in diesem orangeroten Etwas verging. Doch nun fühlte er seinen Körper wieder. Er hing in den Armen der überragenden Geliebten. Doch etwas war anders. Eben hieß er doch noch Karl von Ehrenfeld und war auf der Flucht vor den Alliierten, die ihn, einen Sturmbandführer der SS, vor dieses Tribunal in Nürnberg zerren wollten. Doch jetzt hieß er Claude Andrews und war englischer Anwalt. Wie war denn das jetzt möglich?

"Es hat geklappt, Claude. Du trägst nun sein Wissen und seinen Körper. Damit findet dich niemand. Du heißt ab heute Mario Lopez und bist der Enkelsohn von Karl von Ehrenfeld, einem Befehlsempfänger Heinrich Himmlers. Damit kann ich dich in die Welt zurückgeben, die dich verstoßen hat", sagte die Stimme Lolis, bevor sie ihn nach oben trug und über den Rand jenes goldenen Kruges kletterte, in dem sie mit ihn eingetaucht war. Sie lächelte ihn an. Er erkannte, daß sie ihm gerade eine neue Identität gegeben hatte. Er war Claude Andrews. Doch nun sollte er das Wissen und die Erscheinungsform eines alten Nazis benutzen, um unbehelligt in Südamerika weiterzuleben, immer zu Willen jener, die ihn gerade in diesem Krug gebadet und dabei verändert hatte. Er dachte daran, daß er die Nazis und ihre Gräueltaten verabscheute. Loli sah ihn an und sagte ihm: "Ich habe nur sein Gedächtnis in dich einfließen lassen. Seine Seele gehört mir schon seit dreiundvierzig Jahren und bleibt da, wo ich sie hingetan habe. Du wirst also nicht seine Gedanken und seine Ansichten übernehmen, und wenn, dann nur zum Schein. Denn was du denkst und bist bestimme nur ich, deine Herrin und Beschützerin."

"Wozu dieser Vorgang?" Fragte Claude Andrews und erschrak über die Stimme, mit der er sprach. Das war eindeutig nicht mehr seine eigene.

"In der ganzen Welt suchen sie nach Claude Andrews. Karl von Ehrenfeld gilt seit über vierzig Jahren als verschollen. Selbst die Kundschafter aus Israel konnten ihn nicht finden. Ich erinnerte mich, daß ich seine Lebensessenz noch nicht in mich aufgenommen hatte. In seiner Erscheinung und mit dem, was er weiß, kannst du dich dort aufhalten, wo auch andere leben, die nicht darauf ausgehen, verraten zu werden. Ich habe alles vorbereitet, daß du in der Nähe von Buenos Aires weiterleben kannst. Deine Mutter war die Tochter Karl von Ehrenfelds und starb vor zehn Jahren bei einem Verkehrsunfall. Du warst da noch bei einem Privatlehrer, der vom geraubten Vermögen getöteter Juden bezahlt worden ist. Du kommst gerade von einem vierjährigen Auslandsaufenthalt nach Hause."

"Ach neh, und als was arbeite ich?" Fragte Claude Andrews. Da erkannte er, daß Loli ihm den passenden Körper gegeben hatte. Denn Karl von Ehrenfeld hatte neben seiner Tätigkeit für die berüchtigte Schutzstaffel Adolf Hitlers auch als Experte für internationales Recht gearbeitet. Somit konnte er, der Enkel des Nazis, diesen Beruf auch erlernt und begonnen haben. Doch für derlei Sachen mußte es Unterlagen geben. Loli las wie üblich seine Gedanken und erwiderte darauf:

"Während du schliefst habe ich alle nötigen Dokumente herstellen lassen. Morgen bringe ich dich in dein neues Zuhause."

"Wartet da auch wer auf mich?" Fragte Claude, der wissen wollte, ob Mario Lopez verheiratet war.

"Nein, dort wartet keine andere Frau auf dich. Ich bin und bleibe deine Geliebte, die ab und an vorbeikommen wird. Denn ich habe dich nicht vor dieser Pestbeule mit dem Silberkreuz beschützt, um dich irgendwo abzulegen und nie mehr mit dir herrliche Stunden erleben zu wollen. Ruh dich noch etwas aus, bevor du dein neues Leben beginnst!" Sagte Loli. Er fühlte, wie diese Aufforderung seinen Körper förmlich ermüden ließ und schlief ein. Itoluhila, die viel riskiert hatte, um den mit unerweckten Zauberkräften angereicherten Mann nicht in ihrem Lebenskrug zerfließen zu lassen, sah auf den nun weizenblonden, hageren Mann mit den wolkengrauen Augen, in den sie ihn mit ihrer Magie verwandelt hatte. So würde ihn ihr niemand mehr streitig machen. Claude Andrews war schon seit seinem Verschwinden offiziell tot. Jetzt würde ihn niemand mehr als lebendig erkennen können. Es hatte funktioniert. Sie konnte ein noch nicht im Kampf verbrauchtes Leben, das noch in ihrem Krug schlummerte, einem von ihr abhängigen Mann einflößen und ihn in der Lebendurchmengenden Magie des Kruges körperlich verwandeln. Ilithula, ihre wache Schwester, hatte das auch einmal hinbekommen. Doch wen sie so für mehr als fünfzig Jahre hatte länger leben lassen, wußte die Tochter des schwarzen Wassers nicht. Auch war ihr das egal, solange sie diesen Vorgang wiederholen konnte. Mit diesem Gedanken wandte sie sich dem Lebenskrug zu, um selbst noch einige darin gelöste Lebensessenzen einzuverleiben. Denn sie rechnete damit, daß der Kampf gegen Nyxes Reich ohne Grenzen sie bald wieder auf den Plan rufen mochte.

ENDE

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