KAMPF DER UNGEHEUER

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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P R O L O G

Es geschehen viele unheimliche Dinge in der magischen Welt. Der dunkle Magier Voldemort ergreift über den unter Imperius stehenden Pius Thicknesse die Macht im britischen Zaubereiministerium. Seine Todesser besetzen wichtige Posten. Muggelstämmige werden öffentlich als Zauberkraftdiebe verdächtigt und von einer von Dolores Umbridge geführten Kommission in Schauprozessen zur Haft in Askaban verurteilt. Der junge Muggelstämmige Tim Abrahams entgeht der Verhaftung nur, weil seine heimliche Jugendliebe Galatea Barley ihre Mutter dazu bringt, ihn zu sich in das beschützte Anwesen Hühnergrund zu holen, wo Galatea und er verschüttet und nicht vorhanden geglaubte Gefühle füreinander wiederbeleben, bis sie einander als Eheleute annehmen wollen. Tim hilft mit, Muggelstämmigen aus Großbritannien und Irland die Flucht zu ermöglichen. Die Hogwarts-Schülerin Lea Drake, die einen magielosen Vater hat, überredet ihre Mutter und ihre Großtante, die Führerin der entschlossenen Hexenschwestern, ihr mit einem Unsichtbarkeitstrank die heimliche Rückkehr nach Hogwarts zu ermöglichen. Sie erlebt auf der Zugfahrt mit, wie alle Muggelstämmigen von Dementoren entführt und verschleppt werden. In Hogwarts selbst angekommen führt sie das Dasein eines Gespenstes und erlebt die Gräuel mit, die der neue Schulleiter Snape und seine den Todessern angehörigen Kumpane Amycus und Alecto Carrow ausüben, um die Schüler gefügig zu halten. Allerdings kann sie dort mithelfen, ihre vier Jahrgangskameraden Gloria Porter, Betty und Jenna Hollingsworth und Kevin Malone aus Hogwarts herauszubringen, weil Umbridge über diese vier versucht, Julius Andrews, den Ruster-Simonowsky-Zauberer, nach England zurückzulocken. Als sie in die Weihnachtsferien abreist, bekommt sie mit, wie auch noch Luna Lovegood, die Tochter eines hartnäckig aufbegehrenden Zeitschriftenherausgebers, auf offener Strecke entführt wird.

Voldemort hat die schlafenden Krieger aus dem alten Reich erweckt und auf die Menschheit losgelassen. Das wiederum veranlaßt Anthelia, die wiedergekehrte Nichte Sardonias, scheinbar unschuldige junge Mädchen mit befruchteten Bienenköniginnen zu neuen Entomanthropen-Brutmüttern zusammenzukreuzen, mit deren Brut sie gegen die Schlangenkrieger kämpfen will, die gegen jede Form von Magie und Gewalt immun sind, solange sie nicht vom Erdboden fortgerissen werden. Die Neuzüchtung der Entomanthropen bringt sowohl die geheime Sicherheitstruppe des US-Zaubereiministeriums als auch die Sprecherin der nordamerikanischen Nachtfraktionsschwestern gegen sie auf. Anthelia kann gerade noch verhindern, wie ihre Bundesschwester Donata einem Vernichtungsfluch der verärgerten Daianira Hemlock zum Opfer fällt. Diese will nun alle ihr untreu gewordenen Schwestern bestrafen und sucht nach weiteren Anhängerinnen Anthelias. Dabei treffen die beiden aufeinander und vereinbaren ein offenes Duell vor allen Mitschwestern Daianiras. Anthelia schafft es, Daianira an den Rand der Niederlage zu treiben. Doch als sie ihr zur Demütigung mit dem Infanticorpore-Fluch die Gestalt eines Neugeborenen anhexen will, entsteht zwischen ihr und ihrer Gegnerin ein schwarzer Spiegel, der den Fluch auf Anthelia zurückwirft und so sehr verstärkt, daß Anthelia selbst zur Ungeborenen zurückverjüngt wird, die wegen der Abgrenzung des Duellbereichs nur in Daianiras Leib Halt findet. Daianira und sie verwünschen diese dadurch entstandene Verbindung zwar, müssen jedoch wegen der Gefahr der Schlangenmenschen zusammenarbeiten. Doch ohne es zu wollen hat Anthelia bei der Neuzüchtung der Entomanthropen einen Fehler gemacht. Sie hat die Königin der aggressiven halb-afrikanischen Bienenart mit einer jugendlichen Kriminellen zusammengeflucht. Diese wacht aus dem Bann des Entomolithen auf, mit dem sonst alle Insektenkreaturen beherrscht werden und entwickelt ein mörderisches Eigenleben. Valery Saunders, so heißt die unbeabsichtigt entstandene Gegnerin der Menschheit, zieht zunächst mehrere Entomanthropen auf, bevor sie ihren ursprünglichen Plan angeht, sich an einem untreuen Liebhaber und dessen neuer Geliebten zu rächen. Dabei erkennt sie, daß sie, wenn sie Menschen mit magischen Kräften lebendig verschlingen kann, deren Magie in ihr verbleibt, während die so getöteten in neuen Entomanthropen wiedergeboren werden. Auch ihren Ex Milton, dessen Freundin marisa und deren skrupellose Tante Lolita wandern durch ihren Verdauungstrakt in ihre bereits befruchteten Eier. Sie greift die Grinders in Cloudy Canyon an und bedroht die Zaubererwelt. Die Hexe, die sie in das verwandelt hat, was sie ist, soll sich ihr stellen. Daianira, nun schon mehrere Wochen mit Anthelia schwanger, geht darauf ein und wird ebenfalls von Valery lebendig verschlungen. Doch der Gürtel der zwei Dutzend Leben, der durch Anthelias in ihr ruhendem Körper auch sie beschützt, bewahrt sie vor dem Verdauungstod. Sie kann sich befreien und einen Großteil von Valerys Brut vernichten, bevor diese mit der in ihr wirksamen Magie und mehreren Abkömmlingen disapparieren kann. Daianira weiß nun, daß sie eine gefährliche Gegnerin hat. Doch auch die Schlangenmenschen müssen weiter bekämpft werden. Außer Valery gibt es dann auch noch Nyx, die nach der Erbeutung des Mitternachtsdiamanten zur mächtigsten Vampirin der Welt geworden ist und sich irgendwo versteckt hält, um neue Kräfte und Gefolgsleute zu sammeln. Doch auch andernorts will jemand die Gunst der Stunde nutzen, um die eigene Macht zu vergrößern.

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Die Höhle war tief im Boden, ein alter, nicht mehr genutzter Bergwerksstollen irgendwo im kalten Herzen Sibiriens. Vollständige Dunkelheit herrschte hier, und es war frostig kalt. Doch Wasili Albow machten weder die totale Finsternis noch die eisigen Temperaturen was aus. Die über ihm ruhende Eisdecke hatte bizarre Stalaktiten ausgetrieben, die er trotz des fehlenden Lichtes so deutlich sehen konnte, als sei es heller Tag. Doch genau diesen mied Wasili. Denn die Sonne war sein Tod, und das aus ihrer im Holz gebundenen Kraft entzündete Feuer, wie auch der Lauf fließender Gewässer bedrohten sein Leben. Richtig nervös war Wasili nur, weil er in diesem alten Stollen auf jemanden warten sollte, der gleichsam gefährlich wie mächtig war.

Lautlos aber verstört schlich der über zwei Meter große, in einen groben Bärenfellumhang gehüllte Albow durch den Stollen, lauschend, schnüffelnd, wartend. Immer wieder ruckte seine Zunge aus dem Mund, streifte den einen ihm verbliebenen Fangzahn, der ihn ständig an einen schmachvollen Kampf gegen zwei halbe Riesen erinnerte. Heute empfand er es als unverzeihliche Dummheit, daß er dieses Weib, das ganz sicher einen Riesen zum Elternteil hatte, für sich vereinnahmen und ihr mächtiges Blut trinken wollte. Doch weil er das bei schlafenden Vollriesen schon häufig genug erreicht hatte, war er überheblich an dieses ausländische Geschöpf herangetreten und mit ihr und ihrem Begleiter, vielleicht ihrem Bruder, so heftig aneinander geraten, das die Schenke zum goldenen Adler fast zusammengebrochen war. Er schämte sich, unter seinesgleichen zu wandeln, seitdem er nur noch einen Fangzahn besaß. Er konnte nur noch gewöhnliche Menschen heimsuchen und wußte, daß er wohl so schnell keinen zweiten Zahn mehr bekommen würde. Denn sein Leben war nun zu sehr auf den Genuß von Riesenblut ausgelegt. Und ausgerechnet ihn wollte der blaue Blutfürst treffen? Sollte er sich geehrt oder bedroht fühlen? Er wußte, daß der unheimlichste Vampir des großen Reiches, daß sie beide noch als Zarenreich schätzen gelernt hatten, jede Zurückweisung grausam bestrafen würde. Also mußte er sich mit ihm treffen. Aber warum hier, in diesem alten Stollen, der von rotblütigen Wächtern beschützt wurde, als gäbe es hier etwas wertvolles zu holen? Albow entdeckte die massive Stahltür und schnalzte mit der Zunge. Das zurückgeworfene Echo verriet ihm, daß die Tür mindestens zehn Zentimeter dick war und eine große Kaverne versperrte. Sie besaß weder einen Spalt noch irgendeine Ritze. Sie war beinahe nahtlos in die massive Wand eingefügt worden. Dann stutzte Albow. Ein Widerschein stach ihm in die an die Dunkelheit gewöhnten Augen. Die Tür spiegelte matt ein bläuliches Licht. Blitzartig wirbelte Wasili herum und blickte durch den langen Stollen. Seine Augen schlossen sich reflexartig, weil sie mit der Kraft des Lichtes, das am Stollenende erschienen war nicht so rasch fertig wurden. Erst nach einigen Sekunden konnte Albow wieder genau hinsehen.

Erst war es ein flackernd blauer Schimmer wie ein Glühwürmchen. Dann wuchs das Leuchten an und formte ein Gesicht, ein Gesicht, das aus sich selbst heraus in diesem blauen Licht erstrahlte. Wasili sah die Narben und Schwellungen, die dieses Gesicht zur Fratze entstellten. Also war er wirklich erschienen, Wladimir Volakin, der blaue Blutfürst.

"Du bist also an diesen Menschen da draußen vorbeigeschlüpft. Hast du sie mit dem Blick der Unterwerfung gebannt?"

"Ich begrüße dich, o Fürst Wladimir", erwiderte Albow und fiel auf die Knie. Denn das erwartete der blaue Blutfürst von ihm. Der hagere, beinahe gerippeartige Fremde mit dem blau schimmernden Gesicht trat leise heran und lächelte, wobei er seine beiden messerscharfen Fangzähne entblöste. "Ich habe die Waffenträger da draußen gebannt, um ungestört mit Euch sprechen zu können. Ihr batet mich hierher in diesen Stollen.

"So ist es, Wasili", erwiderte der blaue Blutfürst. Er sprach Russisch mit ukrainischem Akzent. "Dieser Ort ist eine ware Quelle der Kraft", fügte er mit einer unverhohlenen Lust in der Stimme hinzu. "Die Tür da ist noch zu. Ich mach sie auf." Volakin zog einen Holzstab aus seinem im Streulicht seines Gesichts dunkelblau widerscheinenden Umhang und richtete ihn auf die massive Stahltür. "Alohomora!" Albow sprang zur Seite, als etwas unsichtbares an ihm vorbeischoß und die Tür berührte, die mit lautem Klacken aufsprang und sich leise quietschend in ihren Stollen hinein öffnete. Volakin lächelte breit und reckte seinen spindeldünnen Körper, so als wolle er sich einer wohltuenden Kraft hingeben, dem Vollmond oder dem Rausch des gestillten Blutdurstes. Albow fühlte etwas fremdes, das aus dem Raum hinter der Tür drang. Es war keine Magie. Eher etwas wie sehr schwaches, unsichtbar glühendes Feuer. Das war ihm unangenehm. Doch Volakin schien was auch immer zu genießen.

"Es ist schade, daß das Zeug in diesen widerlichen Fässern drin ist. Aber seine Kraft reicht schon aus, um mir richtig gut zu tun", freute sich Volakin. Der sah jedoch auch, daß Albow dieser unsichtbaren Kraft nicht so freudig ausgeliefert war. So sagte er schnell: "Ich hörte, du hast einen dieser Schlangenmenschen gesehen, Albow. Wo war das und was hast du über sie erfahren?"

"Es war an der Grenze vom erhabenen Reich", sagte Albow. Für ihn war das heutige Rußland immer noch ein erhabenes Reich, auch wenn seine Staatsform in den letzten achtzig Jahren zweimal gewechselt hatte. Was die Menschen trieben störte ihn nur, wenn sie meinten, mal wieder eine große Vampirtreibjagd veranstalten zu müssen. Doch dieses Ungeheuer, dieser Schlangenmensch, das war schon sehr bedrohlich gewesen. So erzählte er es Wladimir Volakin, was er über dieses Unwesen mitbekommen hatte. Er hatte sofort gespürt, daß es ihm überlegen war. Sein ganzer Körper war mit undurchdringlichen Schuppen bedeckt, und der Geruch dessen, was in den Adern der Kreatur strömte hatte Albow einen Übelkeitsanfall bereitet.

"Sie sind sehr alt, Albow. Sie sind alt und auch sehr mächtig. Wie wir zeugen sie ihre Nachkommen durch einen innigen Kuß. Allerdings sind sie uns überlegen, weil sie keiner Beeinflussung unterliegen. Ihre Augen können mehr ausrichten als unser Blick. Wenn dieser Zauberer aus Britannien, der gegen Bokanowski gekämpft hat, diese Brut entfesselt hat, dann bedroht sie uns alle. Denn er könnte größenwahnsinnig werden. Wir müssen ihn davon abhalten, diese Wesen in unser Land zu schicken. Das können wir aber nicht im offenen Kampf."

"Ich weiß, Arcadi, dieser Lump hat die Bemühungen von Fürst Lunarov vereitelt und ihn und seine dreizehn Getreuen töten lassen."

"Tja, und es gibt von den Vollmondlern genug, die ihm helfen werden, wenn diese Schlangenbrut in unser Reich einfällt", schnarrte Volakin. "Abgesehen davon habe ich das unschöne Gerücht gehört, daß jemand sich den Mitternachtsdiamanten von den Dserschinskis geholt und mitgenommen hat. Was weißt du davon?"

"Überhaupt nichts", erschrak Albow. Jemand hatte den mächtigsten Stein der Nachtwelt mitgenommen? Das hieß, daß er oder sie damit seine Artgenossen beherrschen konnte.

"So, davon weißt du nichts. Ihr habt überhaupt keine Ahnung, wer diesen Stein hat? Stümper!" Spie Volakin dem einzähnigen Vampir entgegen, der sich straffte. Volakin hatte ihn als Stümper bezeichnet? Er vergaß, was dem blauen Blutfürsten nachgesagt wurde und setzte zum sprung an. Doch Volakin erspürte den Angriff früh genug und riß die linke Hand hoch. Prasselnd entluden sich blaßblaue Lichtblitze daraus und fuhren in Albows Körper. Er meinte unvermittelt, lichterloh zu brennen und schrie laut. Er verfehlte seinen Sprung und schlug einen Meter neben Volakin auf, dessen Blitzgewitter aus der leeren Hand immer noch auf Wasili eintrommelte. Rauch quoll aus dem Umhang, und das blasse Gesicht des Vampirs bekam erste Brandblasen. Volakin schnaubte:

"Mußtest du es wirklich erst lernen, daß ich euch Nachtgebundenen überlegen bin?" Er senkte die Hand wieder. Das blaue Blitzgewitter erstarb unverzüglich. Ein unangenehmer Gestank von verbranntem Haar und einer merkwürdigen Mixtur, die bei freien Überschlägen in die Luft gelangte, hing über Wasili Albow.

"Ich gewähre dir Gnade und dein verkümmertes Dasein, Albow, wenn du mir bedingungslose Unterwerfung bekundest und mir hilfst, diese Brut aus unserem Land fernzuhalten. Ich werde diesem Engländer eine Zusammenarbeit anbieten, die damit verbunden ist, daß uns das russische Reich gehört und er den Rest Europas haben kann, wenn er uns seine Kreaturen vom Leib hält, aber dafür alle die Feinde sterben, die er hier hat."

"Ich gelobe euch meine Treue, Fürst Wladimir", keuchte Wasili. Die grausame Macht, mit der Volakin ihn gezüchtigt hatte, war ihm mehr als eine überdeutliche Warnung, diesem blaugesichtigen Wesen da nie wieder feindlich zu begegnen. Er kroch vor Volakin, der ihm den rechten Fuß ins Genick setzte und mit befehlsgewohnter Stimme forderte:

"Dann zieh hinaus und finde die, die bei Neumond zu unserer Art wurden! Verkünde ihnen, daß sie nun mir allein dienen sollen. Verweigern sie sich mir, wird meine Garde sie an ihren Ruhestätten aufsuchen und sie in das Licht der Sonne werfen. Außerdem will ich wissen, wer den Mitternachtsdiamanten hat."

"Herr, wir können ihm nichts entgegensetzen", stöhnte Albow, der immer noch unter dem Fuß des blauen Blutfürsten lag. "Wir würden der Macht erliegen, sobald wir uns vorwagten."

"Das wird sich erweisen, wenn ich weiß, wer diesen Stein hat."

"Herr, niemand von uns darf den Stein an sich nehmen, solange er im Besitz eines Kindes der Nacht ist", wimmerte Albow.

"Eben deshalb will ich das wissen, ob einer von deinen die Sonne fürchtenden Artgenossen ihn hat. Falls dieser englische Magier ihn hat, so will ich das wissen, ehe ich mit ihm unterhandele."

"Ja, Herr, ich werde meine Gefährten fragen. Aber warum wollt ihr mich dafür aussenden?"

"Weil du von denen der stärkste und gefährlichste bist, der diesseits der Landesgrenze herumläuft", lachte Volakin. "Ich bleibe mit meiner Garde solange verborgen, bis ich weiß, daß ich von keinem von euch hinterrücks angegriffen werde."

"Und wenn der dunkle Lord den Stein hat?"

"Dürfen wir ihm diesen wegnehmen, was meine Verhandlungsposition deutlich verbessern würde", lachte Volakin. "Ich werde zumindest nicht zusehen, wie ein Rotblüter, der durch mir unbekannte Zauber sein Äußeres verändert hat, die Kinder der Nacht zu niederen Sklaven macht und sie womöglich mit dieser Schlangenbrut aus alter Zeit ausrottet. Wenn jemand von unserer Art den Stein hat, dann muß ich mit diesem Jemand verhandeln und hoffen, daß der Stein mich nicht unterwirft."

"Auch Ihr seid nicht übermächtig", jammerte Albow und fing sich dafür einen einzigen dieser blauen Blitze ein, der ihn schmerzhaft schreiend zusammenfahren ließ.

"Du hast mir gerade bedingungslosen Gehorsam gelobt. Gehorsam heißt auch, keine anmaßenden Worte zu sagen, Wasili", schnarrte Volakin. "Ich bin mächtiger als ihr. Die Sonne kann mir nichts antun. Das Feuer ist für mich keine Gefahr mehr, und mein Blut ist pures Gift für dich und all die anderen, die beim Sonnenaufgang in ihren Verstecken sein müssen. Also zieh los und führe meinen Auftrag aus, wie es sich für meinen Herold und nächtlichen Majodomus gehört!"

"Sehr wohl, Fürst Wladimir, mein Herr und Meister", heuchelte Wasili größte Unterwürfigkeit. Doch in ihm brodelte der Zorn. Wladimir Volakin hatte ihn zu seinem Knecht gemacht und wollte nun, nachdem er die halbe Vampirwelt unterworfen hatte, auch den Rest unterwerfen. Doch er mußte losziehen, sich schmachvoll den Anweisungen fügen. So stand er auf, als Volakin seinen Fuß fortgenommen hatte und eilte aus dem Stollen. Die unheimliche Kraft, die wie schwach glimmendes, unsichtbares Feuer auf ihm lastete, trieb ihn zur Eile an. Volakin sah ihm nach, wie er sich davonmachte, bevor er in die geöffnete Kaverne hinüberging, in der in mächtigen Betonblöcken massive Stahlfässer eingeschlossen waren. Dem, was da drin war verdankte er seine Macht. Doch er hatte für diese Macht große Schmerzen erlitten und wußte auch, daß er immer wieder diese Kraftquelle aufsuchen mußte, um nicht vor unstillbarem Verlangen nach ihr zu leiden. Er würde bald wieder in seine Heimat zurückkehren müssen, wo er ihm genehme Nahrung finden würde. Doch er dachte an den Mitternachtsdiamanten. Die Dserschinskis hatten ihn über ein halbes Jahrhundert gehütet. Würde die ihm innewohnende Macht ihn heute immer noch beherrschen? Das würde er nur erfahren, wenn er wußte, was an den Gerüchten dran war, daß jemand den mächtigen Stein aus alter Zeit erbeutet hatte.

Einige Zeit ruhte sich Volakin auf einem der massiven Betonkörper aus, ließ sich von der unsichtbaren Kraft durchdringen, die Albow sichtlich unangenehm gewesen war. Dann verließ er den Stollen und schloß die Tür mit Hilfe seines Zauberstabes. Er war froh, daß er seine alte Magie zurückgewonnen hatte. Das würde ihm gegen den dunklen Lord sicher sehr gute Dienste erweisen. Er verließ den Stollen und flog als schwach bläulich flimmernde Fledermaus den hohen Schacht hinauf, vorbei an den Zwischenluken, die Albow wohl schon geöffnet hatte und stieß hinaus in die Nacht. Er betrachtete die schlafenden Wächter. Sollte er sich an einem von denen laben, um den Blutdurst niedrig zu halten? Oder sollte er warten, bis er wieder an Menschen geriet, die das ihm am besten schmeckende Blut enthielten? Er entschied sich, die Luken zu schließen und die Wächter mit dem Wort der Erweckung wachzumachen, bevor er disapparierte.

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Whitesand Valley lag unter einer weißen, weichen, klirrendkalten Schneedecke, die alle Geräusche bis zur beinahen Unhörbarkeit verschluckte. Die Bäume trugen weiße Mützen aus gefallenen Flocken, und ein beißendkalter Winterwind brauste in ungestümen Böen durch das verschwiegene, von mehreren aufgespannten Schutz- und Verhüllungszaubern abgeschirmte Tal. Melanie Leeland, eine hier auf unbestimmbare Zeit wohnende Schülerin aus der Welt ohne Zauberkraft, saß in ihrem neuen rosarot möbliertem und gestrichenem Zimmerund schrieb in das Tagebuch, von dem jeder der anderen Bewohner von Whitesand Valley von Patience Moonriver eine Ausgabe geschenkt bekommen hatte.

20. Dezember 1997

Ich ärgere mich. heute habe ich Mum und Onkel Ryan in dem Bett erwischt, in dem sie bisher nur so geschlafen hat. Mike und ich fanden das unverschämt, und Tante Hortensia hat Onkel Ryan vorwurfsvoll angeguckt, weil der so kurz nach Tante Claudias und Dads Tod schon meinte, was neues anfangen zu müssen. Ich wollte deshalb ein eigenes Zimmer oder irgendwie aus dem Haus raus. Mike wollte auch eine eigene Bude wie zu Hause. Madam Whitesand hat ganz cool gesagt, daß es wohl besser sei, daß Mum mit dieser doch sehr peinlichen Sache richtig fertig werden und wir zwei eigene Zimmer kriegen sollten. Mike schläft jetzt unter dem Dach in einem Zimmer, daß Madam Whitesands Sohn Ulysses gehört hat, der zur Zeit in Kanada lebt. Ich bin jetzt in einem Zimmer wie für eine Barbie-Puppe. Hoffentlich kriege ich deshalb keine überlangen Beine oder Riesenbrüste wie die. Sincerity hat die geheißen, deren Zimmer das mal war. Julius hat hier geschlafen, als er noch bei uns war. Mum will wohl, daß ich mich bei ihr entschuldige, weil ich sie eine heuchlerische Hure genannt habe. Aber wer das so schnell vergißt, wen sie geliebt hat und sich einen anderen ins Bett holt, der gerade selbst die Frau verloren hat, mir und Mike aber immer wieder einzureden versucht, wir sollten uns nicht auf irgendwelche Sachen hier einlassen, kriegt von mir keine andere Antwort um die verlogene Birne gehauen. Mann! Wieso hat die das gemacht? Ich habe immer gedacht, Mum hätte Dad geliebt. Mike tut gelassen, als wenn den das nicht interessiert. Aber ich weiß, daß der das nur nicht rausbrüllen will, um sich vor dem Dummschwätzer Chester Powder nicht zum Idioten zu machen.

Ich habe jetzt dieses Barbie-Zimmer und ein paar Bücher, wo keine Zaubersprüche, aber die Geschichten von jungen Hexen drinstehen. Früher hätte ich sowas als Kindermärchen abgetan. Aber jetzt weiß ich ja, daß es echte Hexen und Zauberer gibt. Vielleicht hat Mum deshalb ihren Frust weggevögelt, daß all der Kram, den sie früher gelernt hat, nur halbes Zeug war. Der Winter da draußen macht uns alle kirre, weil wir nicht mehr richtig rausgehen und uns dadurch richtig auf die Nerven gehen.

Bis morgen!

Sophia Whitesand füllte gerade eine weitere Erinnerung in ihr Denkarium. Heute hatte sie noch einmal mit Ceridwen Barley gesprochen und sich einen Bericht Proserpinas von Lea angehört. Sie dachte daran, daß die beiden Leelands sehr niedergeschlagen waren. Sicher hätte sie als Hausherrin jede Liebelei unter ihrem Dach verbieten können. Doch erwachsenen Leuten zu sagen, wovon sie die Finger oder andere Körperteile lassen sollten widerstrebte ihr. Sie wußte jetzt aber, daß sie damit eine besondere Verantwortung für die Jugendlichen übernommen hatte. Pina und Olivia hatten ihren Onkel sehr verstört angesehen. Melanie war regelrecht explodiert. Mike hatte seinen Unmut in verächtlichen Blicken ausgedrückt, aber wohl wegen des vorlauten Jungen Chester und vor allem wegen Patience und Prudence zurückgehalten, was er wirklich dachte. Er könnte durchaus irgendwann handgreiflich werden, weil seine Mutter ihn und Melanie mit dem eigenen Schwippschwager als Liebhaber konfrontiert hatte. Hinzu kam noch, daß Lynn in den letzten Tagen sehr auffällig nervös und verdrossen war. Sie hatte ihr angeboten, daß Patience sie mal gründlich untersuchte. Doch sie wollte das nicht. Das alles schwamm nun in ihrem Denkarium.

"Vielleicht wäre es doch besser gewesen, die Muggel in Tiefschlaf zu versetzen", dachte sie. Doch das konnte sie wohl immer noch tun, wenn die Stimmung hier zu dem ausartete, was Hortensia ihr gegenüber mal als Bunkerkoller beschrieben hatte. Im Grunde ärgerte sie sich ja selbst, nur zwischen hier und der Versammlungshöhle apparieren zu dürfen. Wie gerne würde sie mit ihren Bekannten und den Mitschwestern Weihnachten verbringen. Sicher, sie freute sich, daß sie wieder viel Leben im Haus hatte. Aber der Kontakt zu den anderen war im Moment verloren. Das einzige, was Whitesand Valley mit der Außenwelt verband war das kleine Teleportal, durch das sie frische Lebensmittel bezog und bezahlte. Sie ärgerte sich, daß dieser Emporkömmling, dieser eigentlich armselige, selbstzerstörerische Unhold Tom Riddle, sie und viele andere Unschuldige dazu zwang, sich zu verstecken oder davonzulaufen. Sie fragte sich, wo der bedauernswerte Jüngling Harry Potter gerade war. Wenn stimmte, was sie erfahren hatte, war der nicht einfach auf der Flucht, sondern führte einen geheimen Auftrag ihres seligen Vetters Albus aus. Sie ahnte, worin dieser Auftrag bestand und ärgerte sich darüber, daß Albus sie nie in die Einzelheiten von Riddles Machenschaften eingeweiht hatte. Denn ihr war klar, daß der überragende, selbst an einem schweren Trauma leidende Erzmagier viel mehr über Tom Riddle gewußt hatte, als der Rest der Zaubererwelt nur ahnte. Und sein Mörder hockte jetzt auf dem goldenen Stuhl in Hogwarts, triumphierend, weil er seinem wahren Herrn und Meister einen unschätzbaren Dienst erwiesen hatte. Sophia hatte nie aus ihrem Vetter herausholen können, warum dieser Snape so uneingeschränkt vertraute, ihm in letzter Konsequenz sogar sein Leben opferte. Ihr blieb nur das heimliche Auskundschaften und Hilfe. Die Genugtuung, die sie erfüllt hatte, als es ihr möglich war, vier Mitschüler von Julius Latierre aus Hogwarts zu retten, entschädigte sie nur zum Teil. Doch sie hatte die Flucht der vier als eine der Siegesmomente ihres Lebens im Denkarium verstaut. Sollte es eines Tages doch gelingen, diesen Größenwahnsinnigen zu stoppen und seine Verbrecherbande unschädlich zu machen, würde sie diese Erinnerung sehr gerne noch einmal nacherleben.

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Die Weihnachtstage kamen und gingen. Mike Leeland hatte seiner Mutter zwar fröhliche Feiertage gewünscht, aber den Grimm über ihre Scheinheiligkeit nicht vergessen. So schrieb er am siebenundzwanzigsten Dezember in sein Tagebuch:

Es wird langsam fies hier. Ich schiebe tierischen Bammel, weil ich nicht weiß, wie ich das hinkriegen soll, Prudence zu sagen, daß sie ein echt nettes Mädchen ist. Diese Hohlbirne Chester meint zwar, ich sei hinter den Megamöpsen von Patience Moonriver her und sülzt immer rum, daß die eh zu alt für mich sei und ich da nur drankäme, wenn ich mich von der weißblonden Lady zum Hosenscheißer zurückschrumpfen ließe. Aber wenn ich Prudence weiter so hinterherglotze, ohne abzuklären, ob da mit der was geht, kriegt diese halbe Hose das auch noch raus und quatscht die dann vielleicht wegen mir blöd an. Wieso stehe ich auf diese junge Hexe, die doch eigentlich zu alt für mich sein sollte. Fang ich jetzt an, mit dem Piephahn zu denken wie Onkel Ryan? Das hatte ich eigentlich nie vor, verdammt! Aber wenn's nicht ums Rammeln geht, was will ich dann von Prudence, was ich von Patience nicht will? Hoffentlich sind diese Tagebücher wirklich so, daß außer uns keiner lesen kann, was da reingeschrieben wird. Wenn Mel oder diese Heuchlerin, aus der ich mal rausgeschoben worden bin das hier liest, oha!

Was ist heute eigentlich sonst noch irgendwie interessantes passiert? Das Mädel aus Kalifornien hat ihrem Verlobten Zoff gemacht, weil der wohl ihren Namen verwechselt und die "Aurora" genannt hat, als sie morgens aufstanden. Offenbar hängt Onkel Ryans alter Eton-Kamerad immer noch einer alten Flamme nach, und Lynn hat das in den falschen Hals gekriegt. Die ist in den letzten Tagen überhaupt so komisch drauf. Jedenfalls pennt Bill jetzt in Onkel Ryans Zimmer. Der spielt wohl gerne den Bettwärmer von Mum. Die weißblonde Hexenlady soll das rauskriegen, was bei den beiden gerade schräghängt.

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Der Raum war gerade fünf mal fünf Meter groß. Die Wände und der Boden waren mit dunklen Daunendecken ausgekleidet. Durch ein siebartig versperrtes Loch in der Decke strömte frische Luft ein. Eine kleine, dunkelrot leuchtende Kristallsphäre hing unter der Decke. Sie glomm andauernd. So hatten die beiden Insassen dieses mit dicken Daunendecken ausgekleideten Kerkers jedes Gefühl für die vergehende Zeit so gut wie verloren. Die massive, mit magisch gehärteten Stahlblechen beschlagene Eichenholztür ohne Türgriff war der einzige Zugang zu diesem Kerker. vom hinteren Teil der knapp vier Meter über ihnen gelegenen Decke baumelte an zwei Ketten ein wuchtiger Behälter mit Deckel, eine magische, wasserlos arbeitende Toilette, die das, was in ihr landete, geruchlos einschloß und bei Schließen des Deckels verschwinden ließ. In unregelmäßigen Abständen klappte eine kleine Luke in der Tür auf, durch die ein Tablett mit Obst, Trockenfleisch und Wasserkrügen geschoben wurde. Die beiden Insassen hatten immer nur diesen einen leicht verwahrlost aussehenden Mann mit dem grauen Haarkranz gesehen, der ihnen das Essen brachte. Auf die Frage, wo sie seien und warum man sie gefangenhielt hatte er nur "Weiß ich nicht, soll nur Essen reinbringen", geantwortet. Zumindest wußten sie, daß er Dorian hieß, Dorian Sannom (namenlos). Er sprach ein merkwürdig verfremdetes, aber doch noch verständliches Französisch. Von seiner Kleidung konnten die beiden Gefangenen immer nur den Kragen eines bleigrauen Hemdes sehen, der eine merkwürdige, bläulich-grüne Zeichnung verbarg, die um den Hals des Kerkermeisters verlief.

Die beiden Gefangenen hatten zunächst einen Hungerstreik versucht. Doch irgendwie war das Essen wohl mit einem Appetitverstärkungszauber belegt worden, und so hatten sie die ihnen gnädig hereingereichten Speisen angenommen. Die Krüge und das Tablett verschwanden unvermittelt, wenn kein Krümel mehr darauf und kein Tropfen Wasser mehr auf dem Grund war. "Die wollen uns nicht umbringen. Die brauchen uns lebend", sagte Armand Grandchapeau, als wieder einmal das Tablett verschwunden war.

"Dann sind's keine von ihm, Armand. Die hätten uns längst mit irgendwas belegt oder umgebracht."

"Irgendwer, der mit mir nicht mehr einverstanden war, Nathalie", knurrte Armand Grandchapeau. "Aber jemand, der mich nicht mal eben so umbringen kann. Die wissen bestimmt, daß unsere Verbindung zu Belle noch besteht, falls dieser Kerker nicht nur Mentiloquismus und Rufen vereitelt, sondern auch Verbindungszauber unterbricht."

"Warum heißt dieser Kerl Sannom, Armand. Der sieht echt so aus, als würde man ihm immer wieder übel mitspielen oder wie uns gefangenhalten", flüsterte Nathalie Grandchapeau.

"Vielleicht ein Ausgestoßener, jemand, der dazu verdammt wurde, nur noch niederste Arbeiten zu verrichten, ohne mit den anderen zusammenleben zu dürfen. Sowas wie ein Unberührbarer bei den Hindus."

"Oder ein geächteter oder Aussätziger", unkte Nathalie. "Ich traue mich nie, den zu fragen. Könnte sein, daß dieses Mal oder diese Tätowierung ein Fügsamkeitszauber ist, der ihn wie ein eingebranntes Halsband an einer magischen Führleine hält."

"Womöglich warten die da draußen darauf, daß wir die Nerven verlieren und durchdrehen. Deshalb wohl auch diese Daunendecken an den Wänden und auf dem Boden", knurrte Armand. Er hatte es mehrmals versucht, durch die Decken hindurchzuschlagen. Doch sie hatten jeden Hieb schmerzlos abgefangen. Wenn die Tür geschlossen war, stand zwischen ihnen und ihr ein Polsterungszauber, der wuchtige Tritte oder Schläge schluckte, bevor diese die Tür erschüttern konnten. Immerhin durften sie zusammensein. Aus irgendeiner Laune heraus hatten sie diese beengte Unterbringung sogar schon ausgenutzt, um sich so nahe zu kommen, wie Liebende dies tun konnten. Doch der Eindruck, vielleicht beobachtet zu werden hatte sie davon abgebracht, ihre Gefangenschaft durch leidenschaftliche Vereinigungen erträglicher zu machen. Sie waren eingesperrt, Gefangene einer fremden Macht, der sie auf Gedeih und Verderb ausgeliefert waren. Sie wollten da nicht wie Kaninchen im Käfig oder Vieh auf dem Schlachthof die Angst austreiben. Nur wenn sie wußten, was um sie geschah, würden sie diesen stillen Terror überstehen.

Wieder klappte die Luke in der Tür auf. Doch das Tablett war doch gerade mit dem Holzteller und den einfachen Holzkrügen verschwunden. Armand Grandchapeau blickte in die rechteckige Öffnung, die sich mehr als einen Meter über dem mit Daunendecken gepolsterten Boden auftat. Diesmal war es nicht der ältere Mann mit der Halsverzierung, sondern eine Frau mit pechschwarzem Haarschopf. Das hinter ihr glimmende Licht von mehreren Kerzen badete ihr Gesicht in einen goldenen Schimmer. Sie trug wohl ein Kleid oder einen Umhang mit berüschtem Kragen, fand Nathalie Grandchapeau. Sie wirkte irgendwie so, als sei sie auf der Hut vor irgendwem oder irgendwas. Dann sagte sie ganz leise: "Monsieur Grandchapeau, ich muß mit Ihnen sprechen."

"jetzt schon?" Fragte der männliche Gefangene verächtlich. Er wollte um keinen Preis eingeschüchtert oder erleichtert wirken.

"Sie wissen wohl nicht, daß Sie nur deshalb noch leben, weil wir Ihre Kenntnisse brauchen, um in Frankreich die reine Ordnung wiederherzustellen", schnarrte die Unbekannte. "Deshalb dürfen Sie die Nähe Ihrer Gattin genießen, bekommen genug zu Essen und werden sonst nicht behelligt. Aber es läuft nicht so, wie wir gehofft haben. Ich muß mit Ihnen sprechen."

"Wenn Sie die Luke aufbekommen haben Sie auch einen Schlüssel oder das Passwort für das Zauberschloß. Kommen Sie rein!" Erwiderte Armand Grandchapeau immer noch verächtlich. Die Fremde hatte ihm mal eben verraten, daß sie ihn noch brauchten. Da konnte er sich mehr herausnehmen, als wenn jedes Wort sein letztes sein mochte. Um seine Frau hatte er keine Angst. Auch sie verfügte über Kenntnisse, die zu wichtig waren, um sie zu foltern oder zu töten. Belle war in Millemerveilles und würde sich ganz bestimmt nicht mehr herauswagen, wo ihre Eltern gefangengenommen worden waren.

"Nur wenn Sie mir zusichern, daß Sie mich nicht niederschlagen und zu fliehen versuchen. Ich riskiere auch so schon mehr als meine Gesundheit", schnarrte die Fremde. Grandchapeau nahm diese Antwort mit einer gefühllosen Miene hin. Derartige Tricks kannte er schließlich auch, jemandem vorzugaukeln, ein Bundesgenosse zu sein, um brisante Informationen zu entlocken. Die da draußen sollte nicht glauben, daß er sich auf derartige Spielchen einließ. Und seine Frau hielt sich zurück, um sich nicht als Ziel solcher psychologischer Manöver anzubieten.

"Denken Sie, ich wüßte nicht, daß wir hier drin beobachtet werden", sagte Armand Grandchapeau. "Womöglich warten Ihre Kumpane darauf, daß wir durchdrehen oder vor lauter Langeweile übereinander herfallen, nicht um der Liebe sondern der Frustration willen. Das geht doch schon los, daß uns niemand zeigen oder sagen möchte, wie viel Zeit vergangen ist."

"Ich kann hier nicht lange vor der Tür stehen. Ich werde gleich noch bei der Reintration eines Ratsmitgliedes erwartet. Ich möchte nur fünf Minuten von Ihrer Zeit haben. Achso, heute schreiben wir den dreißigsten Dezember neunzehnhundertsiebenundneunzig. Weihnachten war vor fünf Tagen. Im Moment ist es halb sieben abends mitteleuropäischer Zeit. Reden wir nun miteinander?"

"Ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich Sie nicht angreife", versprach der Gefangene und dachte, daß ohne Zauberstab wohl auch keine große Chance bestand. Da ging die Luke zu. Mehrere schwere Riegel rasselten zurück. Dann ging die Tür auf. Armand Grandchapeau sah die mit einem einsatzbereiten Zauberstab bewaffnete Fremde, die ein wohl grünes Kleid trug und wich zurück, weil aus dem Stab silberne Funken sprühten und sich zwischen ihr und den Gefangenen zu einer netzartigen Barriere formten. Dann war die Fremde im Kerker und zog die Tür zu. Sie winkte der massiven Tür, so daß die Riegel wieder rasselnd schlossen. Dann löste sich das silberne Netz aus magischer Energie wieder auf.

"Mein Name ist Syrinx Chaudchamp, Herr Zaubereiminister", sagte die Gefängnisbesucherin, als sie sich an den wolkenweichen Bodenbelag gewöhnt hatte. "Ich gehöre zum mittleren Ring, der zweithöchsten Verwaltungsgruppe meines Landes und bin als eine der wenigen außerhalb des Oktagons mit allem vertraut, was geschieht. Es läuft aber einiges nicht so, wie das Oktagon es geplant hat."

"Wo sind wir?" Fragte Grandchapeau. Syrinx oder wie sie hieß verzog das Gesicht. Dann sagte der Gefangene übergangslos: "Also doch, die Elfenbeininsel. Kein Todesser und keiner meiner inländischen Gegner hätte uns so lange im ungewissen gehalten, was mit uns geschehen soll." Syrinx schnaufte einmal. Dann nickte sie schwerfällig. "Also sagen Sie mir und meiner Gattin jetzt bitte, was Sie dazu treibt, uns zu besuchen und dabei zu riskieren, daß wir flüchten oder Sie töten!"

"Der Umstand, daß mehrere angeblich so sichere Dinge nun höchst unwahrscheinlich geworden sind", grummelte Syrinx Chaudchamp. "Es galt, die Gefahr durch den Halbblüter, der sich meint, zum Streiter der edlen Reinblütigkeit erheben zu müssen, von unserem Geburtsland fernzuhalten. Sie hätten durch die Politik des Abwartens nur eine innere Zerstrittenheit gefördert, die zu einer Schwächung des Landes geführt und eine offene Rebellion der von diesem hauptsächlich bedrohten entfacht, die dann alles, was Reinblütigkeit ehrt für feindlich erachtet und bekämpft hätte. Dieser Gefahr galt es, den Boden zu entziehen und einen einhelligenWiderstand gegen die Bedrohung von Großbritannien zu stärken. Leider vermochte Ihr Nachfolger nicht, einen solchen einhelligen Widerstand aufzubauen. Er scheiterte daran, daß er selbst mehr Unruhe stiftete und daran, daß seine Pläne vor der Ausführung verraten wurden, so daß alle die, die Ihnen noch Gefolgschaft verhießen, in den schwarzen Schoß der alten Mörderin flüchten konnten, von wo aus sie die Lage noch mehr destabilisierten. Dann tauchten noch dazu die geflügelten Untiere dieser alten Mörderin wieder auf. Als wenn dies nicht schon ausgereicht hätte erfuhr der Achterrat auch noch, daß der Halbblütige Massenmörder aus England es gewagt hat, die scheinbar nur im Dämonenreich fernöstlicher Sagen existierenden Schlangenkrieger aus der Vorzeit zu erwecken und sie gegen alle loszulassen, die er bekämpfen will. Um unser Geburtsland wieder dieses Ungeziefer zu verteidigen entsandte der Achterrat die wendigen Streiter, unsere Jagddrachen. Doch anstatt uns dafür zu danken, daß wir die unwillkommene Brut zweier Unholde ausrotten wollen, werden unsere Drachen bekämpft, und der Widerstand gegen Ihren Nachfolger bezieht daraus neue Überzeugungskraft. Anstatt das Land unserer alten Wurzeln für unsere Weisheit zu öffnen, verschließt sich dieses nun immer weiter, und unsere Jagddrachen werden vernichtet, bevor sie die anderen Ungeheuer töten können."

"Das kommt davon, wenn man sich anmaßt, ein ganzes Volk mit einer fehlgeleiteten Idee zu unterwerfen", schnarrte Grandchapeau. Er wollte nicht zu erkennen geben, ob er diese Aussagen glaubte oder für Lügen hielt. Dann fragte er mit einem künstlich überlegen wirkenden Lächeln, wer denn sein Nachfolger sei und erfuhr, daß Janus Didier dieser Nachfolger war. Nathalie Grandchapeau mußte hinter vorgehaltener Hand grinsen.

"Och, daß er eine Notfallverordnung zur Einberufung aller wehrfähigen Zauberer durchdrücken wollte wußten wir doch schon, bevor Ihre Leute meinten, mit Gewalt in meine Amtsführung eingreifen zu müssen. Was soll an diesem Plan noch so brisantes im Vorfeld verraten worden sein?"

"Der Umstand, daß jeder Widerstand gebrochen werden sollte und die Maßnahmen dazu früh genug ausgeplaudert wurden, um die Opponenten in Sicherheit zu bringen."

"Ach, und jetzt sind die alle in Millemerveilles, oder was meinen Sie mit dem schwarzen Schoß der alten Mörderin?"

"Genau, dort", grummelte Syrinx oder wie sie hieß. "Und Didier hat wohl seine verbliebene Gefolgschaft mit dem Unterwerfungsfluch dazu gezwungen, diesem Hort alter Grausamkeiten fernzubleiben. Und irgendwie hat jemand einen Weg gefunden, unsere Jagddrachen zu vernichten, so daß wir bald keine Möglichkeit mehr haben, den Halbblüter aus England am Vorstoß auf das Festland zu hindern, weil unsere Drachen keine im Meer gelegenen Inseln anfliegen."

"Ach, dürfen die das nicht oder können die das nicht?" Fragte Armand Grandchapeau.

"Sie können nicht, eine Sicherheitsvorkehrung, um sie nicht zum Angriff auf uns selbst verleiten zu können oder sie zum Instrument aufbegehrender Landsleute zu machen. Aber jetzt zu dem Grund, weshalb ich Sie aufsuchte. Ich fürchte, daß die ältesten des Oktagons sich durchsetzen können, im Namen der Reinblütigkeit einen Pakt mit ihm, diesem sogenannten Lord Voldemort, einzugehen und damit unsere Prinzipien der reinen Reinblütigkeit zu verraten. Eine derartige Vereinbarung könnte diesen Massenmörder auch dazu verleiten, uns selbst mit diesen alten Kriegern anzugreifen, sofern diese nicht restlos von unseren Jagddrachen ausgerottet werden. Wir brauchen einen geordneten Widerstand in Frankreich, der sowohl aktiv gegen die Eindringlinge vorgeht, als auch unsere Interessen vertritt. Deshalb wird der Achterrat morgen, wenn die Ablösung vollzogen ist, alles in Ihnen enthaltene Wissen einfordern, um sich zur Speerspitze des geordneten Widerstandes erheben zu können. Sie beide werden dabei wohl den Tod finden. Denn eine derartige Wissensentnahme würde Ihnen alle Geistesfähigkeiten rauben."

"Und Sie wollen das nicht?" Fragte der Gefangene kalt.

"Ich sehe darin eine Gefahr, nämlich die, daß mit Ihrem Wissen nicht nur Zugriff auf die französische Zaubererwelt erlangt wird, sondern daß mein Volk befindet, sich dort neu anzusiedeln und mit denen zu vermischen, die nicht so reinblütig sind."

"Und wenn Janus Didier die von Ihnen erhofften Ziele erreicht hätte wäre dies nicht passiert?" Fragte Armand Grandchapeau unüberhörbar verächtlich.

"Dann hätte der Achterrat von hier aus die Geschicke Frankreichs gelenkt und die eindeutig reinglütigen Hexen und Zauberer zu uns geholt und jene, die nicht reinen Blutes sind an der Entfaltung ihrer Zauberkräfte gehindert, sofern eine übermäßige Zauberkraft sich je hätte unterbinden lassen. Doch nun rückt dieses Ziel in unerreichbare Fernen."

"So, und Sie wollen mir jetzt anbieten, daß ich Ihnen freiwillig helfe oder bei dem Wissensraub sterbe?" Fragte Armand Grandchapeau.

"Ich biete Ihnen an, der Wissensentnahme zu entgehen, indem Sie beide sich das Leben nehmen und damit den Plan vereiteln, einen Großangriff meiner Landsleute durchzuführen, damit niemand von meinen Leuten in die Versuchung gerät, sich in den Weiten Frankreichs zu verlieren und dort bleiben zu wollen."

"Ach, wir sollen den Schierlingsbecher trinken, damit Ihre Leute nicht darauf verfallen, von verbotenen Früchten zu naschen?" Fragte Armand Grandchapeau.

"Wissen Sie eine andere Möglichkeit?"

"Natürlich", hielt der Minister ihr entgegen. "Wir verlassen Ihr gastliches Eiland auf Nimmerwiedersehen und überlassen Sie alle Ihrer selbsterwählten Isolation. Es sei denn, alles was Sie mir gerade beschrieben haben ist reine Lüge. Falls ja, beruhigt mich das. Falls nein, haben Sie mir soeben verraten, daß Sie und Ihre Anführer doch nicht so uninteressiert an den Vorgängen in meiner Heimat sind, daß Sie uns dort unbeobachtet und unausgekundschaftet leben ließen." Syrinx verzog das Gesicht und nickte. Dann sagte sie: "Ich kann Ihnen nicht zur Flucht verhelfen, nicht in den wenigen Stunden, die bleiben, sogern ich dies tue, um ein Debakel wie damals mit Grindelwald zu vermeiden."

"Ich hörte davon, daß Sie oder Ihre Vorfahren versucht haben, mit diesem anderen Dunkelmagier zu paktieren, weil dieser die Muggelwelt unterwerfen wollte", erwiderte Monsieur Grandchapeau. Syrinx nickte.

"Wenn Sie meinen, wir wären lebendig eine zu große Gefahr für Sie, warum töten Sie uns dann nicht selbst?" Fragte der Gefangene.

"Weil ich zur Hüterin des Lebens ausgebildet wurde und einen Eid schwor, niemals von mir aus Leben zu nehmen. Wenn Sie Ihren Tod als einzigen Ausweg annehmen kann ich Dorian Sannom befehlen, Ihnen den Trank des schnellen Abschieds zu reichen. Aber selbst darf ich Sie nicht berühren, weder mit Händen, noch mit meiner Zauberkraft."

"Die Hand, die tötet wird von einem Gehirn geführt, egal ob dieses mit dem Arm verbunden ist oder in einem fremden Kopf ruht", sagte der Gefangene. "Sie würden sich so oder so schuldig machen."

"Nein, würde ich nicht, weil Sie mich darum gebeten haben, den Trank zu erhalten und es Ihnen überlassen bleibt, ihn zu trinken", erwiderte Syrinx. Dann meinte Nathalie Grandchapeau:

"Ich weiß, warum Sie darauf bestehen, daß wir sterben, Madame. Sie wissen, daß unsere Tochter weiß, daß wir noch leben und damit der von Ihnen erwähnte Widerstand gegen den Nachfolger meines Mannes nicht zur Ruhe kommen wird. Deshalb wollen Sie uns umbringen. Denn wenn meine Tochter verkündet, wir seien gestorben, wird jeder Nachfolger meines Mannes legitimiert sein. Solange er lebt, ist der das nicht."

"Das haben sich Ihre Leute fein ausgedacht. Aber dann hätten die uns gleich über den Pyrenäen ermorden müssen und nicht mehr als anderthalb Monate lang hier in diesem übergroßen Daunenschlafsack einmotten sollen", erwiderte Monsieur Grandchapeau. "Aber ich fürchte, dieses Kalkül wird nicht aufgehen. Denn sobald wir sterben, wird jeder, der unseren Tod herbeiführte zum Feind des französischen Zauberervolkes erklärt. Daran wird auch ein übereifriger Janus Didier nicht vorbeikommen. Haben Ihre Agenten dies nicht einkalkuliert?"

"Sie stehen mit Ihrer Tochter in magischer Verbindung. Das ist unmöglich. Keine Gedanken, keine Rufzauber können aus dem Hort des Rates entweichen", knurrte Syrinx, die sich scheinbar um einen Erfolg geprellt sah oder etwas unerwartetes erfahren hatte.

"Es gibt Zauber, die durch das Leben selbst alle Hindernisse durchdringen und permanent wirken", sagte Monsieur Grandchapeau. "Also, wenn Sie uns umbringen, heute oder morgen oder wann auch immer, wird unsere Tochter davon erfahren und anregen, daß Sie zu den Verdächtigen gehören. Denn mit Ihren Drachen, falls Sie sie wahrhaftig in meine Heimat zu schicken wagten, haben Sie jeden halbwegs logisch denkenden Menschen mit der Nase darauf gestoßen, wem meine Gattin und ich unser Verschwinden zu verdanken haben, Sie Genie. Auch wenn um Ihr Eiland wirksame Unortbarkeitszauber liegen, es gibt Flüche, die bewirken, daß jeder, der auf diesem Grund und Boden geboren wurde, unverzüglich stirbt, wenn er oder sie meine Heimat betritt. Damit würden Ihre Spione in meiner Heimat nur wenige Stunden später sterben als meine Gattin und ich. Sie haben sich in eine Sackgasse verirrt und wollen nicht umdrehen, weil sie fürchten, Ihren Stolz anzukratzen oder wie asiatische Diplomaten sagen, Ihr Gesicht nicht zu verlieren. In meiner Heimat weiß man also schon, wer meine Gattin und mich entführt hat. Wenn Sie weiterhin Ihr selbstgewähltes Leben führen wollen, dann haben Sie nur eine Wahl, uns freizulassen, damit wir Ihnen jede Nachstellung aus unserer Heimat ersparen. Nur wenn sich die Lage in Frankreich wieder beruhigt, kann auch jede Gefahr abgewendet werden, die uns und Ihnen droht."

"Ich muß fort", sagte Syrinx Chaudchamp. "Die Reintration steht gleich an." Sie hob ihren Zauberstab. Sofort spannte sich das Netz aus silbernen Funken zwischen ihr und dem gefangenen Ehepaar. Ein Wink zur Tür ließ die Riegel aufspringen. Dann verließ Syrinx den Kerker und ließ die Tür wieder zufallen.

"Interessantes Spiel, Nathalie. Wir wurden soeben unter Druck gesetzt. Aber sie hat nicht mehr darauf bestanden, daß wir freiwillig aus dem Leben gehen."

"Ich habe in ihre Augen gesehen, Armand", wisperte Nathalie ihrem Mann ins rechte Ohr und hoffte, daß niemand ihr Flüstern verstärkt abhören konnte. "Sie kann ihre Gefühle nicht so gut verbergen wie du. Als du ihr androhtest, wir könnten denselben unmenschlichen Todesbann wirken, den der Unnennbare gegen außerhalb der britischen Inseln geborene Magier gewirkt hat, habe ich einen Moment großes Entsetzen gesehen. Als ich ihr vorhielt, daß unsere Tochter erführe, wenn wir zu Tode kämen war sie schlicht perplex. Offenbar gingen ihre Auftraggeber davon aus, daß man in Frankreich längst von unserem Tod überzeugt sei."

"Oder sie hat ehrlich gespielt, Nathalie", erwiderte Armand Grandchapeau ebenso flüsternd. ""Dann muß sie fürchten, daß der von Ihren Leuten angerichtete Aufruhr nur noch größer wird, wenn wir sterben. Womöglich sind das zwei Punkte, die uns zuarbeiten."

"Falls wir morgen nicht wirklich sterben müssen, Armand", flüsterte Nathalie Grandchapeau.

"Hast du Angst vor dem Tod, Nathalie?" Fragte ihr Mann nun laut.

"Ich hatte eigentlich noch viel mit dem Leben vor. Ich wollte zumindest unser Enkelkind aufwachsen sehen, mit dir noch einige erquickliche Jahre verleben. Angst habe ich eher davor, daß das in mir enthaltene Wissen dazu beitragen könnte, diesen Fanatikern den Schlüssel zur französischen zaubererwelt in die Hand zu drücken und muggelstämmige Hexen und Zauberer in Sammellager gesperrt oder irgendwie an der Entfaltung ihrer Zauberkräfte gehindert werden sollen. Das wäre sehr undankbar denen gegenüber, die uns mit ihrem Wissen und Können geholfen haben."

"Höchst undankbar", schnarrte Armand Grandchapeau. "Aber deshalb lieber den Freitod wählen ... Dann lieber im direkten Gefecht." Er warf sich dabei so heftig in die Brust, als gelte es, einem zusehenden Feind zu demonstrieren, daß er, Armand Grandchapeau, den heldenhaften Zweikampf auf Leben und Tod nicht fürchtete. Dann flüsterte er wieder zu seiner Frau: "Aber wir werden weder so noch so sterben, Nathalie. Nicht hier. Wenn stimmt, was du mir gesagt hast, denkt diese Syrinx nun an nichts anderes, als wie sie uns lebendig wieder von dieser Insel runterschafft." Laut sagte er dann noch: "Vielleicht sollten wir die letzte Nacht unseres Lebens noch einmal genießen, Chérie." Nathalie kniff ihn energisch in die Wange und knurrte: "Das ihr Mannsbilder immer wieder eine Gelegenheit sucht, Euere überschüssigen Energien an uns Frauen abreagieren zu müssen. Mir steht jedoch nicht der Sinn danach, nur weil die meinen, wir würden nicht mehr lange leben. Wenn ich sterbe, dann mit der klaren Auffassung, daß ich diesem unvermeidbaren Schicksal aufrecht entgegengesehen habe und nicht flach auf dem Boden liegend." Ihr Mann grinste verhalten und meinte, daß er sie verstehen könne und das nur ein Angebot gewesen sein sollte. Sie flüsterte dann in sein linkes Ohr: "Nur wenn wir im eigenen Ehebett schlafen dürfen werde ich dich wieder zu mir lassen, mon Cher."

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Na, kleines, was sagst du dazu", säuselte Daianira, wobei sie eine kleine, silberne Scheibe in ihren mit mächtigen Fluchabwehrzaubern behexten Handschuhen hochhielt. "Ich denke, dagegen wird diese Valery nichts ausrichten können, wenn sie davon eine in ihren gierigen Schlund bekommt, mit oder ohne einverleibte Zauberkraft."

"Könnte glatt meine Idee sein", lobte sie Anthelias Gedankenstimme. "Immerhin bin ich ja schon seit einem Monat und drei Tagen mit dir verbunden."

"Ja, und mittlerweile stößt du mir nicht mehr so heftig auf wie vor drei Wochen noch", erwiderte Daianira. "Ich denke, wir werden erst diesen Drachen, die in den letzten Tagen nach Frankreich vorgestoßen sind damit heimleuchten. Weißt du wahrhaftig nicht, wer die geschickt haben könnte?"

"Wenn Louisette es richtig geschildert hat muß das nach meinem ersten Leben gewesen sein", erwiderte Anthelia.

"Du hast dich also nicht ausführlich erkundigt, was zwischen deinem ersten Tod und deinem überhasteten Einstieg in ein zweites Leben so geschehen ist?" Fragte Daianira. "Nun, das werden wir herausfinden. Wenn die Todesdisken bei diesen schnellen Drachen wirken, die die Entomanthropen vom Himmel holen, dann werden wir zusehen, diese Valery Saunders ebenso damit ins Jenseits zu schicken. Noch einmal will ich mich von dieser Kanallie nicht verschlingen lassen."

"Dann weißt du zumindest schon, wie ich mich fühlen werde, wenn ich nicht nur deine Sinne wahrnehme, sondern wahrhaftig meine eigenen Sinne wieder empfinden sollte, bevor du mich aus dir hinausstößt."

"Es ist doch ein Unterschied, ob ich verdaut und als Kothaufen ausgeworfen werden soll oder hoffnungsvoll im warmen Nest herangebrütet und mit besten Wünschen für ein schönes Leben geboren werde", erwiderte Daianira lachend. Doch innerlich mußte sie Anthelia zustimmen. Wie Valery sie überrumpelt hatte steckte ihr ebenso noch tief in den Knochen wie ihrer gerade eingelagerten Kontrahentin, die sie im Juni als ihre Tochter zur Welt bringen sollte.

"Hängt davon ab, wer einem diese Ehre erweist", erwiderte Anthelia. "Oder würdest du dich darüber freuen, von Roberta Sevenrock wiedergeboren zu werden oder von deiner Base Leda?"

"Das kann ich mir vorstellen, daß die herzensgute Roberta Sevenrock sich schon im Traum ausmalt, mich auf diese Weise in ein neues Leben zu befördern, und meine Base würde dich mir liebendgerne abnehmen, um klarzustellen, daß wir beide uns nicht doch noch zu mögen lernen, um gemeinsam Sardonias Pfade zu beschreiten. Ob ich ihre Tochter werden wollte -? Sie hat sich zu Lady Morgaine bekannt und dann zu mir und nicht nur zu Lady Roberta. Andererseits könnte ihr einfallen, als meine Mutter den Entschlossenen zu entsagen und weit ab aller Vorhaben zu leben, um mich davon abzubringen, den Lauf der Welt in die richtige Richtung zu wenden. In jedem Fall müßte ich wohl Angst bekommen, von ihrer übertriebenen Heilerinnenfürsorge erdrückt zu werden.""

"Da kann ich ja froh sein, daß du keine Heilerin bist", knurrte Anthelias Gedankenstimme aus dem Seelenmedaillon um Daianiras Hals. Die Führerin der entschlossenen Schwestern horchte in sich hinein. Wann würde sie die ersten zarten Bewegungen ihrer außergewöhnlich empfangenen Tochter fühlen? Anthelia hatte bereits behauptet, sie spüre etwas wie eigene Arme. Das konnte aber auch ein Wunschtraum sein, daß sie wollte, daß sie möglichst schnell ausreifte und somit auch früh genug zurück ans Licht der Welt gelangte. Daianira dachte mal wieder daran, ob sie den Verlauf dieser ungewollten Schwangerschaft nicht an einem Punkt abbremsen konnte, so im fünften Monat, um Anthelia dauerhaft bei sich zu behalten. Doch dann ging ihr wieder durch den Kopf, daß ihr Körper dann immer weiter anschwellen würde und sie lieber eine quängelige Anthelia in der Wiege als hundert unnötige Pfund auf dem Leib haben wollte. Abgesehen davon würde sowohl Leda als auch ihre Großmutter Eileithyia, die ungekrönte Königin der nordamerikanischen Hebammen-Hexen, was dagegen haben, daß einem Kind das Recht auf die Geburt verwährt wurde, so oder so. Und jetzt hatte sie auch wichtigeres zu tun. Wo Valery Saunders sich herumtrieb wußte sie nicht. Liebendgerne hätte sie ihr den ersten Todesdiskus in den übergroßen Rachen geworfen. Der darin eingelagerte Decompositus-Fluch wäre ihr bestimmt sehr schlecht bekommen. Doch zunächst wollte sie diese Drachen damit beharken. Dreißig dieser Scheiben hatte sie nach ihrer Begegnung mit Valery Saunders hergestellt. Hoffentlich blieben noch genug übrig, um dieser machttrunkenen Brutkönigin den Garaus zu machen.

"Einberufung aller Schwestern heute abend in unserem Hause!" Vernahm Daianira die Stimme Roberta Sevenrocks in ihrem Kopf. Auch das noch! Was wollte diese zögerliche denn jetzt von ihnen. Wollte sie sie, Daianira vorführen? Seht her, Daianira trägt gerade unsere größte Konkurrentin aus! Wenn es das war, würde sie wohl sehr mit ihrer Selbstbeherrschung ringen müssen, vor allem wenn ihre heilkundige Großmutter diese Sitzung erbeten hatte. Doch Roberta wußte, daß Daianira gerade in Rufweite war. Also mußte sie ihr folgen. Eine offene Auseinandersetzung würde den Zerfall der Schwesternschaft bedeuten und damit einhergehend den Verlust aller Erinnerungen an die Zeit darin. Das war schon gemein, aber auch förderlich, um abtrünnig zu werdende Mitschwestern zu führen, wie sie, Daianira, bis zu Anthelias Wiederkehr ja selbst geglaubt hatte.

So trafen sich dann über zweihundert Hexen im großen Versammlungshaus, wo Lady Roberta bereits auf dem hohen Stuhl der Sprecherin saß. Daianira blickte sich um. Von den Entschlossenen waren alle da, auch Donata Archstone und Leda Greensporn. Von den zögerlichen auch ihre Großmutter Eileithyia, die von einer Hexe mit rotbraunem Lockenhaar und kaffeebrauner Haut flankiert wurde. Daianira hatte das Medaillon Anthelias nicht umgehängt, um nicht darauf angesprochen werden zu können. Doch das brauchte sie nicht, um die Hexe zu erkennen, die wie selbstverständlich in den Reihen der Mitschwestern stand und mit ihren fast schwarzen Kulleraugen erwartungsvoll zu Lady Roberta hinaufblickte. Das konnte nicht sein und war dennoch so. Seit wann war Linda Knowles, die mit magischen Ohren bestückte Sensations- und Enthüllungsreporterin der Stimme des Westwinds eine von Ihnen? Doch hier durfte nur sprechen, wem Lady Roberta das Wort erteilte. So mußte sie den üblichen Begrüßungsdurchlauf überstehen, bis Lady Roberta verkündete:

"Ich habe euch aus zwei Gründen alle zusammen kurz vor den Feiertagen einbestellt, werte Schwestern. Zum einen möchte ich drei neue Mitglieder in unserer erlauchten Gemeinschaft begrüßen, die nun alle kennenlernen dürfen." Daianira blickte sich um. Drei neue? Dann erkannte sie neben Patricia McDuffy, die sie bisher vergeblich für die Entschlossenen zu werben versucht hatte, eine pummelige Hexe, die ihr gerade mal so ähnelte, daß es eher eine Nichte oder die Tochter einer Cousine sein mochte als ihre eigene Tochter. Tja, und die gute Edwina Marblehead hatte ihre einzige Tochter aus ihrer sechsköpfigen Kinderschar wirklich dazu bekommen, in die Schwesternschaft einzutreten. "Schwester Patricia McDuffy bat mich, ihre Base Maureen aus Vermont in unserer Gemeinschaft willkommen zu heißen, die im verstrichenen Sommer einen lobenswerten Abschluß in Broomswood errang und fürchtete, sie könne in der freien Zaubererwelt leicht verlorengehen. Noch einmal willkommen, Schwester Maureen! Die pummelige Cousine Patricia McDuffys strahlte und verbeugte sich. "Dann fragte unsere ehrbare Schwester Edwina Marblehead, ob ich Ihrer Tochter Esther die Ehre und Huld erweisen würde, sie in unserer Gemeinschaft aufzunehmen. Ich erwies ihr diese Ehre. Du wirst in diesem Jahr hoffentlich einen achtbaren Abschluß in Thorntails erreichen, Schwester Esther. Falls du in irgendeinem Fach Hilfe benötigen solltest, wirst du in dieser Gemeinschaft kundige und hilfreiche Mitschwestern finden." Esther Marblehead bedankte sich für alle hörbar und versicherte, nur dann Hilfe zu erbitten, wenn sie sie wirklich benötigte. "Dann trug in den letzten Tagen des Novembers unsere hochachtbare und erfahrene Mitschwester Eileithyia Greensporn die Bitte an mich heran, die von ihr als klug wie gewandt erschienene Linda Knowles aus Viento del Sol in unsere Reihen aufzunehmen, da sie mit ihrem Wissen und ihrem Eifer unschätzbare Dienste für uns leisten könne. Die meisten von euch kennen Sie ja zumindest aus der Stimme des Westwindes." Daianira fühlte wie ihr schwindelig wurde. In den letzten Novembertagen hatte ihre Großmutter dieses überneugierige Frauenzimmer dazu bekniet, eine Mitschwester zu werden? Das war alles andere als ein Zufall. Und ganz bestimmt würde die überbehütsame Eileithyia Greensporn darauf aufpassen, daß dieses langohrige Geschöpf mit den Kulleraugen nicht auf den Pfad ihrer angeblich so verirrten Enkeltochter einschwenkte. Doch nur bereits eingeschworene Schwestern konnten dieses Haus betreten. Linda Knowles hatte schwören müssen, nichts nach außen dringen zu lassen, was sie hier und von sich ihr offenbarten Schwestern erfuhr. Das hatten die beiden alten Hexen sich fein ausgedacht. Doch sie mußte anerkennen, daß man Lino, wie die neue Mitschwester auch häufig genannt wurde, damit sehr gut in Schach halten konnte. Sollte die Schwangerschaft mit Anthelia doch außerhalb der Schwesternschaft ruchbar werden, so mußte eine eingeschworene Lino darüber schweigen und durfte keine Sensationsmeldung daraus machen. Die stille Empörung, die sie gerade eben noch hatte schwindelig werden lassen, wich einer gewissen Anerkennung. Womöglich hatten ihre Oma Thyia und Roberta Sevenrock befürchtet, daß sie, Daianira, Linda Knowles nach dem Leben trachten würde, falls diese über das langsam anwachsende Geheimnis Daianiras Wind bekommen würde. Sollte sie sich jetzt geehrt fühlen, daß Roberta und ihre Oma so viel Angst vor ihr, Daianira, hatten? So nahm sie es mit demselben anerkennenden Lächeln hin, wie Linda sich für die Aufnahme bedankte. Dann kam auch schon der zweite Tagesordnungspunkt.

"Schwester Daianira, wie geht es dir gerade?" Fragte Roberta Sevenrock und deutete auf die Sprecherin der Entschlossenen. Diese trat vor und sagte laut und vernehmlich: "Ich befinde mich wohl, Lady Roberta. Zwar ist es im Moment für mich eine gewisse Umstellung, aber ich ertrage sie gut, dank Schwester Leda." Sie deutete auf Leda Greensporn, die nickte. Dann schilderte sie auf die Anfrage Robertas, was ihr widerfahren war und erwähnte auch, daß sie die Mutterschaft annehmen würde, auch wenn sie zunächst nicht darüber erfreut war, einer der gefährlichsten Anhängerinnen Sardonias das zweite Leben schenken und sie als ihre Tochter aufziehen zu müssen. "Ich denke aber, daß sie dadurch, daß sie wie ein dem Iterapartio-Zauber unterworfenes neues Kind die Zeit des Heranwachsens dazu nutzt, die wahren Werte des Lebens zu erkennen und die zweite Kindheit, in die ich sie hineingebären werde, zum neuen Lernen nutzen wird." Sie sah flüchtig zu Peggy Swann hinüber, die einige Reihen weiter hinten stand und wohl auch damit leben lernen mußte, daß Linda Knowles jetzt in die inneren Angelegenheiten der Schwesternschaft eingeweiht werden durfte.

"Cool, wenn mir also wer blöd kommt kann ich den oder die zum Duell zwingen und dann als mein Kind neu austragen", warf Esther Marblehead unüberlegt ein. Alle sahen sie kritisch an. Daianira wandte sich ihr zu und legte ihre rechte Hand auf den schon leicht gerundeten Bauch und sagte: "Ich denke nicht, daß du es begrüßen würdest, einen Feind oder eine Feindin in dir zu tragen, für dieses Wesen zu atmen, zu essen und zur Toilette zu gehen, bis der auf diese Art besiegte Gegner beginnt, dir in die Eingeweide zu treten und zur Krönung der Belastung deinen Unterleib aufklaffen läßt, um ihn unter den größten Schmerzen, die eine Frau ertragen können muß daraus hervorzukriechen, um weiterhin von dir umsorgt zu werden. Ich wollte es nicht, wie es jetzt ist, aber ich werde es mit der Entschlossenheit und Würde einer der ehrbaren Schwestern ertragen und hoffen, daß die mir nun anvertraute Feindin zur uns achtenden, wertvollen Verbündeten erwächst. Ich denke, neues Leben hervorzubringen sollte immer in großer Verbundenheit mit dem geschehen, der dir dabei hilft, es zu empfangen und in der großen Freude, ein behütsames Wesen auf diese Welt zu bringen und nicht als reine Überlegenheitsdemonstration. Unsere Leiber, werte Schwestern, sind die Quelle des Lebens. Daß ich Anthelia nun in meinem Leib trage soll einmalig bleiben. Ich hoffe, ich werde sie im Sinne einer vernünftigen Idee der Hexenheit großziehen können und ihr mit meinem Blut jetzt und mit meiner Milch und meinen Worten später helfen, von Sardonias Zerstörungspfaden fortzukommen. Allein die Untaten einer unbeherrschbar gewordenen Entomanthropen-Brutkönigin zeigen deutlich, wie leicht sich Sardonias Ideen gegen ihre Schöpfer wenden. Deshalb werde ich auch einen neuen Namen vergeben, wenn die, die da gerade in mir heranwächst meinen Schoß verlassen wird. Welcher das sein wird werdet ihr kurz vor meiner hoffentlich beschwernisarmen Niederkunft erfahren. Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit!"

"Hinzu kommt, daß die Empfängerin in dieser, eher der dunklen Seite anzurechnennden Weise um die Jahre verjüngt wird, die die Empfangene Person bereits körperlich erlebt hat", stellte Eileithyia fest. "Du wärest also definitiv zu jung, Esther." Ihre Mutter sah Esther sehr kritisch an. Dann ergriff Roberta Sevenrock erneut das Wort:

"Du sagtest, die Schlangenmenschen trieben ihr Unwesen in Europa, Schwester Daianira. Deshalb hättest du Anthelias Entomanthropen nicht vernichtet, sondern auf diese Pest angesetzt. Wirst du sie denn vernichten, wenn diese Gefahr behoben sein wird?"

"Natürlich, Lady Roberta. Das war meine Absicht, als ich Anthelia zum Duell forderte und ist es immer noch, gerade im Bezug auf diese Valery Saunders." Dann erklärte Daianira, welche Gefahr von Valery Saunders ausginge und wie diese es ihrer Meinung nach schaffte, Magie in sich zu konzentrieren, wobei sie jedoch die Stelle ausließ, wo sie selbst in Valerys Magen gelandet war und sich nur mit einem Auswürgzwang-Zauber daraus befreien konnte.

"Wir werden also von zwei übermächtigen Bestien bedroht", schnarrte Peggy Swann. "Nyx auf der einen Seite und diese Bienenkönigin Valery auf der anderen Seite. Dazu kommt noch der Emporkömmling aus England, nicht zu vergessen jene noch wachen Abgrundstöchter, die vielleicht wie ihre vernichtete Schwester Hallitti einen Ausflug zu uns machen könnten. Wie kann sich Wishbone anmaßen, unser aller Sicherheit zu garantieren? Und ob Anthelia oder wie Schwester Daianira dieses Kind auch immer nennen wird, wirklich keine Lust mehr hat, Sardonias Irrweg zu gehen wissen wir erst, wenn es mit Thorntails fertig ist. Es sei denn, Schwester Eileithyia entfernt alle Erinnerungen aus dem Kopf des Babys, wenn es erst einmal da ist."

"Ich weigere mich, einer Gedächtnislöschung zuzustimmen, solange dieses Kind meine Tochter wird, Schwester Peggy", knurrte Daianira. "Sie wird die Erhabenheit der Reifung als wichtigstes Geschenk der Hexenheit erleben und lernen, Leben zu erhalten und im Sinne eines vernünftigen Weges der Hexen in der Welt zu formen und nicht zu vernichten. Außerdem wissen wir ja nicht, ob ihr Geist bei der Pränaturation, wie ich diesen Vorgang mal nennen möchte, nicht ohnehin jeder Erinnerung beraubt wurde. Dann wäre das, was da in mir heranwächst, ein ganz harmloses, unschuldiges Menschenwesen, formbar in unserem Sinne, Schwester Peggy. Genauso wie deine Tochter ein harmloses, unschuldiges Menschenwesen ist." Das saß wohl, auch wenn Peggy sich das nicht anmerken ließ. Zumindest gab sie jetzt ruhe. Leda sagte:

"Ich werde deine Mutterschaft behüten, Schwester und Base Daianira. Wenn sich erweist, daß Anthelias Geist sich mit allen Erinnerungen an ihr bisheriges Leben in der Ungeborenen neu entfaltet, so hoffe ich, daß du recht behältst und sie aus deiner Geborgenheit lernt, daß es wertvoller ist, Leben zu geben als es zu bedrohen oder zu nehmen. Denn wenn ich recht informiert bin war Anthelia in ihrem ersten Leben eine ausgebildete Heilerin, bevor sie vom Seelengift ihrer Tante genoß und ihr folgte."

"Damit ist dieser Punkt wohl nun erschöpfend abgehandelt, Schwestern. Schwester Daianira wird den Körper, den Anthelia bewohnte, als ihre Tochter neu zur Welt bringen. Sollte sich Anthelias Geist darin erhalten haben und an alles erinnern, so liegt es vordringlich an ihr und uns, ihr zu helfen, Sardonias Irrlehre abzustreifen. Sollte sie mit dem rudimentären Gedächtnis eines gewöhnlichen Babys auf die Welt kommen, so ist sie eben nur das, ein gewöhnliches Baby, über dessen Empfängnis wir den Mantel des Schweigens breiten dürfen. Im Zweifelsfall hast du sie von einem Muggel empfangen, dessen körperlich-geistige Vorzüge du für so entscheidend erachtet hast, er jedoch nicht mit einer Hexe zusammenleben wollte und du ihn deshalb nach erfolgreicher Empfängnis seines Weges hast ziehen lassen und ihm auch nicht verraten wirst, daß die Zeit mit ihm auf fruchtbaren Boden fiel", sagte Roberta Sevenrock. Alle anderen grinsten verhalten. Daianira nickte wild und betonte, daß sie genau diese Legende in Umlauf setzen würde, wenn sich ihre anderen Umstände nicht mehr verheimlichen ließen. Dabei sah sie nicht zufällig Linda Knowles an, die jedoch ihr gefürchtetes zuckersüßes Lächeln präsentierte. Die dachte wohl schon an die entsprechenden Schlagzeilen: "Ehemalige Thorntails-Lehrerin doch noch in guter Hoffnung". Daianira war klar, daß diese Schlagzeile eh über sie hereingebrochen wäre. Roberta und Eileithyia hatten eben nur verhindert, daß Daianira die überneugierige Reporterin dafür mundtot oder mausetot machen konnte.

Als die Sitzung vorbei warkehrten Daianira und Leda ins Haus der werdenden Mutter zurück.

"Wir wissen beide, daß Anthelias Geist sich wohl wieder entfalten wird, liebe Cousine. Aber trotzdem werden weder Oma Thyia noch ich ihr Gedächtnis anrühren. Wann wirst du den Sanctuamater-Zauber beginnen? Denn das erste Trimenon ist zu ende, und er muß jedes Trimenon gewirkt werden, und noch einmal unter der Geburt."

"Wenn ich die Einmischung von dieser Elfenbeininsel abgewehrt habe, Leda", sagte Daianira entschlossen. Dann bereitete sie sich darauf vor, den Kampf gegen die Drachen aufzunehmen.

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"Deine Wiege steht bereit, Meister Phaeton. Wann willst du dich dort hineinlegen lassen?" Fragte Lucine Borgogne, eine kleine, untersetzte Hexe mit nachtschwarzen Locken, als sie den betagten, weißhaarigen Zauberer mit den jadegrünen Augen ansah, der auf einem der im Achteck aufgestellten Stühle saß, während der nördlichste Stuhl gerade von einem erleichtert wirkenden Knirps mit dunkelblondem Haar besetzt wurde. Er war heute vier Jahre alt geworden, zum dritten Mal.

"Ich will erst Klarheit, ob wir die verpestete Urheimat vom Unrat der Mischblüter und Anmaßer reinigen können, Meisterin Borgogne. Was hat dein Sohn uns neues verkündet?"

"Dies darf ich erst sagen, wenn nur acht diesem erhabenen Kreise angehören. Ich darf noch nicht in eine Wiege zurück, weil ich mit unserem Kundschafter Kontakt halten muß. Ich weiß nicht, ob ich als Säugling noch diese gute Beziehung aufrechterhalten kann, wenn ich nicht mehr als seine Mutter existiere."

"Dann werde ich wohl zu Nährmutter Callirhoe ziehen", grummelte ein gerade neunzig Jahre alter Zauberer mit silbernem Vollbart. "Schließlich sollen wir unserem zurückgekehrten Ratsbruder ja mit allen Ehren einbeziehen. Aber in spätestens drei Monaten krähst du auch wieder, Phaeton, alter Freund."

"Aber nicht bei der guten Callirhoe, Cagliostro", lachte Phaeton Maintenon, der eigentlich schon längst für die Reinfantisierung vorgesehen war. Doch Phaeton Maintenon war maßgeblicher Planer und Ausführer der Aktion gegen den Halbblüter, der meinte, in Slytherins Namen für die Sache der Reinblüter einzutreten, diese jedoch durch den Zerstörungstrieb seiner unmagischen Erbanteile vergiftete. Damals, er war gerade zum zweiten Mal in die Wiege einer Nährmutter gelegt worden, hatte Grindelwald auf sich aufmerksam gemacht. Phaeton hatte zusehen dürfen, wie körperlich ältere Ratsmitglieder versucht hatten, mit diesem ein Bündnis zu schmieden und dabei fast die Existenz der erlauchten Gemeinschaft Ebonesias aufs Spiel gesetzt. Das durfte ihnen mit Tom Riddle, der sich großspurig Voldemort, Schwinge des Todes, nannte, nicht widerfahren. Deshalb hatte Phaeton in Übereinstimmung mit dem restlichen Rat vorgeschlagen, einen Kundschafter in eine aussichtsreiche Position zu schleusen. Lucine Borgogne war da gerade Ratsmitglied geworden. Sie hatten ihren gemeinsamen Sohn Ion dazu überreden können, sich für diese Mission zu verwenden. Um ihm ein erträgliches Leben in der verachteten Welt der Magielosen zu gestatten wurde sein Gedächtnis nach erfolgreicher Infantisierung mit einem Erinnerungsunterdrückungszauber belegt, der erst mit Vollendung des siebzehnten Lebensjahres erlosch. Er wußte genau, wie heikel das war. Seit dreiundsechzig Jahren lebte Ion Borgogne nun in Frankreich und bekleidete in diesem Moment sogar die zweithöchste Stelle in der Hierarchie der Zauberer. Phaeton wußte, daß Syrinx Chaudchamp, die gerne mit Ion einen Nachkommen gezeugt hätte, immer noch darauf hoffte, daß ihr Auserwählter zurückkam. Deshalb hatte Phaeton sich sogar etwas perfides ausgedacht, um sicherzustellen, daß Ion Borgogne niemals zum Verräter an der ebonesischen Gemeinschaft werden konnte. Er hatte Syrinx nach der Entsendung des Kundschafters verraten, daß sie ihn zu sich zurückrufen konnte, wenn jemand ihm in Frankreich sagte, daß sie, Syrinx ihn wiederhaben wollte. Tatsächlich aber würde sein Sohn dann jedoch, egal wo er war, körperlich vernichtet und seine Schwester Adrasthea, die mit Ion heimlich reinfantisiert worden war, würde den Neffen neu empfangen und unter anderem Namen wiedergebären. Davon durfte jedoch niemand was wissen, weil dies eindeutig gegen alle Lebensgesetze Ebonesias verstieß. Wiederverjüngungen waren nur Ratsmitgliedern oder von diesen ausgedungenen Würdenträgern oder Kundschaftern gestattet. Wiedergeburten hingegen waren verboten. Doch wie überall in einer angeblich zivilisierten Welt galt, daß wer die Gesetze machte, immer Lücken fand, um sie zu umgehen oder den Verstoß verheimlichen konnte. Er sah Syrinx Chaudchamp, wie sie den Rat beobachtete. Cagliostro Gaspardin erhob sich und blickte sich um. Da walzte eine füllige Hexe in den achteckigen Ratssaal im Felsenpalast im Zentrum Ebonesias herein. Sie trug einen knielangen Leinenrock aus smaragdgrüner Farbe und eine grasgrüne Wolljacke, die geöffnet war. Darunter trug sie nichts. Ihr dunkelbraunes Haar war mehrfach um ihren Kopf gewunden und wie ein angewachsener Turban gerundet. Kleidung und Haartracht wiesen sie als eine der sechzehn Nährmütter aus, die die wiederverjüngten Ratsmitglieder vier Jahre lang betreuten und neben ihren leiblichen Kindern großwerden ließen. Cagliostro sah die korpulente Frau an, deren weibliche Attribute unverhüllt und unübersehbar verrieten, daß sie diese zum Wohl des Rates einsetzte.

"Phaeton, du kommst heute zu mir, denke ich", sagte Callirhoe. Doch der Angesprochene schüttelte den Kopf wie alle anderen im Rat. Er deutete auf Cagliostro und sagte, daß er noch den Ausgang der laufenden Streitigkeiten mit dem Festland überwachen müsse. Er war froh, dieser Matrone nicht ausgeliefert zu werden, von der drei Freunde aus dem Rat berichteten, daß sie eine sehr strenge Nährmutter war, die auch keine Probleme damit hatte, ihren Zöglingen eins auf den Hintern zu geben oder sie in kaltem Wasser zu baden, wenn sie nicht spurten. So verwunderte es keinen, das Cagliostro sichtlich verunsichert sagte, daß er "Der Glückliche" sei.

"Auch gut. Dann leg ab, was du anhast!" Sagte Callirhoe.

"Ähm, wie heißt das, Nährmutter Callirhoe?" Fragte Cagliostro.

"Ausziehen, Bürschchen. Gleich bist du zu klein für die Robe der acht." Cagliostro sah den Zauberstab auf sich gerichtet. Da er bereits zugesagt hatte, wegen der Herstellung der Achterzahl seine Wiederverjüngung um ein Jahr vorzuverlegen konnte dieses pralle Weibsbild ihn sofort verjüngen und mitnehmen. So warf er mit einer gewissen Wehmut und ohne Scham vor den Hexen hier seinen blütenweißen Ratsumhang und sein Unterzeug ab. Er setzte gerade an, sich bis in vier Jahren zu verabschieden, als ihn schon ein goldener Lichtstrahl traf und ihn auflöste. So schnell konnte nur eine versierte Nährmutter diesen Zauber ausführen, wußten sie alle hier. Da lag bereits ein hellhäutiger Knabe, wie gerade wenige Tage auf der Welt auf dem Boden und öffnete protestierend den Mund. Da ergriff ihn ein Schwebezauber und trug ihn zu Callirhoe hinüber, die mit der linken Hand den Säugling auffing, den Zauberstab in ihren Rock steckte und den Wiederverjüngten sicher an sich drückte. "So, die Damen und Herren. Cagliostro wohnt ab jetzt bei mir. Nicht strampeln, Kleiner! Ich sage dann meiner Ordensschwester Daphne, daß du zu ihr hinkommst, wenn deine Wiege dich ruft, Phaeton."

"Nur weil du die Tochter meiner Schwester bist heißt das nicht, daß du respektlos werden darfst, Callirhoe."

"Ich kann zwei auf einmal nehmen, Phaeton. Noch ein Wort, und du wohnst ab heute auch bei mir. Also?"

"Danke für Ihren Dienst, Nährmutter Calirhoe und wir wünschen unserem in Ihre Obhut gegebenen Ratsbruder ein erfolgreiches Wiederwachstum", sagte Phaeton. Das wollte er sich doch nicht antun, dieser Person, im Grunde seiner Nichte, ausgeliefert zu sein. Diese nickte und verließ mit Cagliostro halb in ihrer Jacke vergraben den Raum.

"In Ordnung, wo waren wir, Lucine? Was kündet uns dein Sohn alles?"

"Das unsere Drachen mit verfluchten Gegenständen getötet werden, Phaeton. War es bisher nur möglich, das die Entomanthropen der alten Mörderin zu mehreren angreifen mußten und dabei viele von ihnen vergingen, werden nun unsere Drachen von innen her aufgelöst. Jemand hat den Fluch der Zersetzung zu einer für ihn oder sie selbst ungefährlichen Waffe gemacht."

"Was, unsere Drachen ... wie viele sind noch unterwegs?"

"Von den fünfzig die wir hatten wurden vierzig ausgeschickt. Davon dürften vielleicht noch zwanzig existieren. Jedem zehnten Drachen ist ein Pulkführer zugeteilt."

"Die per Lebensbindungszauber sterben, wenn ihre Drachen sterben oder deren Drachen sterben, wenn sie selbst getötet werden", knurrte Phaeton. Alle anwesenden nickten. Man hatte also gewagt, den tückischen Zersetzungsfluch als Waffe einzusetzen. Aber die Drachen waren von außen nicht mit Zaubern zu verletzen. Dann mußte jemand sehr tollkühn sein, um ihnen was auch immer direkt in ihre Mäuler zu schieben. Doch damit konnten sie mehrere Dutzend Meter lange Flammenstöße austeilen. Das konnte selbst ein im Flammengefrierzauber steckender Gegner nicht unbeschadet überstehen. Doch irgendwie ging das wohl.

"Wir haben Anfragen von Minister Didier, warum wir ihm unsere Hilfe erst jetzt anboten, wo das mit den Entomanthropen schon vor mehr als einem halben Jahr ruchbar wurde", sagte Ratsmitglied Canopus Bellevu, der neben Phaeton Maintenon für die Außenangelegenheiten zuständig war.

"Sollen wir diesem Stümper antworten?" Fragte Phaeton in die Runde. "Nachher kommen die noch auf die Idee, uns wegen unserer Gäste zu fragen."

"Besser ist es, wenn wir nicht antworten", sagte Canopus. Alle anderen nickten. Lucine Borgogne sagte dazu nur:

"Mein Sohn wird behaupten, daß die Drachen nicht gegen die Entomanthropen, sondern die Schlangenwesen vorgeschickt wurden."

"Was ja auch stimmt", erwiderte Phaeton. Er wußte, daß er geradewegs unter dem weit offenen Maul eines Drachens stand. Wenn der Plan, Frankreich für die Ebonesier fügsam zu machen, mißlang, ja sogar in sein Gegenteil umschlug, hätte er besser heute die Fürsorge seiner ruppigen aber pflichtbewußten Nichte auf sich genommen. Denn Versagen durfte keiner im Rat. Versagen hieß, wertlos zu werden. Alle Erfahrung galt dann nichts mehr. Damit würde er das Privileg der ständigen Wiederverjüngungen verlieren, wenn nicht sogar in den Kerker der Seelen geworfen werden, in dem alle Straftäter entkörpert ewige Gefangenschaft zu erleiden hatten, falls keiner auf die Idee kam, ihn in ein nützliches Tier oder eine Pflanze zu verwandeln. Dann würde aus dem Nachwuchs der Insel ein Nachrücker bestimmt, der bereits dreißig Jahre geistig erlebt hatte. Ein Jungspund sollte dann den Rat vervollständigen. Das durfte er nicht zulassen. Aber wie es verhindern?

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Daianira spannte sich an. Der Besen war unsichtbar, und eine von ihr selbst erfundene Mixtur verdrängte alle von ihr ausgeströmten Gerüche. Da kam einer der Drachen, ein fast pfeilförmig gebautes Schuppentier von knapp vier Metern Länge, ungeritten. Die goldenen Augen des geflügelten Feuerspuckers blickten suchend umher. Sie konnten magische Ausstrahlungen von Lebewesen ausmachen. Doch Daianira hatte sich von Anthelia erklären lassen, wie sie die eigene Lebensaura verdunkeln konnte. Da fegte das windschlüpfrige Ungetüm heran, ein wenig kleiner als Valery Saunders und mit einem schmalen, aber langgezogenen Maul, fast einem Rabenschnabel mit zwei Reihen dolchartiger Reißzähne gleich. Sie griff mit ihrer behandschuhten rechten in die auf dem Besen vor sich befestigte Kiste, die mit Flucheinsperrzaubern belegt war und zog eine leicht in ihrer Hand vibrierende Silberscheibe, nicht größer als ein Vierteldollarstück heraus. Die Größe war nicht entscheidend. Decompositus konnte sogar auf eine Stecknadel gelegt werden. Allerdings wirkte sich die Größe des Objektes auf die Haltbarkeit des Fluches aus. Je kleiner es war, desto schneller verflog er. Doch sie wußte, daß ihre Todesdisken mindestens zwanzig Tage ihre tödliche Wirkung versahen. Sie holte aus, achtete darauf, die gefährliche Wurfscheibe nicht mit ihrem Körper oder dem Besen in Berührung zu bringen und warf, als das Ungeheuer keine zehn Meter mehr vor ihr war. Der lange Drachenrachen klaffte zum Feuerstoß offen. Das Ungeheuer hatte sie trotz abgedunkelter Lebensaura, Unsichtbarkeit und Geruchlosigkeit bemerkt, wohl an der magischen Ausstrahlung des Besens. Doch das nützte ihm nichts mehr. Klirrend streifte die Todesmünze einen der vorderen Zähne, der schlagartig dunkel anlief, schlidderte über die Zunge, die unverzüglich austrocknete und geriet in die Speiseröhre des Ungetüms, das laut losröhrte, wobei grüner Qualm aus dem Schlund des Drachens kam. Daianira hatte sich zur Seite geworfen. Ein letzter Flammenstoß fegte an ihr vorbei. Doch das Feuer war dunkel und mehr Ruß als Flamme. Dann sackte der getroffene Drache durch. Immer dichter wurde der grüne Brodem aus dem Schlund des Ungeheuers. Dann bemerkte Daianira, wie der blaue Schuppenpanzer in sich zusammenfiel. Der Drache war also wirklich von innen her zersetzt worden. Die Todesdisken wirkten.

"Nicht so keuchen, Daianira. Nachher bricht dir der Kreislauf zusammen, und dann sind wir beide erledigt", mahnte Anthelias Gedankenstimme die, die ihren Körper mitversorgte.

"Ich wünschte mir, wir würden für einen Moment mal die Rollen tauschen, vorlautes Balg", knurrte Daianira. Dann sagte sie ruhiger: "Du fällst mir nicht raus, bevor Leda dir erlaubt, rauszukommen, Lia."

"Du sollst mich nicht Lia nennen", schnarrte Anthelias Gedankenstimme.

"So wirst du heißen, Kleines, Thalia. Und jetzt gib Ruhe! Keine zwei Kilometer entfernt werden unsere Schlangenjäger gerade von einem dieser Drachen belästigt."

Anthelia schwieg. Sie hörte Daianiras Herz lauter als üblich, sowohl in Daianiras Ohren als auch in ihren, gerade entwickelten Gehörgängen. Das konnte noch was werden, wenn diese Biester in drei Monaten immer noch da waren. Daianira flog weiter und schaffte es, einen weiteren Drachen mit einem Todesdiskus von innen auszubrennen. Dabei dachte sie an Valery Saunders. Wenn sie mit diesen Monstern von der Insel übte würde dieses Bienenflittchen keine Chance haben. Der Versuch, auch einen Schlangenmenschen damit zu erledigen schlug fehl, weil die Todesscheibe bei der Berührung mit der am Boden laufenden Kreatur weiß aufglühte und zersprang. Nur in der freien Luft konnten sie besiegt werden. Daianira wurde zwischendurch von ihrer Cousine zurückgepfiffen, um sich nicht zu überanstrengen. Als sie ihr einen Todesdiskus zeigte sagte Leda nur, daß ihr das übel aufstoßen würde, wenn sie eine Mitschwester ohne Grund bei einem Fluchunfall umkommen ließe und das Eileithyia sie dann sicher in ihrer Klinik in die geschlossene Abteilung an ein Bett binden ließ, bis Anthelia wiedergeboren war.

In den nächsten Tagen holte Daianira weitere zehn Drachen vom Himmel. Dabei traf sie auch einen Reiter, einen Mann mit pechschwarzem Haar. Sie pflückte ihn mit einem Fangnetz-Zauber vom Drachen und wollte ihn verhören. Da warnte Antehlias Geist im Medaillon sie: "Vorsicht, Selbstvernichtungszauber!" Daianira sprang zurück, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie ihr Gefangener im blauen Schmelzfeuer verging. Der von ihm gerittene Drache bäumte sich laut schreiend auf, stieg senkrecht wie eine Rakete in den Himmel empor und explodierte auch ähnlich eines solchen Feuerwerkskörpers in einem blauen Feuerball, aus dem glühende Hautfetzen herausgewirbelt wurden.

"Sie sind gegen Verrat geschützt", stellte Anthelia mit einer gewissen Anerkennung fest. "Aber das ihre Drachen sterben, wenn sie sterben ist eine sehr wichtige Erkenntnis."

"Das freut dich, daß dein perfider Verratsunterdrückungsfluch bereits anderswo Schule gemacht hat, wie."

"Dich freut doch auch, daß andere mit Schmelzfeuer hantieren können wie du", stichelte Anthelia zurück.

"Gewonnen haben wir dadurch wenigstens nichts, wenn wir das Nest dieser Drachen zuschütten wollen", knurrte Daianira. "Nun denn, bleibt eben nur die Vernichtung."

"Das wird diesen Eigenbrödlern zu denken geben, daß ihre Streitmacht nicht unbesiegbar ist", erwiderte Anthelias Gedankenstimme. Dann meinte sie: "Irgendwie habe ich jetzt Hunger."

"Soso, du hast Hunger", feixte Daianira. "Soll ich jetzt was essen, damit du mir nicht vom Fleisch fällst? Mach ich doch gerne." Leda meinte dann, als Daianira bei ihr apparierte: "Da bist du doch dran gewöhnt, sechs kleinere Mahlzeiten am Tag zu essen. Und je weiter Anthelia ist, desto mehr mußt du essen."

"Bis ich rolle", schnarrte Daianira. Einmal mehr empfand sie ihre anderen Umstände als lästige Angelegenheit. Doch immerhin hatte sie mehrere Drachen abgeschossen und den von Anthelia auf die Schlangenkrieger angesetzten Entomanthropen Luft verschafft. Womöglich konnte sie diese Brut damit sogar ganz ausrotten.

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31. Dezember 1997

Ich habe mir das jetzt fünf Tage angesehen, wie Lynn Borrows ihren Verlobten behandelt. meine Großmutter bestand darauf, die beiden ihre Differenzen selbst regen zu lassen. Als in Whitesand Valley residente Heilerin und Familienfürsorgerin wollte ich das neue Jahr nicht eintreten lassen, ohne Grund und Verlauf der Differenzen zu klären. Deshalb ersuchte ich zunächst William Huxley, mir Bericht zu erstatten, was aus seiner Sicht zu jener unterkühlten, ja eiszeitlichen Stimmung geführt habe. Er beteuerte, einen schwerwiegenden Fehler gemacht und seine Verlobte am Morgen des zweiten Weihnachtstages mit dem Namen Aurora angesprochen zu haben. Meine Befragung ergab, daß er einmal ein über bald sieben Monate dauerndes Verhältnis mit einer Nachbarin namens Aurora Dawn gepflegt habe, bei dem es zwar nie zur geschlechtlichen Vereinigung kam, er jedoch den Eindruck gewonnen habe, mit ihr das restliche Leben verbringen zu können. Angeblich habe sie einen Verlobten gehabt, weshalb er das Verhältnis enttäuscht, aber mit der gebotenen Würde beendet habe. Hier habe er von Timm Abrahams erfahren, daß es sich um meine Kollegin aus Australien handele, die das Argument mit der Verlobung wohl vorschützte, weil sie ergründete, daß er mit ihr, einer Hexe, wohl nicht würde zusammenleben können. Er habe in der fraglichen nacht von der rreal nie stattgefundenen Vereinigung mit ihr geträumt und im Dämmerzustand wohl die neben ihm schlafende Lynn für Aurora gehalten. Auf die Frage, ob er meine Kollegin immer noch liebe und Lynn nur als zweite Wahl erwählt habe bekundete er mir, daß er mit Lynn glücklich sei und sie heiraten wolle, auch wenn er jetzt wisse, daß Aurora immer noch frei sei, weil er verstehen könne, daß sie sein Gedächtnis beeinflussen mußte, um ihr Geheimnis zu bewahren, mit dem er wohl ohne die von Todessern zerstörte Party niemals hätte konfrontiert werden wollen.

Ich bestellte daraufhin Lynn ein, die mir widerspenstig begegnete. Ich kenne dieses Verhalten von Frauen, egal ob mit oder ohne magische Begabung. Ich wollte sie jedoch nicht mit einem konkreten Verdacht konfrontieren, ehe ich mir nicht ihre Version der Begebenheiten angehört hatte. Natürlich lehnte sie es zuerst ab, mir zu berichten, was sich zutrug. Da offenbarte ich ihr, daß ich mir dann eben nur ein Bild aus Bills Beschreibung erstellen könne. Da schilderte sie mir unter Tränen, daß sie wütend sei, weil Bill sie offenbar nicht wirklich liebe und wohl immer noch seiner Ex-Freundin Aurora Dawn nachhinge. Sie habe Angst, daß sie nur zweite Wahl sei und er sie verlassen wolle, sobald sie aus dem Tal herauskämen. Auf meine konkrete Frage, warum sie Angst habe und nicht nur einfach enttäuscht sei versuchte sie wieder, mir mit Verstocktheit zu kommen. Das räumte letzte Zweifel an meinem Verdacht aus. Ich bestand darauf, sie zu untersuchen und vom Ergebnis abhängig zu besprechen, ob es einen Weg gäbe, mit Bill wieder friedlich zusammenzukommen oder sie in Zauberschlaf zu versenken, falls sie ihn wahrlich nicht mehr sehen und sprechen wolle. Sie fragte dann, warum ich sie nicht gleich in Zauberschlaf versenke. Da sagte ich, daß mir ihr Verhalten jetzt und an den vergangenen Tagen verdächtig nach den Frühstadien einer Schwangerschaft aussähe. Naturgemäß wies sie diese Vermutung erst einmal von sich und setzte an zu gehen. Da sagte ich ihr auf den Kopf zu, daß wir alle warten könnten und ich es noch früh genug erfahren würde, ob oder ob nicht. Da ließ sie sich auf die Untersuchung ein. Sie fiel positiv aus. Sie befindet sich bereits in der vierten Woche, empfing das Kind also definitiv in Whitesand Valley. Ich sicherte ihr zu, daß Ergebnis vertraulich zu behandeln, sie jedoch nicht in Zauberschlaf versenken könne, da dieser ein Risiko für Mutter und Kind sei. Ihre gehässige Bemerkung, sie würde das Kind nicht behalten, und ich könnte sie nicht davon abbringen, es abzutreiben konterte ich mit dem Heilergrundsatz, jedes menschliche Leben vom Zeitpunkt der Zeugung an zu schützen und ich sie dann wohl für alle kenntlich fixieren müsse, bis das Kind geboren sei. Außerdem möge sie bedenken, daß sie womöglich die letzte Chance verspiele, mit Bill ein glückliches Leben zu führen, wenn sie sein Kind töte. Denn eigentlich, so erkannte ich durch das Gespräch, wolle sie ihn ja nicht verlieren. so sagte ich ihr: "Behalten Sie das Kind, werden Sie auch Ihren Verlobten behalten und ihn irgendwann heiraten."

Ich hoffe, die beiden werden sich heute abend wieder annähern. Wir feiern heute Abend in das neue Jahr hinein, allerdings ohne Alkohol und Feuerwerk.

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"Wir müssen Zugriff auf die geheimen Unterlagen kriegen, an die dieser Didier nicht herankommt", knurrte Phaeton Maintenon, als er in den oberen Etagen des Felsenpalastes mit seiner derzeitigen Lebensbegleiterin im Schlafzimmer war. Die Ebonesierin war mindestens fünfzig Jahre jünger als Phaeton. Doch die Lebenshüter der Insel hatten sie beide als zur Zeugung hochwertiger Nachkommen zusammengesprochen. Von den gerade 19840 Bewohnern der trapezförmigen Insel waren alle irgendwie miteinander verwandt. Daher mußten die Lebenshüter, die Heiler und Nährmütter, aus den Familien solche auswählen, bei denen die Gefahr von verstärkter Inzucht so gering wie möglich war. Phaeton hatte bisher zwei Nachwuchszusagen erhalten und einen Sohn und eine Tochter gezeugt, die bereits anderen Partnern zugesprochen worden waren. Manchmal lief das sogar darauf hinaus, daß Partner ein Leben lang blieben. Den Wiederverjüngten war es pro Leben nur einmal erlaubt, ein Kind zu zeugen. Wurden es mehr, wurde ihnen aufgetragen, solange keinen Nachwuchs mehr zu zeugen, bis die bereits geborenen Kinder nicht mehr lebten. Phaeton war zwar führendes Ratsmitglied und durch seine bereits dreimaligen Wiederverjüngungen mit der Erfahrung eines mehr als zweihundert Jahre alten Zauberers ausgestattet. Doch wenn er so nachdachte, was sich auf dem Festland in diesen zwei Jahrhunderten getan hatte und was hier auf der Insel an Fortschritt passiert war, mußte er heimlich, bloß nicht offen, einräumen, daß seine Erfahrung gerade einmal die eines Vierzigjährigen war, der seit zwanzig Jahren den gleichen Beruf mit den gleichen wiederkehrenden Arbeitsgängen ausübte.

"Du bist der guten Callirhoe noch einmal von der prallen Büste gesprungen, Phaeton. Ich dachte schon, ich müßte mir von Syrinx wen neues zusprechen lassen", sagte Lavinie, eine Gärtnerin und strahlte ihren Lebensgefährten an.

"So wie sie aussah ist mir da gewiß eine Menge entgangen. Aber ich mag es auch eine Nummer kleiner, wenn der Spaß dabei groß genug ist", grinste Phaeton und langte nach der erdbraunen Schürze seiner Anvertrauten. Diese ließ sich gefallen, daß er sie an privaten Stellen berührte und schwieg. Dann sagte Phaeton mit Blick auf die vier dicht begrünten Hügel, die im Trapez über die gleichfalls trapezförmige Insel verteilt lagen: "Die Leute, die unter diesen Hügelkuppen wohnen zählen alle darauf, daß wir den Riesenhaufen Drachenmist von ihnen fernhalten, der im Verschmähten Land angerichtet wurde. Wenn die alle wüßten ..."

"Den Start unserer Wächter haben sie alle mitbekommen. War ja nicht zu übersehen, wie die Drachen aus den senkrechten Schächten herausschossen und dann nach Norden abbogen."

"Hoffentlich müssen wir nicht neue Drachen machen, bevor mein Mond rum ist." Auf der Insel Ebonesia zählten sie dreizehn Mondmonate, die nach den Gründerfamilien von 1692 benannt worden waren. Der Maintenon würde in zwanzig Tagen zu Ende gehen. Dann kam der Gaspardin. Er dachte an Cagliostro, der jetzt dazu angehalten wurde, nur noch zu quängeln oder zu schreien, wenn er was wollte. Das Gedankensprechen von Wiederverjüngten wurde von den Nährmüttern arg bestraft, wenn sie ihre Zöglinge dabei erwischten. Dann verloren die nämlich ihr komplettes Gedächtnis und mußten ein ganzes Wachstum alles neu erlernen. Die ganze Erfahrung war dann weg.

"Willst du die Grandchapeaus wirklich morgen in die Kammer der vollen Offenbarung stecken? Sie werden es nicht überleben, wenn du ihr Gedächtnis derartig aussaugst, um ihr Wissen zu erlangen."

"Bitte du nicht auch noch, Lavinie. Ich muß wissen, was dieser beharrlich stoische Kerl weiß. Und wenn sein Weib noch zusätzliche Geheimnisse kennt, muß ich die auch kennen."

"Welche zusätzlichen Geheimnisse sollen das sein, außer dem, was die Frau von einem Mann wie dir unterscheidet?"

"Unser Kundschafter sagt, sie habe mit der Mutter eines überragend zaubermächtigen Schlammblutes zusammengearbeitet. Ich muß wissen, was die über dieses Balg weiß."

"Du hast Angst, dieser Junge könnte beweisen, daß nicht nur Reinblüter mächtige Zauberer sein können."

"Es darf einfach nicht angehen, daß unsere Ideale von der Natur derartig verhöhnt werden. Wir Magier beherrschen die Welt. Wir können sie uns unterwerfen. Da dürfen wir uns von ihr nicht derartig verhöhnen lassen."

"Die Unfähigen behaupten ähnliches", sagte Lavinie und erschrak. Phaeton sah sie verärgert an. "Wie kommst du dazu, eine Behauptung der Unfähigen zu kennen und dazu noch vor meinen Ohren laut auszusprechen? Diese Barbaren kennen nur Mord und Gier. Damit machen sie die Welt kaputt aber nicht Untertan."

"Ich wollte dich nicht beleidigen, Phaeton", erwiderte Lavinie abbittend dreinschauend. Phaeton nickte ihr sanft zu. Er wollte sich nicht mit ihr streiten. Sie war klug und zaubermächtig, hatte Kunstverstand und eine sehr glückliche Hand im Umgang mit Pflanzen. bisher hatte sie ihm kein Kind geboren. Wußte er, ob er die Geburt seines Kindes in diesem Leben überhaupt noch erleben durfte? Womöglich würde er dann selbst in einer Wiege liegen, einer der Nährmütter anvertraut, solange es nicht seine Nichte war. Dann warf er einen Blick über das Meer. Es brach sich in hohen Wellen an der Felsenküste der vier grob geradlinigen Seiten. Einzelne Buchten, in denen magische Boote vor Anker lagen, schnitten kleine und große Kerben in den Küstenverlauf. Hier hatten vor fünfhundert Jahren die Fischer der Unfähigen gerastet, wenn sie von Italien, Frankreich oder Spanien auf großer Fangfahrt eine windgeschützte Landestelle gesucht hatten. Doch das war jetzt lange her. Wenn sie wollten, konnten sie heute die Wellen weit vor der Küste brechen, um genug Meer zum Baden zu haben. Aber diese verdammenswürdigen Unfähigen kippten seit Jahrzehnten ihren giftigen Unrat ins erhabene Meer, daß die alten Römer Mare Nostrum genannt hatten. Wäre dieser Makel nicht, daß der, der sich Voldemort nannte, ganz sicher von einem Unfähigen abstammte, so würde Phaeton ihm alles Glück der Welt wünschen, um die Pest der Unfähigen auszurotten. Sardonias Weg war auch der falsche, weil sie die Hexen als Führungsmacht einsetzen wollte. Das störte das Gleichgewicht der Empfindungen, wo die Welt in männlich und weiblich gleichmäßig aufgeteilt war, in Leben und Tod, Himmel und Festland, Wasser und Feuer. Doch eindeutig war, daß die, die Magie im Blut hatten, die Verantwortung für alle Menschen hatten, und das hieß auch, daß sie die Herrschenden sein sollten. Phaeton dachte wieder an Grindelwald. Mit ihm wollten sie die selbst auferlegte Isolation beenden. Doch Grindelwald hatte nur darauf gesetzt, die hier auf Ebonesia gehüteten Geheimnisse an sich zu reißen. Er hatte die Unterhändler des Oktagons mit dem Imperius-Fluch belegt und sie angestiftet, ihre Herren zu ermorden. Dieser heimtückische Vertrauensbruch war nur daran gescheitert, daß die zum Verrat gezwungenen beim Betreten der Insel einen qualvollen Tod starben, weil sie Mord im Sinne hatten, Mord an ihren Vorgesetzten versteht sich. Phaeton wußte, daß es verheerende Auswirkungen haben konnte, wenn es gelänge, die Schutzzauber und den Bann gegen unbefugte Eindringlinge zu brechen. Die Insel wäre dann ein lohnendes Ziel machtgieriger Zauberer, vor allem solcher, deren mit Unfähigenblut vermischter Lebenssaft sie zu gierigen und gewalttätigen Ungeheuern machte. Dies zu verhindern galt der laufende Plan, den er, Phaeton Maintenon, überwachte.

"Es ist dunkel draußen, Phaeton. Gleich wird die Abendstundenglocke schlagen. Ich habe das Essen fertig. Du bist doch bestimmt froh, noch feste Nahrung zu dir nehmen zu dürfen."

"Nach meinem Empfinden kann das auch die nächsten Jahre so bleiben. Aber unsere Gesetze sind unerbittlich. Will ich im Rat verbleiben, muß ich spätestens nach dem fünfundneunzigsten Lebensjahr die Wiederverjüngung erbitten, warum unsere Vorfahren das auch so festgelegt haben. Überschreite ich den Termin, werde ich ausgeschlossen und muß mein restliches Leben ohne Einfluß verbringen und mich dem Tod überlassen. Vielleicht wäre das auch keine schlechte Idee", seufzte er leicht melancholisch.

"Wir beide sollen aber vorher noch einen neuen Mitbürger auf den Weg bringen", knurrte Lavinie. Die Vorstellung, mit einem Zauberer aus dem Rat zusammenzuleben, der fünfzig Jahre älter als sie war, dessen Launen und Grübeleien auszuhalten, ohne den ersehnten Nachwuchs hinzubekommen, wäre eine reine Lebenszeitverschwendung. Und sie konnte keine Wiederverjüngung erbitten, weil sie als Gärtnerin der Bevölkerungsmehrheit der Handwerker und Nahrungsbeschaffer angehörte. Dann sollte ihr dieser schon angejahrte Typ noch etwas für die kleine Wiege in den Schoß legen, die schon lange auf einen Bewohner wartete. Um dieses Vorhaben voranzutreiben würzte sie das Abendessen mit zulässigen Lustanregern, die selbst einen Hundertjährigen wie einen Zwanzigjährigen begehren ließen. Phaeton gab sich der in ihm entfachten Lust hin, wobei er jedoch daran dachte, ob er am nächsten Morgen wirklich den Schlüssel zur Rettung seines Planes in die Hände bekam. Er dachte daran, daß jetzt, wo er dabei war, hoffentlich neues Leben zu erschaffen, die Grandchapeaus durch ihn wohl bald ihr Leben verloren. Doch er hatte nicht damit gerechnet, daß eine, die sich um ihre Liebe und Mutterfreuden betrogen fühlte, bereits gegen ihn arbeitete.

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Armand Grandchapeau lag auf der dunkelrot widerscheinenden, wolkenweichen Unterlage und dachte über das nach, was er vorhin von dieser Syrinx erfahren hatte. Sollte es wirklich stimmen, daß jetzt schon der dreißigste oder einunddreißigste Dezember war? Traf es zu, daß sie ihn und seine Frau nur deshalb am Leben gehalten hatten, um sie demnächst wie reife Zitronen auszupressen, was sie beide über das französische Zaubereiministerium wußten? Sollte es angehen, daß diese ganze Gefangenschaft hier nur deshalb angeleiert worden war, weil die geheimnisvollen acht der Elfenbeininsel Angst vor dem Unnennbaren hatten, obwohl dieser doch eigentlich in ihrem Sinne handelte? Als langjähriger Zaubererweltpolitiker, der sich ruhig und beharrlich durch alle Instanzen der Ministerialhierarchie gearbeitet hatte, traute er Aussagen nur, wenn er sie von mindestens zwei unabhängigen Stellen bestätigt bekam oder mit eigenen Sinnen nachprüfen konnte. Doch welchen Grund mochte es geben, dieser Fremden nicht zu trauen. Eben nur den, daß er sie nicht kannte und hier in diesem Kerker nicht mehr mitbekam, wo er war und wie viel Zeit bereits verstrichen war. Vielleicht hatten sie ihn und seine Frau bereits nach der Entführung mit Zaubern ausgeforscht. Vielleicht stimmte das Datum auch nicht, und sie waren durch einen perfiden Trick, die Essensausgabe alle drei Stunden oder so zu veranstalten, davon überzeugt worden, bereits seit mehr als einem Monat hier festzusitzen, wo draußen womöglich nur eine Woche vergangen war. Denn das Essen unterschied sich nie, konnte also nicht als Frühstück, Mittag- oder Abendessen erkannt werden. Obwohl, einen Indikator gab es doch, daß sie nicht nur eine Woche hier waren. Seine Frau hätte es ihm bestimmt verraten, wenn sie noch keinen Monat hier zugebracht hatten. Der und ihren Körperfunktionen konnte er wohl trauen. Also nahm er es einfach hin, daß sie seit Ende Oktober hier in diesem ausgepolsterten Loch saßen und ... Leises Rascheln vor der Massiven Tür holte den Minister aus seinen Gedanken. Er lauschte. Ganz leise schabte etwas metallisches an Holz. Einmal, zweimal, dreimal! Beim vierten Mal klickte es in der Tür, und sie schwang sachte nach außen weg. Armand Grandchapeau stupste seine Frau an, die neben ihm halb eingerollt lag und leise und langsam atmete. Da stand diese Syrinx Chaudchamp in einem diesmal kurzen Einteiler, fast wie einer dieser modernen Badeanzüge aus der Muggelwelt und trug Halbschuhe. Ihr Zauberstab lag einsatzbereit in ihrer Hand.

"Bitte aufstehen und mir folgen", zischte sie den beiden Gefangenen zu. "Der Überwachungszauber wird in zwei Minuten wieder in Kraft treten. Wir müssen uns beeilen, den freien Trakt zu erreichen, bevor jemand Sie aufspüren kann."

"Und wenn das eine Falle ist", zischte Nathalie Grandchapeau.

"Dann hätten sie es nicht nötig, uns hier aus dieser Zelle zu holen, Nathalie", wisperte Armand Grandchapeau und stand auf. Der graue Leinenumhang, den er trug flatterte auf Wadenhöhe. "Man hat uns entkleidet und beraubt", knurrte er die Fremde an. "Wenn Sie uns wirklich hier heraushelfen wollen, brauchen wir unsere Zauberstäbe."

"Nicht hier, Monsieur Grandchapeau. Die Stäbe würden mit Spürzaubern wechselwirken. Mein Stab ist bekannt, und ich genieße Bewegungsprivilegien. Aber Ihre Zauberstäbe würden als die von Unbefugten erkannt. Dann könnte uns entweder die Brigade der Knöchernen oder einer der verbliebenen Jäger verfolgen und umbringen. Also kommen Sie bitte!"

"Wir haben keine andere Wahl, Nathalie. Wenn sie uns töten wollen, dann lieber unter freiem Himmel", wisperte Armand seiner Frau zu. Diese nickte und folgte ihrem Mann. Sie waren beide ohne Schuhe und Strümpfe in diesem Kerker gelandet. Jetzt kapierten sie auch, wieso der Boden unter einer dicken Daunendecke verborgen war. Die Steinplatten vor der Tür waren kalt und rauh. Syrinx zog die Tür zu, legte ihre Hand auf den Rahmen und schob leise die vier Riegel zu. Dann trieb sie die beiden Gefangenen mit Gesten und Blicken durch einen von mehreren Dutzend Kerzen an den Wänden erhellten Gang. Der Minister fragte sich auf dem Weg durch den Tunnel, warum nicht auch hier die magischen Leuchtsphären an der Decke hingen. Leise patschend liefen seine Frau und er hinter Syrinx Chaudchamp her, die den zauberstab immer mal wieder sacht bewegte. Womöglich hob sie Meldezauber auf oder bestätigte diesen, daß sie es war, die passieren wollte. Das ganze vollbrachte sie ohne ein einziges hörbares Wort. Dann blieb sie wie vor eine Wand geprallt stehen. Die Grandchapeaus hörten es jetzt auch, die tapsig klingenden Schritte von vorne. Aus dem rechten Gang des Y-artigen Abzweigs tauchte jemand mit einer Öllaterne in der rechten Hand auf, der ebenfalls graues Leinenzeug trug. Armand erkannte ihn. Das war jener Wärter namens Sannom. Jetzt konnte er auch erkennen, daß die merkwürdige Verzierung an seinem Hals nicht nur blau und grün war, sondern auch einige dunkelviolette Verbindungsschnörkel enthielt. Es war wirklich eine Tätowierung, wie Südseeinsulaner oder verwegene Seefahrer sie früher benutzt hatten. Syrinx sah den Mann an, der jetzt, wo sie ihn im Ganzen sehen konnten, einen wirklich bemitleidenswerten Anblick bot. Er war klapperdürr, wirkte unbeholfen und bewegte sich so, als müsse er jederzeit mit einem Angriff rechnen. Einen Zauberstab konnten die Grandchapeaus nicht sehen.

"Dorian, wir gehen mit den beiden zum Ausgang", zischte Syrinx, bereit, den Zauberstab einzusetzen. Womöglich traute sie diesem mann nicht so recht über den Weg. Dieser nickte jedoch und sah die Ministergattin an.

"Ihr ist kalt", sagte er. "Sie braucht Schuhe."

"Nicht hier, Dorian", fauchte Syrinx. Wir müssen erst aus den unteren Räumen heraus, bevor die merken, daß die beiden hier nicht mehr in ihrem Raum sind."

"Wir kriegen Ärger, wenn wir die nicht wieder da reinbringen", knurrte Sannom. Syrinx Chaudchamp machte eine leichte Andeutung mit dem Zauberstab. Die reichte jedoch aus, um den anderen kurz vom Boden anzuheben und zurückzutreiben. "Wenn du wissen willst, was mit dir ist müssen wir die beiden rausbringen", schnarrte Syrinx. "Also komm. Du kennst dich hier besser aus als ich."

"Die Knochenmänner werden die beiden nicht rauslassen. Und die Feuerspucker können die umbringen. Aber ich bring die raus", seufzte Sannom und führte mit Syrinx die kleine Gruppe an.

Es ging durch mehrere Tunnel, sanfte Rampen hinauf und hinunter, sogar einmal durch einen Schacht mit einer Wendeltreppe. Armand Grandchapeau fragte sich schon, ob die beiden wirklich den kürzesten Weg gingen oder sich mit ihnen in diesem Labyrinth verirrt hatten. Da hörte er das laute Schaben schwerer Steinbrocken auf Stein und ein scheinbar endgültiges Rumpeln, als Stein gegen Stein prallte. Das war vor ihnen. Dann passierte es auch hinter ihnen. Sie wurden eingesperrt. Also doch eine Falle.

"Die haben gemerkt, daß ich hier rumlaufe. Nachts darf ich nicht hier durch", wimmerte Sannom. "Könnt Ihr nicht machen, daß wir durchkommen, Herrin?" Fragte er Syrinx unterwürfig wie ein dem Tode geweihter Sklave. Vielleicht war er das sogar, dachten Nathalie und Armand Grandchapeau. Syrinx hob den Zauberstab an und rief "Passeantur totum!" Es polterte, und Armand konnte einen mindestens vier Meter großen Felsblock sehen, der sich in zwanzig Metern Entfernung bewegte und rumpelnd zurückrollte. Syrinx' Zauberstab glomm nun in einem grünen Licht, als habe sie einen abgedunkelten Lichtzauber für reines Grün aufgerufen. Dann trieb sie alle zur Eile an. Sannom lief verhalten hinter den drei anderen her, immer wieder griff er sich an den Hals, als schmerze ihn etwas. Doch sie eilten weiter, bis sie vor einer flimmernden Wand ankamen. Syrinx fauchte verärgert und stieß den immer noch leuchtenden Zauberstab in die Barriere. Diese prasselte, waberte und verpuffte dann.

"So, jetzt haben wir den Alarm ausgelöst", sagte sie. Wir müssen uns jetzt beeilen, bevor sie ergründen, warum diese Barriere der Ratsbrüder durchstoßen wurde."

"Da vorne ist der Ausgang. Ich kann da nicht raus. Mein Hals", keuchte Sannom. Jetzt konnten die Grandchapeaus sehen, daß die Tätowierung in einem bedrohlichen Scharlachrot glühte. Offenbar peinigte sie ihren Träger und zwang ihn, nicht über eine festgelegte Grenze zu treten.

"Du kannst uns draußen eh nicht helfen, Dorian. Danke für die Hilfe. Die Zugänge sind noch für einige Minuten offen. Lauf zurück und geh in deinen Schlafraum!" Zischte ihm Syrinx zu, während sie die Grandchapeaus vorantrieb. Sannom nickte und lief wie ein aufgescheuchter Kater davon. Die Grandchapeaus brauchten keinen Hinweis, daß die Zeit nun gegen sie lief. Sie liefen todesmutig auf die pechschwarz gähnende Öffnung zu, die wie ein hohes, spitzes Dreieck das Ende des Ganges bildete. Syrinx lief nun zwischen die Grandchapeaus und wirbelte kurz den Zauberstab über ihrem Kopf. Ein hauchzarter blauer Lichtstrahl stieg daraus auf und wurde zu einem pilzartigen Schirm, der sich um die drei spannte und sich bis nach unten ausdehnte. Dann liefen sie weiter, durch die Höhlenöffnung, wobei der sie umfangende Schirm für einen Moment rot flackerte. Dann sahen sie durch die hauchzarte blaue Leuchterscheinung den Nachthimmel. Mit einem Knistern zerstob das magische Licht.

"Sie können nicht sofort von der Insel herunter. Nachts patrouillieren die Knöchernen und ein geflügelter Wächter, dessen Wärmesicht Sie unmittelbar erfassen wird, wenn sie zu fliehen versuchen. Den zeitlosen Standortwechsel können Sie von hier aus nicht vollbringen. Ich muß das Tor öffnen. Doch das liegt an der Ostküste und geht nur auf, wenn es Tag ist. Da drüben ist eine Waldhütte. In der wohne ich. Sie ist durch Schutzzauber gegen die Knöchernen gesichert. Kommen Sie!"

Die Grandchapeaus folgten ihrer Befreierin, sofern sie sie nicht doch in eine Falle locken wollte. Von ferne hörten sie ein rhythmisches Klappern und Klirren, das aus drei Richtungen gleichzeitig kam. Sie tauchten in einen Pinienwald unter, der sich zwischen zwei Hügeln erstreckte. Der Zaubereiminister und seine Frau fühlten ihre Füße schmerzen, als sie über den rauhen, mit Nadeln übersähten Boden rannten, bis sie vor einer Blockhütte standen, die ein merkwürdiges Kribbeln ausstrahlte, als sei das kleine Holzhaus mit einer abweisenden Kraft erfüllt. Syrinx hob erneut den Zauberstab, zielte auf die Tür und vollführte vier geometrisch abgemessene Bewegungen, einen Kreis, ein Dreieck mit nach unten weisender Spitze, eine Spirale mit acht Windungen und eine waagerecht liegende Elipse im Uhrzeigersinn. Dann sprang die Tür auf und formte einen grünen Torbogen, der sich zu einem etwa vier Meter langen Durchgang auswuchs. Mit der freien Hand bedeutete die Führerin ihren Begleitern, durch diesen grünen Lichtkorridor zu laufen. Das Klappern und Klirren kam schnell näher, und von irgendwo tutete ein Horn, dem ein unheilvolles Brüllen aus der Luft antwortete.

"Er kann doch sicher die Spuren von uns sehen", zischte Armand Grandchapeau und meinte wohl den Wächter mit dem Wärmesichtvermögen.

"Ich verwische die, sobald Sie durch den Zugang sind", schnaubte Syrinx. "Ich muß eh draußen bleiben, weil ich gleich noch in den Felsenpalast zurück muß, um den Wiegenbelegungsplan der Nährmütter entgegenzunehmen. Wenn Sie durch die Tür sind, schließen Sie sie. Der Zugang verschwindet dann und schließt den Schutzring um das Haus wieder. Ich hole Sie morgen ab, wenn die Sonne wieder aufgegangen ist. Gute Nacht!" Armand Grandchapeau trieb seine Frau zur Eile an, weil das Klappern und Klirren immer näher kam, und von ganz weit oben ein leises Flattern zu hören war, als wenn eine gigantische Fledermaus die Flughäute schwang. Doch der Minister wußte, daß das keine Fledermaus war, auch wenn er das verhängnisvolle Flügelschlagen eines anfliegenden Drachens als wesentlich mächtiger in Erinnerung hatte. Er trieb seine Frau durch den kurzen, grünen Lichttunnel, während Syrinx mit über den Boden fegenden Zauberstabbewegungen und kaum vernehmlichen Worten offenbar die Fährte auslöschte, die sie hinterlassen hatten. Dabei bewegte sie sich von der Hütte fort. Der Minister und seine Frau traten durch die offene Tür, Armand hinter seiner Frau. Dann schloß er die Tür. Ein leises Plopp erklang, gefolgt von einem kurzen Brummen, das so tief klang, daß es schon fast unterhalb der menschlichen Hörgrenze lag. Armand konnte sehen, wie eine sachte flimmernde, aber an sonsten völlig durchsichtige Wand um die Hütte entstand. Dann erhaschte er noch einen Blick auf Syrinx Chaudchamp, die wie mit Flügeln an den Beinen über den Boden dahinglitt und die hinterlassenen Fußspuren vernichtete. Doch dann sah er viele glühende Punkte, immer zwei nebeneinander. Das waren Augen! Augen, die wie rotglühende Kohlen waren und in dunklen, runden Köpfen steckten. Dann konnte er die Träger dieser Köpfe erkennen. Es waren wandelnde Skelette, die mit wuchtigen, gebogenen Schwertern bewaffnet, in Kettenrüstungen gehüllt marschierten.

"Das sind die Knöchernen", wisperte Nathalie Grandchapeau. Ihr Mann nickte. Er beobachtete den Marsch der gerüsteten Gerippe. Sie klapperten in Viererreihen und weit ausgreifenden Schritten durch den Wald. Außer den von einer dichten Kapuze bis zu den Oberschenkelknochen reichenden, kohlschwarzen Kettenmänteln trugen sie keinen Schutz. Das es völlig skelettierte Wesen waren konnte jedoch daran gesehen werden, daß die wandelnden Knochengerüste viel zu dünn waren, um Fleisch und Blut zu besitzen. Die frei beweglichen Arme und Beine vervollständigten die Anzeichen, es mit bereits lange toten oder extra für diese Aufgabe erschaffenen Gestalten zu tun zu haben.

"Wie lange ist das her, daß wir in London dieses Klipp-Klapp-Quintett gesehen haben, Chérie?" Fragte Armand seine Frau mit gewissem Unbehagen, als die Knöchernen im respektvollen Abstand um die Holzhütte herumliefen und ihren Marsch fortsetzten, dessen Ziel, das konnte der Zaubereiminister jetzt sehen, ein Zwischending aus Burg und druidischem Heiligtum war, ein Gebäude aus acht Türmen, die durch eine Mauer miteinander verbunden waren. Eines der Skelette duckte sich und drang in die Höhle vor, aus der sie gekommen waren. Offenbar mußten die Gerippe diesen Zugang untersuchen. Denn eine Kolonne Knochenmänner verschwand klappernd und klirrend in der Höhle.

"Zwanzig Jahre ist das mindestens her, Armand. Aber das waren bestimmt künstlich kreierte Skelette. Bei denen da denke ich an nekromantische Verwünschungen."

"Du meinst das Decarniservus-Ritual, Nathalie?" Fragte Armand. "Schon möglich, daß die Wächter dieser Insel diesen Leichenflädderer-Fluch hier skrupellos anwenden, um ihre Toten als Schutztruppe weiterarbeiten zu lassen. Und die nennen sich zivilisierter als Muggel."

"Was immer die Hütte umgibt hält sie uns wenigstens vom Hals", wisperte Nathalie. "Hoffentlich können sie uns hier drinnen nicht aufspüren."

"Wenn der Schutzring das ist, was ich draußen gespürt habe wirkt der gegen alle Feindeskräfte und -sinne. Besser konnte uns diese Syrinx nicht verstecken. Denn wenn das echte Decarniservus-Opfer sind, könnten sie lebende Wesen auf Meilen wittern und auch unsichtbare Seelen spüren."

"Was, wenn sie Syrinx festnehmen und umbringen?" Fragte Nathalie Grandchapeau. "Wir sind so gut wie nackt ohne Schuhe, Besen und Zauberstäbe."

"Alte Binsenweisheit, Nathalie. Jeden Morgen geht die Sonne auf. Mal sehen, was sie uns zeigt", sagte Armand, der jetzt etwas zuversichtlicher war. Vielleicht wollte er aber auch nur den Eindruck vermitteln, der Lage gewachsen zu sein, um seiner Frau einen sicheren Halt zu geben.

"Ich frage mich, wer dieser bedauernswerte Mensch ist, dieser Dorian Sannom. Warum heißt der Namenlos?"

"Jedenfalls ist er genauso ein gefangener wie wir es noch sind, Nathalie. Nur mit dem Unterschied, das er lebenslänglich eingesperrt ist."

"Warum haben sie uns diese Tätowierungen nicht beigebracht?" Wollte Nathalie wissen. "Offenbar sind sie ein sehr wirksamer Kontrollzauber."

"Und vielleicht liegt darin auch ihr Nachteil, Nathalie. Sie behindern womöglich andere Zauber und vereiteln den Transport. Wenn sie uns anderswo hätten hinschaffen wollen, wären wir wegen solcher Markierungen nicht weit gekommen", erkannte Armand, während die Nachhut der Skelette um das Haus herummarschierte. Von oben kam urwelthaftes Gebrüll, und für einen Moment konnten die Grandchapeaus etwas vor dem gerade ungehindert scheinenden Mond dahinbrausen sehen, das wie eine Liibelle aussah, allerdings nur zwei schlagende Flügel besaß. Das Ungeheuer flog immer engere Kreise. Auf Grund der unbekannten Höhe konnte der Minister nicht einschätzen, wie groß es sein mochte. Im Moment erschien es wie ein knapp zwei Meter über dem Boden fliegendes Insekt. Doch ob das Untier einen Meter oder zwanzig Meter maß wußte er damit nicht. Oder vielleicht doch? Er erinnerte sich an die Berichte über kleine, wendige und schnelle Drachen, die von hier aus gegen Feinde der Elfenbeininsulaner geschickt wurden, das was die Muggel Abfangjäger nannten, wenn sie bewaffnete Flugmaschinen meinten, die sehr rasch gegen anfliegende Feindflugzeuge vorstießen. Die Drachen maßen laut der alten Berichte zwischen vier und fünf Meter von der Nasen- bis zur Schwanzspitze. Dafür konnten sie Feuerstrahlen speien, die dreimal so weit reichten wie sie lang waren. Und eines dieser wendigen Echsenkreaturen patrouillierte also über ihnen.

Mehrere Stunden vergingen, in denen die Skelette über das Land klapperten, wohl die Wälder durchkämmten, um die Flüchtenden aufzustöbern oder zu fangen. Der Patrouillendrache kreiste wie ein lauernder Adler über dem Geschehen. Doch mehr passierte nicht. Entweder hatten sie die Spur verloren oder wollten nur sicherstellen, daß die Geflohenen nicht aus ihrem Versteck entwischen konnten. Dann sahen sie Syrinx Chaudchamp, wie sie von einem weißen Dunst umkleidet über dem Boden dahinglitt, als laufe sie mit Schuhen, die unsichtbare Flügel besäßen oder auf mehreren Zentimeter hohen Luftpolstern über den Boden schritten. Sie sicherte wohl mit einem Blick ab, daß ihr keiner zusah. Dann machte sie jene Zaubergesten, mit denen sie den Zugang zu ihrer Hütte öffnete und eilte durch den grünen Lichttunnel hindurch, bevor der über ihr kreisende Drache die Bewegungen und das Licht erblicken konnte.

"So, bin wieder da", sagte sie. "Konnte doch früher weg, ohne aufzufallen. Diese Knöchernen wollten mir den Weg verstellen, weil sie Befehl haben, den Palast zu sichern. Noch weiß keiner, daß Sie entkommen sind, weil ich die Riegel nicht mit dem üblichen Öffnungszauber entsperrt habe. Aber Dorians Haltemal hat gepetzt, daß mindestens er unterwegs war. Jetzt werden sie wohl die Meldezauber prüfen, ob jemand verdächtiges hindurch war. Die Barriere und den Melder am Ausgang konnte ich leider nicht dezent verschwinden lassen. Immerhin gehen sie gerade nur von einem unerlaubt herumstromernden Bewohner aus. Mein Schirm gegen den Lebensspürer hat Sie beide mit meiner Lebensaura verschmolzen. Ich hoffe, die Skelette und der geflügelte Wächter haben Sie schlafen lassen."

"Wir sind wach geblieben", knurrte Armand. "Wir möchten nämlich drei Dinge wissen. Warum helfen Sie uns? Wie soll es weitergehen? Und wo sind unsere Zauberstäbe? Sie gehen ja wohl nicht davon aus, daß wir den ganzen Weg durch Frankreich laufen oder ohne Geld mit Muggelfahrzeugen reisen können."

"Zur ersten Frage. Ich helfe Ihnen, weil mir klar wurde, daß wir Ebonesier gerade dabei sind, unsere Existenz aufs Spiel zu setzen. Ihr Tod könnte wahrhaftig einen Gegenschlag gegen uns provozieren, so wie dieser Didier nach Meinung unserer Verbindung in Frankreich gerade gestimmt ist. Wie es weitergeht habe ich schon erwähnt. Es gibt ein aus nostalgischen Gründen erhaltenes Tor, daß aber nur von Ratsmitgliedern oder deren Dienern geöffnet werden kann, die in privilegierten Rängen arbeiten. Ich als Lebenshüterin darf dieses Tor öffnen. Ihre Zauberstäbe befinden sich in der Obhut eines geflügelten Wächters. Ich habe jedoch Vorbereitungen getroffen, diesen vorübergehend handlungsunfähig zu machen. Doch Sie dürfen erst von diesen Zauberstäben Gebrauch machen, wenn Sie durch das Tor sind, da ihre magische Signatur Alarm auslösen wird, wenn Sie damit zaubern. Nur die hier gefertigten Stäbe sind mit besonderen Zulassungssignaturen bearbeitet. Ich gebe Ihnen Ihre Zauberstäbe wieder, wenn ich das Tor für Sie geöffnet habe. Damit zur dritten Frage. Wenn Sie durch das Tor sind, gehen Sie nicht sofort den zeitlosen Weg. Man würde Sie für eindringlinge halten und angreifen, so wie die Lage in der verlassenen Heimat gerade vorherrscht. Ansonsten können Sie wohl versuchen, sich durchzuschlagen."

"Ich hoffe, wir können Ihnen vertrauen. Wenn wir jetzt noch Zeit haben, verraten Sie uns bitte, was das mit diesem armen Wicht soll, der ohne Zauberstab und mit diesem Rückhaltemal am Hals in diesem Kerkerlabyrinth herumlaufen muß!" Forderte der Zaubereiminister Frankreichs. Syrinx nickte ihm zu und erwähnte, daß Dorian Sannom vor dreiundsechzig Jahren auf dieser Insel angekommen war. Angeblich sei es der magielose Sohn einer Gemüsebauernfamilie gewesen. Laut den Gesetzen durften jedoch nur magische Kinder von ihren Eltern großgezogen werden, sofern diese ihr Kind ordnungsgemäß von einem Lebenshüter genehmigt bekommen hatten. Da dies offenbar nicht der Fall gewesen sei habe man die beiden Gemüsebauern dazu verurteilt, als Apfelbäume in ihrem Obstgarten zu verbleiben. Dorian sei dann in die Obhut einer jungen Nährmutter namens Callirhoe gegeben worden. Wegen der Magielosigkeit wurde vom Oktagon beschlossen, daß Dorian nur niedere Arbeiten in den unteren Gewölben und Gängen auszuführen habe. Als er dann in das Alter kam, wo andere natürlich aufwachsende Kinder in die Schule der hellen und dunklen Kräfte gingen, wurde er in die unteren Gewölbe geführt und dort mit den Wänden und Durchgängen magisch verbunden, daß er Zeit Lebens nicht mehr herauskommen würde. Erst der Tod würde den bedauernswerten Unbegabten aus diesen Hallen und Gängen befreien. Doch die Tätowierung panzere ihn gegen gewaltsame Todesarten, und es war verboten, ihn mit Zauberkraft umzubringen. Offenbar wollte der Achterrat verhindern, daß jemand über den ersten und bisher einzigen Unbegabten Bewohner dieser Insel redete. Tatsächlich wüßten die meisten Bewohner nicht einmal, daß es ihn gebe, weil außer den Dienern der Ratsmitglieder niemand Zutritt zu den unteren Bereichen habe.

"Dann müssen wir uns am Ende noch geehrt fühlen, daß wir dort zu Gast waren", schnarrte Armand Grandchapeau. "Dann erzählen Sie uns, sofern kein Unterdrückungszauber sie behindert, wer auf die Schnapsidee gekommen ist, meine Frau und mich zu verschleppen."

"Das möchte ich für mich behalten, Monsieur Grandchapeau, da ich möchte, daß diese Person nicht zum Angriffsziel wird und damit mein Land gleichermaßen bedroht wird."

"Sie können nicht von mir verlangen, daß ich das entschuldige, was man mir und meiner Frau angetan hat. Also warum haben Sie uns dann aus diesem Kerker geholt und wollen uns von hier fortschaffen, wo Sie wissen, daß das französische Zaubereiministerium einen derartigen Gewaltakt gegen seine Führung nicht hinnehmen darf?"

"Wie gesagt, ich muß Sie in Ihr Land zurückschicken, damit wir weiterleben können. Sterben Sie hier wie das Ratsmitglied, daß den Plan mit Ihrer Verbringung hierher angeregt hat es will, werden wir wohl schnell von rachsüchtigen Mitarbeitern des Ministeriums heimgesucht. Nur Sie können dafür sorgen, daß es nicht zu einem Krieg zwischen Ihren Landsleuten und uns kommt. Bei der gelegenheit dürfte ein solcher Krieg nicht nur große Verluste auch auf Ihrer Seite fordern, sondern unserem gemeinsamen Feind helfen, beinahe mühelos Ihr Land zu besetzen und zu unterwerfen. Wägen Sie dies bitte genau ab, wenn Sie in Ihre Heimat zurückkehren!"

"Wie erwähnt, es geht nicht an, daß das französische oder ein sonstiges Zaubereiministerium Verbrechen gegen seine Führungsriege hinnehmen darf, eben gerade um ausländische Übergriffe zu vereiteln. Sie bezeichnen die magielosen Menschen als Barbaren, wohl immer noch wegen der Bluttaten der sogenannten Revolution. Aber selbst sind Ihre Landsleute wohl auf Grund der selbstgewählten Abschottung nicht zivilisierter geworden. Ich habe ihre Truppe Knochenmänner gesehen. Jetzt frage ich Sie, gibt es hier einen Friedhof, wo die Toten in Frieden ruhen dürfen? Oder sind alle, die hier geboren werden dazu verdammt, nach ihrem körperlichen Ende ihre Gebeine als dienstbare Hilfstruppen zur Verfügung zu stellen?"

"Sie sind sehr tollkühn, Ihrer einzigen Hilfe derartig offen ins Gesicht zu sagen, daß sie einem Volk von Barbaren angehört", knurrte Syrinx. "Vielleicht sollte ich Sie doch den Wächtern überlassen."

"Die Sie dann fragen, wie wir überhaupt aus dem Kerker entwischen konnten, werte Dame", schnaubte Grandchapeau zurück. "Sie verrieten uns, daß mein Tod Ihnen Schwierigkeiten bereiten würde, allgemeine oder auch private?"

"Wie können Sie es wagen?" Blaffte Syrinx, die offenbar mit dem Gedanken Spielte, ihren Rettungsplan zu verwerfen. Doch der Minister wußte, daß er gerade Oberwasser besaß. Denn wenn sie ihn töten lassen wollte, dann hätte sie ihm die Skelette schon längst auf den Hals gehetzt, ihn gar nicht erst in diese Hütte gelassen, die von den Knochenmännern in Kettenmänteln nicht betreten werden konnte.

"Ich wage es, weil ich den nicht ganz auszuräumenden Verdacht habe, daß Sie nicht nur vor einem Vergeltungsangriff auf Ihre verschwiegene Insel Angst haben, sondern fürchten, jemanden wichtigen dabei zu verlieren, wenn ich sterbe und meine Leute den erwähnten Todesbann gegen nicht in Frankreich geborene Hexen und Zauberer wirken, wie es der Unnennbare auf den britischen Inseln tat. Denn offenbar ist dieser auch für ihre alten und weiterentwickelten Zauberkräfte zu stark, weil sie sonst längst Kapitulation oder Partnerschaft von jenem verlangt hätten, der doch die Interessen aller achso reinblütigen Magier durchsetzen will."

"Um Ihre Frage von eben zu beantworten: Es gibt einen Ruheort, eine Totenstadt, in der alle ruhen, die ruhen wollen. Es gibt jedoch solche, die Zeit Lebens darauf hofften, unserem Land einen großen Dienst erweisen zu können. Wenn ihre Todesstunde kommt, können sie darum bitten, nach ihrem Ableben in der knöchernen Brigade weiterzudienen. Es sind Freiwillige, die uns beschützen wollen und dafür das Recht auf friedliche Totenruhe aufgeben. Wir sind keine Barbaren."

"Hängt davon ab, was auf diesem Eiland freiwillig getan wird", erwiderte Nathalie Grandchapeau schnippisch. "So wie ich diese wenigen Eindrücke von meiner erzwungenen Urlaubszeit hier einordnen darf leben Sie alle im Netz unbarmherziger Gesetze, beherrscht von einer winzigen Gruppe elitärer Hexen und zauberer, womöglich vier und vier in Ihrem Rat, der da in den acht Türmen wohnt. Es mag einige bevorrechtete Bewohner geben, die einiges mehr dürfen, wie Sie und andere Heiler. Doch die Mehrheit dürfte sich hier doch wie eingesperrte Zootiere fühlen, die nur das tun dürfen, was von ihnen verlangt wird. Selbst die Familienplanung wird von oben bestimmt. Sie leben ohne Kameradschaft, ohne Freundschaft, ja und ganz sicher auch ohne wahre Liebe. Oder dürfen Sie, eine Bevorrechtete, den Mann aussuchen, mit dem Sie Ihr Leben verbringen und dessen Kinder Sie gebären wollen? Haben Sie Kinder, Madame oder Mademoiselle?"

"Sie befinden sich in einer sehr kritischen Lage und bilden sich ein, auf Grund weniger bis kaum ersichtlicher Eindrücke, mein Leben und das meiner Mitbürger be- und verurteilen zu dürfen?"

"Sie erzählten uns doch, daß dieser arme Mann, der zur ewigen Gefangenschaft in den unteren Etagen verurteilt ist, der magielose und noch dazu ungenehmigte Sohn zweier Gemüsebauern war, die zur Strafe, weil sie nicht nur ein unerlaubtes, sondern auch dazu noch magieunfähiges Balg auf diese Insel gesetzt haben, als Apfelbäume weiterexistieren müssen, nicht sterben, sondern als dienliche Gewächse vegetieren", wandte Monsieur Grandchapeau ein. "Wenn Sie nicht selbst der Meinung wären, daß dieses Vorgehen unrecht sei, warum haben Sie es uns dann berichtet, wo wir keinen Anhaltspunkt haben, die Wahrheit in Frage zu stellen."

"Weil ich denke, daß es nicht so verlaufen ist", schnarrte Syrinx nach einer Minute eisigen Schweigens. "Ich glaube nicht, daß Lebenshüter so spät von einer Schwangerschaft auf der Insel erfuhren, um nicht zu prüfen, wer da mit wem welche Nachkommen zeugen konnte. Es gibt ein Strategiespiel namens Schach. Bei diesem Spiel gibt es Figuren unterschiedlicher Wichtigkeit und ..."

"Kennen wir, können wir", schnitt Monsieur Grandchapeau ihr das Wort ab. "Sie wollen also sagen, daß Bauern hier eben wie Bauern beim Schach beliebig bewegt und geopfert werden dürfen, ohne nachhaltige Auswirkungen für die gesamte Bevölkerung oder den ach so ehrenwerten Rat der acht. Das glaube ich Ihnen unbefangen."

"Nun, dann werden Sie wohl auch erkennen, daß hinter allem mit Sannom mehr stecken mag als eine unglückselige Lebensgeschichte. Und um Ihre überhebliche Bemerkung zu widerlegen, Madame Grandchapeau: Wir kennen die Liebe und leben sie aus, mit Körper und mit Seele. Nur wir wissen, daß wir unserer Gemeinschaft keinen Gefallen erweisen, wenn wir unsere Nachkommenschaft ohne vorherige Prüfung ihrer Qualitäten vermehren, wo wir alle hier von gerade einmal dreizehn Gründerfamilien und zehn hinzugestoßenen Flüchtlingen aus dem Barbarenland abstammen. Einer, mit dem ich hoffen durfte, nicht nur in seelischer Verbindung vereint zu sein, sondern auch gute Nachkommen zu bekommen verließ uns vor dreiundsechzig Jahren. Mir wurde nur gesagt, daß er als Beobachter Ihrer Welt entsandt worden sei und deshalb nicht mehr zu uns zurückkommen würde. Die Mondphase war noch nicht völlig um, als der arme Dorian auftauchte. Aber das darf niemand hier laut weiterführen, was sich daraus für ein Gedanke ergibt. Ich gehöre zwar zu den Privilegierten. Aber auch ich könnte in Gefahr geraten, von Gedankenforschern des Rates befragt zu werden. Daher habe ich meine Vermutungen für mich behalten."

"Das jener bedauernswerte Mann, der uns über Wochen mit Essen und Trinken versorgte gegen Ihren Landsmann ausgetauscht wurde, damit dieser quasi in unsere Gemeinschaft hineinwachsen konnte, ohne als Insulaner aufzufallen", schnaubte Armand Grandchapeau, bei dem der Knut gefallen war. Seine Frau schlug sich die Hände vor's Gesicht. Auch sie hatte begriffen.

"Genau das und nichts anderes muß ich befürchten. Daher halte ich es für meine Pflicht, auf Dorian aufzupassen. Aber unsere Existenz, die Existenz der reinblütigen Zaubererschaft, ist zu wichtig um ..."

"Wachen Sie auf, Madame oder Mademoiselle Chaudchamp!" Schnaubte Nathalie Grandchapeau. "Sie leben in einer durch drastische Maßnahmen künstlich zusammengehaltenen Illusion. Die gleiche Illusion treibt den Unnennbaren aus Großbritannien um, und er mordet, um sie zur Realität zu formen. Es war damals grausam, daß viele tausend Menschen einer fanatischen, rachsüchtigen Bande zum Opfer fielen. Aber was Sie daraus gelernt haben ist genauso brutal, unmenschlich und verachtenswert. Ihre Vorfahren haben erkannt, daß um Ihre Träume oder Vorstellungen von einer absolut reinblütigen Zaubererwelt aufrechterhalten zu können, hunderte oder tausende Hexen und Zauberer im langen Krieg zu Tode kommen würden und flüchteten sich hierher, schlossen ein Abkommen mit der restlichen Zauberergemeinschaft, einander in Ruhe zu lassen. Doch Sie müssen Spione in unser Land schmuggeln, weil Sie uns nicht trauen können. Dabei nehmen Sie unbescholtenen Menschen ihre Kinder weg, um Sie gegen infanticorporisierte Erfüllungsgehilfen Ihrer Herrscherclique austauschen zu können. Sie haben Dorian um sein Leben betrogen und seine wahren Eltern um ihren Sohn. Das ist genauso schlimm wie mehrfacher Mord. Hinzu kommt die ungerechte Aburteilung unschuldiger Leute. Das ist auch ein Verbrechen. Ihre heile Welt ist genauso vergiftet wie Sie die Welt der sogenannten Unfähigen sehen. Angst, Machtgier und die fixe Idee von einer unerreichbaren Idealwelt haben Sie vergessen lassen, was zivilisierte Menschen für sich in Anspruch nehmen dürfen", predigte Armand Grandchapeau. "Und jetzt bemerken Sie, daß Ihr Paradies auf Erden von grausamen Feinden umzingelt ist, daß Ihre Pläne nach hinten ausschlagen und Sie nur die Wahl zwischen Anpassung oder Untergang haben. Ja, wir riskieren viel. Aber wir wissen auch, daß Sie uns im Grunde zustimmen, Madame oder Mademoiselle Chaudchamp. Falls es wirklich die Angst um den geliebten Menschen ist, der irgendwo bei uns als Sohn magieloser Eltern aufgewachsen ist, dann sei es diese Angst, die Ihnen helfen wird, aus diesem zum Alptraum geratenen Wunschtraum aufzuwachen. Wir hatten nie die Absicht, Ihnen Schaden zuzufügen oder Ihr Leben zu bestimmen. Aber der Angriff auf diese Muggelfamilie und nun auf meine Frau und mich gehen zu weit. Wenn Sie wirklich wollen, daß Sie hier in Frieden weiterleben können, sollten Sie mit uns zusammenarbeiten und nicht versuchen, uns Ihren Willen aufzuzwingen und einen Zaubererkrieg riskieren. Reden Sie mit ihren Leuten und machen Sie ihnen klar, daß die Zeit der Abschottung bald vorbei ist. Entweder werden wir vom Ministerium Sie dazu zwingen, sich zu Ihren Taten zu bekennen. Oder der Unnennbare oder ein anderer Feind wird Sie niederkämpfen."

"Was denken Sie, was das soll, Monsieur Grandchapeau? Der Achterrat besteht seit mehr als zweihundert Jahren. Die meisten seiner Mitglieder leben auch schon so lange. Es hat bisher funktioniert, und unsere Schutzzauber halten uns unortbar und jeden unerwünschten Eindringling von uns ab. Die werden nicht im Traum darauf kommen, daß sie sich an irgendwem schuldig gemacht haben, wo sie die Magielosen für Tiere und die hier lebenden Zauberer für zu bedingungslosem Dank verpflichtete Untertanen halten. Unsere Gemeinschaft besteht und ist stabil, weil die Gesetze uns helfen und halten. Ihre achso hochtrabende Moralpredigt wird hier keine offenen Ohren finden. Was mich angeht, so geht es mir nur darum, den Fehler zu korrigieren, den jenes Ratsmitglied beging, daß Ihre Überführung hierher vorschlug und plante. Ist dieser Fehler behoben, werden wir weiterleben können. Jetzt, wo wir wissen, daß wir den falschen Bauern gezogen haben, als wir Didier zur Macht verhalfen, werden wir uns darauf besinnen, unser eigenes Reich abzuriegeln, daß niemand hineindringen kann, den wir nicht ausdrücklich hier haben wollen. Nur deshalb helfe ich Ihnen. Nur um meinen Auserwählten Gefährten Ion Borgogne zu schützen, Verschaffe ich Ihnen die Gelegenheit zur Flucht. Ansonsten hätten Sie beide nur noch die Wahl zwischen unfreiwilliger Preisgabe Ihrer Geheimnisse oder dem Dasein als nützliche Lebensform, falls man Sie nicht zur Aufrechterhaltung der Untertänigkeit unseren Wächterdrachen zum Fraß vorwirft."

"Du siehst, Nathalie, es gibt schlimmere Geistesunterjochungen als Imperius", wandte sich der Minister an seine Frau. Diese nickte. Es war ein Ruf in leerer Wüste.

"Leider kommt es nicht in Frage, Sie beide durch Gedächtnislöschung und Wiederverjüngung zu neuen Mitbürgern zu machen, weil in Ihren Ahnenlinien zu viele Mischblüter und Unfähige enthalten sind", stieß Syrinx noch aus. Der Minister grinste jungenhaft und antwortete vergnügt:

"Ich werte diese als Abschätzigkeit geäußerte Bemerkung Ihrerseits meinerseits als Ehrung meiner Gattin und meiner Person. Es erleichtert mich sehr, nicht zu unmündigen Wickelkindern zurückgeschrumpft zu werden, die dann Ihrer unbarmherzigen Indoktrination unterworfen werden, um wie Sie zu fügsamen und wertvollen Rädchen im Getriebe ihrer Wunschtraum-Maschinerie herangebildet zu werden. Sie sind wie Ihre skelettierten Gardisten, nur das Sie noch Fleisch und Blut besitzen dürfen." Seine Frau machte eine bedauernde Miene. Syrinx verzog das Gesicht. Die Grandchapeaus erkannten darin, daß ihre Ablehnung der Elfenbeininselgesellschaft nicht ganz unwirksam waren. Allerdings waren beide zu lange in Gesellschaftsbildung und Arbeit mit Menschen verwurzelt um zu hoffen, daß ihre Worte mehr als nur ein kurzes, schmerzhaftes Nachdenken bewirkten. Syrinx sagte dann nur noch:

"So muß es auch in Ihrem Sinne sein, daß Sie uns lebend verlassen. Wenn Sie durch das Tor sind, wird Ihnen und jedem anderen der Rückweg versperrt sein. Auch wenn Sie erfahren, wo ungefähr der Gegenort ist, werden Sie mit Ihren Methoden keinen Durchgang zu uns öffnen können. Nur das wollte ich Ihnen noch sagen. In wenigen Stunden wird die Sonne aufgehen. Dann werden wir aufbrechen. Die Knöchernen werden bis dahin in ihre Ruhestätten zurückkehren, da sie dazu gehalten sind, niemals bei Tageslicht in den Straßen herumzulaufen, solange kein Feind von außen uns direkt angreifen kann. Nebenan habe ich ein Strohlager für Sie bereitet. Nutzen Sie die Stunden zum Schlaf! Hier sind Sie sicher."

"Wir danken für Ihre Gastfreundschaft", sagte Madame Grandchapeau. Doch als sie mit ihrem Mann auf erwähntem breiten Strohsack lag wisperte sie nur, daß sie wohl erst ein langes Bad nehmen würde, wenn sie wieder in der Zivilisation sei, um den Schmutz der letzten Wochen abzuwaschen.

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Lea Drake legte den Zweiwegespiegel in ihren Rucksack. Gerade hatte sie mit Julius Andrews gesprochen. Ihre Mutter und die achso erhabene Lady Sophia hatten wohl verfügt, daß sie neben dem Bild von Aurora Dawn die Kontaktmöglichkeit zwischen Beauxbatons und Hogwarts bildete. Ansonsten hatte sie eine Menge neuer Kleidungsstücke bekommen und sich von ihrem Vater anhören müssen, daß der sich wieder mal verschaukelt fühlte, weil ihre Mutter jetzt mit zwei Babys im Bauch herumlief. Ansonsten dachte sie an die vier aus Hogwarts befreiten. Hatten die eigentlich Weihnachten feiern können? Wo waren die eigentlich? Hatte Julius die in Beauxbatons untergebracht? Weil diese Professeur Faucon mitgehört und sich ziemlich uncool verhalten hatte wollte sie die Frage erst dann mal stellen, wenn sie mit ihm alleine reden konnte, falls die alte Zuchtmeisterin ihm den Spiegel überhaupt gelassen hatte. Auch dachte sie an die, die nicht zu ihren Eltern in die Ferien hatten fahren können, vor allem die aus dem Zug entführten Muggelstämmigen. Was mochten deren Eltern jetzt denken? Die mußten doch glauben, ihre Kinder seien entführt und womöglich umgebracht worden. Sie hatte es im Fernsehen immer wieder mitbekommen, daß Kinder von notgeilen Typen entführt, vergewaltigt und dann, um die nicht verpetzen zu können, umgebracht wurden. Dachten die Eltern der Muggelstämmigen das jetzt auch von Hogwarts? Sicher würde der Emporkömmling mit seinem Marionettentrupp dafür sorgen, daß die Muggel-Eltern nicht zu laut schrien. Sie erschrak, weil sie daran denken mußte, daß die Eltern der Muggelstämmigen in einer abgeklärten Aktion aus der Welt geschafft wurden, um zum einen keinen Alarm wegen der verschwundenen Kinder zu machen und zum anderen keine weiteren Muggelstämmigen Zaubererkinder aufzulegen. Denn das war's ja auch, warum Julius' Mum mit ihrem überragenden Jungen das Land gewechselt hatte. Womöglich machten die Dementoren auch da Jagd auf Muggelstämmige. Zumindest hatte diese Faucon das anklingen lassen, als sie mit ihrer Mutter gesprochen hatte. Sollte Lea der mal stecken, daß sie mittlerweile auch gut Französisch konnte? Nicht wegen Julius allein, aber für den Fall, daß doch mal irgendwann sowas wie das trimagische Turnier neu aufgelegt wurde. Außerdem würde sie gerne zur Quidditch-Weltmeisterschaft nach Millemerveilles reisen. Aber davon würde in dem Jahr wohl nicht die Rede sein, wenn das so weiterging. So vertrieb sich Lea die Weihnachtsferien mit mehr Ernst als früher, wo sie noch ein unbedarftes Mädchen gewesen war. Körperlich war sie bereits mehr als ein Jahr älter als von ihrem erlebten Leben her. Doch sie wollte dieses Schuljahr in Hogwarts zu Ende bringen, wenn Hogwarts sie nicht umbrachte. Doch das würde sie nicht zulassen.

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Patricia Straton stand unsichtbar im Weinkeller der Daggers-Villa. schon mehr als einen Monat war es her, daß sie diese erhabene Halle besucht hatte. Das war einen Tag vor dem Duell zwischen Anthelia und Daianira gewesen, wußte sie noch. Sie suchte mit einem Aufspürzauber das Testament der höchsten Schwester. Es sollte einen Monat nach ihrem letzten Aufenthalt hier auftauchen, was damals hieß, falls sie das Duell verlor und starb. Wo mochte es sein? Sie fand keinen Hinweis darauf. Es mußte doch hier in diesem Kellerraum auftauchen. Sie lauschte auf das Wispern der in der Villa gefangenen Geister. Anthelia hatte, nachdem sie festgestellt hatte, daß man trotz wirksamer Zauber noch hier apparieren konnte, Geisteraussperrbanne eingerichtet. So kamen die Gespenster hier nicht mehr herein. Hatten die vielleicht das Testament anderswo auftauchen gesehen? Sie griff unter ihre Muggelwelt-Bluse und holte das goldene Medaillon hervor, daß sich immer so warm anfühlte, als habe es eine halbe Stunde in der Sonne gelegen. Tatsächlich bündelte das Zeichen des Inti die Kräfte der Sonne und konnte sie im guten oder Bösen freimachen. Es hatte früher Daianira gehört und hatte Patricia Straton nun als seine wahre Herrin angenommen. Allerdings erwartete es wohl von ihr, daß sie irgendwann mal nach einem letzten Überlebenden der Inka-Dynastie suchte, um von dem einen männlichen Nachkommen zu kriegen. Danach stand ihr im Moment aber nicht der Sinn. Ihr war wichtiger, wo Anthelias Testament aufgetaucht war. Sie mentiloquierte mit Tyche Lennox, einer der wenigen, die vorher nicht zu Lady Daianira gehört hatten. Doch diese hatte das Hauptquartier des Spinnenordens seit dem Duell nur betreten, um sich mit Schwester Izanami und Schwester Alexa zu unterhalten. Der Spinnenorden war eigentlich erledigt. Die große Anführerin fehlte. Daianira hatte die amerikanischen Mitglieder mit Blutschwüren in ihre Reihen zurückgeholt, außer sie, Patricia, weil sie bei der Muggelwelt-Kundschafterin Virginia Fox unter einem Fidelius-Zauber stand. Patricia dachte daran, daß dieser Ort hier auch geschützt war, wo sie die Gerüchte kannte, Daianira könne ihr Bewußtsein auf Reisen schicken. Tyche Lennox erklärte sich bereit, mit Patricia nach dem Testament zu suchen. Sie kam herüber.

"Na, war Weihnachten fröhlich bei dir?" Fragte Patricia die Mitschwester.

"Vergiß es. Meine Eltern zoffen sich gerade, weil sie zur Silberhochzeit 'ne Kreuzfahrt machen wollen. meine Mom will ans Mittelmeer zu den ollen Kulturdenkmälern in Griechenland und Italien, und mein Dad will auf den Spuren von Blackbeard wandeln und die Karibik durchkreuzen. Gut, daß ich da nicht mitfahren muß."

"vor allem, wo solche Touristenschaukeln erstens von überreichen oder pensionierten Leuten bevölkert werden. Da könntest du wohl schlecht einen Typen für's Leben finden."

"Abgesehen davon, daß ich nach Anthelias Verschwinden erst einmal schön unauffällig leben muß. Luke Wishbone hat mich ja angeblich wegen möglicher Manipulation im Ministerium auf dem Kieker. Was machst du jetzt noch mal?"

"Da wo ich wohne aushelfen, Schwester Tyche."

"Die Schwester kannst du dir wohl abschminken. Anthelias Truppe ist ja erledigt."

"So, ist sie das?" Fragte Patricia schnippisch. "Dann rück mal mit mehr raus und .. Ups! Moment mal!" Patricias Medaillon vibrierte gerade, als sie sich dem Tisch zuwandte, auf dem Anthelias Seele in Barty Crouches Körper eingeschworen worden war. Der Tisch hatte für Anthelia seither wohl eine besondere Bedeutung. Patricia erinnerte sich, daß die höchste Schwester hier gelandet war, als Daianira sie mit der Macht des Sonnenmedaillons aus dem Raum-Zeit-Gefüge geschleudert hatte. Womöglich wechselwirkte noch eine gewisse Restmagie zwischen dem Tisch und dem Medaillon. Sie näherte das Kleinod dem Tisch an. Es begann nun stärker zu vibrieren und sogar hörbar zu pulsieren. Dabei glomm es leicht rot auf und erlosch im Rhythmus der Impulse. Tyche sah es und schwieg einen Moment. Dann meinte sie: "Fast hundertfünfzig Impulse in der Minute, als wenn jemand sich heftig angestrengt hat und sein Herz so heftig wummert. Bei Ungeborenen wummert das kleine Herz auch so schnell. Was bedeutet das. Steckt da vielleicht Anthelias Seele in dem Tisch drin?"

"Wäre eine Erklärung, warum das Testament bisher nicht aufgetaucht ist, weil ihre Präsenz nun hier gefangen ist, unfähig, irgendwas zu machen", sagte Patricia Straton. Dann sog sie mit einem kräftigen Atemzug Luft zwischen den zusammengebissenen Zähnen ein. "Was hast du da gerade behauptet, daß dieses Pulsieren so schnell wäre wie beim Herzen von ungeborenen Kindern?"

"Habe ich mal in 'ner Fernseh-Doku gesehen, wo sie's von Babys und wo sie herkommen hatten. Wieso macht dich das so hibbelig, Patricia?"

"Ich Idiotin!" Stieß Patricia aus. "Monstrato Incantatem!" Schnarrte sie und hielt den Zauberstab hoch. Der Tisch erstrahlte in einem schwachen, rot-blauen Licht. Also wirklich eine Restmagie, wohl von dem Verkörperungsritual. Patricia suchte mit dem zauberlicht den Keller ab und fand nur das in eine magisch versiegelte Kiste gepackte Denkarium Sardonias. Außerdem waberten goldene und rot-blaue Schlieren, die sich immer wieder trafen und verknäuelten durch die Ausrichtung des Zauberstabs. Das war der alte afrikanische Fluch, der die Geister hier festhielt. Doch sie fand keine weiteren magischen Gegenstände. Dabei hatte sie, wo sie Dido den Zauberfinder gezeigt hatte, diesen großen, pulsierenden Stein angepeilt, den Anthelia in einer Nische im Weinkeller versteckt hatte. Das war, wo Anthelia im Mai in der Welt unterwegs gewesen war, nachdem es gelungen war, Bokanowski zu erledigen. Der Gegenstand war nicht mehr da. Gut, das konnte jetzt heißen, daß Anthelia ihn vor dem Duell mitgenommen hatte. Aber nachsehen kostete nichts. Sie ging an die Nische im Kellerraum neben an und fand dort nichts. Sie apparierte in das darüberliegende Stockwerk, wo ihr der Geist eines Soldaten über den Weg schwebte. Diesen fragte sie, nachdem sie ihm eine Geisterfessel aus der Erfahrung ihrer Mutter angehext hatte, wer alles in den letzten Wochen im Haus gewesen war.

"Deine lieben Mitschwestern wohl, du dummes Stück! Hauptsächlich die eine mit den haselnußfarbenen Haaren, die so rumgelaufen ist, als höre die ständig in sich rein. Und jetzt nimm diesen Glibber von mir weg. Ich bin zum Pokern verabredet."

"Um was spielst du denn, du Dunstkamerad? Euer Seelenheil oder Lebensjahre?"

"Du wirst schon kleinlaut werden, Mädchen, wenn einer von uns dich hier erwürgt und du genauso hier herumhängen mußt wie wir. Dann werden wir sehen, ob du dann nicht umgänglicher bist."

"Das nehme ich mal als Antrag, Burschi. Aber den Fangzauber nehme ich dir gerne ab", knurrte Patricia und löste die Geisterfessel. Dann apparierte sie im Weinkeller und grummelte: "Wir werden hier weder das Testament noch sonst was interessantes finden. Der Mantel Sardonias kann zwar noch hier sein, weil der Zauberfinder den nicht anzeigen kann, aber ansonsten dürfte Daianira alles rausgeholt haben, was wichtig war."

"Daianira? Wie soll die denn hier reingekommen sein, wo das Haus unter dem Fidelius steht?" Fragte Tyche aufgebracht. Geister lachten draußen. Offenbar genossen sie die Unruhe hier unten, wo sie schon nicht bis hier vordringen konnten. Patricia schnaubte und holte eine besonders staubige Weinflasche aus dem Regal. mit "Decanto", ließ sie den bombenfest sitzenden Korken herausknallen und goß den Inhalt, einen 1820er Bourgunder, in einen großen, silbernen Trinkpokal. "Der Saubande da draußen werde ich mal eben Respekt beibringen", knurrte sie und disapparierte mit Flasche, Korken und Zauberstab. Sie ließ das Medaillon unter ihrer Bluse verschwinden und hob den Stab. Sie sang eine arabisch klingende Melodie und eine wohl auch aus dem Morgenland stammende Beschwörung, die aus der zeit des bei den Muslimen Magiern wie Muggeln verehrten Magiers und Königs Sulaiman, der bei den Juden Solomon geheißen hatte. Dabei flocht sie den Namen Stanley Daggers in ihre orientalische Litanei ein. Laut schreiend fiel ein durchsichtiger, dicker Mann mit Vollbart aus der Decke heraus, schlug mit Armen und Beinen um sich und raste genau auf die auf ihn gerichtete Weinflasche zu. Dabei veränderte er sich. Seine Gestalt wurde in die Länge gezogen, zerfaserte und wurde zu einer Rauchfahne, die sich spiralförmig drehte und in die Weinflasche hineindrang. Daggers' Geist schrie in heller Panik. Sein ektoplasmatischer Leib verschwamm immer mehr, wurde zur Rauchwolke und verschwand in dem gläsernen Behälter. Mit einem schnellen Griff pflanzte Patricia den Korken in die Öffnung und stieß dabei noch zwei altorientalische Zauberwörter aus. Dann sahen sie und die herbeigewehten Geister, wie ein verkleinertes, nun nicht mehr transparentes Abbild Stanley Daggers' in der Flasche hockte und hohl und ängstlich klingend um seine Freilassung bettelte.

"Ich weiß, daß unsere Anführerin das auch konnte. Das sie das nicht gemacht hat lag wohl daran, daß sie eine Weinliebhaberin ist und für euch Saubande keinen Tropfen wegschütten will. Ich habe das Problem nicht. Im Keller stehen genug Flaschen rum. Kein Geist kann die einmal kaputtmachen, wenn ich Sulaimans Bannruf gesungen habe. Und wie ihr mitkriegt kann ich jeden von euch in so'ne Flasche reinpfropfen. Wenn ihr bisher gedacht habt, das ganze Haus sei ein Gefängnis, dann denkt mal darüber nach, wie das ist, nur in einer Weinflasche rumzuhängen. Wie gesagt, im Keller gibt's mehr Flaschen, als es von euch welche hier oben gibt. Könnte eine schöne Sammlung werden. Also haltet euch schön brav von uns fern und laßt uns bloß in Ruhe. Euren Anführer stelle ich hier mal hin, damit ihr mit dem Erfahrungen austauscht. Da ich das Bannlied gesungen habe, kommt er erst wieder raus, wenn ich das befehle. Also laßt mich schön in Ruhe."

"Das hat dieses andere Weib auch gemacht als sie hier war", krakehlte der eingesperrte Geist des Villenbesitzers. "Sie meinte, wir hätten ihr bloß nicht vor die Augen zu kommen."

"Welches andere Weib?" Fragte Tyche, die gerade aus dem Weinkeller kam. "Diese Dai-Dingsda, Nira oder Dainira."

"Dann war die echt hier?" Fragte Tyche. Patricia nickte und bedeutete ihr, sie wieder in den Keller zu begleiten. Die leere Weinflasche mit Daggers' Geist darin ließ sie im Vorraum.

"Wir haben im Grunde ein Sauglück, daß die nicht gerade hier war, als ich hier ankam, Tyche. Anthelia muß ihr verraten haben, wo unser Hauptquartier ist."

"Freiwillig. Das Medaillon von der blockiert Unterwerfungszauber, falls die da reingeschlüpft ist. Auch könnte Anthelia ja Daianiras Körper übernommen haben, weil die so blöd war, das Medaillon umzuhängen."

"Könnte sie nicht, und wahrscheinlich wollte sie haben, daß Daianira den Kampf gegen die Schlangenmonster weiterführt und hat Daianira verraten, wo dieser Klunker ist, mit dem das wohl gehen soll."

"Moment, dann beherrscht Daianira jetzt Anthelias Geist, weil sie sie im Duell erledigt hat?" Wollte Tyche wissen.

"Ey, du dreckige Hure, lass mich hier raus!" Klang es hohl und klirrend von oben her.

"Ich fürchte was anderes, Tyche. Und deshalb sollten wir schleunigst zu mir gehen, bevor Daianira wieder auftaucht und uns hier findet."

"Und der alte Sklaventreiber?"

"Kann noch ein wenig warten und lernen, wie sich das anfühlt, eingesperrt zu sein, wo er mehrere Dutzend Leute hier wie Vieh gehalten hat", schnarrte Patricia. Dann ergriff sie Tyches Hand und zog sie in eine Disapparition. Als sie wieder auftauchten standen sie in einem Schlafzimmer. Ein Muggelradio dudelte leise die neusten Schlager der obersten Hundert.

"Wir sind im Moment für uns, weil meine Mitbewohnerin ein paar Tage in Paris unterwegs ist, Tyche. Hier wirkt auch der Fidelius-Zauber. Daianira kann uns also hier nicht finden, egal ob mit ihrem Körper oder ihrem Geist. Also folgendes: Wie lief der letzte Schlag im Duell noch mal?" Tyche beschrieb es ihr, auch, daß Anthelia sich in einem goldenen Blitz restlos aufgelöst hatte. Einen Moment lang meinte Tyche, eine winzige Lichtkugel gesehen zu haben. Aber das konnte Einbildung gewesen sein.

"Also doch, ich hätte es doch echt wissen müssen", schnarrte Patricia Straton. "Die höchste Schwester hat ihren eigenen Infanticorpore-Fluch auf sich selbst zurückbekommen. Diese schwarze Wand war doch ein schwarzer Spiegel. - Bin ich vernagelt - Ihr und ich haben angenommen, daß der Fluch Anthelia komplett vernichtet hat. Aber ein vom schwarzen Spiegel zurückgeprellter Fluch wird nur verfünffacht. Somit ist die höchste Schwester nicht restlos vernichtet, sondern nur weit unter den Zustand eines Neugeborenen verjüngt worden, wohl auf ein fünftel der üblichen Tragzeit bei Menschen. Der so veränderte Körper war zwischen Materie und Energie und suchte wohl was, wo er sich einnisten konnte."

"Oha, und fand wegen des Begrenzungszaubers keinen anderen Platz als den stinkenden Leib Daianiras. Die Frage ist dann, ob sie darin wirklich wieder wächst oder schon längst von dieser alten Sabberhexe abgetrieben wurde, wenn die das vielleicht nicht einmal bemerkt hat", führte Tyche den Gedanken zu Ende. "Dann kann die wohl Anthelias Geist unterworfen halten und weiß daher alles über uns. Ich muß die umbringen."

"Besser nicht, Tyche. Wenn Daianira wirklich noch so gerissen ist wie früher hat sie die Chance ergriffen und will Anthelias zweite Mutter werden. Ob ich das mit ihr so gemacht hätte weiß ich nicht. Aber meine selige Mutter hätte so ein Ding glatt für sich umgemodelt und gesagt: "Okay, wenn du schon nicht stirbst, bring ich dich eben noch mal zur Welt und mach eine brave Tochter aus dir!""

"Dann kann dieses Mistweib jetzt Anthelia beliebig beeinflussen. Dann muß ich die doch umbringen, bevor die mit dem, was Anthelia konnte und wußte noch größenwahnsinniger wird als die schon war."

Gepaarter oder quadrierter Größenwahn", dachte Patricia, die daran dachte, daß Anthelia selbst mit den Entomanthropen auch viel Sympathie bei ihr verspielt hatte. Laut sagte sie: "Genau deshalb wird sie den zurückverjüngten Körper Anthelias im Bauch weiterwachsen lassen, um klarzustellen, daß jede ehemalige Schwester Anthelias sich selbst zerbröselt, wenn sie Daianira angreift. Wenn du sie umbringst, verstößt du gegen Anthelias Treueschwur. Wenn Anthelias Körper und Geist durch Daianira zu einer Einheit verschmolzen bleiben, würde es dich in dem Moment aus der Welt fegen, wenn du versuchst, Daianira umzubringen. Womöglich würden wir alle dann draufgehen. Moment, ich prüfe mal was nach." Patricia lehnte sich auf dem Bett zurück, in dem sie seit dem vorgetäuschten Tod jede Nacht schlief und konzentrierte sich auf einen bestimmten Namen. Langsam rückten Bilderund Geräusche in ihr Bewußtsein. Sie sah durch die Augen eines anderen, eines Jungen, der gerade mit einem schwarzhaarigen Mädchen mit rehbraunen Augen schmuste. Sie fühlte seine Hand, wie sie die körperlichen Besonderheiten seiner Kuschelpartnerin erforschte, ohne ihr ein Kleidungsstück ausziehen zu müssen. Dann fühlte sie, wie auch er zärtlich aber zielbestimmt abgetastet wurde. Ein wenig mehr Konzentration, und sie würde dem Jungen den schönen Abend vermiesen. Doch sie wollte nur wissen, ob er Daianira gesehen oder was ungewöhnliches gespürt hatte, außer der nun langsam ansteigenden Begierde. Sie ließ die Erinnerungen des Jungen zurückwandern, wobei sie darauf achtete, daß er dachte, sich alleine zu erinnern. Doch nirgendwo in den Erinnerungen der letzten Wochen tauchte Daianira auf oder etwas ähnliches, wie die allergische Reaktion auf Anthelias Medaillon. Sie hatte ihn also nicht heimgesucht. Noch nicht? Oder war Anthelia wirklich Herrin ihres Willens geblieben, wenn sie schon ein schweres Los zu ertragen hatte, wenn Daianira sie echt neu herantrug. Ohne bemerkbaren, worthaften Gedanken gab sie Cecil eine intuitive Anregung, wie er seiner beinahe Verlobten ein herrliches Gefühl ohne direkten Beischlaf bereiten konnte und genoß für einige Minuten seine Lust. Dann zog sie sich aus der Wahrnehmung zurück und sagte zu Tyche:

"Anthelia kann wohl befinden, was sie ihrer neuen Körperpartnerin erzählt und was nicht, sonst hätte sie schon längst versucht, an unseren Muggelwelt-Kundschafter heranzukommen. Aber um sicherzugehen, daß der nicht doch von ihr vereinnahmt wird werde ich wohl vom Rückhalter zum Eintopfer umwechseln, um ein längst fälliges Vorhaben durchzuführen."

"Und was ist mit Anthelia. Ich meine, ist sie denn noch unsere höchste Schwester und kann nur nichts machen. Oder ist sie jetzt Daianira unterworfen, die dann mit uns machen kann, was ihr paßt?"

"Das Duell ist gerade anderthalb Monate um. Wenn sie wirklich als Ungeborene im ersten Fünftel in unsere gemeinsame Lieblingsfeindin reingerutscht ist, dann ist Daianira mit ihr jetzt in der dreizehnten oder vierzehnten Woche. Da fangen die ersten Bewegungen an, die Ohren sind schon angesprungen, das Geschlecht ist schon festgelegt. Sie kann aber wohl noch keine wirklich umfangreichen Außeneindrücke wahrnehmen. Allerdings dürfte der Zugriff auf Daianiras Körper durch die Einlagerung von Anthelia unterbunden werden. Vielleicht kann Anthelia die Sinne Daianiras wahrnehmen und mit ihr so Kontakt halten wie meine Mutter damals. Anthelia konnte nicht mentiloquieren, als sie noch keinen entwickelten Körper hatte, weiß ich von Mom. Ich konnte auch keine Gedanken von ihr auffangen. Das geht nur, zwischen dem, der das Medaillon trägt und ihr. Also kann sie im Grunde die Kiste mit den Entomanthropen und einiges andere weitermachen, aber eben nicht alleine laufen, reden oder zaubern. Und wenn Daianira wirklich gut mit dieser Lage klarkommt, könnte die den Sanctuamater-Zauber ausprobieren, der ungeborene Kinder beeinflußt, daß sie nach der Geburt immer schön brav zu ihrer Momma sind und ihr nichts tun oder zulassen, daß ihr was passiert. Dann müssen wir damit rechnen, daß Anthelia entweder Daianiras treueste Mitschwester wird, falls sie sie weit vor dem Thorntails-Alter mit Alterungstrank auf erwachsene Frau hochschraubt. Oder sie muß Daianira weiträumig umfliegen und weit genug von der weg neu anfangen. Zweitens wäre mir ehrlich gesagt lieber als erstens. Weil bei erstens könnte sie meinen, mich in Daianiras Namen umzubringen, und dann müßte ich mich wohl entscheiden, ob ich mich umbringen lasse oder sie mitnehme."

"Und wenn wir das wen anderen machen lassen, ich meine, wen, der nicht weiß, daß Daianira eine Hexe ist."

"Komm, bloß keinen sogenannten Profi-Killer, Tyche. Der müßte ja erst einmal wissen, wo Daianira wohnt und müßte ihr folgen. Kannst du wem hinterherlaufen, der vor deiner Nase disappariert? Oder wie gut kannst du mit einem Muggelauto hinter einem Rennbesen herfliegen, noch dazu einem Bronco Parsec?"

"Kapiere es, und Daianira könnte Warnzauber um sich herumlaufen lassen, die ihr jeden Feind melden, der ihr zu nahe kommt. Dann gäb's zumindest einen Killer weniger", grummelte Tyche. Patricia grinste nur und meinte dann:

"Nachdem sie ihn legilimentisch ausgehorcht hat. Wir haben doch damals diesen Detektiv auf Hallitti und ihren Abhängigen angesetzt. Hast du mal wieder was von dem gehört?"

"Haha, Patricia. Die hat den umgebracht und alles, was der über sie hatte zerlegt. Die hätte bestimmt auch Romina erledigt, wenn wir nicht so eine gute falsche Spur gelegt hätten."

"Eben. Und Anthelia weiß auch, daß wir uns dieser Gauner bedienen könnten. Sie hat ja selbst ein paar angequatscht."

"Ja, aber wir dürfen doch nicht zulassen, daß Daianira durch Anthelia noch mächtiger wird."

"Das ist die Frage, ob Anthelia sie mächtig werden läßt. Ich schlage vor, wir warten mindestens noch drei Monate, also bis März. Bis dahin bleiben wir schön aus der Villa weg. Ich lasse diesen Sklaventreiber gleich noch frei. Dann würde ich vorschlagen, wir treffen uns immer wo anders, und ich hole dich hierher. Du könntest zwischendurch ausloten, wer von unseren Überseeschwestern schon von Daianira angequatscht wurde. Dann haben wir ungefähr eine Ahnung, ob sich das lohnen würde, den Spinnenorden weiterlaufen zu lassen oder uns besser schön auf eigene Sachen zu konzentrieren."

"Ich bau mir eine Bombe, und dann jage ich diese Schlampe in die Luft wie ein Kamikazeflieger", knurrte Tyche Lennox. "Ich guck mir das zumindest nicht an, wie die mit immer fetterem Bauch rumläuft und dabei alles lernt, was Anthelia draufhatte."

"Ich sage es dir noch mal, Tyche. Wir wissen nicht, was dann passiert. Willst du Alexa, Izanami, Dido und die anderen mit umbringen, von mir ja echt mal abgesehen?"

"Besser als zuzulassen, daß Anthelia und diese alte Sabberhexe zusammen gegen uns vorgehen."

"Wenn sie das wollten gäbe es dich schon gar nicht mehr", stellte Patricia knochentrocken fest. "Die hatte dich damals in der Höhle. Die hätte dich schon vor dem Duell auslöschen können. Daß sie es danach nicht tat liegt daran, daß die sich einbildet, daß alle Hexen ihr nachrennen, wenn sie denen droht oder Honig ums Maul schmiert. So wird die weiter vorgehen."

"Du hinderst mich nicht daran, diese Schlampe auszuknipsen, ob mit oder ohne Anthelia im Unterbau", knurrte Tyche Lennox. Da hielt Patricia ihren Zauberstab in der Hand und machte eine schnelle Bewegungsabfolge gegen Tyche, die gerade erst nach ihrem zauberstab fischte. Es knallte, und in einem violetten Blitz verschwand Tyche Lennox. Statt der muggelstämmigen Hexe stand nun eine Aloe-Vera-Pflanze vor Patricia Straton, allerdings ohne Topf, Erde und Wasser. Das besorgte sie mit einem weiteren Verwandlungszauber, der ein Taschentuch zum Blumentopf machte, in den sie die sacht mit den kaktusartigen Blätttern wedelnde Pflanze hineinsetzte, mit "Fertilihumus" einen guten Anteil frischer Erde hineinrieseln ließ und mit Aguamenti" genug Wasser dazugoß.

"Sei froh, daß ich dem ersten Drang widerstand und dich nicht zu einem Werbegeschenk für die jungen Mädchen gemacht habe, die sich von meiner Vermieterin die ersten Verhütungsmittel ihres Lebens erklären lassen. Du bleibst so, bis du dich abgeregt hast. Wir lassen Daianira erst einmal in Ruhe, bleiben ihr schön weit aus dem Weg. In drei Monaten kriege ich raus, ob Anthelia noch für uns ist oder schon Daianira untersteht, da hat ein Iterapartio-Unterworfener mit den verwandten seiner neuen Mutter mentiloquiert und dafür faßt sein ganzes Gedächtnis weggeblasen bekommen. ruh dich schön aus. In der Form bist du sehr genügsam, Tyche. Ich kläre das ab, daß dich bis auf weiteres keiner vermißt."

Patricia Straton war wütend, weil diese Tyche sich bockiger benahm als ihr Bruder Ross. Sie dachte nämlich daran, Daianiras hochfliegende Wunschvorstellungen zu bremsen, das Anthelia der zu einer guten Untergebenen heranwachsen würde. Entweder, so Patricias erste Gedanken, würde sie Daianira in eine Falle locken und Anthelias ungeborenen Körper aus ihr herausin einen anderen Körper versetzen. Womöglich bot sich Tyche für sowas an, weil sie wegen des Medaillons fürchten mußte, daß Anthelias Körper die Nähe des vom Sonnenmedaillon berührten Körpers nicht aushielt. Oder sie würde abwarten, bis Anthelia unter Daianiras größten Schmerzen aus dem Schoß der Feindin heraus war, sie entführen und gegebenenfalls mit Gedächtniszaubern und Alterungstränken wieder zurechtbiegen. Das hing davon ab, wie sich Anthelia nun entwickelte. Der Tisch und Tyches Beschreibung ließen keinen Zweifel daran zu, daß sie noch lebte. "Gut, daß ich mich mit der Alten nicht duelliert habe", dachte Patricia nur. Dann befand sie, daß sie sich um Cecils Zukunft kümmern sollte. Vorher apparierte sie kurz in der Daggers-Villa und ließ Stanley Daggers aus der Flasche raus. "So, ich halte das Ding noch in der Hand. Sulaimans Bann zieht dich sofort wieder rein, wenn du mir was tun willst, du alter Dunstmann", sagte sie, als das befreite Gespenst in der ersten Wut auf Patricia losgehen wollte. "Ich nehme das Ding mit, Stan. Sagst du auch nur einer oder einem, daß ich hier war, vibriert das Fläschchen und ein Wort reicht, um dich von hier wohin auch immer zu rufen und wieder zu verkorken, klar. Also schön brav ruhig bleiben."

"Diese Schlampe Daia-Dingsda kann das auch", schnaubte Stanley Daggers, um den eine Reihe schadenfroher Soldatengeister herumschwebten.

"Tja, dann hoffe mal, daß sie dich auch in eine Weinflasche reinzaubert und nicht in einen Nachttopf. Habe die Ehre!" Patricia apparierte im Weinkeller, während Daggers ihr die schlimmsten für Frauen geltenden Schimpfwörter seiner Zeit nachrief. Sie nahm den Pokal mit dem Wein und nippte daran. "Schade, Daianira, daß Schwangere nicht mehr trinken dürfen. Der Tropfen ist doch sehr vorzüglich", grinste sie. Dann füllte sie den Wein aus dem Pokal mit einem praktischen Zauber aus dem Repertoir ihrer Mutter zurück in die Flasche, verkorkte diese und legte sie an ihren Platz zurück. Der Wein mochte jetzt zwar ein wenig Essig ansetzen, weil einige Minuten frische Luft an ihn gelangt war, die jetzt wieder fehlte. Aber das war ihr jetzt auch egal. Sie hatte das edle Gesöff ja nicht bezahlt. Sie disapparierte, wobei sie nicht wußte, wie lange sie nicht mehr hierher zurückkehren würde. Von ihrem eigenen Geheimstützpunkt aus begann sie, einen Plan umzusetzen, den sie schon kurz nach Anthelias Niederlage im Duell angedacht hatte.

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Cecil Wellington, der vor mehreren Jahren noch Benjamin Calder geheißen hatte, sehnte den Februar herbei. Erst dann würde er genug Geld zusammengespart haben, um den Möbelwagen zu bestellen, um das Haus des Senators zu verlassen. Dieser war vor allem um die Weihnachtszeit mal wieder besonders bestimmerisch gewesen, hatte Cecil erneut darauf hingewiesen, daß er, Cecil, solange bei seinen Eltern zu wohnen habe, bis er entweder ein Studium an der von seinem Vater bevorzugten Uni begann oder fand, lieber als einfacher Arbeiter in den Niederungen der amerikanischen Gesellschaft jobben zu müssen, um sich das Geld für eine eigene Wohnung zu verdienen. Was ihn noch mehr störte als dieser bestimmerische Heuchler war ein Anruf seiner festen Freundin Laura Carlotti am dreißigsten Dezember. Sie hatte ein Gespräch zwischen ihren Eltern, Brüdern und Signore Adriano Bertoloni belauscht, dem Geschäftsführer einer Bank, die sich auf Hypotheken spezialisiert hatte. Dabei sei ihr Name erwähnt worden und wie günstig es für beide wäre, wenn die Geschäftsbeziehungen durch persönliche Bindungen vertieft und zu einer großen Gemeinschaftsunternehmung vervollständigt würden. "Die wollen mich verschachern wie eine Kuh, Cecil. papa denkt nicht mehr daran, uns beiden den Segen für eine Heirat zu geben."

"Wie bitte?!" Schnarrte Cecil. "gilt denen das auch nicht, daß du volljährig bist."

"Nicht nach deren konserviertem Weltbild", seufzte Laura. "Die wollen, daß ich in eine andere italoamerikanische Familie reinheirate und dich vergesse. Meine Brüder meinen ja eh, du wolltest mich nur als Eroberung haben, um dein erstes Mal zu erleben oder so."

"Schließen die da vielleicht von sich auf mich?" Fragte Cecil. Doch ihm kamen die Erinnerungen, daß er vor Jahren, vor dem Reitunfall, häufig auf Parties mit vergnügungswilligen Mädchen geflirtet hatte. Es würde also doch irgendwie zu ihm passen, Laura nur als erfolgreiche Eroberung zu betrachten, wenn da nicht die Kleinstadtseele Benjamin Calders wäre, die eine reine Affäre verabscheute, und wenn da nicht dieser Fluch Anthelias wäre, der ihm zwar einen starken Körper verschafft hatte, ihn aber heftig bestrafte, wenn er nach der Geburt seines ersten Kindes noch einmal Sex hatte. patricia hatte ihm versichert, daß Laura von ihr mit einem Zauber belegt werden konnte, der ihnen ermöglichte, mehr als nur ein Kind zu haben, weil Laura doch nicht ganz den Familiensinn ihrer italienischen Vorfahren verloren hatte. Wenn deren Brüder sie jetzt echt wie eine Zuchtstute auf dem Pferdemarkt verhökern wollten würde er noch länger in diesem protzigen Palast hier abhängen müssen. So sagte er nur noch:

"Wir leben hier in den vereinigten Staaten. Du bist vom Bodenrecht her amerikanische Staatsbürgerin, Laura. Das heißt, du bist mit Erreichen der Volljährigkeit berechtigt, dir deinen Ehepartner selbst auszusuchen."

"Bertolonis Familie ist ehrenwert, Cecil", wisperte Laura. "Mein Vater hat vielleicht keine andere Wahl."

"Dann kann dieser Clan nicht so ehrenwert sein", zischte Cecil zurück, der natürlich verstanden hatte, was Laura meinte. Er flüsterte dann noch: "Ich sehe zu, daß ich hier im Februar raus bin. Kein Priester der Staaten kann dich gegen deinen Willen verheiraten."

"Wer spricht von Priestern, Cecil. Wenn das diesem Dickwanst einfällt läßt der mich und seinen Sohn Girolamo nach Las Vegas karren."

"Gute Idee", dachte Cecil und sagte laut: "Echt, so nötig haben die das, deinen Vater dabeizukriegen?"

"Sagen wir es so, Vater hat sich wohl in den letzten Monaten mit gewissen Kunden überworfen und hat keinen Rückhalt."

"Ich dachte, dein Vater hätte nichts mit solchen Leuten am Hut", wisperte Cecil.

"Er persönlich nicht. Aber die, mit denen er mal Geschäfte gemacht hat schon", knurrte Laura und zischte dann: "Ich muß schluß machen. Paolo kommt."

"Wir kriegen das hin, Laura", flüsterte Cecil noch und legte schnell auf. Jetzt mußte er sich was einfallen lassen. Wenn diese Mafiosi Lauras Vater rumkriegten, denen seine Tochter zu überlassen, wie das im Mittelalter in Europa gang und Gäbe war, dann hatte er schlechte Karten, sie da wegzuholen.

"Du willst mit deiner Freundin durchbrennen?" Fragte ihn eine Frauenstimme unter seiner Schädeldecke.

"Ich will die auf jeden Fall nicht verschachern lassen. Aber ich kann nix machen, wenn die ganze Cosa Nostra an diesem Kuhhandel dranhängt", dachte Cecil.

"Vor allem, solange dieser Wichtigtuer, der weiterhin davon ausgeht, dein Vater zu sein, dich nicht dein eigenes Leben leben läßt."

"Der wird sich voll und ganz bestätigt fühlen, daß die Carlottis mit den Typen von der Mafia kungeln", dachte Cecil.

"Du erinnerst dich, daß wir derlei Störfälle bereits behoben haben", erwiderte Patricia. "Es hängt jetzt nur davon ab, ob du dich und dieses Mädchen von allem entfernen willst, was du als behütetes Umfeld ansehen durftest."

"Wenn du mich damals nicht auf der offenen Landstraße abgefischt hättest wäre ich heute mit Donna zusammen", schnarrte Cecil.

"Wahrscheinlich eher tot, weil die, die dich wegen der Turnhallensache gejagt haben dich früher oder später erwischt hätten."

"Na toll, und wenn ich Laura von ihren Eltern wegstiebitze sind gleich alle Familien der Cosa Nostra hinter mir her. Voll die Zukunftsaussichten."

"Die höchste Schwester meinte, wenn du kein geordnetes Leben führen könntest, ohne eine Partnerin zu haben, sollte ich dich heiraten und mit dir zusammenleben." Cecil schluckte. Mit etwas ähnlichem hatte er zwar immer gerechnet, aber es zu hören, und sei es nur in seinem Kopf, war doch eine Nummer härter. So dachte er:

"Ich komme mit dir besser klar als mit Anthelia. Aber deshalb gleich heiraten. Ich meine, ich müßte mir dann von deinen Mitschwestern sagen lassen, was ich zu tun und zu lassen habe. Reicht schon, wenn du das machst."

"Du willst also Laura Carlotti als deine Gefährtin haben?"

"Nur, wenn sie das ganz von alleine auch will", dachte Cecil zurück. Er wußte zu gut, daß die Hexen um Anthelia und Patricia Menschen mit Zaubern oder Zaubertränken unterwerfen konnten.

"Gut, dann werde ich dafür sorgen, daß sie für dich frei ist, ohne, daß sie oder du in den Verdacht geratet, diesen Kuhhandel vereitelt zu haben. Du siehst zu, daß du bis Februar genug Geld für eine längere Reise hast. Vergiß das mit dem Möbelwagen! Solange du in den Staaten lebst könnte unseren Feinden und deinem Ziehvater einfallen, dich zu beeinflussen."

"Unseren Feinden?" Fragte Cecil.

"Leute vom Schlage Price und Angehörige des derzeitigen Zaubereiministeriums. Deine Entführung damals ist noch nicht ganz vergessen, Cecil. Im Grunde warte ich nur darauf, dich aus der Gefahrenzone zu bringen. Aber das muß so ablaufen, daß keiner aus der magielosen Welt auf die Idee kommt, dich zu jagen. Ich habe nicht nur den Auftrag, sondern auch den Wunsch, dich in dein selbstbestimmtes Leben zu entlassen. Selbstbestimmt heißt dann auch, daß du nicht mehr in Gefahr bist."

"Dann mußt du aufhören, mich zu überwachen", knurrte Cecil in Gedanken.

"Erst wenn ich weiß, daß du in deinem eigenen Leben angekommen bist und deine Gefährtin mit dir glücklich werden kann. Vorher muß ich noch Hindernisse aus dem Weg räumen, ohne Leichen zu verursachen."

"Wie menschlich", dachte Cecil verächtlich. Diese Hexen konnten doch über alle Leichen gehen, die sich anboten und diese dann verschwinden lassen. Patricia schickte ihm telepathisch zurück:

"Man kann Leute auch ohne sie umzubringen verschwinden lassen. Du bist der schlagende Beweis, wie gut das geht."

"Also, was soll ich jetzt machen?" Fragte Cecil seine Gedankenpartnerin.

"Mich machen lassen. Im Februar wirst du aus deinem Elternhaus ausziehen können, ohne daß ein Senator Wellington dich zurückhalten kann und ohne daß eine weit verzweigte Verbrecherbande deiner Freundin hinterherläuft. Die Vorbereitungen für deine Absetzbewegung sind bereits im Gange. Verfolge einfach nur das private und öffentliche Leben Reginald Wellingtons!" Cecil verstand. Patricia Straton und ihre Mitschwestern würden was anstellen, um den Senator zu erledigen, ohne ihn gleich umzubringen. Und daß die Hexenschwestern mit Gangsterorganisationen fertig werden konnten hatten sie schon häufig bewiesen. Sie hatten die Rattlesnakes vernichtet, die War Dragons wohl auch gleich von der Welt verschwinden lassen. Patricia selbst hatte sämtliche Gangster um El Serpiente aus dem Verkehr gezogen und in den Weihnachtstagen, als er gerade mit der Identität Cecil Wellington versehen worden war, eine Killertruppe ausgelöscht, ohne Spuren zu hinterlassen. Am Günstigsten würde es wohl verlaufen, wenn sich die Mafia-Clans gegenseitig ausradierten, dachte er. patricia Straton antwortete nicht darauf. So blieb ihm nur das Warten.

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Mann, wenn ich so weiter esse wiege ich im Juni noch vierhundert Pfund", seufzte Daianira, als sie wieder einmal eine Heißhungerattacke mit mehreren Würstchen, Fruchtquark und Muffins überstanden hatte. Als wenn ihr Unterleib nicht schon so schwer genug war drückte das Gewicht der gierig einverleibten Speisen gegen ihre Bauchdecke. Leda Greensporn sah ihre Cousine leicht besorgt an. Doch dann nickte sie.

"Anthelia benötigt für ihr Wachstum sehr viel Nahrung, Daianira. Andererseits solltest du bei deiner nächsten Mahlzeit mehr Gemüse zu dir nehmen."

"Morgen werde ich den ersten Schritt des Sanctuamater-Zaubers anwenden", mentiloquierte Daianira. Im Moment trug sie Anthelias Medaillon nicht. Doch sie wollte sicher sein, daß die gerade ungeborene Feindin nicht doch verstand, was sie sagte. "Jetzt drückt die mir wieder auf die Blase", schnaubte sie und lief mit leicht stampfenden Schritten in ihr Badezimmer. Als sie nach der nötigen Erleichterung ihre gerade entblößten Beine ansah überkam sie ein Gefühl von Selbstverachtung. Sie hatte Elefantenbeine. Das konnte doch nicht angehen, daß sie durch diese unsägliche Schwangerschaft wie eine Elefantenkuh aussah. Doch dann fing sie sich. Besser sie trug Anthelia, als wenn der Fluch sie in den Leib ihrer Feindin gezwungen hätte.

"Wissen wir schon mehr, ob diese Valery irgendwo aufgetaucht ist?" Fragte Daianira ihre Cousine später.

"Donata hält Kontakt mit ihren Freunden vom Ministerium, und unsere neue Mitschwester Linda Knowles hat ihre überfeinen Ohren bereits ausgestreckt. Da sie ja an Lady Robertas Rockzipfel hängt, muß ich darauf hoffen, daß ich früh genug erfahre, wo sich diese unkontrollierbare Furie herumtreibt. Sie muß für ihre Brut Futter beschaffen. Das muß irgendwem auffallen."

"Und die Drachen?" Fragte Leda.

"Seitdem ich zwanzig von denen abgeschossen habe sind deren Herren wohl im Nachteil. Sie müssen sich damit abfinden, daß jemand eine Methode gefunden hat, Decompositus wirkungsvoll einzusetzen."

"Schade, daß das mit den Schlangenmenschen nicht funktioniert", erwiderte Leda. Da klopfte eine Eule an das Fenster der Blockhütte, die Daianira im Osten Frankreichs bezogen hatte. Leda öffnete das Fenster und ließ den Postvogel ein. Es war eine Eule von Luisette Richelieu.

"Ah, der werte Monsieur Didier wurde entmachtet", sagte Daianira mit gewisser Schadenfreude. "Damit werden sie jetzt in Frankreich überlegen müssen, wie sie das von dem angerichtete Chaos beseitigen sollen." Leda setzte mit einem Zauberstabstupser ein magisches Radio in Betrieb und wählte den offiziellen Sender Tagesecho. Dabei erfuhren sie, was passiert war. Dann flog noch eine Posteule herein, diesmal von der französischen Sprecherin der entschlossenen Schwestern. Diese teilte mit, daß Pétain behauptet hatte, Didier sei durch eine Giftspritze zum Schlangenmenschen geworden. Daianira erbleichte, so daß Leda ihr mit einem Kreislaufstabilisierungstrank aushelfen mußte.

"Dieser Größenwahnsinnige melkt seine Bestien und verteilt deren Gift auf Muggelweise. Was er damit anrichten kann."

"Du meinst, dieses Gift kann auch ohne den direkten Körperkontakt mit einem dieser Ungeheuer wirken?" Fragte Leda. Daianira nickte wild und fischte nach der mit magischen Symbolen verzierten Schatulle, in der sie Anthelias Medaillon aufbewahrte. Sie hängte es sich um.

"Ach, darf ich auch mal wieder was mehr von draußen mitkriegen, Daianira", hörte sie Anthelias Gedankenstimme. "Das Zeug, was du in dich reingestopft hast gluckert so laut."

"Kleines, der Emporkömmling hat eine Methode entdeckt, das Gift dieser Schlangenbrut unter die Leute zu bringen, ohne diese Bestien einsetzen zu müssen."

"Arzneieinspritzer der Muggel?" Fragte Anthelia, die im Moment nicht schon wieder mit Daianira darüber diskutieren wollte, daß diese sie nicht ständig "Kleines" nannte. Daianira bejahte es.

"Was hat Leda dir gegeben? Ich fühle mich gerade so hibbelig." Fragte Anthelia, die langsam mehr und mehr eigene Körperempfindungen wahrnahm.

"Kreislaufverstärker", schickte Daianira zurück. Dann fragte sie, wie sie gegen derartige Angriffe vorgehen sollte. Anthelia schwieg einige Sekunden. Dann klang ihre Gedankenstimme:

"Er wird das Gift dort verteilen, wo es keinen Verdacht erregt, also dort, wo viele Menschen kommen und gehen, um sich Arzneien oder Rauschgift in den Körper treiben zu lassen."

"Dann muß ich solche Orte oder Menschen suchen", schnarrte Daianira und stieß unvermittelt auf. Leda rümpfte die Nase, während Anthelia belustigt zurückschickte:

"Hast du dich überfressen, Mom Daianira?"

"Ich kann mich gar nicht überfressen, weil du mir schon schwer genug im Leib liegst", schnarrte Daianira nur in Gedanken. Dann wandte sie sich an ihre Cousine.

"Wir müssen herausfinden, wie dieses Gift verbreitet wird und alle transportwege unterbinden und die Gifte vernichten."

"Das wird man im Ministerium schon tun", beruhigte Leda sie. "Die haben mehr Leute."

"Schicke die Entomanthropen los, um jeden aufzulesen, der sich in ein solches Ungetüm verwandelt, Daianira!" Forderte Anthelia.

"Ein bißchen mehr Zurückhaltung, wenn ich schon für dich mitessen muß, Thalia", gedankengrummelte Daianira. Anthelia verstand, daß Daianira ihr wohl nach der erfolgreichen Wiedergeburt diesen Namen geben würde. Offenbar hatte sie ihre anderen Umstände bereits irgendwem erzählt, der oder die nach dem freudigen Ereignis darüber berichten würde.

Du wirst heute nirgendwo mehr hingehen, Daianira. Der Schock eben hat dich geschwächt. Wenn du nicht ausruhst, binde ich dich fest."

"Die Stimme deiner Herrin", spottete Anthelia. Daianira nahm das Medaillon ab und legte es in die Schatulle zurück. Dann sagte sie: "Leda, wenn wir diese Brut stoppen wollen müssen wir dieses Gift so schnell wie möglich ausrotten. Außer mir kann keiner diesen geflügelten Scheusalen sagen, was sie zu tun haben."

"Ich weiß, du hoffst darauf, Anthelia zu verlieren. Aber du hast es dir ausgesucht, sie zu tragen. Dann wirst du sie auch behalten, bis sie ausgetragen ist", schnarrte Leda. "Ich bin als Heilerin dir und dem Kind verpflichtet."

"Wir sind beide volljährig, Leda. Wenn Anthelia anregt, die Spur des Giftes zu verfolgen, sollten wir das tun."

"Soso, wo du in den letzten Wochen immer darauf bestehen wolltest, daß Anthelia sich dir zu unterwerfen hat? Außerdem ist sie gerade keine volljährige Hexe, sondern ein Fötus am Ende des ersten Trimenons und damit minderjährig und du als ihre werdende Mutter hast daher keine Widerspruchsrechte gegen Heileranweisungen. Du ruhst dich jetzt aus! Morgen früh können wir drei gerne die fliegenden Ungeheuer auf dieses Gift ansetzen."

"Leda, wenn ich nicht darauf bestehen würde, dieses Balg von einer Ex-Feindin auszubrüten würde ich dir vorschlagen, daß du sie zu dir reinholst. Ihr Heilerinnen habt doch diesen Transgestatio-Zauber erlernt, oder."

"Wenn du diesen Gürtel nicht tragen würdest und ich mich nicht angewiedert fühlen müßte würde diese Sardonianerin schon längst in meinem Schoße ruhen, damit ich sie fern von dir und den anderen Entschlossenen herantrage. Aber ich weiß, daß dieser Gürtel dir hilft, zu überleben, und daß du Anthelias Wissen noch brauchst, um diese Bestien zu jagen. Aber genug jetzt. Lege dich hin und erhol dich! Der Tag war wieder lang."

"Also gut. Ich beuge mich deiner Anweisung, Leda. Aber nur, weil ich selbst will, daß Anthelia ihr früheres Selbst verliert und als meine Tochter Thalia zur Welt kommt. Gute Nacht!"

"Gute Nacht ihr beiden!" Erwiderte Leda nun freundlich.

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Die Sonne ging auf. Nach Syrinx Angaben schrieben sie wohl den einunddreißigsten Dezember. Wie ihre Befreierin es angeordnet hatte waren Nathalie und Armand Grandchapeau in dem Blockhaus geblieben. Sie hatten beobachtet, wie die Kompanie der Knochengerüste nach ihrer Patrouille zurückgekehrt war. Der Wächterdrache war bei Sonnenaufgang in der Nähe eines kegelförmigen Hügels heruntergegangen. Syrinx Chaudchamp fand nun, daß sie den Schlüssel zum Tor auf das Festland besorgen sollten. Bisher hatte wohl niemand die Gefangenen vermißt oder ging davon aus, daß sie nicht entkommen konnten. Syrinx wußte, daß sie nicht viel Zeit hatte. In zwei Stunden würde sie vom Achterrat zurückerwartet. Tauchte sie nicht dort auf, würden alle magischen Unregelmäßigkeiten der letzten Nacht auf sie zurückgeführt werden. So galt es nun.

Sie liefen im Schutz von Tarnzaubern, die Syrinx auf ihre Begleiter angewandt hatte über die Insel. In großer Ferne rauschte das Mehr. Sie mußten einen weiteren Hügel umrunden. Syrinx wisperte ihnen zu, daß in den vier großen Hügeln alle Einwohner lebten. Statt Fenster besaßen sie Wände mit Bildverpflanzungszaubern. Der Minister wußte das jedoch schon aus alten Berichten von Leuten, die noch Kontakt mit denElfenbeininsulanern gehabt hatten. Dann erreichten sie einen dreifachen Steinring, ähnlich einem druidischen Heiligtum. Armand Grandchapeau fühlte bereits aus der Ferne, daß hier eine starke Magie wirken mußte. Seine Frau schien die pulsierende Kraft eines mächtigen Zaubers auch zu spüren. Syrinx dirigierte sie mit wenigen einfachen Worten zum östlichen Halbring.

"Dies ist der magische Mittelpunkt der Insel", sagte sie, sich bewußt, daß sie gerade einmal mehr Verrat an ihren Leuten beging. "Hier wacht der graue Hüter über den Schlüssel zum Festland. Nur wer dem Rat angehört darf ihn ohne Gefahr für das eigene Leben wecken. Doch wenn ich den Schlüssel habe, wird es keine zwei Minuten dauern, bis die Wächter des Rates hier auftauchen. Denn wenn der Hüter erwacht läutet eine Glocke im Felsenpalast."

"Wo ist dann das Tor?" Fragte Armand Grandchapeau.

"Es wird sich unter dem Dreierstein öffnen, auf den gerade die Sonne fällt. Ich habe nur wenige Minuten, um Ihnen das Tor zu öffnen. Dann werden uns die Wächter angreifen. Wenn Sie wieder in Ihrem Land sind, suchen Sie Ion Borgogne! Er war früher mein Gefährte. Wenn sie ihn ausfindig machen, sagen Sie ihm den Satz: "Syrinx will dich wiederhaben!" Dann wird er wissen, daß ich Ihnen vertraut habe und Ihnen helfen, das Chaos zu beseitigen."

"Sind Sie sicher?" Fragte Armand Grandchapeau. "Woher soll ich wissen, ob ich den richtigen vor mir habe?"

"Wenn der Satz fällt wird er sich daran erinnern, was ich ihm bedeutete. Dann wird er Ihnen helfen. Seine Mutter sagte es mir, daß er dann jeden Schaden, der angerichtet wurde beheben wird. Und jetzt muß ich den grauen Hüter wecken und das Tor öffnen. Hier, die nehmen Sie schon einmal. Aber noch nicht damit zaubern!" Sie zog eine Umhängetasche unter ihrem Umhang hervor und fischte zwei Zauberstäbe heraus, die sie dem Ministerehepaar übergab. Armand nahm den knorrigen Zauberstab, während seine Frau den kurzen, schlanken Zauberstab nahm. Syrinx eilte indes durch die Trilithen, Steingebilde, bei denen zwei Steine einen breiten Stein wie ein primitiver Torbogen trugen. Armand Grandchapeau fühlte, wie die hier wirksame Magie durch seinen Zauberstab in seinen Arm strömte. Sie wechselwirkte mit magischen Objekten. Dann beobachtete er, wie Syrinx mehrere Figuren mit dem Zauberstab beschrieb, wobei sie die Spitze auf den Boden richtete. Unvermittelt schlugen blaue und grüne Lichtbahnen aus den sie umgebenden Steinen und ließen den Boden dahinschmelzen. Doch es war wohl eher die Beseitigung einer massiven, magischen Verplombung, erkannten die Grandchapeaus. Ein etwa drei Meter durchmessender Schacht tat sich auf. Weißer Qualm drang daraus empor und bildete eine sich sachte drehende Rauchsäule.

"Wenn die jemand sieht haben wir wirklich gleich die anderen Wachen hier", knurrte Armand Grandchapeau. Dann erzitterte der Boden, als ein langgezogenes Maul wie das eines Krokodils aus dem Schacht auftauchte. Das Maul glitzerte silbergrau wie der Bauch eines Fisches. Er war jedoch geschuppt wie der einer Schlange. An dem Kopf mit den rubinroten Augen hing ein Körper, der eine Mischung aus Schlange und Eidechse war. Auf dem Rücken wlagen steingraue, lederartige Flügel an. Dieser wohl extra für dieses magische Zentrum erschaffene Drache schälte sich nun immer weiter aus dem Schacht heraus, schwenkte seinen gefährlich aussehenden Kopf und glotzte Syrinx an. Sein Maul klappte kurz auf und zu. Zwei Reihen wellenförmig leicht nach hinten gebogener Reißzähne glänzten für einen Moment weißgelb im Sonnenlicht. Dann hörten sie gedämpft durch einen Schallschluckzauber, wie Syrinx der Kreatur aus der Tiefe etwas zurief und dabei beschwörende Zauberstabbewegungen ausführte. Armand lauschte. Der Drache schnaubte wohl. Doch er war nicht der einzige. Aus der Ferne hörten sie wütendes Gebrüll und Klappern und Klirren. Die Knöchernen kamen, und sie brachten mindestens einen der schnellen Drachen mit.

"Die Drachen können in ein paar sekunden hier sein", schnarrte Grandchapeau. Seine Frau nickte. Da sahen sie, wie der graue Drache sich krümmte und wand, wobei er seinen Kopf mit dem Maul nach unten hielt. Dann plumste eine silberne Walze heraus, in der fremdartige Symbole eingraviert waren. Sie wirkte nicht schleimig oder feucht, obwohl sie direkt aus dem Leib des Drachenwesens ausgewürgt war. Syrinx ging in die Hocke und stemmte die Walze mit beiden Händen hoch wie ein schweres Gewicht. Nathalie wies ihren Mann darauf hin, das je ein Drache aus den Haupthimmelsrichtungen auf sie zugeflogen kam. Die geflügelten Zauberwesen waren warhhaft pfeilschnell. Armand gab sich selbst noch fünf Sekunden. Wenn er keinen wirkungsvollen Abwehrzauber aufrief, würden die Bestien sie gleich einholen und todsicher umbringen. Syrinx wankte mit der Silberwalze auf einen Trilithen zu, auf den gerade das Sonnenlicht fiel und bugsierte den Zylinder zwischen die beiden tragenden Steine. Sofort schlugen links und rechts silberne Lichtbahnen aus der Walze, die in die beiden Steine eindrangen und diese aufleuchten ließen. Unter leisem Summen formte sich der Trilith zu einem leuchtenden Silbertor, durch das sie nebelhaft eine fremde Landschaft erkennen konnten. Da schlug der erste Feuerstrahl neben den Eheleuten ein. Diese rissen ihre Zauberstäbe hoch und riefen Conjuntivitus!" Der gerade adlergleich auf sie zustoßende Drache bekam je einen gleißenden Strahl in das linke und rechte Auge und heulte auf. Dabei quoll ein siedendheißer Dampfstrahl aus seinen Nüstern. Der Wächter verfehlte die Beute und krachte schmerzvoll röhrend auf den Steinboden auf. Sie hörten ein häßliches Knirschen. Doch da war bereits der nächste Drache heran. Syrinx riß ihren Zauberstab hoch und rief etwas, worauf eine blaue Leuchtspirale aus dem Stab heraustrat und sich immer schneller rotierend nach oben bewegte, wodurch die anfliegenden Drachen sichtlich irritiert oder von ihrem Angriff abgehalten wurden. Sie stoben auseinander. Syrinx eilte um das aktivierte Tor herum und machte Zeichen, daß die beiden sofort flüchten mußten. Armand Grandchapeau und seine Frau verstanden und liefen im Geschwindschritt auf das Tor zu, duckten sich und sprangen hindurch. Syrinx sah, wie ihre Körper verschwammen, wie pulsierender Nebel waberten und keinen Lidschlag später in jener nebelhaften Landschaftsansicht auftauchten. Syrinx hielt ihren Zauberstab gegen einen der silber leuchtenden Steine und rief: "Fermato Transitum!" Mit lautem Knall erlosch das silberne Leuchten. Die Walze lag nun zwischen den tragenden Steinen. Der graue Hüter schlängelte sich blitzartig darauf zu, packte sie mit seinen gekrümmten Fangzähnen und schlang sie mit zwei mächtigen Schluckbewegungen hinunter. Syrinx sah noch, wie das graue Ungetüm sich innerhalb von drei Sekunden in den Schacht zurückzog. Dann disapparierte sie. Die magische Versiegelung würde sich von selbst wieder einpassen, und der graue Hüter würde in einen Zustand zwischen Schlaf und Versteinerung verfallen, bis er erneut aufgefordert wurde, den Schlüssel zum Festland wieder auszuwürgen.

Wie unbescholten trat Syrinx ihren Dienst an, während auf der Insel fieberhaft nach den geflüchteten gesucht wurde. Sie war sich zwar sicher, daß früher oder später auch sie befragt würde, ob sie den Gefangenen zur Flucht verholfen hatte, doch die Mitglieder des Oktagons von Ebonesia würden mit einer allgemeinen Verdächtigung nur Unfrieden in diese auf Ruhe und Abgeschiedenheit geprägte Gemeinschaft bringen. Hinzu kam, daß der graue Hüter bereits wieder schlief. Seine Beschaffenheit war nur dazu da, den Schlüssel herauszugeben, wenn die Insel aus irgendeinem Grund evakuiert oder ein Ratsmitglied das Festland aufsuchen sollte. War das Tor wieder verschlossen, würde es sich nicht mehr an derselben Stelle auf dem Festland öffnen. Sie hatte also Zeit.

Die Grandchapeaus erschienen aus einem unsichtbaren Tor, das keine fünf Sekunden später mit leisem Knall verschwand. Sie befolgten den Rat, nicht zu apparieren, sondern orientierten sich erst einmal, wo sie überhaupt waren. Nach einer gewissen Zeit stellte Armand fest, daß sie südöstlich von Aix-en-Provence herausgekommen waren. So brauchten sie nur einen Muggelweg in die Stadt zu suchen, um von dort aus einen Weg nach Paris zu finden. Um nicht gleich als das unverhofft wieder aufgetauchte Ministerehepaar aufzufallen vollzogen sie an sich Verwandlungszauber, so daß Armand als Mann mit hellblonder Igelfrisur und blondem Oberlippenbart einherschritt, während Nathalie sich schwarzes Lockenhaar und ein pausbäckiges Gesicht verpaßte. Ihre tiefgrünen Augen ließ sie hellblau werden. Derartig verändert traten die beiden geflüchteten ihren langen Weg zurück in die Zivilisation an. Als sie endlich in der Rue de Camouflage eintrafen und dort in Melousines Café eintrafen, taten sie so, als seien sie Touristen aus dem Schwarzwald. Da beide deutsch konnten sprachen sie nun mit Akzent und veränderten Stimmen. So erfuhren sie, was alles passiert war und drückten ihre Besorgnis aus, daß diese Insektenmonster, die die Schlangenmenschen erledigt hatten, nun über gewöhnliche Hexen und Zauberer herfallen würden. Danach kehrten sie per Apparition in ihr geheimes Wochenendhaus bei Nizza zurück, wo sie ein Zauberradio und conservatempisierte Vorräte für zwei Monate gelagert hatten. Damit hielten sie sich die nächsten Wochen auf dem Laufenden und erfuhren, daß es gut war, sich nicht sofort wieder zu erkennen gegeben zu haben. Ihre Tochter war in Millemerveilles in Sicherheit. Sie würde wohl zwischen dem vierzehnten und einundzwanzigsten Februar ihr erstes Kind bekommen. Bis dahin wollten die beiden sich zurückhalten, um zu beobachten, ob die Plage mit denSchlangenkreaturen beseitigt werden konnte. Jetzt aufzutauchen würde ein Führungschaos verursachen, erkannte der Minister. Delamontagne sollte einstweilen die Fäden in den Händen behalten.

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Er hatte nicht damit gerechnet, daß groß gefeiert würde. Ihn störte es auch nicht, ob jemand mit wildem Feuerwerk und Jubelschrei das angebrochene Jahr 1998 begrüßte oder nicht. Es war sein Jahr Nummer eins. Er, Lord Voldemort, hatte es fast geschafft. Es fehlte nur noch dieser Bastard Harry Potter, der seinen Plänen im Weg war. Über die Entomanthropen Anthelias konnte er im Moment nur lachen. Seine treuen Todesser schossen jeden dieser geflügelten Brummer über der Landesgrenze vom Himmel. Und die Wertiger? Seitdem er seine Kämpfer mit nichtmagischen Flammenwerfern ausgestattet hatte, waren diese altindischen Raubkatzen auch kein Thema mehr für ihn. Aber dieser Halbblut-Bastard, dieser widerliche Auswurf einer grünäugigen Schlammblüterin, mußte unbedingt sterben. Er hatte ihn, den dunklen Lord, zu oft gedemütigt, ob als sabberndes Wickelkind oder als halb ausgegohrener Schulbengel. Der hatte ein unverschämtes Glück, das es schon ekelhaft war. Aber bald, bald würde er wissen, wo der Schicksalsstab war, und dann konnte dieser kleine Wurm ihm nichts mehr entgegensetzen, auch nicht mit dem Zwillingsstab seines bisherigen, treuen Zauberstabes. Und wenn er diesen überragenden Zauberstab besaß, würde er nicht nur Potter niedermachen, sondern jeden anderen Feind, der sich ihm in den Weg stellte. Er würde auch die überheblichen alten Weiber, diese Abgrundstöchter, unter seinen Willen zwingen. Denn mit dem unbesiegbaren Zauberstab würden sie einem damit gewirkten Imperius-Fluch oder anderen Bannzaubern nichts mehr entgegensetzen können. Doch wenn er mehr über den Stab wissen wollte, mußte er den Dieb finden, der Gregorowitsch den Stab fortgenommen hatte. Wer das war, wußte er mittlerweile. Diese geschwätzige Sensationsschmiererin Rita Kimmkorn, die im vorletzten Jahr seine Rückkehr ausgeschlachtet hatte, hatte ihm ohne es zu wollen den Widerling gezeigt. Eigentlich hatte er, Tom Vorlost Riddle, immer zu ihm aufgeblickt, ihn bewundert und ihm nacheifern wollen. Doch seitdem Gellert Grindelwald von diesem Schlammblutfreund Dumbledore besiegt und entmachtet worden war, galt Grindelwald nicht mehr als der Ritter der Reinblütigkeit. Er, Lord Voldemort, Slytherins rechtmäßiger Erbe, würde die Herrschaft der Zauberer über die Muggel erringen. Und dieser Grindelwald hatte damals den unbesiegbaren Zauberstab gestohlen! Aber wieso konnte Dumbledore ihn dann im Duell besiegen? Das mußte er ihn fragen, wenn er wußte, wo Grindelwald festgehalten wurde. Er mußte noch einige ehemalige Gefolgsleute von Grindelwald besuchen, um das rauszufinden. Dazu wollte er nach Rußland reisen, wenn seine Aktion mit der explosionsartigen Vermehrung der Schlangenkrieger zum Erfolg geführt hatte. Er hatte nicht vergessen, daß er sich an Bokanowski fast verhoben hatte. Die Dserschinskis waren erledigt. Doch Voldemort hatte auch gehört, daß dieser Arcadi, der gerade russischer Zaubereiminister war, eine ordentliche Truppe auf die Beine gestellt hatte. Diese galt es zu erledigen, bevor er sich auf die Suche nach dem Stab machen konnte. Das sollten seine Schlangenkrieger erledigen.

"Herr, eine Fledermaus!" Rief Wurmschwanz mit seiner unterwürfig hohen Stimme. Voldemort fuhr aus seinen Gedanken um anstehende Taten auf und rief bedrohlich zurück: "Laß sie zu mir, Wurmschwanz! Sicher einige der Dunkelmondler, die mir ihre Aufwartung machen wollen."

"Sehr wohl, Herr!" Rief Wurmschwanz. Voldemort öffnete die Tür des kleinen, mit mehrfachen Abwehrzaubern gespickten Zimmers, daß er im weitläufigen Landhaus der Malfoys besetzt hatte. Da flatterte das geflügelte Säugetier auch schon heran. Voldemort erkannte, daß es sehr weit geflogen sein mußte. Doch noch etwas fiel ihm an diesem Nachttier auf. Es war beinahe haarlos, und auf der kahlen Haut quollen rote Blasen heraus. Das Wesen flog keuchend auf ihn zu und stürzte kurz vor ihm ab. Dabei rutschte ihm ein Pergamentzettel vom Bauch. Voldemort hob den Zauberstab und wirkte einen Flucherkenner. Doch außer der schwachen Aura zum Schreiben verwendeten Vampirblutes konnte er nichts ausmachen. Die Fledermaus quiekte noch einmal. Dann lag sie schlaff auf dem Boden. Voldemort bückte sich und griff nach dem Zettel. Dabei meinte er, etwas kribbelndes würde ihm in die Finger fahren. Er meinte, etwas wie kleine Funken zu spüren, die von dem Zettel und der Fledermaus auf ihn zuflogen. Doch er hatte keine bösartige Magie erkannt. Wie konnte das sein? Das Kribbeln in den Fingern wurde immer mehr zu einem unangenehmen Jucken. Hatte wer auch immer den Zettel mit einer bösartigen Salbe bestrichen? Wenn schon. Kein Gift konnte ihm, dem Unsterblichen, etwas anhaben. Denn durch Naginis Gift und Einhornblut war er auch in seinem wiedergewonnenen Körper gegen jedes Gift immun. Sollte es ruhig kribbeln. Doch es störte ihn, daß dieser unsichtbare Funkenregen immer stärker auf ihn einprasselte, je näher er den Zettel vor seinen Körper hielt. Das erinnerte ihn irgendwie an die Barriere aus unsichtbarem Feuer, hinter der Yanxothars Schwert verborgen gewesen war. Aber dann hätte er es mit seinem Flucherkenner erkennen müssen. Ein ihm sehr widerwärtiges Gefühl keimte in ihm auf, das Gefühl der Unsicherheit, weil er etwas vor sich hatte, das er nicht begreifen konnte und das ihn sichtlich piesackte. Dann machte er die Vampirschrift für Menschenaugen sichtbar und schloß fast geblendet die scharlachroten Augen. Die mit Vampirblut auf den Zettel geschriebenen Buchstaben flammten in einem grellen Blau auf, als habe er das Feuer eines schwedischen Kurzschnäuzlers heraufbeschworen. Erst nach einigen Sekunden konnte er den Brief lesen.

Mein lieber Freund Voldemort!

Ich habe mit sehr großer Bewunderung erfahren, daß Ihr es geschafft habt, Krieger aus einer längst vergangenen Welt zu Eurem Dienst zu rufen und als wirkungsvolle Streitmacht einzusetzen. Allerdings möchte ich Euch fragen, warum Ihr es nötig habt, diese Kreaturen in mein erhabenes Land zu schicken, wo Ihr doch einfach nur hättet fragen müssen, ob ich mich an Eure Seite stelle. Nun, ich fürchte, Ihr habt noch nicht von mir gehört. Und das entschuldigt natürlich diese unbeabsichtigte Nachlässigkeit. Daher möchte ich mich gerne vorstellen. Ich bin Wladimir Petrowitsch Volakin, lebe schon seit dreihundert Jahren und habe sehr gute Beziehungen zu den Kindern der Nacht, zu denen ich dank meiner leider durch die Sonne von meiner Seite geraubten Gemahlin Irina gehören darf. Umstände, die ich bis heute nicht so recht überblicken kann, verliehen mir vor einem Dutzend Jahren die Macht, der Sonne zu widerstehen und mächtiger zu werden als jene, zu denen ich gehöre. Ich vermag nun sowohl bei Tag als auch bei Nacht unversehrt zu agieren und habe einige gute Gefährten, die meine neuen Gaben mit meinem Blut in sich aufnahmen und nun wie ich danach trachten, die Kinder der Nacht zu neuem Ruhm zu führen und die magielosen Menschen auf den Platz zu verweisen, der ihnen gebührt. Da ich weiß, daß dieses Ziel mit dem Euren gleich ist, frage ich nun, ob Ihr mir die Ehre Eures Besuches erweisen und über eine einvernehmliche Partnerschaft mit mir sprechen möchtet, bevor Eure alten Krieger aus purer Unwissenheit jede Möglichkeit niedertrampeln, eine gedeihliche Übereinkunft zu treffen.

In der großen Hoffnung, in Euch einen klugen wie entschlossenen Freund zu haben und in der besten Absicht, Euch jeden Ärger aus meinem Reich vom werten Hals zu halten, erwarte ich Eure Antwort. Ich fürchte, die Fledermaus war zu lange in meinen Diensten. Niedere Tiere haben die Schwäche, meine Nähe nicht lange zu überleben. So schreibt mir Eure Antwort und sendet die Fledermaus mit einem Heimkehrzauber zu mir. Ihr Wissen um den Weg und meinen bescheidenen Wohnort wird die Magie lenken, mit der sie direkt zu mir versetzt werden kann.

Mit hochachtungsvollen Grüßen

Wladimir Petrowitsch Volakin

"Volakin?" Schnarrte Voldemort, während das unsichtbare Prickeln und Kribbeln ihn nun nicht mehr nur die Haut, sondern die Muskeln durchzog. Seine Finger vibrierten förmlich. Dann sah er auf die Fledermaus. Die war eindeutig tot. Denn sie atmete nicht mehr. Als er seine Hand dem Kadaver näherte, fühlte er auch von diesem diese fremdartige Kraft, die wie winzige Entladungen auf seiner Haut wirkte. Ihm war auch klar, daß dieses Tier da keinen Funken Wissen mehr im Gehirn besitzen mußte und er es nicht mehr auf dem schnellen Weg des Teleportationszaubers an seinen Ausgangspunkt zurückbefördern konnte. Und er wollte es auch nicht hierbehalten. "Vanesco Solidus!" Schnarrte er. Mit leisem Knall verschwand die tote Fledermaus. "Volakin", grummelte Voldemort. Etwas in diesem Namen brachte leise ein paar Saiten in seiner Erinnerung zum Schwingen. Ach ja! Dserschinski hatte den Namen genannt, bevor er mit ihm zum Treffen mit Bokanowski gereist war. Volakin war ein Vampirfürst in der Ukraine, lebte sehr lange und gehörte zu den sogenannten Hellmondlern. Doch Dserschinski hatte mit einem beklommenen Unterton erwähnt, daß Volakin vor etlichen Jahren, wo er, Voldemort wohl noch als körperloser Schatten seiner selbst in Albanien war, etwas angestellt hatte, daß ihn mächtiger als jeden anderen Vampir gemacht haben sollte. Wieso hatte er sich nicht darauf besonnen, diesen Blutsauger zu suchen, als diese Vampirin und die eine Abgrundstochter sich mit ihm um den Mitternachtsdiamanten gestritten hatten? Er hatte sich eben darauf festgelegt, keine Vampire mehr aufzusuchen, weil er wußte, daß die der Macht des Mitternachtsdiamanten unterworfen waren. Damit konnten sie für ihn gefährliche Mitwisser werden, die er nicht brauchte. Doch dieser Volakin sollte nun gegen Sonnenstrahlen immun sein? Warum hatte seine Blutschrift so grell geleuchtet? Und was für eine Macht war das, die eine solche Ausstrahlung aufwies, aber nicht mit denFlucherkennern aufgespürt werden konnte? Warum war diese Fledermaus so mit Pusteln bedeckt gewesen? Warum war dieses Tier krepiert, als es bei ihm ankam. "Wurmschwaanz!" Rief Voldemort. Er winkte der Tür mit dem Zauberstab, damit der gerufene gefahrlos eintreten konnte. Da kam er auch schon angekeucht, der kleine, dicke Kriecher mit dem mausgrauen Haar und den wässerigen Augen.

"Herr", schnaufte er und warf sich auf die Knie. Voldemort warf ihm den Zettel von der Fledermaus zu. "Was sagst du dazu, Wurmschwanz?" Fragte der dunkle Lord. Wurmschwanz nahm den Zettel und betrachtete ihn. Die Schrift war wieder erloschen, weil Voldemort den Zettel aus der Hand gegeben hatte. "Was soll ich sagen, Herr?" Fragte Wurmschwanz beklommen und drehte den Zettel. Voldemort wollte wissen, was er fühlte. Doch Wurmschwanz fühlte nichts. Voldemort legilimentierte ihn. Der kleine, dicke Feigling log ihn nicht an. Das hätte der sich auch mal wagen sollen. Wurmschwanz befingerte den Zettel mit seiner silbernen Kunsthand, betrachtete ihn und meinte dann: "Vampirblut, Herr. Kann nur durch einen bestimmten Zauber gelesen werden."

"Habe ich schon, Wurmschwanz", schnarrte Voldemort. Warum fühlte Wurmschwanz diese unsichtbaren Funken nicht, von denen selbst jetzt noch welche bei Voldemort ankamen. Mochte es sein, daß dieser Zauber nur ihn berührte, weil er der wahre Empfänger dieser Nachricht war? Dann hatte Volakin etwas gefunden, daß jedemFlucherkenner verborgen blieb und dem, dessen Name oder Anrede er aufschrieb zeigte, daß eine starke, wenn auch nicht gleich tödliche Kraft von der Nachricht ausging. Wenn ein Brief schon solche Kräfte aufnehmen konnte ... Nein, das Blut war es! Das auf den Zettel geschriebene Vampirblut barg diese Kraft. Dann besaß dieser Volakin wahrlich eine mächtige Ausstrahlung, die auf niedere Tiere tödlich wirkte. So einen wollte er nicht unbedingt zum Feind haben, wenn er diesen veränderten Blutsauger auch als Verbündeten in Rußland einsetzen konnte. Er konnte ja immer noch die Schlangenmenschen gegen ihn losschicken, falls dieser Wicht sich durch den Mitternachtsdiamanten unterwerfen ließ. Außerdem kam es ihm eigentlich recht. Er wollte ja eh nach Grindelwalds Verbleib suchen und mußte dessen alte Mitkämpfer ausforschen, sofern dieser Arcadi noch welche am Leben gelassen hatte. Er holte sich den Zettel wieder und überlegte, wie er Kontakt mit diesem Volakin aufnehmen konnte. Er konnte keinen Vampir schicken, weil er nicht wußte, ob die Räuberin des Mitternachtsdiamanten diesen nicht sofort gegen ihn einsetzte. Nein, er mußte einen seiner Schlangenkrieger schicken. Doch sobald dieser aus England heraus war, würden die Entomanthropen ihn wieder jagen. Doch unter der Erde würden diese Kreaturen ihn nicht erwischen können. So entsandte er Todesträger, einen rot-schwarzen Schlangenkrieger, der neben Angststürmer und Mörderzunge als bisher einzige auf der Insel geblieben waren, bis Voldemort die hier herumstreunenden Wertiger erledigt hatte. Am nächsten Tag, dem siebten Januar, würde er diesen Volakin suchen lassen. Die Schlangenkrieger konnten auf den Namen und das Blut eines Feindes oder Gesuchten abgerichtet werden wie scharfe Bluthunde. Er brauchte nur den Stab Sharanagots mitzunehmen und ihn zu verfolgen.

"Ich muß verreisen. Schicke Madam Lestrange zu mir, Wurmschwanz!"

"Madam Bellatrix ist zusammen mit denMalfoys in Hogwarts, o Herr. Sie müssen patrouillieren, weil ..."

"Diese verstockten Bälger immer noch meinen könnten, die Schulordnung unterwandern zu können", schnarrte Voldemort. "Dann werde ich eben ohne ihr Wissen verreisen. Sage ihnen nur, ich sei schnell wieder da, und sie sollten bis dahin aufpassen, daß Thicknesse und die anderen uns die verbliebenen Feinde vom Leib schaffen." Wurmschwanz bestätigte den Erhalt der Anweisung.

Eine Stunde später übergab Voldemort Todesträger den Zettel. Der Schlangenmensch hatte in einer Felsenhöhle am Ufer eines kleinen Bergsees in Schottland geruht. Der Schlangenkrieger beleckte den Brief, um den einmaligen Geschmack und Geruch des Blutes Volakins aufzusaugen. Voldemort mußte ihn jedoch zunächst auf das Festland schaffen, da die Schlangenkrieger nicht tiefer als zweihundert Meter ins Erdreich abtauchen konnten, und sich keinesfalls unter Wasser fortbewegen konnten. Doch für diese Reise hatte der dunkle Lord sich schon etwas überlegt. Er hatte per Imperius-Fluch einen Privatpiloten der Muggel behext, mit seiner Flugmaschine um kurz vor sechs vom Sportflughafen Dover abzuheben und mal eben mit Todesträger über den Kanal zu fliegen. Er hoffte nur, daß keine Wertiger dort lauerten. Der rot-schwarz geschuppte Schlangenmensch würde für die Reise wohl in menschlicher Gestalt verbleiben müssen, allein schon, um dem Beeinflußten Flugmaschinenlenker nicht als Ungeheuer aufzufallen.

Auf diese Weise schaffte es Voldemort, Todesträger am nächsten Tag über den Kanal zu bringen und in der Nähe von Calais landen zu lassen. Von dort aus ließ er den Boten unterirdisch weiterreisen, nachdem dieser den Piloten durch reine Körperkraft getötet hatte, um mögliche Mitwisser auszuschalten.

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Anthelia fühlte, obgleich sie nicht über das Medaillon mit der Außenwelt verbunden war, wie Daianira irgendwas mit ihr anstellte. Sie fühlte merkwürdige Schwingungen, die von außerhalb des sie umgebenden Leibes in sie eindrangen und sie zum vibrieren brachten. Sie fühlte, wie diese Schwingungen sich aus ihr zurück in den sie umschließenden Schoß ausbreiteten und dort wieder verebbten. Sie hörte leise eine flüsternde Stimme: "Vita Matris cum anima tua connectata! Vita matris tuae sanctissima!" Diese altrömische Zauberformel klang in Anthelia im Klang der sie durchdringenden Schwingungen. Sie erkannte es. Auch wenn ihre Sinne in diesem Zustand ihrer Wiederentstehung noch nicht voll ausgeprägt waren. irh geist war es jedoch schon. Sie erkannte diesen Zauber. Dieses Biest, in dessen Bauch sie gerade heranwachsen mußte, wollte sie unter den Sanctuamater-Zauber zwingen, dem nur hemmungslosen Hexen genehmen Bann gegen ihre eigene Brut, um nicht von dieser angegriffen oder verraten zu werden. Anthelia fühlte, wie diese Worte in ihr nachzuklingen begannen. Nein! Sie durfte diesem Zauber nicht nachgeben. Er würde sie ihr ganzes, gerade werdendes Leben lang an diese Hexe binden, deren Blut über den gebildeten Mutterkuchen in sie hineinpulsierte. Sie durfte diesem Zauber nicht erliegen. Sonst würde sie alles tun, was Daianira von ihr verlangte, sobald diese damit drohte, sich etwas anzutun. Sie durfte sie nicht hintergehen. Doch Anthelia konnte sich nicht richtig wehren. Wie gerne würde sie diesem hinterhältigen Weib in den Wanst treten, um es aus der Balance zu bringen. Immer lauter klang die alte Zauberformel, und Anthelia fühlte mit den in sie wirkenden Schwingungen eine langsam ansteigende Euphorie, ein Gefühl grenzenloser Geborgenheit und Glück. Sie mußte das abwehren. Aber wie konnte sie das?

"Vita Matris cum anima tua connectata! Vita matris tuae sanctissima!" Diese Worte wurden nun immer lauter und fordernd. Gleichzeitig stieg in Anthelia das Gefühl der grenzenlosen Geborgenheit. Sie war drauf und dran, Daianira bedingungslos zu gehorchen, die Bewahrerin ihres Lebens. Doch irgendwas in ihr wehrte sich. Irgendwas verriet ihr, daß sie nicht diesem Zauber unterworfen sein wollte. Sie dachte eine druidische Litanei, die ihr als Seelenschild bekannt war. Damit konnten unerwünschte Gedanken von außen vertrieben und die eigene Seele vor darauf einwirkende Rituale geschützt werden. Doch ihre Gedanken verklangen fast unter der in sie hinein- und aus ihr herausfließenden Worte, die sie nun wie mit denOhren von der sie umkleidenden Umhüllung widerhallen zu hören glaubte. Mit großer Anstrengung hielt sie ihre Seelenschildformel dagegen. Sie war kein wehrloser Fötus. Sie war immer noch Anthelia, auch wenn ihr Körper gerade nicht lebensfähig war. Sie war die Erbin Sardonias, nicht eine beliebige, willenlose Leibesfrucht einer ihr widerstrebenden Hexe. Die war nicht mächtiger. "Vita matris tuae sanctissima!" Drang die Beschwörung noch lauter in sie ein. Doch Anthelia hielt nun dagegen. Dann ebbten die Vibrationen und die Beschwörungsformeln ab. Sie hörte das überlaute Schnaufen von Daianiras Atem. Ihre Ohren waren bereits fähig, die wichtigsten Geräusche ihrer unmittelbaren Umgebung zu unterscheiden. Sie dachte noch einmal ihren Seelenschild und merkte dann, wie erschöpft sie war. Ihr noch nicht ausgereiftes Gehirn konnte die mentale Energie, die ihre Gedanken aufbieten mußten noch nicht lange aushalten. Daianira hätte sie fast überrumpelt. Doch sie würde es wieder versuchen, sobald sie merkte, daß Anthelia sich widersetzt hatte. Das hieß, woran sollte sie das merken? Anthelia erkannte, daß Daianira genau die zwölf Wiederholungen gemurmelt oder gedacht hatte, die für den Zauber vorgesehen waren. Würde sie wirklich merken, daß Anthelia ihm widerstehen konnte? Dann würde sie wohl in drei Monaten, also so um den April herum, den zweiten Durchgang versuchen. Falls Anthelias Gegenwehr nicht früh genug erfolgt war und sie nun zum Gutteil mit diesem Zauber belegt war, konnte dieser Durchgang sie endgültig überwinden. Dann würde dieses Weib diese alte Formel noch einmal kurz vor und während der Geburt anwenden, um Anthelia zur total treuen Tochter zu machen. Die von beiden gefühlten Schmerzen der Niederkunft würden das magische Band zwischen ihren beiden Körpern und Seelen unzerreißbar machen. Anthelia begriff nun, weshalb Daianira sich so darüber freute, sie neu zur Welt bringen zu müssen, warum sie die Gefühlswallungen und körperlichen Auswirkungen der Schwangerschaft so unerschüttert aushielt. Sie wollte sie, Anthelia, endgültig unter ihren Willen zwingen, ihr grenzenlosen Gehorsam und Treue in Leib und Seele einpflanzen. Jetzt fühlte Anthelia ein wenig Angst. Ihr wurde klar, daß sie wirklich eine Gefangene war. Eine Gefangene, die zur Gehilfin ihrer Kerkermeisterin werden sollte, sobald sie das schleimige Tor ihres bald immer kleiner werdenden Kerkers öffnete und sie ans Licht zurückstieß. Womöglich würde sie, Sardonias Nichte, sich dann sogar freuen, Daianiras gehorsames kleines Mädchen zu sein. Dann fragte sie sich, ob sie anders herum nicht genau das gleiche angestellt hätte. Sie mußte erkennen, daß sie ebenso skrupellos Daianiras Körper und Seele zu ihren Gunsten beeinflussen würde, wäre sie diesem verkehrten Fluch unterworfen und in Anthelias Unterleib versetzt worden. Sie wußte auch, daß sie dann, wenn Daianira wieder das Medaillon Dairons trug, auf der Hut sein mußte, um nicht zu verraten, daß sie die Absicht der Hexe erkannte, die sie wohl gerade wieder irgendwohin trug, was sie nur durch sachtes Schaukeln erspürte. Sie hörte lautes Gluckern. Richtig hören, wo es herkam konnte sie noch nicht. Aber sie war sich sicher, daß Daianira gerade etwas trank, um sich nach dem aufgewendeten Zauber zu entspannen. Vielleicht, so dachte Anthelia gerade, sollte sie sich fügen. An der ihr drohenden Wiedergeburt konnte sie ja doch nichts ändern. Es sei denn, diese überfürsorgliche Leda würde Daianira dazu überreden, sie zu übernehmen. Doch das war wohl ausgeschlossen, weil Leda durch den Blutschwur ebenso zum Gehorsam gezwungen war, wie sie, Anthelia, es bei erfolgreicher Wiederholung des Sanctuamater-Zaubers sein würde. Die einzige Chance bestand darin, Daianira ohne ihr Wissen gegen jemanden auszuspielen. Doch sie hatte es schon versucht, zu mentiloquieren. Sie konnte sich nicht recht konzentrieren. Immer fiel sie in einen Dämmerzustand, wenn sie sich auf jemanden einstimmen wollte. Außerdem wußte sie nicht, ob ihre fürsorgliche Mutter das nicht mitbekommen würde. Aber irgendwann, so entschied die gerade machtlose Führerin des Spinnenordens, würde sie es noch einmal versuchen. Und sei es, daß sie dabei ihren Verstand einbüßte. Das könnte sie sogar davor bewahren, ihre Platzangst und den Widerwillen vor der im Juni anstehenden Wiedergeburt zu vergessen. Sie fühlte, wie sie wieder müde wurde. Das voranschreitende Wachstum zehrte sie gut aus, und die Rhythmen um sie herum wirkten wie ein einlullendes Wiegenlied. Solche würde sie wohl irgendwann auch noch über sich ergehen lassen müssen, dachte Anthelia, bevor sie einschlief.

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Hat der Zauber gewirkt?" Fragte Leda mentiloquistisch, als Daianira merklich erschöpft in ihrer Küche ein großes Glas Fruchtsaft in sich hineinstürzte.

"Ich habe eine Resonanz verspürt, die immer stärker wurde. Ich denke, Thalia hat den Zauber in sich aufgenommen."

"Sicher kannst du dir aber nicht sein", schickte Leda zurück. "Er ist bisher nur bei ohne Magie empfangenen, sich erst körperlich und geistig entwickelnden Ungeborenen ausgeführt worden."

"Dann hätte ich diese Resonanz in meinem Bauch nicht verspürt. Die ist nämlich charakteristisch für den erfolgreichen Zauber. Er geht nur bei Zwillingen nicht, schreibt Nioba Monte Solis."

"Die muß es wissen. Die hat sieben Kinder geboren", schickte Leda zurück. "Und das vor anderthalb Jahrtausenden." Daianira stieß auf und dachte daran, ob Anthelia das jetzt als lautes Rumpeln würde hören können. Sie mußte grinsen und kichern. Diese Gefühlswogen. Das war die leidige Nebenwirkung des ersten Trimenons. Doch das war durch die dem Fluch zu verdankende Abkürzung dieser fremden Umstände ja gerade um. Gerade noch rechtzeitig hatte sie den Zauber ausgeführt.

"Daianira, die Pabblenut hat dir eine Eule geschickt. Offenbar will sie dich für eine neue Kampagne für Broomswood einspannen", sagte Leda und hielt ihrer Cousine einen Umschlag hin.

"Die soll mich in Ruhe lassen, Leda. Ich sehe jetzt nicht mehr so altehrwürdig aus wie sie. Die wird fragen, wie ich mich so jugendlich frisch und dann so mollig hingekriegt habe."

"Du bist nicht Mollig, Daianira. Noch kann es keiner erkennen, was in dir vorgeht."

"Wenn ich sage, ich bin nicht mehr so schlank wie vorher, dann glaub mir das gefälligst, Leda!"

"Und dann? Du würdest meinen, nicht mehr essen zu dürfen, obwohl alles an und in dir danach giert. In das gefühlschaos will ich dich wirklich nicht reinstürzen lassen."

"Gib den Brief von dieser Männerhasserin her, Leda!"

"Wie lautet das Zauberwort, Daianira?" Fragte Leda unerbittlich.

"Unverzüglich, Leda", knurrte Daianira. "Oder verbrenne ihn gleich. Nachher fällt mir die Kleine noch raus, weil dieses Weib mich zu sehr aufregt."

"Gut, dann lese ich den Brief und befinde, ob du ihn lesen kannst, ohne deine Tochter zu verlieren", schnarrte Leda. Doch Daianira schnappte ihr mit einer schnellen Handbewegung den Brief aus der Hand und riß ihn auf. Tatsächlich las sie, daß Alexandra Gladia Monica Pabblenut sie darum bat, eine bundesweite Kampagne gegen den Hexenhaß Wishbones zu starten und anzuregen, daß eine Untersuchungskommission die Entlassungen und Maßnahmen der letzten Monate überprüfte.

"Die hat Sorgen", grummelte Daianira Hemlock. "Die hat wohl noch nichts davon gehört, daß diese Valery Saunders existiert und in Europa die Schlangenbiester des Unnennbaren mit denEntomanthropen kämpfen."

"Diese Saunders hat sich gut versteckt. Wir wissen immer noch nicht, wo sie ist."

"Die taucht schon wieder auf, Leda. Dann werde ich ihr meine Todesdisken entgegenschleudern. Wenn diese Drachen das nicht aushielten, kann die auch mit der in sich hineingefressenen Zauberkraft das nicht aushalten."

"Wirst du dieser Dame deine Aufwartung machen, Daianira?" Fragte Leda.

"Ich schicke der einen Heuler, daß die es nicht noch mal wagen soll, mich zu behelligen. Ich habe genug mit anderen Dingen zu tun. In zwei Wochen erscheint meine Abhandlung über akkumulative Zaubertränke. Da muß ich eh mit rechnen, daß die Fachpresse und Nirvana mich mit Post bestürmen, sofern ich nicht gerade da mit Valerys Brut oder mit denSchlangenbestien oder den Drachen zu tun habe."

"Die ständigen Reisen werden dir langsam zu anstrengend, Daianira. Entweder bleibst du in Frankreich oder hier in den Staaten."

"Leda, wir hatten das eindeutig geklärt, daß ich gerade jetzt, wo sämtliche Schwestern wissen, daß ich Anthelia neu austrage keine den Eindruck gewinnen darf, ich würde dadurch nachlässig. Die Kleine da drinnen", wobei sie ihren schon leicht gerundeten Bauch überstrich, "hat noch einige Schwestern außerhalb der erhabenen Sororität gewonnen. Bisher will sie mir nicht verraten, wer außer Tyche dazugehört. Und Tyche könnte sich berufen fühlen, ihre verschwundene Schwester zu rächen, wenn sie wüßte wie. Dabei könnte sie meine Abwesenheit ausnutzen und die nun wieder treu ergebenen Mitschwestern umbringen, um sie mir endgültig abspenstig zu machen. Sie wurde ja nicht auf den Eid der gegenseitigen Unversehrtheit eingeschworen."

"Schwester Donata wird schon aufpassen, daß Tyche Lennox ihr und den anderen nicht zu nahe kommt, schon aus eigenem Interesse", wollte Leda sie beschwichtigen.

"Und dann ist da noch das verräterische Aas, das mir das Medaillon des Inti gestohlen hat. Gut, mit dem wäre es nicht so einfach, Anthelia behütet heranwachsen zu lassen, weil ihr Medaillon und ihr Körper wohl allergisch auf Intis Medaillon reagieren. Aber das Luder soll nicht denken, daß es mir nun hoffnungslos überlegen ist."

"Und wenn es ein Er ist?" Fragte Leda.

"Es ist eine von Anthelias früheren Mitschwestern, wohl eine, die nicht zu uns gehörte."

"Bist du dir da sicher?" Fragte Leda geheimnisvoll.

"Keine von uns konnte sich dem Ruf zur Versammlung entziehen. Sie hätte erscheinen müssen."

"Wenn du das so sagst", erwiderte Leda schnippisch. Sie hatte jetzt keine Lust mehr, mit ihrer Cousine zu diskutieren, zumal sie kein Argument anführen konnte, um mehr als nur Andeutungen auszusprechen.

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Aus Gertrude Leelands Tagebuch

9. Januar 1998

Heute trat diese alte Hexe Sophia Whitesand mit dem unglaublichen Ansinnen an uns heran, daß wir alle uns auf ein ominöses Magieruhepotential untersuchen lassen sollten, weil Melanie ihr wohl die haarsträubende Geschichte meines Mannes erzählt hatte, daß dieser behauptete, vor der vermaledeiten Party bereits an Zauberei und ähnlichem geglaubt zu haben, weil es angeblich einen Vorfahren gegeben habe, der mit einem Zauberstab, aus dem Wasser gekommen war, ein brennendes Haus gelöscht habe. Sophia zog dann ein altes Buch hervor, in dem angeblich drinstand, daß es diesen Vorfall tatsächlich gegeben hatte und ein gewisser Prospero Strout deshalb am 23. September 1588 am Galgen endete. Der hätte noch einen Bruder gehabt, von dem bis heute Hexen und Zauberer abstammen sollten. Die Nachkommen dieses Prosperos hätten aber wohl keine Magie geäußert, weil das den Schreibern dieses mysteriösen Buches bestimmt eine Notiz wert gewesen wäre. Diese mit schon unanständiger Oberweite gesegnete Patience Moonriver hat dann mit einem obskuren Ding über unsere Körper getastet wie mit einem Metallsuchgerät und bei den meisten von uns sogenannten Muggeln Werte zwischen 0,0 und 0,05 abgelesen. Bei Melanie hat dieses Gerät 0,37 und bei Michael 0,36 angezeigt. Danach hat mich die alte Hexe lange davon zu überzeugen versucht, daß es möglich sei, meine Kinder zu vollwertigen Zauberfähigen zu machen. Ich hielt ihr entgegen, daß ich das nicht gestatten wolle. Da sagte sie mir doch glatt, daß die beiden knapp unter der Grenze lägen, an der sich sporadische Zauberkräfte äußerten und es für uns alle besser sei, wenn diese Kräfte kontrolliert erweckt und dann im nutzbringenden Sinne geübt werden. Immerhin könnten Melanie und Michael dadurch Halt in dieser Parallelwelt finden. Es bestehe nämlich durchaus die Möglichkeit, daß der Mörder, den wir unseren Aufenthalt hier verdankten, doch noch seiner gerechten Strafe zugeführt würde. Dann gelte es, ein neues Leben anzufangen, und ob ich als Mutter zulassen wolle, daß meine Kinder in eine Welt zurückgestoßen würden, mit der sie gar nicht mehr recht klarkämen. Wir erhalten hier zwar ständig Zeitungen, die uns beschreiben, was draußen geschieht. Aber ich fürchte, Sophia Whitesands Argumentation stimmt, daß dies nur so sei, als würden wir in einer Höhle mit dem Rücken zum Ausgang sitzen und die Welt nach den Licht- und Schattenspielen draußen beurteilen. Da ich davon ausging, daß dieser Firlefanz mit der späten Magieaktivierung eh nicht funktioniere, ließ ich Melanie und Michael ihren Willen, dieses Experiment zu machen.

10. Januar 1998

Ich muß es wohl zur Kenntnis nehmen. meine Kinder wurden durch ein mir nicht ersichtliches Ritual zu zauberfähigen Jugendlichen. Erst hatte diese Hexe Melanie und dann Michael bei sich. Ich durfte nicht genau zusehen, weil Ryan meinte, daß dieser Zauber wohl eine sehr intime Sache sei. Ich konnte nur die Formel "Vita mea vita tua" durch die geschlossene Tür hören. Was sie mit Melanie gestern gemacht hat, passierte heute mit Michael. Die haben danach die Zauberstäbe von Hortensia und Prudences Vater ausprobiert, und die haben damit wirklich Licht ohne Feuer gemacht. Ich weiß nicht, was bei mir gerade schlimmer ist, die Angst, weil meine Kinder jetzt was können, was ich nicht kann, die Verärgerung, daß diese alte Hexe sich nun unumkehrbar in mein Familienleben reingedrängt hat oder dieses Gefühl der Abwertung. Ryan wünschte heute wieder eine intime Begegnung mit mir. Aber mir steht gerade nicht der Sinn nach seiner Nähe.

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Dr. William McGregor lächelte. Jetzt war das Verfahren Serienreif. Kunden aus Militär, Medizin und Tourismus würden sich darum reißen. Er konnte es sich sogar aussuchen, wem er dieses Verfahren überließ.

"Herr Direktor McGregor, die Herren Wilson, Taggert und Backster sind da", klang leicht blechern die Stimme seiner Sekretärin Nancy Walters durch die Gegensprechanlage.

"Wunderbar, Nancy. Schicken Sie sie bitte zu mir rein!" Erwiderte McGregor und prüfte rasch noch den Sitz seiner dunkelblauen Krawatte und die Glätte seines lichten, dunkelbraunen Schopfes. Dann traten sie schon ein, die drei Mitarbeiter von Sanitech Industries, einer Firma für medizinische Ausrüstungsgüter.

"Ah, die Herren sind pünktlich", grüßte er mit geschäftsmäßiger Freundlichkeit. "Freut mich." Dann gab er jedem einzeln die Hand. Humphrey Wilson war der stellvertretende Verkaufschef. Er war mindestens fünfzig Jahre alt und stark untersetzt. Der dunkelgraue Anzug schien bei jedem Schritt und jeder Drehung aus den Nähten platzen zu müssen. Sein Begleiter Raymond Taggert war Anwalt und achtete auf die ordentlichen Formulierungen von Geschäftsverträgen. Armin Backster war ein jungdynamischer Nachwuchsgeschäftsmann wie aus dem Bilderbuch mit flott wirkendem Anzug, Aktentasche und Laptoptasche. Er war jedoch aprobierter Arzt und als solcher wissenschaftlicher Berater für Wilson. In den OP hatte er es nur nicht geschafft, weil herausgekommen war, daß er kein Blut sehen konnte, das aber bis nach dem Examen so gut es ging ohne Drogen unterdrückt hatte.

"Sie haben uns kontaktiert, weil Sie uns ein rein plastisches Verfahren zur Lichtabsorption zwischen Infrarot und Ultraviolett vorstellen möchten", sprach Wilson mit sonorer Baritonstimme. Backster nickte. "Warum wir und nicht die großen Spieler aus der Kosmetikbranche?" Wollte Wilson dann noch wissen.

"Weil die Schönheitsdesigner ihre Läden dann zumachen könnten, Mr. Wilson, zumindest was den optimalen Sonnenschutz angeht", erwiderte McGregor. "Ich habe mit meinen Mitarbeitern das Verfahren gerade komplett durchentwickelt. Das Patent dafür ist bereits erteilt. Jetzt geht es nur noch darum, daß jemand diese Erfindung umsetzt."

"Die worin genau besteht, Sir?" Fragte der junge Backster.

"Nun, es ist eine unauffällige, in allen menschlichen Hautfarben herstellbare Plastik-Metallfolie, die atmungsaktiv und Wärmeabführend ist und daher wie ein Ganzkörperschutzanzug, eine zweite Haut, übergestreift und durch eine einfache Unterdruckpumpe rutsch- und passgenau am Körper anliegen kann, von den Körperöffnungen mal abgesehen, die ja doch freibleiben müssen."

"Sie wären nicht der Erste, der auf diesem Gebiet forscht", wandte Wilson ein. "Wir versuchen das schon seit Jahrzehnten, derartige Materialien herzustellen, wegen der Lichtallergiker, die nicht immer dick eingemummelt durch den Hochsommer laufen wollen."

"Tja, und es scheiterte immer an der Verträglichkeit für die Haut, nicht wahr?" Fragte McGregor. Wilson und Backster nickten.

"Sie möchten uns ernsthaft erzählen, ein entsprechendes Verfahren entwickelt zu haben?" Fragte der Anwalt Taggert.

"Ich werde nicht nur davon erzählen, sondern es Ihnen demonstrieren, Gentlemen. Meine Mitarbeiter Dr. Elvira und Dr. Arnold Vierbein - deren Mitarbeit Dagobert Ducks halben Geldspeicher wert ist - konnten die bisherigen Materialmängel ausrotten. Ich habe hier eine Probe." McGregor drückte seine rechte Hand gegen das Metall eines Panzerschranks. Leise surrend sauste ein Laserlesekopf über seine Hand. Dann klickte es, und die elektronisch verriegelte Tür klappte weit auf. Der Direktor von Calchem Industries holte etwas wie Einwickelfolie heraus, das im blaßrosa Ton mitteleuropäischer Durchschnittshautfarbe glänzte. Es ließ sich leise raschelnd auseinanderfalten. "Sieht unverdächtig aus. Aber Wenn sie es unter eine UV-Lampe legen fängt es die davon ausgehende Strahlung restlos ab. Ebenso wird Infrarotlicht fast vollständig zerlegt. Sichtbares Licht kommt gar nicht erst bis zur dritten Schicht durch. Ich führe es Ihnen vor." Er schloß den Safe und schaltete seine 100-Watt-Schreibtischlampe ein. Dann wickelte er die Folie um den ganzen Schirm, so das eine silbrig-blaue Unterseite zu erkennen war. Doch kaum hatte er den Lampenschirm umspannt, kam kein Licht mehr durch. Er bat nun alle, ihre Hände unter den Schirm zu halten, während der Anwalt die Lampe im Auge behielt.

"Keine Wärme", stellte Backster fest, als er die Folie fast an die Glühbirne drückte. Wilson wollte es jedoch wissen und zog die Folie wieder ab, wobei das Licht wieder durchkam. Er betastete die Oberseite und empfand keine Erhitzung.

"Das ist unmöglich. Das kann doch nicht gehen", knurrte der Anwalt, der Betrug vermutete. "Die Lampe hat bestimmt einen eingebauten Sensor, der sie ausschaltet, wenn mehr Licht im Raum ist als sie selbst abgibt, was durch diesen Trick vorgegaukelt werden kann."

"Halten Sie die Folie mit der glitzernden Seite vor ihre Augen. Wenn Sie dann noch Licht sehen können ...", sagte McGregor.

"Lichtundurchlässigkeit ist schon längst erfunden", wandte Taggert mürrisch ein. "In Mexiko haben sie Folien, durch die man gefahrlos eine Sonnenfinsternis im Entstehen beobachten kann."

"Ähnlich ist das Prinzip. Aber nur ähnlich. Sie verstehen, daß ich keine Betriebsgeheimnisse ausplaudern möchte", erwiderte McGregor.

"Das heißt, wir sollen die Katze im Sack kaufen?" Fragte Wilson verwegen lächelnd.

"Ich erwähnte eine Demonstration, Gentlemen. Meine Mitarbeiter warten schon darauf, Ihnen die Eigenschaften der Solex-Folie praktisch vorzuführen. Wenn Sie mich bitte zu unserem hauseigenen Sonnenstudiio geleiten möchten?"

"Um uns mit vorbereiteten Versuchsaufbauten zu beeindrucken?" Fragte Taggert. Wilson nickte ihm zu. Er hatte schon häufig aufpassen müssen, nicht auf scheinbare Wunderapparate hereinzufallen, die vom Stop des Haarausfalls bis zur Krebsbehandlung alles mögliche versprachen, aber dann bestenfalls gar nichts bewirkten.

"Ich werde sie heute noch überzeugen, daß unsere Folie funktioniert, Gentlemen. Dr. Backster kann gerne die verwendeten Apparaturen prüfen und eigene Messungen anstellen, wenn es sein muß am eigenen Leib."

"Das werden wir sehen", sagte Taggert. Doch McGregor nickte zuversichtlich und führte die drei durch sein Vorzimmer zu einem Fahrstuhl, mit dem es in eines der Untergeschosse ging. Dort mußte Backster seinen tragbaren Computer in einen Schrank einschließen. Ebenso mußten sie alle ihre Mobiltelefone abgeben, um nicht aus Versehen nach draußen dringen zu lassen, was sie erlebten. Dann ging es in einen Raum, der bis auf eine Sonnenbank und mehrere Meßgeräte nichts enthielt. Dort warteten zwei Mitarbeiter McGregors. Es waren Elvira und Arnold Vierbein, ein mittlerweile eingespieltes Expertenpaar auf dem Gebiet der Kunststoffherstellung. Sie präsentierten eine Folie, die nur Löcher für Arme, Beine und Kopf besaß. Taggert, der wieder Betrug witterte, wurde gefragt, ob er sich um diesen Betrug zu bestätigen oder zu widerlegen für eine Stunde unter den Turbobräuner legen würde, ausgestattet mit einer absolut lichtdichten Sonnenbrille. Wilson bat ihn darum. So durfte sich der Anwalt hinter einem Wandschirm ausziehen und in die wie ein einteiliger Badeanzug beschaffene Folie Schlüpfen, die mit einer kleinen Luftpumpe leise Zischend an der Haut festgesaugt werden konnte. Nur seine Unterhose zog der Rechtsanwalt an, weil er vor allem der leicht mädchenhaft verspielt wirkenden Dr. Vierbein nicht zu viel seines Körpers zeigen wollte. Dann legte er sich unter die UV-Lampen der künstlichen Sonne. Er setzte eine mit Saugnäpfen fest anliegende Brille mit undurchsichtigen Gläsern auf und wartete, bis Wilson den Bräunungsapparat eingeschaltet hatte. In der angesetzten Stunde prüfte Backster immer wieder nach, ob das Gerät wirklich Hitze und UV-Strahlung abgab. Taggert vermeldete, daß er wirklich fühlte, daß Arme, Beine und Gesicht erhitzt wurden. Doch das mochte nichts heißen. Als er jedoch kurz vor Ablauf der angesetzten Frist ein sachtes Ziepen fühlte und Backster den Abbruch verlangte, erkannte der Anwalt, daß er sich mitten im Winter einen leichten Sonnenbrand eingehandelt hatte. Als dann die Folie entfernt wurde kam heraus, daß die davon bedeckten Hautpartien ihre winterliche Blässe behalten hatten, während die der Strahlung ausgesetzten Körperteile in einem leichten Rotton erschienen. Backster stellte die leichten Verbrennungen fest und fragte den Anwalt, ob er sich am Bauch oder Brustkorb auch erhitzt gefühlt habe.

"Es war wirklich so, als kühle mich etwas ab. Nur Arme, Beine und Gesicht fühlten sich heiß an", sagte Taggert. "Wie lange hätte ich unter dieser Höllenlampe liegen dürfen?"

"Wir haben es hinbekommen, daß die Folie 99,83 Prozent der auftreffenden Lichtstrahlung absorbiert. Das entspräche einem Lichtschutzfaktor 600. Sie hätten also mehr als drei Wochen am Stück unter der Höhensonne liegen können. In der Zeit wären bestimmt die ersten Birnen durchgeknallt", sagte Dr. Arnold Vierbein.

"Sechshundert Stunden ohne Bräunungseffekt?" Fragte Backster ungläubig. "Sie erlauben, daß wir diesen Wert in unserem Labor nachprüfen."

"Nur wenn Sie mir schriftlich die Abnahme von mindestens eintausend Quadratmetern Solex-Folie garantieren wollen und für die zwei Quadratmeter Probefolie eine Erklärung unterschreiben, für jede nach außen gedrungene Information darüber mit dem Doppelten des dadurch angerichteten Schadens zu haften. Wir müssen wie Sie gegen feindlichen Informationsabfluß gewappnet bleiben", erwiderte McGregor sehr ernst.

"Sie wollen mir doch nicht etwa Industriespionage unterstellen, werter Dr. McGregor", wandte Wilson leicht entrüstet ein. "Sie dürfen nicht erwarten, daß ich, wie schon mal erwähnt, eine Katze im Sack kaufe. Bei der Gelegenheit: Wie viel soll denn der Quadratmeter dieser Wunderfolie denn kosten?"

"Nun, wenn sie allen Lichtallergikern der Staaten sowie allen, die in Regionen mit intensiver Sonneneinstrahlung arbeiten müssen eine hautfreundliche, wasserdichte und problemlos wieder entfernbare Schutzfolie anbieten können, dürften zweitausend Dollar pro Quadratmeter nicht zu viel sein."

"Moment, Sie wollen also, daß wir mit Ihnen vereinbaren, mindestens tausend Quadratmeter abzunehmen, was dieser Preisangabe nach eine Investition von zwei Millionen entspräche. Das können Sie doch nicht von mir erwarten, da einfach nur einer Zahlenangabe zu vertrauen. Sicher, Dr. Taggert hat sich von diesem Superbräuner da den ersten Sonnenbrand des Jahres zugezogen. Aber wir können nicht einfach so eine Folie beziehen und darauf hoffen, daß wir genug Abnehmer finden, selbst wenn der menschliche Körper eine größere Oberfläche hat als zwei Quadratmeter."

"Sir, bei allem Respekt, meine Frau und ich haben die Folie im Selbstversuch getestet, indem wir uns achtzig Stunden unter unsere Turbosonne gelegt haben. Jeder ungeschützte Körper hätte da keine Haut mehr am Leib und wäre bis runter ins Fleisch verdorrt. Ich behaupte mal, selbst Graf Dracula könnte mit unserer Folie am Körper locker auf dem Strand von Malibu Urlaub machen, wenn der kalifornische Hochsommer da ist."

"Kommen Sie mir bitte nicht mit reißerischen Vergleichn mit fiktiven oder längst verstorbenen Persönlichkeiten! Wenn ich damit denMarkt bedienen soll, den Sie offenbar nicht selbst erschließen wollen oder können, Dr. McGregor, dann muß ich mich selbst gegen jeden Vorwurf der arglistigen Täuschung absichern", sagte Wilson. Sein Anwalt nickte heftig. "Nun gut, ein Quadratmeter, und die schriftliche Erklärung, erst einmal hundert Quadratmeter zu weiteren Testreihen abzunehmen kann ich vor den Aktionären rechtfertigen. Die Schadensersatzverpflichtung wegen möglicher Industriespionage unterschreibe ich Ihnen nur unter der Bedingung, daß Sie exklusiv mit uns verhandeln und dieses Produkt keinem anderen Interessenten mehr anbieten. Sollten wir mit den eigenen Tests zufrieden sein, wäre das ein beiderseitiger Gewinn."

"Darauf gehe ich ein", sagte McGregor. Er dachte zwar daran, daß er im Februar auch mit denVertretern des Militärs sprechen wollte, um die Marines und Navy-Matrosen mit dieser Folie auszustatten und daß er hier die Preise etwas höher ansetzen konnte. Doch der gerade grassierende Frieden in der Welt hatte die Verteidigungsbuchhalter zum Sparen verleitet. Und er wollte die Solex-Folie schon an US-amerikanische Abnehmer verkaufen. So ging er darauf ein.

Wilson und seine Experten für Recht und Medizin rückten mit einer in einer neutralen Schachtel zusammengefalteten Probe der Folie ab. McGregor bedankte sich bei seinen beiden Star-Mitarbeitern.

"Der Vergleich mit Dracula war zwar etwas unprofessionell für eine Kundenaquisition, Dr. Vierbein. Aber manchmal bringen es reine Zahlen eben nicht", sagte McGregor. Arnold Vierbein nickte leicht abbittend dreinschauend. Seine Frau meinte dann: "Also ich werde in diesem Jahr auf jeden Fall den Strampelanzug unserer Kleinen damit auskleiden." Arnold Vierbein nickte wieder.

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"Und das hat der Kerl wirklich gesagt?" Amüsierte sich die bleichgesichtige, sehr attraktiv aussehende Frau mit dem schnurlosen Telefon am Ohr.

"Ja, hat er", klang die leicht entrückt klingende Stimme ihres Gesprächsteilnehmers. "Taggert ist fast krebsrot angelaufen", sagte die Stimme am anderen Ende noch.

"Und ihr habt dieses Wunderzeug jetzt?" Fragte die noch sehr jung aussehende, aber doch eher wie eine Frau in mittleren Jahren wirkende.

"Wir werden das morgen testen, ob da wirklich so wenig durchdringt, Mylady. Wann darf ich wieder zu euch?"

"Oh, verlangt es dich wieder danach, deinen Körper mit dem Meinen zu vereinen?" Fragte die Angerufene verrucht klingend.

"Euer Körper ist das grandioseste, was ich bisher besuchen durfte", erklang die Antwort von leichter Erregung getragen.

"Gut, dann werde ich dich heute abend besuchen und dir für deine großartige Auskunft danken, Süßer", erwiderte die Angerufene mit sündhaft verheißungsvoller Betonung. Dann klickte es im Telefonhörer.

"Es hat sich gelohnt, dich nicht gleich zu meinem Sohn zu machen, Süßer", dachte Griselda Hollingsworth, alias Lady Nyx. Sie lächelte überlegen und entblößte dabei ihre messerscharfen Eckzähne. Sollte es denn wirklich angehen, daß die Magielosen, die sie häufiger als willige Blutspender anzapfte, den Durchbruch geschafft hatten, der den nicht mit der Macht des Mitternachtsdiamanten gesegneten Artgenossen erlaubte, wie diese pelzigen Mondheuler auch am hellen Tag herumzulaufen, könnte sie sich früher wieder zurückmelden als beabsichtigt. Sie ging kurz in den stockdunklen Keller, wo ihre drei neuen Töchter, die mexikanischstämmige Luna, die afroamerikanische Hecate und die als Touristin aus Italien eingereiste Stella den Tag verschliefen. Nur sie, Lady Nyx, konnte wachen, weil sie den Mitternachtsdiamanten in ihrem Leib versteckt trug, dessen magische Impulse sie immer wieder spürte. Manchmal quängelte eine Gedankenstimme, sie solle doch mehr Blut für ihn trinken. Doch sie wußte, daß sie diesen Wishbone und diese beiden Hexen Anthelia und Daianira nicht auf sich aufmerksam machen sollte. Nun, den netten jungen Mann, der ihre körperlichen Wonnen gekauft und dafür mit einem suggestiven Auftrag betraut worden war, würde sie wohl vielleicht zu einem der ihren machen, wenn sie wußte, ob diese Solex-Folie wirklich was taugte.

Der Abend kam und mit ihm drei Fledermäuse. Eine hatte einen Brief von Voixdelalune aus Frankreich, daß diese Schlangenmonster wieder aufgetaucht waren. Ein Brief stammte von Sanguini, einem britischen Vampir, der auf der Flucht vor den Todessern war, weil er sich ihnen nicht hatte anschließen wollen, weil die den Werwolf Greyback in ihren Reihen hatten. Sanguini schlug vor, eine Allianz mit denInsektenmonstern zu schließen. Das würde Nyx wohl ablehnen, weil sie sich damit Anthelia auslieferte, auch wenn diese ihr nicht mehr wirklich gefährlich werden konnte. Der dritte Brief stammte von Valentina Romanova, einer Vampirschwester aus Bulgarien, die sie warnte, daß er, der blaue Blutfürst, auf der Suche nach dem Mitternachtsdiamanten sei.

"Ach, hat diese blaue Kanallie es begriffen, daß jemand den mächtigen Stein hat? Vielleicht sollte ich ausprobieren, ob ich ihn damit unterwerfen kann", dachte Nyx. Doch ihr war Volakin unheimlich. Er hatte vor nun zwölf Jahren was angestellt, was ihn total verändert hatte. Der einstmals sanftmütige Hellmondvampir war zu einer entstellten, geheimnisvoll blau leuchtenden Kreatur geworden, der die Sonne und das Feuer nichts mehr anhaben konnten. Andere Vampire starben, wenn sie versuchten, sein Blut zu trinken. Volakin konnte seine besonderen Eigenschaften jedoch auf Söhne und Töchter übertragen und nahm für sich in Anspruch, der mächtigste Vampir der Welt zu werden. Nun, das war, bevor sie den Mitternachtsdiamanten an sich gebracht hatte. Wenn Volakin jetzt wissen wollte, wer ihn hatte, dann bedeutete das für sie, daß er vielleicht dagegen ankämpfen konnte. Denn sonst hätte der sich nicht gemuckst. Sollte sie Volakin anschreiben oder ihn gleich mit der Macht des Steins unterwerfen? Ein Nachtkind, daß auch bei Tageslicht herumlaufen konnte, konnte ihren neuen Kindern ebenso gefährlich werden wie die Magie nutzenden Rotblüter. Wenn sie nur wüßte, was dieser Kerl angestellt hatte und warum er das überlebt hatte. Sie würde erst einmal abwarten, ob Volakin sich weiter vorwagte. Da traf eine weitere Fledermaus ein. Es war ein Vampir aus Minsk.

"Einzahn hat sich mit Volakin getroffen", las Nyx leise. "Volakin will wissen, wer den Mitternachtsdiamanten hat und den für sich, wenn's kein Nachtkind ist.

"Soso, hat sich Volakin diesen übergroßen Trottel Einzahn als Laufburschen herangeholt", knurrte Nyx. Da erwachten ihre drei neuen Töchter.

"Dürfen wir heute wieder raus, Mutter Nyx?" Fragte Hecate.

"Ja, wenn ihr euch wieder unauffällig schminkt und nur die nehmt, die nicht betrunken oder anders berauscht sind. Ich möchte mir das Theater von letzter Woche nicht noch einmal antun, wo du diesen Heroinspritzer fast leergesaugt hast und danach fast als Fledermaus in die Sonne reingeflogen wärest, weil das Zeug dir jeden klaren Gedanken ausgetrieben hat."

"Mir taten am anderen Tag alle Knochen und der Schädel weh", stöhnte Hecate in Erinnerungen an diesen Ausflug. Dann jedoch gewann ihr Gesicht einen freudigen Ausdruck. "Ich werde mir diesen bulligen Nachtwächter vom Autohändler nehmen. Vielleicht heirate ich den sogar."

"Ich sag es noch einmal, wir müssen noch vorsichtig sein. Wenn wir auffallen werden sie uns wieder jagen", schnarrte Nyx. Dann sagte sie, daß sie noch eine Verabredung mit dem Mann hatte, der ihr vielleicht einen wirksamen Sonnenschutz beschaffen konnte und verließ ihr Haus.

"Wann wirst du mir wieder Leben geben?" Hörte sie die Stimme des Wächters des Mitternachtsdiamanten, der nach den letzten größeren Einsätzen wieder etwas eingeschrumpft war.

"Wenn ich unsere Art wieder über die Welt ausbreiten kann, ohne gleich gejagt werden zu können", dachte sie und disaparierte, um in der Nähe von Los Angeles anzukommen, wo sie in ihrer Tarnung als Callgirl jenen Kunden aufsuchen wollte, der die geheimnisvolle Folie begutachtet hatte.

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Mike flog auf einem Besen. Das war ein berauschendes Gefühl, noch mehr als dieses Ritual, daß Madam Whitesand vor nun drei Wochen mit Melanie und ihm durchgezogen hatte. Prudence flog an seiner Seite. Er glaubte zu träumen. Denn dieses Mädchen war bei ihm, das er mit steigendem jugendlichen Verlangen begehrte. Doch noch regierte sein Verstand und nicht sein Unterleib. Er wollte Prudence nicht als notgeiler Wicht erscheinen. Außerdem hatte er immer noch Angst, sie könnte ihn auslachen.

"Einmal nach links rüber! Nicht zu doll!" Kommandierte Prudence ihn. Wie ein Hund an der Leine folgte er ihren Anweisungen. Doch er fühlte sich nicht wie ein Hund, sondern wie jemand, der einen genialen Sport ausprobierte oder eben fliegen lernte. Nach etwa zehn Minuten landeten die beiden auf der blendendhellen Schneedecke, wo wohl sonst eine Wiese war.

"Das reicht für heute. Du hast es echt drauf. Offenbar ist Uroma Sophias Quidditchtalent mit in dich reingeflossen", lobte ihn Prudence. Sielobte ihn! Er fühlte sich trotz des Winterwindes wie in einem Backofen. Dieses Lob dieser jungen Hexe heizte ihn von innen her an. Er fühlte, wie seine Männlichkeit darauf reagierte. Doch er wollte Prudence nicht zeigen, wie scharf er gerade auf sie war. Er wollte sie richtig kennenlernen, nicht einfach nur flachlegen. Dann wäre er nicht besser als Chester, der versucht hatte, Pina rumzukriegen und dafür zwei Ohrfeigen und ein wütend gestoßenes Knie zwischen die Beine abbekommen hatte. Der Jammerlappen war dann zu Patience gelaufen, um die checken zu lassen, ob sein Familienschmuck noch ganz war. Vielleicht wollte der auch nur, daß die Hexe mit der großen Auslage ihm an seinen Privatsachen rumfummelte. Mit Prudence wollte er das jedenfalls nicht so erleben.

"Ich weiß nicht, ob ich dieses Quidditch wirklich kann. Ich sehe immer diese gelb-schwarz gestreiften Leute in den Bildern in meinem Zimmer. Sieht ja doch schon mordsgefährlich aus", begann er eine Unterhaltung über Quidditch.

Eine Stunde später sprachen sie schon über ihre persönlichen Vorlieben. Dann ging es um die bisherige Zeit hier und die Zeit davor. Sie saßen in einem Geräteschuppen, wo die Besen verstaut wurden. Sie plauderten miteinander und offenbarten, was sie eigentlich später einmal machen wollten. Mike brachte sein Eton-Wissen um gutes Benehmen voll zur Geltung, was Prudence offenbar imponierte. Dann wurde es Zeit, ins Haus zu gehen.

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Die Entomanthropin blickte hinein in den See unter sich. Wieso hatte sie ihr rotes Haar nicht behalten. Sie ärgerte sich ein wenig, wieder mit dieser weitverbreiteten Mähne aus Puerto Rico herumfliegen zu müssen. Doch andererseits fand sie das auch schön, jetzt eine Tochter Valerys zu sein. Zwar hatte sie erst wütend gefaucht, als sie merkte, was diese in eine halbe Riesenbiene verwandelte Straßengöre mit ihr angestellt hatte. Doch sie war jetzt ihre Mutter, und sie, Lolita Henares, war nur eine von mehreren hundert Abkömmlingen, allerdings einer mit eigener Intelligenz. Sie konnte noch als Einzelwesen denken, auch wenn sie nun eine Schwarmbezeichnung trug. Nachdem sie ihren neuen Körper betrachtet hatte, kehrte sie zum Versteck ihrer Brüder und Schwestern zurück. Marisa und Milton, die einen Tag nach ihr zu flugfähigen Abkömmlingen geworden waren, hatten sich wohl leichter mit ihrem neuen Dasein abgefunden. Gerade von Milton hätte sie erwartet, daß der das nicht so locker wegsteckte, von der eigenen Ex verschlungen, verdaut und als ihr Sohn wiedergeboren zu werden, falls man das Quiekmadendasein als bereits Geboren ansah. Jetzt war sie, Lolita, seine leibliche Schwester, und Valery war ihre gemeinsame Herrin und Mutter. Diese sandte jetzt auch Worte als Duftstoffwolken aus:

"Morgen Früh Flug nach Argentinien. Wir krallen uns da genug Rinder für die nächste Woche."

So zogen zehn Kinder Valerys mit ihr aus und kehrten am Abend mit dreißig Rindviechern zurück, die sofort in den Futtertierzellen eingewachst wurden.

"Morgen hole ich mir diese Linda Knowles, von der vierhundertfünf von siebenhundert es hatte. Die wird mir bestimmt noch gute Dienste leisten", verkündete Valery. "Die wohnt in diesem Dorf Viento del Sol. Wird wohl gut abgesichert sein. Daher bringe ich dreißig von uns an verschiedene Punkte zum Angriff."

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Sie war seine Liebesgöttin, wie sie ihn nahm, ihnn einließ in ihr verbotenes Paradies und ihn mit höllischer Wildheit himmlischen Genuß bereitete. Er war früher nie auf die Suche nach solchen Mädchen gegangen, hatte sie gar für unanständig und kriminell gehalten. Doch diese Nyx, die gleichermaßen Herrin und Dienerin für ihn sein konnte, war ihm nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Wie konnte er auch wissen, daß dieses Teufelsweib ihn wie andere Ärzte und Spezialisten für exotische Krankheiten wie Porphyrie oder Xeroderma pigmentosa gezielt überwachte, um die neuesten Therapieansätze zu erfahren, den von schwer Licht- und Sonnenallergie geplagten Linderung und eine Beteiligung am allgemeinen Leben zu ermöglichen. Er hatte nach der letzten Nacht mit ihr locker darüber gesprochen, daß seine Firma gerade das Angebot einer Plastikfirma erhalten habe, bei dem es um Lichtschutz ginge. Offenbar interessierte es Lady Nyx so sehr, daß sie ihn gebeten hatte, ihr sofort zu berichten, was sich tat. Und während sie ihm gab, wonach ihm war, gab er ihr, was sie wissen wollte. Später, als sie beide eine längere Ruhepause einlegten, erinnerte er sich schon nicht mehr daran, daß er ihr verraten hatte, wo die Forschungslabore von Calchem waren. Er hatte nur mal wieder eine überirdische Nacht erlebt und zahlte dafür gerne noch die tausend Dollar. Die war Nyx allemal wert.

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Linda Knowles hatte Daianira Hemlock zu Gast. Sie fühlte sich etwas unwohl, weil die gerade schwangere Hexe eindeutig zu diesen ungeduldigen Schwestern gehörte, wie ihr ihre neue, heimliche Gönnerin Eileithyia verraten hatte. Das Gespräch drehte sich nicht um ein Interview, sondern um die Gefahrenlage in den Staaten. Sie sprachen in einem mit Klangkerker gesicherten Raum in Lindas gemütlichem Haus. Daianira trug das Medaillon Anthelias. Damit konnte diese durch Daianiras Augen und Ohren mitverfolgen, was besprochen wurde. Doch davon wußte Linda nichts. Ihr war allein der Gedanke unheimlich, daß im Bauch der eh schon unheimlichen Hexe eine noch unheimlichere Hexe neu heranwuchs, nur weil diese einen Patzer bei einem Duell gemacht hatte. Allerdings war sie auch neugierig. Ein Interview mit einer Ungeborenen, das wäre doch was. Doch sie wußte auch, daß sie ein solches Interview wohl nirgendwo veröffentlichen durfte. Daianira und ihr Zustand waren solange geheim, bis sie offen ein Interview vorschlug.

"Nun, Schwester Linda. Ich muß befürchten, daß wir alle mit dieser unbeherrschbaren Brutkönigin Valery noch Ärger kriegen werden. Sie hat das nicht vergessen, daß ich ihr entkommen bin. Und wenn ich das richtig sehe, kann dieses Monstrum Menschen am Stück hinunterschlingen und sie irgendwie zu ihren Nachkommen werden lassen. Aber das darfst du im Moment auch keinem erzählen."

"Warum erzählen Sie es mir dann, Madam Hemlock?" Fragte Linda. Sie wurde jedoch daran erinnert, daß einander vorgestellte Schwestern sich im Schutz von Abhörsperren oder weit entfernt mit Vornamen anreden sollten, auch wenn Daianira es nicht so recht begreifen wollte, warum Linda nun eine von ihnen war. Doch im Moment ... Linda ruckte mit dem Kopf herum und starrte die Wand an. Dann warf sie den Kopf nach links und horchte. Keine zehn Sekunden später schien sie wieder etwas zu hören. "Wie klingt das, wenn dieses Bienenweib appariert, Schwester Daianira?"

"Wie eine abgefeuerte Kanone, weil sie so groß ist. Wieso?"

"Weil sie dann gerade an drei verschiedenen Orten kurz aufgetaucht sein muß, die knapp einen Kilometer von hier weg liegen. Jetzt höre ich Brummen aus diesen drei richtungen. Ich glaube, wir sollen angegriffen werden." Daianira verwünschte die anderen Umstände. Sie konnte es nicht riskieren, ihren Geist aus dem Körper zu lösen, weil sie nicht wußte, ob sie das überlebte. Sonst hätte sie sich gerne umgesehen. Doch sie wirkte nicht bedröppelt, sondern überaus Angriffslustig. Wie gut war es doch, fünf der Todesscheiben mitgenommen zu haben.

"Dann werden wir heute den letzten Fehler dieser Kreatur dokumentieren dürfen", knurrte Daianira und zog sich die mit Fluchabwehrzaubern behandelten Handschuhe an, um die tödlichen wurfscheiben gefahrlos anfassen zu können.

"Sie wird hinter den wichtigen Leuten hersein", drang Antehlias Gedankenstimme aus dem Medaillon in Daianiras Bewußtsein ein. Diese schickte zurück, daß es ihr wohl auch um sie und Linda Knowles ging, wenn sie von den bereits in ihre Brut verwandelten Hexen und Zauberern erfahren hatte, wie wichtig und kundig die beiden sein mochten. Sie setzte jedoch auf die Sicherheitsmaßnahmen, die Wishbone für die magischen Ortschaften vorgesehen hatte.

"Woher kommt das tiefste Gebrumm, Schwester?" Fragte Daianira.

"Südosten."

"Okay, Linda, versteck dich. Sie darf dich nicht zu fassen kriegen. Oder möchtest du ein Entomanthropenmädchen werden?"

"Ganz bestimmt nicht", stieß Linda angewidert aus. Daianira nickte ihr zu und riß die Tür auf: "Warnen Sie die anderen", zischte sie Linda noch zu, bevor sie so schnell sie im moment laufen konnte aus dem Haus eilte. Sie rief per Apportierzauber ihren Bronco Millennium zu sich und flog in die Richtung, die Linda angegeben hatte. Sie mußte dieses zur Monsterbiene mutierte Straßenmädchen erledigen. Dann war die Gefahr heute noch ausgestanden.

Knapp zweihundert Meter vor der Gemeindegrenze tauchten die zehn Entomanthropen auf, gefolgt von Valery Saunders. Diese streckte unvermittelt ihre Haarigen Antennen nach vorne und stieß einen wütenden Ausruf aus: "Die da! Ich will die endlich haben!"

"Du willst mich?!" Rief Daianira. "Dann komm alleine, bevor deine Kinder für dich sterben müssen!" Doch diese tauchten bereits auf. Anthelia rief als geistige Einlagerung des Medaillons einen Zauber ihrer Tante auf, der durch Daianiras Körper und Zauberstabarm hinausjagte und mit lautem Geheul in die auf sie zustürzende Rotte hineinfegte, wo er mit lauten Donnerschlägen wirkte. Blaues Feuer zündete zwischen den gewöhnlichen Entomanthropen und warf die Brut Valerys aus der geordneten Formation. Daianira rief nun selbst zwei Elementarzauber auf, einen eisigen Wirbelwind, der wie ein aus dem Nichts kommender Schneesturm um sie herum losheulte und sich innerhalb von Sekunden ausdehnte, sowie einen Zauber, der aus der in der Luft befindlichen Feuchtigkeit einen Hagel aus fliegenden Eiszapfen machte. Kältezauber waren im Gegensatz zu den Feuerzaubern die vielversprechendsten. Tatsächlich prasselten die fliegenden Eisgeschosse mit solcher Wucht auf die Ziele ein, daß diese ihre Flügel verhedderten. Der beschworene Mini-Schneesturm vereiste die Flugorgane der Angreifer so rasch, daß sie mit stotternden Flügeln in die Tiefe stürzten. Valery Saunders brüllte wütend, weil ihre Garde so unvermittelt außer Gefecht gesetzt war. Dann stießen Anthelia und Daianira übereinstimmend den Schneeballzauber aus, der einen tischgroßen Globus aus fast zu Eis erstarrtem Schnee aus dem silbergrauen Zauberstab brechen ließ und genau auf Valery zuschleuderte. Valery wich nach oben aus und stürzte sich auf Daianira, die genau damit gerechnet hatte. Sie holte mit der linken, scheinbar leeren Hand aus und wartete, bis das fliegende Scheusal sein Maul weit genug geöffnet hatte. Dann warf sie den Todesdiskus. Valery wollte gerade ihre Gegnerin packen, um sie wie schon mal lebendig zu verschlingen. Doch irgendwas sagte ihr, daß das Wurfgeschoß da sehr gefährlich sein mußte. Sie riß den rechten Vorderarm vor den Mund und ließ die Scheibe daran abprallen. Dabei zischte sie laut, und auf Valerys Arm entstand ein kalkweißer, kreisrunder Fleck. Daianira mußte dem nun herabsausenden Todesscheibchen ausweichen, das in einem der abstürzenden Gardisten ein neues Ziel fand und mit diesem in einem Wirbel aus blauen und roten Blitzen verging.

"Neue Spielsachen, wie", fauchte Valery. "Nur Pech, daß ich deine schwarzmagischen Dinger schon riechen kann,bevor du sie mir ..." Daianira versuchte, todesmutig auf Valery zuzustoßen, um ihr die Todesmünzen in die Augen oder doch den Mund zu schleudern. Doch Valery wich aus, drehte Achsen und stieß ihren Giftstachel aus, um Daianira damit zu durchbohren. Währenddessen griffen sie vier weitere Entomanthropen von den Seiten an. Daianira konnte nicht schnell genug zaubern. So warf sie die beiden Todesscheiben so, daß sie zwei weitere Insektenmonster damit vom Himmel holte. Jetzt hatte sie nur noch zwei übrig. Valery hielt nun nicht mehr auf sie zu. Sie wolte sich wen anderen holen. Daianira stieß mit Anthelia zusammen zwei Eisspeere aus und rammte diese den beiden verbliebenen Angreifern in die Menschenköpfe. Dann wirbelte sie auf dem Besen herum und flog Valery nach, die in geringer Höhe über das Dorf dahinflog, eingedeckt mit Flüchen und Feuerstrahlen. Ihr Ziel war eindeutig Linda Knowles Haus. Daianira keuchte. Die schnellen Zauber, der wilde Flug trieben ihren ohnehin schon stark belasteten Kreislauf an seine Grrenzen. Anthelia schwieg sich aus. Doch sie mochte wohl fühlen, daß ihre derzeitige Beherbergerin dicht davor stand, vor Erschöpfung vom Besen zu fallen. Doch noch hielt Daianira Kurs. Dann sah sie, wie Valery sich geradewegs auf einen Mann zustürzte, der versuchte, sie mit Zauberflüchen einzudecken. Daianira sah, wie Valery ihr Maul wieder aufriß und ließ den Besen zwischen ihren Beinen los. Im freien Fall disapparierte sie, um neben dem ausgewählten Opfer Valerys zu erscheinen. Die Brutkönigin war nur noch zwanzig Meter über ihm. Dann zehn. Daianira warf die beiden letzten Todesscheiben zugleich und traf. Valery bemerkte es erst, daß sie was in den Rachen bekommen hatte, als sie wie vom Blitz getroffen aus der Flugbahn geriet und mit unregelmäßig schlagenden Flügeln an Höhe verlor. Daianira sah mit einem Ausdruck der Überlegenheit auf Valery. Diese baute gerade so noch eine Landung und wandt sich. Dicker, grüner Qualm kam aus ihrem Schlund. Sie rülpste ungeniert und überlaut, stöhnte und röhrte. Daianira war sich sicher, daß diese Bestie gleich keinen mehr umbringen oder zu einem Dasein als ihr williger Abkömmling verdammen würde. Unter lauten Brüllern wie ein angestochener Elefant ruckte und zuckte sie am Boden. Aus ihrem Hinterleib flogen gurkenförmige Eier heraus, die kohlschwarz waren und beim Aufprall auf den Boden zerplatzten, wobei sie schwefelgelbe Dunstwolken freisetzten. Daianira reagierte sofort und zauberte die Kopfblase. Der von ihr gerade so gerettete Zauberer disapparierte, als ihm übelriechende Schwaden in die Nase stachen. Weitere kohlschwarze Eier spritzten und sprangen aus Valerys Hinterleib. Würde sie vor ihrem Tod noch die ganze in sich gestaute Brut ausstoßen? Die Eier zersprangen und verbreiteten die gelben Dunstwolken. Die anderen Entomanthropen schwirrten in heller Panik davon. Da hörte das Bombardement verdorbener Eier auf, und auch der grüne Qualm verebbte. Laut prustend und immer noch röhrend richtete sich Valery auf ihre Laufbeine, die fast unter ihr wegknickten.

"Du hast mindestens dreißig meiner Babys umgebracht, du Schlampe. Das hat in mir gebrannt wie Höllenfeuer. Dafür wirst du nicht meine Tochter. Dafür spieß ich dich auf und mach dich tot", gurgelte Valery, wobei ihr grün-gelber Glibber aus dem Maul troff. Daianira sah sie total bestürzt an. In ihre Augen traten Tränen. Es waren Tränen der ohnmächtigen Wut und der Verzweiflung. Dieses Monster war nicht krepiert. Dieses Scheusal konnte den Decompositus-Fluch überleben! Sie konnte dieses Biest nicht umbringen! Valery drehte sich etwas wackelig herum. Sie richtete ihren Hinterleib auf Daianira, um ihr ihren speerartigen Giftstachel in den Leib zu bohren. Doch noch stand die total verstört dreinschauende Hexenlady fünf Schritte zu weit von ihr fort und vergoß Tränen der Verzweiflung und Wut. Da tauchten zwanzig Zauberer auf und umringten Valery. "Avada Kedavra!" riefen fünf von ihnen. Die Todesflüche sirrten los und fanden ihr unverfehlbares Ziel. Doch Valery zuckte nur. Doch da, wo die Flüche auftrafen, bildeten sich ähnliche weiße Stellen wie vorher da, wo die abgewehrte Todesscheibe sie am Arm getroffen hatte. Valery versuchte noch, ihren Giftstachel auszufahren. Doch zwei weitere Todesflüche schinen ihr sichtlich zuzusetzen. Mit einem lauten Knall verschwand sie im Nichts. Ihre Kinder flogen in alle Richtungen davon.

"Verdammt, die ist härter im Nehmen als diese Libellendrachen", heulte Daianira.

"Ist wie bei Hallitti. Sie saugt die magischen Kräfte ihrer Opfer in sich auf", erwiderte Anthelias Gedankenstimme. "Der Fluch ist größtenteils in die ungelegten Eier übergesprungen und hat diese vernichtet. Aber die wird noch hunderttausend Eier in sich tragen, die zu neuen Entomanthropen werden können."

"Deine Schuld, du dummes Stück", dachte Daianira Anthelia zu. "Du hast uns allen dieses Monster auf den Hals gehetzt."

"Ich konnte nicht wissen, wer dieses Mädchen war und was für eine Biene es war. Verzeih mir, Daianira, daß ich uns beide in Gefahr gebracht habe."

"Hast du gehört, was dieses Biest gesagt hat. Ich dürfte jetzt nicht mehr ihre Tochter werden. Sei du froh, daß du gerade sicher untergebracht bist und meine Tochter werden darst", dachte Daianira, die fühlte, daß die Kampfhandlungen der letzten Minuten sie gut ausgezehrt hatten. Sie wankte mehr als sie ging zu Linda Knowles Haus zurück. Dabei schniefte sie und wischte sich die Tränenspuren aus dem Gesicht. Sie mußte sich zusammenreißen. Dieser Weinkrampf eben war entwürdigend. Das machte sie wieder wütend. Sie fühlte, wie ihr Herz wummerte und den auch so schon beanspruchten Kreislauf noch mehr anheizte. Linda hatte sich wohl gut versteckt. Sie gedankenrief nach Leda, die unverzüglich auftauchte und Daianira in das Haus hineinbugsierte. Linda tauchte gerade zwischen zwei Topfpflanzen auf. Sie hatte die Minuten der Angst als Blattlaus verbracht. Leda ging sofort daran, Daianira zu untersuchen und ließ sich erzählen, was passiert war. Indessen versammelten sich viele Bewohner im Schutze von Kopfblasen auf dem Platz, wo Valerys verfaulte Eier zerbrochen waren und beschworen einen starken Wind herauf, der die stinkenden Schwaden zerstreute und fortblies.

"Das Baby liegt noch sicher, Mutterkuchen und Nabelschnur sind unverletzt", stellte Leda nach einem Blick durch ihren Einblickspiegel fest. "Aber wenn du das nicht sein läßt, dich als fliegendes Futter anzubieten, werte Cousine, dann binde ich dich für den Rest der Schwangerschaft an dein Bett fest."

"Ich kann diesem Monstrum nicht beikommen. Es ist mit der Zauberkraft verdauter Magier vollgepumpt und Fluchresistent, selbst für Decompositus und Avada Kedavra", seufzte Daianira. Anthelia versetzte nur für sie vernehmbar:

"Hör besser drauf, bevor Leda meint, sie müßte mich tragen."

"Nichts da, Kleines. Du wirst mein Kind und nicht Ledas", dachte Daianira.

"Dann sollten wir uns nicht mehr mit dieser Valery herumschlagen. Wir müssen diesen Schlangenmenschen beikommen. Dazu können wir die Entomanthropen nehmen, die uns gehorchen."

"Laß Leda erst einmal sehen, daß du und ich den nächsten Morgen zusammen erreichen. Dann werden wir nach Frankreich zurückkehren, um diese Bestien da zu bekämpfen."

"Wolltest du nicht irgendwann im Januar deine neuesten Veröffentlichungen rausbringen?" Fragte Anthelia.

"Natürlich, morgen", grummelte Daianira. Leda fragte sie, was sie morgen zu erledigen habe. Daianira erinnerte sie und sich an die ausstehende Veröffentlichung, wegen der sie wohl die nächsten Tage noch im Lande bleiben mußte, um nicht aufzufallen. Den Rest des Vormittags blieben sie bei Linda. Daianira verriet Linda Knowles für den Westwind, wie sie Valery hatte töten wollen. Es konnte nicht mehr schaden, wenn andere Sicherheitszauberer diese Methode nachahmten. Auch wenn die Brutkönigin selbst womöglich gegen diesen zerstörerischen Fluch immun sein mochte konnten sie damit immerhin die ungelegten Eier absterben lassen und damit die Nachzucht der dieser Mörderbiene hörigen Nachkommen niederhalten. Als Quelle für ihre Idee nannte sie die Vorkommnisse in Frankreich und das dort jemand Drachen auf ähnliche Weise erledigt haben mochte. Linda nickte und notierte es sich. Dieses Wissen war eindeutig für die Zeitung, deren Seite eins sie wieder einmal füllen durfte. Über Daianiras Zustand durfte sie jedoch nichts verlautbaren. Deshalb zog Daianira ein weites Festkleid mit Kragen an, das ihren Körper vorzüglich verhüllte. So konnte sie sich fotografieren lassen.

Wishbones Kettenhunde kamen ins Dorf. Einer trug eine merkwürdige Brille mit blauen Gläsern. Der sah auch irgendwie eher wie ein Muggel aus", dachte Daianira, als sie den Mann mit dem flachen Kopf und der davon abstehenden blonden Igelfrisur betrachtete. Sie erkannte ihn. Das war mal einer ihrer Schüler im Kräuterkundeunterricht gewesen. Auch Anthelia kannte ihn wohl. Denn sie dachte ihrer Trägerin zu:

"Das ist ein Muggelstämmiger, zukünftige Mutter. Zachary Marchand heißt er."

"Ja, und die Brille dürfte jene Rückschaubrille sein, mit der alle Ereignisse der letzten zwei Tage nachbetrachtet werden können. Die Treulose Trine Donata hat es mir erzählt."

"Treulos war sie nicht. Sie verhieß sich bei mir halt nur mehr Möglichkeiten", verteidigte Anthelia ihre frühere Mitschwester.

"Die Zeit wird kommen, wo du erkennen wirst, was die richtigen Möglichkeiten sind", dachte Daianira darüber nur.

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Reginald Wellington genoß den Abend in New York. Er war froh, daß seine Partei hier einen kleinen Parteitag veranstalten würde, um nach der nun doch auf acht Jahre angelegten Ära Clinton die neue Marschrichtung zu bestimmen. Sie waren sich zwar einig, daß die Werteordnung wieder auf die guten alten Grundpfeiler gestellt werden sollte. Aber da ging's schon los, was denn Christliche Werte seien und wie flexibel eine Familie organisiert werden durfte, um ein wirtschaftlich einträglicher Faktor zu sein. So genoß der Senator aus Pennsylvania die Abende ohne Frau und aufmüpfigem Sohn. Dieser hatte sich doch tatsächlich nicht davon abhalten lassen, Umzugskisten zu bunkern. Das war die blanke Provokation. Und als wenn das nicht reichte, bekam er jetzt auch noch andauernd Anrufe von diesem Carlotti, weil der wollte, daß er seinen Sohn davon abbrachte, sich mit seiner kleinen Tochter Laura zu treffen und der Flöhe und Flausen in Ohren und Kopf zu setzen. Der wollte ein verheiratbares Jungweibchen haben, er einen gehorsamen Sohn. Ironie des Schicksals, daß sie beide nicht bekamen, was sie wollten und beide daran schuld waren. Zumindest hatte das sein Freund aus Texas behauptet. Immerhin hätte er ja abstreiten können, der Vater Cecils zu sein. Ja, hätte er besser mal, dachte er. Na ja, immer hin saß er jetzt in dieser Hotelbar und genoß das Leben des Privilegierten, der sich bedienen lassen darf. Da glaubte er, seinen Augen nicht zu trauen. Durch die Tür kam seine alte Studienfreundin Eve Gilmore aus Philadelphia herein. Im Moment trug sie ihr Haar wieder lang und glatt und in einem unauffälligen Mittelblond. Aber er hatte sie als Frisurkünstlerin kennengelernt, die mal als rassige Rothaarige, brave Brünette, bezaubernde Blondine oder schicke Schwarzhaarige herumgelaufen war. Wo andere Frauen Kleidung und Schuhe wechselten tat sie das mit ihren Haaren. Aber das Zuckerlächeln, mit dem sie ihn jetzt begrüßte, war immer dasselbe geblieben.

"Reg Wellington, der große Kämpfer für den Anstand in der unanständigen Welt", grinste sie. Sie hatte damals Volkswirtschaft studiert, wo er es mit Recht und Ordnung hatte. "Au Mann, Fünfundzwanzig Jahre ist das jetzt her", lachte Reginald Wellington. "Und, sitzt du fest im Sattel? Ich habe ja von dir nichts mehr gehört."

"Ich bin immer sicher untergebracht", erwiderte Eve. Ich bin bei einer Firma, die Auslandskunden für die Wallstraße anwirbt und berät. Da muß ich natürlich viel über deren Land, Sprache und Gewohnheiten wissen. Ich habe in der Zeit neben Englisch, Spanisch und Französisch noch Italienisch, Mandarinchinesisch, Japanisch und brasilianisches Portugiesisch gelernt. Im Moment mache ich sogar einen Arabisch-Sprachkurs mit. Doch die Sprache ist sehr gewöhnungsbedürftig."

"Das ganze Volk ist das", grummelte Reginald Wellington. Laut sagte er: "Dann wohnst du hier in New York?"

"Firmenwohnungen, Reginald. Darf ich mich setzen?"

"Oh, ich war unhöflich", erwiderte Wellington beschämt und bot ihr den Platz gegenüber von ihm selbst an. Dann winkte er der dunkelhaarigen Kellnerin mit den wasserblauen Augen, die ihm schon seinen Whiskey gebracht hatte.

"Darf ich Ihnen noch etwas bringen?" Fragte sie dezent und dienstbeflissen. Er orderte eine Flasche Champagner, den Besten, den der Keller hergab. Zehn Minuten später kam die Flasche im Kühler. Die Kellnerin entkorkte sie und schenkte die stilgemäßen Gläser voll. Dann zog sie sich nach kurzem Dankesnicken zurück.

"Du machst mich ja ganz verlegen", erwiderte Eve, als sie das perlende Edelgetränk aus Frankreich probierte. "Komme mir ja vor wie eine lange nicht mehr gesehene Geliebte." Dabei grinste sie. Denn sie wußte, daß Reginald Wellington genau das mit ihr erlebt hatte. Er hatte damals seine Sporen als Liebhaber mit ihr verdient. Daß er in dieser Kunst des Lebens nicht zur Berühmtheit gelangt war lag an eben jener Unvorsicht, mit der er eine Französische Studentin von seinen Qualitäten hatte kosten lassen. Und die saß heute in einem Prachtbau mit Dienstpersonal, weil sie seinen Sohn geboren hatte. Doch das war für Wellington auch jetzt kein Thema mehr. Er war würdig, wichtig, hatte Macht und Gewicht. Playboytypen waren in seiner Partei nicht willkommen, wenngleich sie, wie er immer wieder verärgert erkannte, bis zum Präsidenten Karriere machen konnten. Sie verfielen ins plaudern, was jeder und jede aus seinem oder ihrem Beruf preisgeben durfte. Er erfuhr, daß Eve immer noch unverheiratet war, weil sie ihrem Beruf alle Zeit opferte. Sie tranken von dem Champagner, der anregend prickelte. Sie bemerkten nicht, wie die diskrete Barkellnerin, die scheu und unbedeutend wirkte, heimlich jeden Gedanken und jedes Wort mitverfolgte, das die beiden von sich gaben. Als sie sich sicher war, daß die beiden langsam in die entsprechende Stimmung kommen mußten, grinste sie überlegen.

"Wer hätte das gedacht. Der spießige Familienmonarch hatte ein wahres Liebestalent als Anleiterin. Und die hat mehr als zwanzig Jahre damit Kohle gemacht, als freischaffendes Callgirl. Ist das nicht schön. War schon gut, die alten Tagebücher von dir zu lesen, Reginald Wellington. Da konnte ich mir die richtige für dich aussuchen." Die Kellnerin lauschte auf Worte und Gedanken. Denn sie war eine der wenigen, die worthafte Gedanken aus gewisser Entfernung auffangen konnten. Sie dachte an Betsy Harvester, ihre frühere Schlafsaalkameradin, die, wie sie wußte, zum geheimbund Vita Magica gehörte, dessen Ziel es war, magische Menschen mit oder gegen ihren Willen zur Zeugung magischer Nachkommen anzuregen. Bekannt, berüchtigt und seit Wishbones Antritt auch gejagt war deren Aushängeschild, die Mora-Vingate-Gruppe, die jeden Sommer eine Party in Viento del Sol feierte. Tja, und diese Betsy Harvester kannte sie noch. Sie hatte ihr was vom lila Drachen und tauchfähigen Besen erzählt, daß sie es leid war, sich einen Mann mit Gegurre und Getue anzulachen. Und jetzt, wo sie keine Familie mehr hatte, wollte sie zumindest ein Kind. Und weil sie nicht dieses Babyroulette der künstlichen Befruchtung spielen wollte, hatte sie ihre Freundin gefragt, ob sie von dem Wunderelixier was abhaben könne, daß Männer und Frauen zusammenführte und beide optimal Zeugungsfähig stimmte. Zwar hatte die gute Betsy erst nicht recht geglaubt, ausgerechnet sie zu sehen. Doch nach gutem Zureden hatte sie das Wundermittel beschafft. Sie hatte es an zwei verschiedenen Säugetieren, einer Hündin und einem Eber ausprobiert und beide gegen ihre Natur zur Paarung getrieben. Dann ging das auch mit Menschen, vor allem mit Muggeln. Betsy hatte einen Erinnerungsblockadezauber abbekommen, den sie, die dezente Kellnerin, von ihrer seligen Mutter geerbt hatte. Sie wußte nur noch, daß sie einer früheren Kameradin dieses Mittel besorgt hatte. Aber sie wußte nicht, daß eine angeblich Tote damit denWunsch nach einem Kind erfüllen wollte. tja, und jetzt trank der Prinzipienreiter mit der Geliebten auf Abruf den Champagner aus, in dem genug vom Prokonzeptionstrank der Vita Magica gelöst war, um die beiden mindestens bis morgen früh aneinanderzuschmieden, bis sie den zweiten Wellington hinbekommen hatten. Das Mittel hatte bei großer Dosierung noch einen Effekt, hatte Betsy sie gewarnt. Die Frau, die es trank, würde jeden mit Klauen und Zähnen abwehren, der ihrem Kind was tun wollte. Das würde für den netten Senator noch ein recht interessantes Jahr werden, auch wenn sein Sohn dann nicht mehr bei ihm woohnen würde. Für dessen sichere Unterbringung hatte sie auch schon die nötigen Sachen in Gang gebracht und brauchte sie nur noch zu überwachen.

Sie beobachtete, wie die beiden immer vertrauter wurden und Eve ihre Tricks und ihren Charme ausreizte und der Senator sich die alten Zeiten zurückwünschte und dachte, es keinen wissen zu lassen. Nach zwei Stunden war es dann soweit. Sie verließen die Bar, um zu ihr zu gehen. Denn sie hatte ein verschwiegenes Luxusappartmen, während er im Hotel immerhin bekannt war. "Frohes Schaffen und laßt das Bett ganz!" Wünschte Patricia Straton den beiden, bevor sie sich in die Umkleide zurückzog und disapparierte. Sie würde morgen noch mal nachsehen, wie es den beiden ergangen war und in der Bar verfügbar bleiben, um nicht doch noch einen Verdacht zu erregen. Die Verwandlung war ja einfach verlaufen für sie, die darin einen O-UTZ hingelegt hatte.

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"Wunderbar. Irgendwie kann sie von ihr gefangene in ihre Brut verwandeln", stellte Zachary Marchand fest, als er mit anderen Zauberern des Ministeriums an den Tatort gereist war und den Kampf der Brutkönigin gegen Daianira beobachtet hatte. Irgendwie wirkte Daianira einerseits gewandter und frischer als er es von einer schon bald siebzigjährigen Hexe erwartet hätte. Andererseits sah sie etwas besser genährt aus, als er sie in Erinnerung hatte. Auch diese Tränenflut nach dem gescheiterten Vernichtungsschlag gegen Valery kam ihm merkwürdig vor. Er hatte Daianira doch immer als kühl und nervenstark erlebt, wenn er sie im Unterricht getroffen hatte. Das war ihm irgendwie merkwürdig. Doch das wichtigste war, daß diese Valery wieder entkommen war. Zwanzig der geflüchteten Insektenwesen konnten erledigt werden. Doch zwei von ihnen, den Köpfen nach auch als Menschen nahe Verwandte, waren von Valery noch rechtzeitig aufgelesen und wegdisappariert worden. Zachary Marchand war kreidebleich geworden, als er die beiden erkannte. Das waren Marisa Suárez und ihre Tante Lolita Henares gewesen, Valerys Rivalinnen und Feindinnen. Jetzt waren sie augenfällig ihre leiblichen Töchter. Ein sehr ungutes Gefühl überkam den schon an einiges gewöhnten Muggelstämmigen, der eine wasserdichte FBI-Karriere gemacht hatte. Wenn diese Valery Menschen in ihre Brut verwandeln konnte, dann konnte sie diese Menschen zu ihren Informanten und Gehilfen machen. Und daß wohl mit einem starken zerstörungsfluch belegte Wurfgeschosse ihr nichts anhaben konnten förderte die unbehagliche Stimmung noch mehr. Irgendwie, dachte Zach Marchand, hatte ihnen die Erbin Sardonias womöglich den Schrecken der Endzeit auf den Hals gehetzt. Der Schrecken der Endzeit, das war für die Zaubererwelt das, was Armageddon, die Apokalypse oder die Götterdämmerung in den Erzählungen der Muggelwelt waren. Irgendwann, so hieß es, würde eine dunkle Kraft von gestern und morgen vereint und das ultimative Ungeheuer erschaffen. Vielleicht meinten die Propheten der Endzeit damit auch Nundus, Basilisken oder das in einigen Zaubererüberlieferungen ebenfalls vorkommende Meeresungeheuer Leviathan, das auch in der Bibel beschrieben wurde. Doch wenn diese geflügelte Bestie dieser Schrecken der Endzeit sein würde ... Schon eine sehr befremdliche Vorstellung, das Ende der Welt miterleben zu können, dachte Zachary Marchand. Dann fiel ihm ein, daß in Europa diese Schlangenwesen wieder aufgetaucht waren. Die waren zwar trotz erster Erfahrungen nicht unbesiegbar. Doch sie waren gefährlich genug, um ein ganzes Land zu unterwerfen. Vordringlich war wichtig, die Erkenntnis zu notieren, daß Valery Saunders zum einen gegen einen Vernichtungsfluch immun und zum zweiten im Stande war, entführte Menschen in ihre Abkömmlinge zu verwandeln. Abkömmlinge? Bei dieser Bezeichnung schüttelte es den FBI-Agenten. Was, wenn dieses Monstrum Menschen lebendig verschlingen konnte und diese dann in ihrer Brut wiedergeboren wurden? Die Vorstellung war grauenhaft. Doch sie erschien dem zauberer nicht mehr so unwahrscheinlich. Er kehrte in sein Büro zurück und schrieb seinen Bericht, wobei er seine Vermutung über die mögliche Arterhaltung jedoch einstweilen für sich behielt.

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Brittany Forester, die wegen der Vorbereitung auf ein Auswärtsspiel in der Nähe von New Orleans war, erfuhr von ihrer Schulfreundin Melanie, was in VDS passiert war. Ihr erster Gedanke galt ihrem Vater. Doch diesem war nichts passiert, weil er beim Alarm sofort in den von Brittany und ihrer Mutter eingerichteten Schutzraum geflüchtet war. Die eine Begegnung mit denEntomanthropen reichte ihm wohl.

"Diese verdammte Sardonianerin will unsere Gemeinschaft terrorisieren", schnarrte Brittany. Melanie schüttelte den Kopf und wisperte:

"Behalt das mal für dich, Britt! Aber ich habe von Leuten aus dem LI gehört, daß diese apparierfähige Monsterbiene ihren eigenen Kopf hat und ihr eigenes Ding macht. Kann sein, daß die Sardonianerin die nicht kontrollieren kann."

"Wer hat die noch mal verjagt?" Fragte Brittany und blickte Melanie an, die ihr die Nachricht übermittelt hatte. "Daianira Hemlock. Die muß wohl ein paar verfluchter Wurfscheiben gebastelt haben, die Lebewesen zersetzen, womöglich Decompositus."

"Oha, verdammt gefährlich. Wenn du so'n Ding ohne Schutz anfaßt zerbröselst du sofort", stöhnte Brittany. "Die muß schon arg verzweifelt haben, wenn die so hammerharte Vernichtungszauber freiwillig mit sich rumschleppt."

"Da kannst du von ausgehen, Britt. Aber wenn diese Entomanthropin davon nicht kaputt zu kriegen ist ... Ist das auch für nichts gewesen. Was hat dieses Biest drin, daß es gegen sowas wie Decompositus immun ist?"

"Noch wissen wir nicht, ob es genau der Fluch war, Mel", erwiderte Brittany. "Ich meine, der ist nun mal so gefährlich, daß den sich keiner so einfach in Griffweite hält." "Dann appariere ich am besten noch mal nach Hause zu Dad."

"Bestell Kore schöne Grüße", erwiderte Melanie.

"Wenn die die hören will, Mel. Aber sie wollte ja eh in den nächsten Tagen zu dir, um sich beraten zu lassen, was sie so benutzen kann. Sieht schon recht füllig aus."

"Wenn Sie möchte kann ich nach Ladenschluß zu ihr rüberkommen, Britt. Vielleicht wird das sogar meine erste Hausparty, so wie Tante Di sie öfter feiert."

"O schön, dann könntest du glatt zu mir kommen. Ich lade die Mädels und die gestandenen Frauenzimmer ein, die bei uns wohnen, vielleicht auch Lino. Dann hättest du gleich sogar eine Werbeplattform."

"Lino? Das willst du nicht echt, Britt. Wenn ich 'ne Hausparty mache, dann bestimmt nur, wenn die Leute, die da hinkommen nicht fürchten müssen, daß das, was sie sagen, am nächsten Tag im Westwind ausgebreitet wird. Ich habe schon andere Trommeln geschlagen und brauche die langohrige Lino nicht. Die kann sich gerne mit dieser Madam Hemlock und den anderen in VDS abgeben, um mehr über diese Brutkönigin rauszukriegen. Ich hoffe nur, daß die nicht auch Lust auf Hexenkosmetik hat."

"Dann solltest du diese ehrwürdige Daianira Hemlock vielleicht auch einladen", feixte Brittany.

"Hmm, ob Kore dann zu dir hinkommt. Abgesehen davon ist die mir genauso unheimlich wie dir." Brittany mußte das eingestehen. So verblieben die beiden jungen Hexen dabei, daß erst einmal das Spiel laufen sollte und dann, wohl so im Februar, die Hausparty von Melanie Redlief in Viento del Sol steigen mochte.

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Valery kochte vor Wut. Diese Feuerscheibe, oder was immer sie da verschluckt hatte, hätte sie fast von innen ausgebrannt. Dieses Weib, das so roch wie die, die sie angeblich zu der erhabenen Königin der Bienenmenschen gemacht hatte, konnte was machen, daß ihr richtig weh tat. Schlimmer noch. Diese verfluchte Sache hatte dreißig von ihren Eiern verfaulen und unter heftigen Schmerzen aus ihr rausschießen lassen. Das hatte ihr so im Hinterleib geschmerzt, als müsse sie mit Nägeln gespickte Scheißhaufen rausdrücken. Dreißig Kinder, die nicht geboren wurden. Sie wußte nicht, wie viele Kinder sie noch drin hatte. Doch eines wußte sie, daß sie diesen Zauberern versprochen hatte, für jedes ihrer getöteten Kinder zwei von deren Kindern zu verspachteln, oder die entsprechende Anzahl erwachsener Hexen und Zauberer. Daß die ihr nichts konnten, weil sie alle Magie der bisher durch sie gelaufenen Magieträger im Körper hatte machte sie siegessicher. Sie würde von nun an jeden Tag in einer anderen Zauberergemeinde zuschlagen, mindestens zwei oder drei von denen rausfangen und einwerfen, bis die toten Babys und die abgeschossenen Kinder von ihr ersetzt waren. Diese Bande sollte schon sehen, was sie davon hatte. Irgendwann würden sie schon darauf kommen, sie in Ruhe zu lassen und ihr zu geben, was sie wollte. Sie hatte den ganzen amerikanischen Doppelkontinent zur Verfügung, von Kanada bis runter nach Feuerland, wenngleich sie sich wohl wegen des Winters eher in den Tropen und warmgemäßigten Breiten umsehen würde.

"Mutter, geht es dir wieder besser?" Fragte Prunella Grinder, die erst vor wenigen Tagen ihre Tochter geworden war.

"Es geht schon wieder, vierhundertzehn von fünfhundertsiebzig. Die haben nur viele eurer ungeschlüpften Geschwister aus mir rausgetrieben", schnarrte die Königin der Bienenmenschen. "Kennst du dich in den Staaten unterhalb der USA aus, wo da die Hexen und Zauberer wohnen?"

"Einigermaßen. Ich habe einige Briefbekanntschaften aus Mexiko, Kolumbien und Chile." Valerie lächelte und fragte, wo diese wohnten. Das würden ihre nächsten Kinder werden.

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Daianira erholte sich von dem vergeblichen Gegenschlag gegen Valery Saunders. Leda ließ sie in den nächsten Tagen nicht mehr aus den Augen. So war diese auch dabei, wie Daianira ihre neuesten Studien zur Zaubertrankbraukunst diskutierte. Sie hatte sich mit einem Zauberschal bekleidet, der die Besonderheit, daß sie dreißig Jahre jünger war als vorher verhüllte. Ihre sich langsam ändernden Körperformen hüllte sie in weite, alles verbergende Umhänge. Keiner konnte ihr die Schwangerschaft ansehen.

Leda sorgte durch Briefe an Lady Roberta dafür, daß die nun immer wieder stattfindenden Überfälle auf Zauberer und Hexen nicht an die Ohren ihrer Cousine, Anführerin und Schutzbefohlenen drangen. Valery Saunders schlug nun immer wieder in wärmeren Gebieten zu, vor allem, wo sie Zauberergemeinschaften fand. Die Drachen-, Vampir- und Dunkelmagierjäger der USA, allen voran das Laveau-Institut, leisteten Nachbarschaftshilfe oder wurden von den Zaubereiministerien Mittel- und Südamerikas angefordert. Einmal versuchte es Valery Saunders noch einmal, nach Viento del Sol vorzustoßen und alleine gegen Linda Knowles Haus vorzugehen. Doch sofort tauchten genug Abwehrspezialisten auf und verwickelten sie in einen langen Kampf, bei dem sie sie fast in einem Kettengeflecht zu fesseln schafften. Linda Knowles befand, daß sie wohl zu intensiv gejagt würde und verlegte ihren Wohnsitz einstweilen in die winterlichen Rocky Mountains. Denn die Insektenmonster konnten nicht in höhere Bergregionen vordringen. Immerhin diesen Schwachpunkt besaßen sie. Dann erreichte eine erschreckende Nachricht die Staaten. Sie lautete, daß der unnennbare Feind aus England es hinbekommen konnte, seine Schlangenkreaturen durch konzentrierte Giftladungen zu erschaffen. Etwas weitaus bedrohlicheres fand jedoch ohne Kenntnisnahme der magischen Gemeinschaft statt, wohl weil es sich hauptsächlich in der Muggelwelt zutrug.

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Es war Nacht. Auch wenn sie durch das in ihr verborgene Kleinod nicht mehr so sonnenempfindlich war, schätzte sie die wohltuende Dunkelheit und die angenehm kühle Bleiche des Mondes immer noch mehr als das grelle Feuer des Tagesgestirns. Im Moment flog Griselda Hollingsworth alias Lady Nyx als menschengroße Fledermaus mehr als eintausend Meter über Grund dahin. Sie verwendete die für Fledermäuse üblichen Ultraschalltöne, um die vor und unter ihr ausgebreiteten Gegebenheiten abzutasten. Was hatte ihr Informant ihr erzählt? Hier im südlicheren Gewerbegebiet von Los Angeles waren die Fertigungshallen für jenes Wunderzeug, daß so gut gegen Sonnenlicht schützen sollte, daß angeblich auch Graf Dracula damit unbesorgt an einen sommerlichen Badestrand gehen und das Treiben der Sonnenhungrigen beobachten konnte. Diese Formulierung eines der beiden maßgeblichen Hersteller amüsierte sie immer noch. Vielleicht war es sogar möglich, die doppelte Dicke dieser Folien aufzulegen. Dann könnte eine ihrer Töchter sorglos den ganzen Tag in der Sonne herumlaufen, ohne die schmerzhaften Verbrennungen und den qualvollen Tod durch die Strahlung erleiden zu müssen. Doch das würde sie klären, wenn sie genug Proben dieser Wunderfolie hatte. Ihr Plan war unkompliziert. Sie wollte da rein, die Unterlagen und Proben an sich bringen und diesen Vierbeins auflauern, um sie durch die Kraft des Mitternachtsdiamanten schneller als üblich zu ihren Kindern zu machen. Dazu galt es jedoch, an den Elektroaugen und -ohren vorbeizuschlüpfen. Wie sie das machen wollte wußte sie auch schon.

Als Nyx ein ausgedehntes Gelände mit mehreren Gebäuden unter sich ausmachte und per Echolotung fünf rechteckige Gebäude mit labyrinthartigen Kellersystemen ortete erwachte der Instinkt der Jägerin in ihr. So hatte ihr Informant ihr diese Fabrik beschrieben. Jetzt galt es nur, dort unbemerkt einzudringen. Sie landete außerhalb der Anlage. Der mindestens acht Meter hohe Metallzaun fiel ihr auf. Ein beunruhigendes Summen und eine unverkennbare Spannung strahlten davon aus. Hatte ihr Freier und Informant ihr nicht berichtet, daß die magielosen Rotblüter hier mit so starker Elektrizität arbeiteten, daß davon durchdrungene Gegenstände bei Berührung unerträgliche Schmerzen oder den Tod herbeiführen konnten? Also mußte in diesem Zaun diese tödliche Elektrokraft stecken. Für Leute am Boden war die bestimmt ein unüberwindliches Hindernis, weil die Elektrokrafterzeuger innerhalb des Zaunes standen. Doch sie, Nyx, könnte im Zweifelsfall sogar hineinapparieren. Doch so leise sie dabei auch war mochte sie diese lauernden Elektroohren zum klingen bringen. Leise und unbemerkbar mußte sie dort hinein. Sie rief sich die Beschreibung ihres Informanten wieder ins Gedächtnis. Das dritte von Rechts war das Verwaltungsgebäude. Da würden die gesuchten Proben nicht zu finden sein. Im ersten befand sich der Zugang zu den Werkstätten. Dann sah, hörte und roch sie die patrouillierenden Wächter. Sie hörte ihre Herzen appetitanregend das warme, rote Blut durch die Adern der Männer pumpen, roch die Frische ihrer Haut, die auf gute Durchblutung schließen ließ und sah, wie einer der Wächter sich eine Zigarette anzündete. Nyx schüttelte sich angewidert. Verbrannten Tabak zu riechen und das vom Nikotin verdorbene Blut eines Kettenrauchers zu trinken waren ihr ein Graus und immer als absolute Notlösung zu ertragen.

"Sie trauen dem Todeszaun nicht", dachte Nyx, während sie sich mit einem einzigen Gedanken in jene Trance versenkte, der ihr die Verwandlung zur Menschenfrau erlaubte. Sie brauchte hierfür keine Sekunde. Nun konnte sie auch wieder ihren alten Zauberstab benutzen, der ihr nach der Bergung des Mitternachtsdiamanten uneingeschränkte Beherrschung ihrer früheren Zauberkräfte erlaubte. Sie konnte versuchen, den Stromzaun zu zerstören. Sie konnte auch versuchen, die wachen dahinter zu unterwerfen. Doch ihr war die Idee gekommen, das alte Klischee der Magielosen zu bedienen und in gasförmigem Zustand, als Nebelwolke, in die Fabrik vorzudringen. So hielt sie den Zauberstab kurz gegen ihren Körper. Die Übermacht des Diamanten verstärkte nicht nur ihre Vampireigenschaften, sondern auch die erlernten Zauber, so daß sie innerhalb von nur einer Sekunde zu einem flüchtigen, grauen Schemen wurde, der nun laut- und spurlos nach oben glitt und auf den tödlichen Zaun zutrieb. Die Luft um sie herum wurde immer prickelnder. Die gefährliche Ladung wurde also in sehr kleiner Menge auch auf die den Zaun umschließende Luft übertragen. Nyx fühlte wieder einmal mehr, daß die Anwesenheit von gerichteter Elektrizität ihr nicht gefiel. Zwar konnte sie in Nebelform nicht verbrannt oder davon durchflutet werden. Doch ihre Sinne reagierten auch im gasförmigen Zustand auf die unnatürliche Kraft, die nicht aus Magie gewonnen wurde. Sie überquerte den Zaun, der unter ihr wie hundert ganze Hornissenvölker brummte und glitt außer Sicht der Wächter über den plattierten Vorhof auf das gesuchte Gebäude zu. Sie hörte und fühlte den Betrieb der Belüftungsanlage. Das Säuseln wurde zu einem Rauschen und Brausen. Doch es war ihre Chance, ohne an einer Tür vorbeizumüssen einzudringen. Daher ballte sie sich zu einer kompakten Nebelkugel zusammen und ließ sich in den rotierenden Strudel einströmender Luft hineinsaugen. Zwar wirbelte sie wild herum, konnte sich nur mühevoll vor der Zerstreuung bewahren, kam dann aber innerhalb eines Belüftungsrohres an, dem sie nur zu folgen brauchte, um aus dessen Ventilationsöffnung in eine geschäftige Halle hineingeblasen zu werden. Hier rumorten gigantische Behälter, in denen unter hohem Druck und großer Hitze giftige Substanzen zu Kunststoffen gekocht wurden, die in folgenden Prozessen zu festen Materialien weiterverarbeitet wurden. Für sie als sacht vibrierende Kraftstränge spürbare Elektrokabel führten von den gewaltigen Kochapparaturen zu Wänden, hinter denen die Steuerungsgeräte lagen, über die die brodelnden Druckbehälter überwacht und geregelt werden konnten. Doch sie mußte herausfinden, wo die bereits fertigen Folien aufbewahrt wurden. Wichtiger war ihr jedoch noch, die beiden Projektleiter zu erwischen. Deren Wissen würde ihr tausendmal mehr einbringen als die langwierige Suche. Sie glitt immer noch als Dunstform durch die Halle. Dabei bemerkte sie, wie Elektroaugen in den Wänden sie offenbar erblickten und sich leise summend auf sie einrichteten. Also mußte sie denen, die durch diese Augen sahen die Möglichkeit nehmen, den Nebel als was auffälliges, ja gefährliches zu sehen und weiterzumelden. Sie ließ sich treiben, zerfaserte so weit, daß sie sich fast auflöste. Das summen der sie suchenden Elektroaugen erstarb unter dem Getöse der Druckbehälter. Sie erkannte, daß die Türen luftdicht schließen konnten. Das war wohl, um entweichende Giftschwaden einzusperren. Da sie selbst gerade etwas durchaus vergleichbares abgab ärgerte sie sich ein wenig, durch den Belüftungsschacht hier eingedrungen zu sein. Denn der Entlüftungsschacht, durch den die Abluft entfernt wurde, führte zu aufwendigen Filtern und Reststoffsammeltanks, deren Inhalt wohl von Giftstoffbeseitigern abgeholt und unschädlich gemacht wurde. Nyx wollte jedoch nicht in einem Giftsammler landen. Irgendwo mußte doch ein Durchlaß, eine Ritze oder ein Loch sein, durch das sie die Halle verlassen konnte. Dann kam ihr die Idee, ihren Lebensspürsinn in Verbindung mit ihrem suggestiven Blick einzusetzen und einen der Gerätewarte zu ihr zu holen. Sie glitt an die einer Tür nächste Wand und verwandelte sich im toten Winkel der nächsten Elektroaugen in ihre attraktive Menschengestalt zurück. Dann entsprannte sie sich und öffnete ihren Geist für die magisch wahrnehmbaren Ausstrahlungen menschlichen Lebens. Ja, da waren vier Gerätewarte. Sie blickte in die Richtung des ihr nächsten und wünschte sich, daß er nachsehen kam, warum einer der Druckbehälter nicht mit voller Stärke arbeitete. Das wünschte sie sich, obwohl sie keinen Blickkontakt herstellen konnte. Sie hoffte einfach darauf, daß ihre Suggestivkraft wie alles andere auf das einhundertfache verstärkt wurde und ohne Sichtkontakt durch die dicke Betonwand hindurchreichte. Es dauerte eine Minute. Aus dieser wurden zwei. Doch Nyx' unhörbare Attacke war am Ende doch erfolgreich. Leicht schlaftrunken wirkend betrat ein hagerer Mann mit dunkelblondem Schopf die Halle, vor seinem Gesicht eine Konstruktion wie ein schweinerüssel. Nyx wurde wieder zur Nebelgestalt und wehte lautlos hinter den Arbeiter in den kleinen Raum, aus dem dieser gekommen war. Sie verfluchte die Sicherheitsmarotten dieser Leute. Das hier war kein Durchgang, sondern eine Kammer mit einer weiteren Tür. Diese war auch luftdicht. Noch dazu mußte sie gegen einen starken Wind anfliegen, der aus der Kammer wehte. Womöglich wollten die Rotblüter damit schädliche Gase in die Halle zurückblasen. Gegen die Luftströme aus den Belüftungsöffnungen konnte sie nicht anfliegen, ohne zum zerreißen ausgedünnt zu werden. So blieb ihr nur, zu warten.

"Okay, Max, der Autoklav tut's noch. War wohl 'ne Temperaturschwankung", hörte sie den Mann in der Halle sagen. Seine Stimme klang gedämpft. Das mochte an dieser Schweinerüsselvorrichtung vor seinem Gesicht liegen. Dann kam er zurück.

"Was war mit diesem grauen Dunstfetzen, den wir da gesehen haben, Bob?" Hörte sie eine Männerstimme, deren Klang von allen tiefen Tönen entledigt war.

"Nachtluft, Max. Hatten wir doch schon häufig, daß wir Nebel reingezogen haben", erwiderte Bob, der Mann in der Schutzkleidung. "Lies noch mal die Luftwerte ab!"

"Luft in Ordnung. Keine Kontamination. Kannst dich problemlos zu uns zurückschleusen, Bob."

"Okay, bin gleich wieder bei euch."

"Wann sollen wir wegen der Solex-Produktion den Suppentopf anwerfen?" Hörte Nyx noch den unsichtbaren Max fragen.

"Wenn die Schlauberger von der Sanitech unsere Probe für kaufenswert befinden, Max. Ich komm jetzt zurück."

"Yo, Bob", bestätigte Max. Nyx dünnte sich selber soweit aus, daß sie als kaum sichtbarer Nebelteppich über dem Boden der kleinen Kammer hing. Die in sie eindringenden Beine Bobs schmerzten sie nicht. Er schloß die Tür. Dann ebbte der überstarke Wind ab. Überhaupt sank der Luftdruck ein wenig. Nyx fühlte, wie sie fast noch weiter ausgedünnt wurde. Die Belüfter entlüfteten die Kammer. Was sollte das denn? Dann klickte etwas, und surrend tat sich die andere, luftdichte Tür auf. Bob durchquerte die gasförmige Nyx ganz und verließ den Raum. Sie ballte sich blitzartig wieder zusammen und trieb ihm nach, hinaus in den Korridor. Sie folgte ihm unbemerkt zu den Bedienungsräumen. Doch dort waren ihr zu viele Leute. Sie mußte einen einzelnen Patrouillengänger abpassen, um ihn per Suggestivblick auszuhorchen, wo die schriftlichen Aufzeichnungen der Solex-Forschungen aufbewahrt wurden. So ließ sie Bob zu Max, den sie nun als untersetzten Mann mit dunkler Haut und schwarzem Kraushaar erkennen konnte und trieb von sanften Belüftungsströmen gewiegt dahin, bis sie einen Wächter fand. Schlagartig verfestigte sie sich wieder. Der Wächter stand eine Sekunde da, ohne etwas zu unternehmen. Diese Sekunde reichte Nyx, um ihn mit ihrem Blick zu bannen. Sie brauchte die Frage nicht auszusprechen.

"Computer mit den ganzen Aufzeichnungen im dritten Stockwerk im Laborbau im Süden", murmelte der Wächter monoton. Nyx befahl ihm, sie dort hinzuführen, und zwar so, daß sie keinem Elektroauge in die Quere kamen. So führte sie der Wächter zum Südbau hinüber, wo Nyx nun ohne sie auszulösen die Lichtschranken passierte und zur dritten Etage hinaufnebelte, wo sie durch eine Türspalte in das Büro von Arnold Vierbein eindrang. Wieder in Frauengestalt prüfte sie die Ordner. Doch die Solex-Aufzeichnungen waren nicht hier. Ihr Blick fiel auf den quaderförmigen Metallkasten unter dem Tisch. Dann waren die Aufzeichnungen noch darin. Als sie noch als exotische Prostituierte in Sacramento gearbeitet hatte, war es ihr möglich gewesen, dem von ihr kultivierten Zuhälter bei der Arbeit mit seinem tragbaren Computer zuzusehen. Das war wohl die für Büros gängige Großversion dieser vielseitigen Rechen- und Informationsverarbeitungsgeräte. Da sie ein solches Ding nicht bedienen konnte und wußte, daß die Informationen sogar verschlüsselt darin versteckt werden konnten, blieb ihr nur das Warten auf einen der hier arbeitenden. So lehnte sie sich an die Wand und verfiel in die Starre des Abwartens. Arglose Menschen würden sie für tot oder für eine Puppe halten, bis sie mit einem Gedanken das Leben in ihren Körper zurückrufen und sich auf den arglosen stürzen konnte. Genau so schaffte sie es dann auch fünf Stunden später, Arnold Vierbein in ihre Gewalt zu bringen. Er konnte sich nicht einmal wehren, als die Vampirin ihn niederwarf, ihm die Luft abwürgte und dann genüßlich sein Blut trank, bis er an die kritische Grenze kam, wo er sterben konnte. Sie ritzte mit ihren fingernägeln eine Ader an ihrem Arm und ließ daraus ihr weißgelbliches Vampirblut in seinen Mund fallen. Sie achtete darauf, daß er die ihm beigebrachte Gegengabe schluckte und fühlte, wie die vom Mitternachtsdiamanten verstärkte Macht ihres Blutes innerhalb weniger Minuten die vollständige Umwandlung seines Blutes und Körpers herbeiführte. In der Zeit schloß sie die Vorhänge und Jalousien, um den neuen Helfer nicht sofort an die zwar schwach aber fühlbare Sonne zu verlieren. Dann kam noch Elvira Vierbein, die Ehefrau und Mitarbeiterin von Arnold. Sie wirkte leicht frustriert.

"Arny, schon wieder negativ. Muß doch noch mal checken lassen, ob's an der Arbeit liegt und ... Hallo!" Sie sah ihren Mann am Boden liegen. Sie erschrak. Ihr Mund öffnete sich zu einem lauten Schrei. Doch dieser wurde ihr durch eine stahlharte, beinahe kalte Hand auf ihrem Mund abgewürgt. Dann erfuhr sie dasselbe, was ihr auf dem Boden liegender mann gerade durchmachte.

"Gib mir mehr!" Verlangte die Seele des Diamanten von seiner Trägerin. "Ich will mehr Blut haben."

"Noch nicht", dachte Nyx, die fühlte, wie sie von der zweifachen Blutmahlzeit sichtlich gestärkt wurde, aber der in ihr versteckte Diamant einen Teil dieser Kraft wieder aufsog. Doch weil er sie dadurch mächtiger machte, machte es ihr nichts aus. Es dauerte zehn Minuten, da erwachte Arnold Vierbein aus der Ohnnmacht. Fünf Minuten danach schlug auch Elvira Vierbein ihre Augen auf.

"Mist, was war das und ... o mann, ist mir übel. Ich habe Zahnschmerzen und ... Au Scheiße!" Zischte Arnold und fühlte schnell nach seinem Mund, um zu prüfen, ob das wahr war, was seine Zunge schon erkannt hatte. Nyx sah beide an und straffte sich. "Ihr seid jetzt meine Kinder und Diener, da ihr mir euer Blut gabt und von meinem Blut getrunken habt. Ich bin Lady Nyx, eure Gebieterin", sagte sie so leise, daß es außerhalb des Büros niemand hören konnte. "Ich will die Folie, die ihr gemacht habt. Sie soll mir und denen, die so sind wie wir helfen, nicht gleich von der verdammenswürdigen Sonne verbrannt zu werden." Arnold dachte erst, einen abgedrehten Traum zu haben. Seine Gedanken waren für seine Blutherrin so wie laute Worte zu verstehen. "Hätte ich besser vor drei tagen nicht diesen Spruch über Dracula ablassen sollen", dachte er. Dann erkannte er, daß die neue Natur, die in ihm aufgegangen war, ihn unerbittlich unter die Macht dieser schönen im nachtschwarzen Seidenkleid stellte.

"Bringt die Aufzeichnungen hervor, die ihr über die Folie gemacht habt und laßt aus dem Lager genug herschaffen, um euch und mich damit einzuhüllen! Dann werden wir den endgültigen Test machen. Bleiben wir alle unversehrt, so habt ihr wahrlich einen sehr wertvollen Beitrag geleistet", sagte Nyx. Sie fischte vier Brillen mit über neunzig Prozent abgedunkelten Gläsern aus ihrer Handtasche heraus. Ihr würde der Mitternachtsdiamant helfen, nicht so leicht in der Sonne zu verbrennen. Doch die Vierbeins würden die Berührung der Sonnenstrahlen nicht länger als wenige Sekunden bis zwei Minuten überleben. Elvira Vierbein, die sich rasch an die ihr gewachsenen Fangzähne gewöhnte, benutzte das Telefon, um drei Solex-Ganzkörperhüllen für Europäer anzufordern und auch die spezielle Unterkleidung herzuschaffen. Sie wollten sich mit der Folie einem Selbsttest in einer UV-Bestrahlungsanlage aussetzen. Nyx lächelte dämonisch. Sie löste sich noch einmal in Nebel auf und versteckte sich unter dem Tisch. Dann trafen die angeforderten drei Schutzfolien ein.

"Wieso drei?" Fragte der Überbringer.

"Wenn die UV-Anlage spinnt muß einer zu uns rein und die reparieren. Der soll dabei nicht verbrannt werden", antwortete Arnold Vierbein.

"Wieso habt ihr's hier eigentlich so dunkel gemacht?" Kam die nächste Frage.

"Weil wir unsere Hautwerte nicht durch natürliches Tageslicht verfälschen wollen. Wir haben sie gerade gemessen und eingetragen", erwiderte Elvira, die Biochemieexpertin der beiden.

"Ich dachte schon, ihr wäret vor lauter Sonnenschutzforschung zu halben Vampiren geworden", grinste der Laufbursche. In der Dunkelheit des Büros konnte er die Blässe der Gesichter seiner höhergestellten Kollegen nicht erkennen.

"Nein, wir sind nicht zu halben Vampiren geworden", lachte Elvira Vierbein. Der Laufbursche lachte mit. Er dachte auch an den Spruch, der nach dem Besuch der Sanitech-Besucher durch die Firma gegangen war. Dann meinte er: "Dann fröhliches Sonnenbad, die Herrschaften." Er ließ sich die Auslieferung der drei bereits gefertigten Ganzkörperfolien und der Unterwäschestücke quittieren und ging seiner sonstigen Arbeit nach. Die Vierbeins schlüpften schnell aus ihren Sachen und stiegen in die elastischen Folienanzüge, schlossen diese luftdicht an den Schließen der Taille. Arnold fingerte noch an seinen Genitalien, bis diese so saßen, daß sie beim Ansaugen nicht eingeklemmt wurden und er in der Folie noch Wasser lassen konnte. Dann wurden die Minipumpen eingeschaltet, die die Folien fest an der Haut anhafteten. Nyx ahmte Elviras Bekleidungsmanöver nach und zog die elastische Unterwäsche an, die innen mit der Folie beschichtet war. "Die Idee dafür hattest du, Elvira?" Fragte sie die zur Blutstochter und Gehilfen gemachte Wissenschaftlerin.

"Ja, hatte ich. Damit können die Blößen bedeckt und noch besser geschützt werden. Dadurch quadriert sich der UV-Schutzfaktor sogar. Allerdings sind die Unterkleidungen nicht so billig herzustellen, weil das Aufbringen der Folie nur von Hand gemacht werden kann."

"Wenn ihr den Auftrag bekommt werdet ihr auch veranlaßt werden, diese Unterkleidung anzufertigen", sagte Nyx und übergab den beiden die Sonnenbrillen. Die Folien umgaben nun auch die Köpfe und ließen nur Löcher für Ohren, Augen, Nase und Mund. Das war so, als hätten sie dicke, fest anliegende Gummimasken auf. Sie öffneten die Vorhänge. Zuerst schraken Arnold und Elvira zusammen, weil trotz der Verdunkelungsleistung der Sonnenbrillen noch blendende Helligkeit in ihre Augen zu dringen schien. Doch diese gewöhnten sich schnell an das Licht. Sie fühlten ein leichtes Prickeln auf der Haut. Doch nichts unangenehmes. "Womöglich wird erst nach zehn Stunden die Schädigung eintreten, die unsereins ohne diesen Schutz nach nur einer Minute erleidet. Mit der Unterkleidung am Körper sogar erst nach sechstausend Stunden, wenn ich dich gerade richtig verstanden habe, Elvira."

"Fast ein Jahr, wenn die Sonne vierundzwanzig stunden scheinen würde", meinte Arnold grinsend. Er streckte dem Fenster die Zunge heraus und zog sie schmerzhaft aufschreiend wieder ein. "Scheiße, das brennt jaaaahhha!" Rief er. Nyx hielt ihm den Mund zu.

"Das solltest du nicht machen", grinste Nyx. "Dein ganzer Körper ist nun hochempfindlich gegen Sonnenstrahlung. Deshalb empfehle ich dir, nach Möglichkeit den Mund zuzulassen, solange du in der offenen Sonne herumläufst. Die Löcher für die Ohren müßt ihr mit dicken Stopfen verschließen, um eure Gehörgänge nicht zu verbrennen, sollten Sonnenstrahlen dort hineingeraten. Das macht nichts, weil wir ein den Menschen vielfach überlegenes Gehör besitzen und selbst mit verstopften Ohren nicht laut angesprochen werden müssen."

"Und was ist mit dem Fluch, den du uns aufgeladen hast? Müssen wir jetzt jeden anfallen und aussaugen?" Fragte Arnold.

"Nur wenn es sich nicht vermeiden läßt. Ich habe euch im Licht des fast vollen Mondes als meine Kinder ins Leben gebracht, womit wir bei drei wesentlichen Sachen sind, die ihr Magieunkundigen über uns Nachtkinder gerne verbreitet. Du hast in deiner Handtasche bestimmt einen Spiegel, Elvira. Siehst du dich darin oder nicht?" Elvira prüfte das nach und sah ihr Spiegelbild. "Das ist Irrtum Nummer eins. Wir haben Schatten und Spiegelbild. Der zweite Irrtum ist, daß wir erst sterben müssen, bevor wir als erhabene Nachtkinder wiedergeboren werden können. Das stimmt auch nicht. Damit haben wir auch gleich die dritte Fehldeutung unseres Daseins, sofern jemand von eurer Welt echt daran glaubt: Wir sind nicht vollständig unsterblich. Wir altern nur zehnmal langsamer als gewöhnliche Menschen und sind schneller und stärker als die Rotblüter. Aber das mit denEichenpfählen, dem Feuer und dem fließenden Wasser stimmt leider. Und mit unserem Geruchssinn ist das auch klar, daß Knoblauch was widerliches ist", verkündete die Vampirin. Sie lächelte nun überlegen. Die schwarze Aura, die der Mitternachtsdiamant um sie ausbreitete, wenn sie in der Sonne herumlief, war nicht zu sehen. Das hieß, daß diese Schutzfolie so wirkte, wie sie sollte. Der Brückenkopf in die Welt der Tageslichtverhafteten war errichtet. Damit konnte sie nun wie die Mondheuler unter den Menschen wandeln, und durch die rosige Folie konnte sie sogar die Vampirblässe überdecken. Nur ihre Haare mußte sie loswerden, wenn sie nicht als merkwürdige Glatzenträgerin erscheinen wollte. Sie zog noch einmal Jalousien und Vorhänge zu und befahl, die Folien noch einmal abzulegen. Dann trennte sie mit ihrem zauberstab allen die Haare ab und wandelte diese mit einer kunstvollen Zauberei in Echthaarperücken um. Daß sie neben dem Vampirdasein auch eine Hexe war erstaunte Elvira und Arnold Vierbein noch mehr. Mit den aus eigenem Haar geflochtenen Perücken über der Folie setzten sie sich noch einmal der Sonne aus. Die Haare begannen zu qualmen. So beschloß Nyx, arglose Männer und Frauen um ihre Haare zu erleichtern und diese als Perücken zu tragen, wenn sie mehrere Artgenossen mit denFolien ausstatteten. Dann gab sie die letzten Anweisungen, bevor sie abrückte. "Setzt euer Haar nicht zu lang der Sonne aus! Haltet euch bereit, die Fertigung von hundert Ganzkörperfolien und Unterkleidung anzukurbeln! Ich stelle sicher, daß der Auftrag an Eure Firma ergeht."

"Eine Frage noch, Lady Nyx", wandte sich Elvira an die Vampirlady. Diese nickte wohlwollend. "Mein Mann und ich wollten eigentlich Kinder haben. Das klappt bisher nicht. Können wir so auch noch ... oder geht das jetzt ganz sicher nicht mehr?"

"Du kannst wohl von deinem Mann auf fleischliche Art ein Kind empfangen. Aber um es heranzutragen mußt du ihm viel gewöhnliches Blut zuführen, vor allem von anderen Frauen oder Säuglingen. Das fällt leider auch dem dümmsten auf, wenn zu viele Frauen und Babys an Blutarmut sterben. Meine an euch vorgeführte Art ist erhabener, wenngleich es noch schöner ist, wenn ihr einen Rotblüter durch dessen Einwilligung und bewußte Wahrnehmung als Kind annehmt. Euch habe ich nicht gefragt, weil ich euch brauche und ihr mir wohl nicht geglaubt hättet. Aber jetzt, wo ihr zu mir gehört, werdet ihr euch damit zurechtfinden, Kinder der Nacht zu sein und die Jahrhunderte zu überleben, geschützt vor allen Krankheiten und Giften."

"Mist, dann können wir das Babyzeug wohl doch wieder einmotten", knurrte Arnold Vierbein. Der Wunsch seiner Eltern, ihnen bald einen Enkel zu präsentieren, war mit dem heutigen Tag unerfüllbar geworden. Doch er fühlte sich genausowenig enttäuscht wie seine Frau. Sie hatten eine wichtige Mission. Sie waren auserwählt, eine den Menschen überlegene, wenn auch mit einigen Schwächen behaftete Species zur neuen vorherrschenden Lebensform der Erde zu machen.

"Ich glaube, ich kann es bald wagen, dir entgegenzutreten, Wladimir Volakin", dachte Nyx, als sie im Schutz der Folie aus dem Büro disapparierte, die Verbindung zu ihren zwei wertvollen Helfern jedoch unzerreißbar errichtet.

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Der Kurier wußte, wie gefährlich das war, brisanten Stoff zu transportieren. Ricardo hatte schon mehrfach Rauschgiftpäckchen verschluckt, um bei Zolluntersuchungen nicht aufzufallen. Doch dieses in angeblich säurebeständigen Plastikkapseln steckende, gelblich-grüne Zeug, daß er von Buster, dem Handlanger eines Londoner Drogenbosses erhalten hatte, war ihm nicht geheuer. Er war eindeutig davor gewarnt worden, daß Zeug nicht ins Blut geraten zu lassen. Doch nun hockte er in einem Jumbo und ruckelte mit diesem durch ein aufgewühltes Wolkenmeer. Unter und um ihn herum flammten Gewitterblitze auf. Der Pilot kämpfte gegen die Auf- und Abwinde, die unvorhersagbar aus den düsteren Wolkenbänken herauswirkten. Wenn die Kapseln in seinem Bauch dabei zerbrachen, und ihm vielleicht Magen- oder Darmwände anritzten ... Sein Sitznachbar schien wohl zu denken, Ricardo habe Flugangst, weil dieser so bleich wie ein Käse in seinem Sessel hockte und immer wieder in den Sicherheitsgurt geworfen wurde. Was wußte der schon?

"Ist die Jahreszeit. Da rangeln sich die feuchtheiße Tropenluft und die Polare Luft über dem Atlantik", versuchte der schwergewichtige Mann mit dem Teddybärgrinsen ihn zu beruhigen. "Die Boeings sind für solche Ritte gebaut, Sir."

"Habe ich Sie um Ihre Meinung gebeten", schnarrte Ricardo. Er meinte das Klackern in seinem Magen zusammenstoßender Kapseln zu hören. Er würde froh sein, das Teufelszeug in New York wieder loszuwerden. Sein Sitznachbar schüttelte bedächtig den Kopf und sagte beschwichtigend:

"'tschuldigung, daß ich meinte, Ihnen Mut machen zu müssen, Sir."

"Ich bin derartige Turbulenzen nicht gewöhnt und will mich auch nicht an sowas gewöhnen", knurrte Ricardo. Damit war die Unterhaltung gelaufen.

Rums! Unvermittelt krachte die Maschine in einen senkrecht nach oben schießenden Luftstrom hinein und sackte keine Sekunde später in das diesen Wind umfließende Unterdruckloch ab. Dadurch wurden alle Passagiere so heftig in ihre Gurte geschleudert, daß bei einigen die Brillen von den Nasen flogen. Einer älteren Dame ging sogar die Zahnprothese verloren. Ein Baby schrie, weil es seiner Mutter fast aus den Armen gerissen wurde. Ricardo verkrampfte sich, bevor er mit Wucht in seinen Sitz zurückgeworfen wurde. Er fühlte ein leichtes Ziepen im Bauch. War das Einbildung? Hoffentlich war das nur die Angst! Prüfen konnte er es eh nicht. Wenn das Zeug freigesetzt wurde, dann gute Nacht! Jackpot! Wie konnte jemand eine Droge "Hauptgewinn" nennen? Sicher, für die Hersteller und verkäufer mochte das Zeug eine Menge Geld einbringen, eben wie ein Lotto-Hauptgewinn. Und er beförderte es gerade über den großen Teich. Doch irgendwie schien das Wetter was dagegenzuhaben. Selbst über den Lärm der Triebwerke und das Summen der Klimaanlage hinweg hörte er den paukenschlagartigen Donner unter sich hinwegrollen, als keine hundert Meter voraus ein weiß-blauer Blitz in den Wolken aufleuchtete. Der Pilot nahm offenbar mehr Höhe. Denn sie ließen die dunklen Wasserdampfungetüme weiter unter sich. Das änderte jedoch nichts daran, daß sie von den Auf- und Abwinden, Scherwinden und Luftwirbeln gebeutelt wurden. In Ricardos Magen machte sich neben dem eh schon flauen Gefühl ein dumpfes Kribbeln bemerkbar, das sacht vom Bauch aus in Kopf und Glieder streute. Das konnte nicht nur die Angst sein. Er dachte schon, daß er in einer Stunde entweder in New York John F. Kennedy landete oder von dem Teufelselixier erledigt direkt zur Hölle fahren würde. Da wurde die Maschine von einem Windstoß links an der Tragfläche erwischt und mehrere Grad nach rechts gerollt, bevor der Pilot die Schlagseite korrigierte. Ob Ricardos Sitznachbar jetzt immer noch so gelassen war? Er wolte sich jedoch nicht dazu herablassen, den jetzt darauf anzuquatschen. Dieses dumpfe Kribbeln im Bauch beunruhigte ihn mehr als der Flug über den Gewitterwolken. Die Flugbegleiter hatten den Borddienst eingestellt und saßen selbst angeschnallt da. Im Moment herrschte wohl keine Notlage.

So verlief der Flug eine halbe Stunde lang. Dieses Kribbeln wurde immer stärker. Ricardo wäre zu gerne in die enge Flugzeugtoilettenkabine gegangen um zu fühlen, ob die zehn Kapseln noch lagen, wo sie sollten. Doch die Turbulenzen hielten ihn wie alle anderen auf seinem Platz fest. Dann ging es in den Sinkflug und voll durch die dunkle Gewittersuppe. Er hoffte, nicht doch noch die vor Erreichen des Schlechtwettergebietes ausgehändigte Spucktüte benutzen zu müssen. Dabei würde er zwangsläufig die verbotene Fracht auswürgen oder an den Kapseln ersticken, wenn sie sich in der Speiseröhre verkeilten und ihm die Luft abschnürten. Doch der Höllenritt wie auf zehn wilden Achterbahnen zugleich gelang, und der Pilot konnte mit drei unsanften Hüpfern die Maschine auf die regennasse Betonpiste klatschen. Es dauerte, weil der Wasserfilm ein Abbremsen erschwerte, bis die Maschine langsam genug war, um auf das Rollfeld abzubiegen, um dem Leitwagen zur vorgesehenen Haltestelle zu folgen. Ricardo fühlte sich elend, aber auch irgendwie merkwürdig ruhig. Die Angst war verflogen oder durch das Übermaß davon vom Gehirn überspielt. In einer Stunde spätestens würde er sehen, ob er die illegale Fracht unversehrt ans Ziel gebracht hatte. Dann fiel sein Blick auf seine Uhr und das Hautstück zwischen Armband und Ärmelsaum. Was waren das für merkwürdige rot-braune Stellen? Hatte er sich den Arm angeschlagen, und das waren verkrustete Blutflecken? Er hatte nichts davon gespürt, daß er mit dem Arm irgendwo gegengehauen hatte. Und die Stellen sahen eher wie die Schuppen einer Eidechse oder Schlange aus als wie verkrustetes Blut. Außerdem hätte er das Blut ja dann auch am Ärmel und dem Uhrenarmband haben müssen. Doch beides war unbeschmutzt. Merkwürdigerweise stach ihm in dem Moment, wo er diese Hautveränderungen bemerkte, ein feuriger Schmerz durch den Bauch in den restlichen Körper. Er schrie fast auf. Das war doch alles nicht normal! Das konnte nur bedeuten, daß das, was er verschluckt hatte, irgendwie in seinen Blutkreislauf geraten sein mußte. Womöglich reagierte das Hexengebräu mit der Magensäure zu etwas, was ihm diese Krankheit einbrockte. Ihm war klar, daß er sich gerade in tödlicher Gefahr befand. Besser war es, er stellte sich der Polizei und ließ sich von einem Arzt behandeln. Es mochte dann zwar sein, daß seine Kunden ihn dann umbrachten. Aber besser eine Kugel im Kopf als an dieser Teufelsmischung da zu krepieren, weil er nicht wußte, wie lange das dauern mochte. Doch er mußte die Nerven behalten, bis sie aus dem Flugzeug heraus waren. Die Schmerzen wurden immer schlimmer, kamen in richtigen Schüben. Genau seit der Landung schien ein Höllenfeuer in seinem Bauch aufgeflammt zu sein und brannte nun in seinen Adern. Er biß die Zähne zusammen, um nicht aufzustöhnen oder loszuschreien. Dann endlich konnten sie raus. Er klaubte seinen Aktenkoffer und seinen Wintermantel aus dem Gepäckfach über sich und eilte den nicht minder bleichen und um ihr Gleichgewicht rangelnden Passagieren nach aus der Maschine hinaus durch den Fluggasttunnel. Ein neuer Schmerzensschub ließ ihn stolpern und unvermittelt einen kurzen Schrei ausstoßen. Mehrere Dutzend Köpfe ruckten in seine Richtung herum. Er sagte nur, daß er sich wohl den Magen verdorben hatte, bei der Ruckelei kein Wunder. Dann eilte er mit denanderen Fluggästen hinaus in die empfangshalle. Er hatte keinen Koffer oder ähnliches Gepäck aufgegeben. Er galt als Geschäftsmann, der nur für sieben Stunden in der großen Stadt an der Ostküste sein und dann zurückfliegen würde. Doch ihm war jetzt schon klar, daß er diesen Rückflug nicht mehr erreichen würde. Wieder durchbrandete Schmerz seinen ganzen Leib wie ein Feuerstoß. Er warf einen Blick auf seinen linken und dann auf den rechten Arm. Diese rot-braunen Stellen wurden immer dichter. Es erschien ihm so, als würde seine Haut in die einer Echse verwandelt. Seine Haut? Was sonst noch?

"Entschuldigung, Sie da? Haben Sie was zu verzollen", wurde Ricardo von einem Uniformierten angeredet. Ricardo atmete auf. Zwar sah er hinter der Panzerglasscheibe, die den Passagier- vom Abholerbereich trennte seinen Kontaktmann vom Syndikat. Doch hier und jetzt war er froh, sich diesem Zöllner da auszuliefern. So sagte er: "Sir, ich möchte mit einem vom FBI sprechen. Man hat mich gezwungen, Drogen zu verschlucken. Ich fürchte, das Zeug ist ausgelaufen und in meinen Körper reingeraten." Der Zollbeamte schnarrte verdutzt: "Sie machen wohl Witze man." Er konnte sich nicht vorstellen, daß ein Drogenkurier freiwillig gestand, verbotene Substanzen zu schmuggeln. Und falls das doch mal wer tat oder der scheinbar so stümperhaft beim Schmuggeln war, dann erwies es sich häufig als Ablenkungsmanöver, um die wirklich großen Mengen am beschäftigten Zoll vorbeizuschleusen. Doch Ricardo zeigte seinen rechten Arm, als ihn eine neue Schmerzenswelle ergriff. Da trat wie aus dem Nichts ein Mann in einer Uniform hinzu und betrachtete den Rauschgiftschmuggler. Der Fremde hielt eine Art Suchgerät in der Hand und fuhr damit kurz über Ricardo und dessen Bauchraum. Dann zückte er blitzartig einen Holzstab und richtete ihn auf den Zollbeamten, der unvermittelt stehenblieb, jedoch nicht erstarrt, sondern nur bewegungslos. Das gleiche geschah mit Ricardo. Der Fremde ergriff ihn und bugsierte ihn wie Festgenommen durch die Halle, während hinter ihm ein weiterer Uniformierter auf den Zöllner zuging.

"Merkwürdige Magiepräsenz, wirkt einmal ausstrahlend und dann absorbierend wie in Wellen", schickte Clayton Knott auf reinem Gedankenweg an seinen Vorgesetzten Augustus Bell, dem Strafverfolgungsleiter Sektion New york City. "Das ist kein mit Muggelflugzeugen eingereister Zauberer. Der hat rot-braune Reptilienschuppen!" Stieß er unhörbar in Raum und Zeit aus. Seine Rufe hallten laut nach. Er hatte den Empfänger also erreicht.

"Verdammt, unverzüglich in Sicherheitsgewahrsam bringen. Muggel-Zeugen mnemoplastisch behandeln! Vergissmichs werden instruiert."

"Verstanden, Sir", erwiderte Knott und sah sich um. Er bugsierte den Passagier in einen kurzfristig verlassenen Korridor hinein und zog ihn dann mit erhobenem Zauberstab mit sich. Doch das Gefühl, in einer erbarmungslosen, schwarzen Umklammerung zusammengestaucht zu werden, ließ nicht so schnell nach wie sonst. etwas schien den festgenommenen Passagier fortreißen zu wollen. Erst nach endlosen Minuten oder Tagen purzelten Knott und der Gefangene aus diesem mörderischen Zwischenbereich heraus, der zwei räumlich getrennte Punkte miteinander verband, wenn jemand apparierte.

"Sag mal, du kannst einem ja Angst machen, Clay. Sah so aus, als wärest du ein wirbelnder Geist, der sich immer ausdehnte und zusammenzieht", begrüßte sein Mitarbeiter den Flughafenüberwacher. Dann sah er den Gefangenen. Schlagartig schwanden Humor und Blut aus dem Gesicht des hier stationierten Kollegen. "Mist, einer von denen, noch nicht ganz umgewandelt. Wie ging das denn?"

"Frag mich sowas nicht! Sicherheitsgewahrsam hat Gus befohlen. Lass Heiler kommen!"

"Hast du ihn erstarren oder nur bewegungsunfähig werden lassen?" Fragte der örtliche Kollege.

"Nur Bewegungsbann", sagte Clayton Knott. Dann prüfte er noch einmal die magische Ausstrahlung des Gefangenen, der sich irgendwie von selbst wieder zu rühren begann.

"Die Magieresistenz setzt ein, Clay. Wir müssen ihn töten, bevor der Verwandlungsvorgang abgeschlossen ist. Minister Wishbone hat gesagt, daß diese Wesen nur im freien Flug verwundbar sind."

"Dann hat er das Gift wohl schon vor dem Abflug in den Körper gekriegt und jetzt erst die volle Wirkung zu erleiden", vermutete Knott. Doch er verstand. Sie hatten den Fall Giftbrunnen. Der Feind aus England hatte es hinbekommen, die von ihm erschaffenen oder geweckten Kreaturen über den Atlantik zu schmuggeln. Jetzt zählte jede Sekunde. Sie fesselten den Gefangenen, der immer mehr von seiner Beweglichkeit zurückgewann. Dann trugen sie ihn zu dritt aus dem Trakt für Sicherheitsmaßnahmen. Sie mußten ihn im freien Flug töten. Doch noch war er ein Mensch. Das konnte es doch nicht sein!

Vor der massiven Stahltür zu den unterirdischen Gelassen warteten bereits vier geflügelte Pferde vor einem Gitterwagen, in den der Gefangene hineingeworfen wurde, der nun begann, sich zu wehren. Denn Ricardo hörte nun die Stimme des Meisters in sich. Drei Giftkapseln waren zerbrochen. Das Gift hatte gerade so noch vor dem Verdaut werden den Blutkreislauf erreicht, aber wegen des freien Fluges nur als fremde Substanz im Blut gesteckt, wäre da wohl bald von den Abwehrzellen des Körpers bekämpft und vielleicht zerstört worden. Doch jetzt wirkte die Essenz der alten Krieger in Ricardo und wollte ihn zu einen von ihnen machen. Doch dafür durfte er nicht mehr fliegen. Er mußte die schmerzhafte Wiedergeburt auf festem Boden überstehen. Die Zauberer sprangen auf den Kutschbock. Da vollzog sich die vollständige Verwandlung. Ricardo zerriß seine Fesseln und versuchte, aus dem Käfig herauszukommen, in dem er sich gegen die Gitter stemmte und sie mit übermenschlichen Kräften langsam auseinanderbog. Doch da hob der Wagen vom Boden ab. Die geflügelten Pferde zogen ihn schnell und kraftvoll in die Höhe. Ricardo stieß ein wütendes Zischen aus. Der Triumph seines Meisters verklang unvermittelt, als eine Welle brennender Schmerzen aus seinem Unterkörper durch die Beine raste und in Form blauer und roter Blitze in den Wagenboden fuhr. Schlagartig kehrte sich die Verwandlung um. Ricardo keuchte heftig. Einer der auf dem Bock des Wagens sitzenden Zauberer warf sich herum, seinen zauberstab in der Hand. Ricardo verstand nicht ganz, was um ihn passierte. Da rief der andere Mitfahrer: "Halt, die Magie ist verflogen. Nicht töten!" Der mit dem Stab sah seinen Kollegen verdrossen und verwundert an. Doch dann ließ er den Holzstab sinken.

"Die Magie kann nicht verfliegen", schnarrte Collin Westerfield, der Kollege von Clayton Knott. "Der ist jetzt ganz umgewandelt."

"Glaub's mir, daß was immer den umgewandelt hat sich komplett entladen hat. Allerdings könnte es sein, daß das Gift noch in dem ist. Wir müssen den untersuchen."

"Das klärst du mit Gus", knurrte Collin. Ricardo indes erkannte jetzt, was ihm da passierte. Er hatte wahrhaftig ein Höllengebräu, Teufelszeug und Hexengift verschluckt. Irgendwer wollte damit wohl Menschen in Monster verwandeln. Aber warum ging das nur, wenn die dabei auf dem Boden blieben? Doch er hatte bestimmt noch genug von der Satanssubstanz in sich. Vielleicht würde die wieder wirken. So rief er schnell: "Ich dachte, das sei Rauschgift. Ich habe zehn Kapseln verschluckt, um die von England rüberzubringen."

"Toll, ein Drogenschmuggler", schnarrte Clayton. "Dieses Land geht echt vor die Hunde."

"Mal sehen, ob er noch was von diesen Kapseln drin hat. Reverto Gastrophagus!" Rief Collin mit auf Ricardo weisendem Zauberstab. Unvermittelt meinte der Drogenkurier, daß sich ihm der Magen umdrehte und ein unwiderstehlicher Brechreiz ihn packte. Keine fünf Sekunden später flogen sieben unversehrte Kapseln und die Splitter von drei anderen mit einer gelblich-grünen Brühe heraus. Collin ließ die ganzen Kapseln in einen Glasbehälter hineinschweben. Dann flogen sie mit Ricardo zum offenen Meer, wo Augustus Bell sie auf einem frei schwimmenden Schiff in Empfang nahm. Ricardo wurde geschockt und von Heilern untersucht. Sein Blut wurde komplett ausgetauscht.

"Es gibt offenbar einen Weg, dieses Gift zu uns zu bringen", knurrte Bell. Dann verhörte er Ricardo, wobei er auch in dessen Gedanken und Erinnerungen vordrang.

"Hat er sich sehr toll ausgedacht", schnarrte Bell. "Wir müssen die Präsenz von Überwachern an den Häfen für diese lauten Riesenvögel vervierfachen. Nicht, daß uns noch so ein Schmuggler durch die Kontrollen schlüpft und dieses Zeug an die Drogensüchtigen verteilt. Schon sehr perfide, dieser Plan, die eh schon heimlichtuenden Abhängigen damit zu Erfüllungskreaturen des Unnennbaren werden zu lassen. Lukes scheinbar paranoide Haltung ist also doch nicht ganz unberechtigt."

"Was machen wir mit dem Kurier?"

"Gedächtnismodifizieren, sobald wir wissen, ob er nicht noch einmal verwandelt wird. Dann an die Ordnungshüter seiner Welt aushändigen. Ich informiere unseren Mann bei der Bundesermittlungsbehörde, der wird seine Kollegen auf ihn ansetzen. Der soll seine Kontakte ausplaudern, damit diese Gefahrenquelle zugeschüttet wird!"

"Dann ergibt die Aktion mit denEntomanthropen ja doch einen Sinn", schnarrte Collin verdrossen. Gus Bell funkelte ihn dafür sehr zornig an. "Mit bösen Mitteln kann nichts gutes erreicht werden, Collin. Merken Sie sich das endlich einmal!!" Bellte er ihn an wie ein angriffslustiger Bluthund. "Diese Hexe will nur die Macht, die der Unnennbare sich angeeignet hat. Sie ist nicht unsere Verbündete!"

"Okay, verstehe ich", grummelte Collin Westerfield.

So entgingen die USA gerade so noch dem Versuch, das Gift der Schlangenmenschen ins Land zu schmuggeln und auf arglose Menschen zu übertragen. Doch würde das immer so bleiben? Oder würden die Handlanger des Unnennbaren einen anderen Weg finden, die tückische Substanz auch hier, in das abgeschottete Nordamerika, einzuschmuggeln? Das wußte zu dem Zeitpunkt keiner.

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Sie bekam langsam immer mehr davon mit, was unmittelbar um sie herum stattfand, auch wenn Daianira das Medaillon nicht immer trug. Sie hörte gefiltert die Stimme ihrer neuen Mutter dröhnen, ihr herz und ihren Atem, fühlte dieses Gefühl des Schwebens und hörte ihr eigenes, winziges Herz schnell wummern. Leda hatte Daianira vor einer Woche erlaubt, sich wieder frei zu bewegen. Wurde auch langsam Zeit, fand Anthelia, die in ihrem Dämmerzustand zwischen Werden und Sein gefangen war, solange das Medaillon nicht um Daianiras Hals hing. Als es endlich wieder von ihr verwendet wurde, erklärte Daianira, daß sie nun mit Anthelia in der zwanzigsten Woche sei. Das hieß, daß sie, Anthelia, jetzt zwölf Wochen in Daianira feststeckte und auf die Mithilfe und Fürsorge dieser skrupellosen Hexe angewiesen war.

"Was hat sich in der Zeit ergeben?" Fragte Anthelia über das Medaillon.

"Sie haben in Frankreich mehrere Grippevorbeugungsstellen gefunden, an denen dieses Gift ausgebracht werden sollte. Aber sie befürchten, daß sich die Schlangenwesen auch durch eigene Anstrengungen weiterverbreiten", knurrte Daianira. "Meine werte Base wollte uns beide nicht vor dem dreißigsten Januar rauslassen."

"Sie fürchtet, du könntest mich verlieren, nicht wahr?" Fragte Anthelia leicht verunsichert scheinend.

"Ja, das fürchtet sie. Jetzt, wo dich viele erahnen könnten und ich nur noch in weiten Ballroben herumlaufen kann, um nicht jeden mit der Nase drauf zu stoßen, ist Leda besonders behütsam drauf."

"Mach ich dir immer noch Übelkeit, Mutter?" fragte Anthelia so, als sei es ihr wichtig, keine Unannehmlichkeiten zu bereiten. Daianira erwiderte, daß sie sich zwar immer schwerer und träger fühlte, aber auch Momente hatte, wo sie sich wie ein kleines Mädchen freute oder losweinte.

"Was ist mit Valery?" Wollte Anthelia wissen.

"Meine Kontakte im Ministerium können nicht so frei berichten wie früher. Aber sie hält sich wohl irgendwo in Südamerika auf. Wenn wir pech haben, versteckt sie sich im Amazonas-Urwald. Da können wir sie dann Jahre suchen, in denen sie ihre Brut ungehindert vermehren kann. Zwischendurch tauchten zwar zwei ihrer weiblichen Abkömmlinge auf, die eigene Persönlichkeiten besitzen. Doch die hatten dann eher Beschaffungsaufträge. In Brasilien, Chile, Venezuela und Peru verschwinden immer wieder Zauberer. Die Plumaverde-Akademie in Mexiko wurde von einer Gruppe ihrer Abkömmlinge überfallen. Zehn Jungen und acht Mädchen wurden verschleppt."

"Plumaverde, die Zaubererschule von ganz Mittelamerika?" Erkundigte sich Anthelia.

"Eben die, Kleines. Der Schulleiter mußte sich vor einer Untersuchungskommission verantworten. Die Eltern der Verschleppten haben ihm mit Heulern und Giftbriefen schwer zugesetzt. Womöglich werden sie ihn in der schwarzen Pyramide einsperren, wo die alten Maya-Flüche zu Rückhaltezaubern umgemodelt wurden."

"Don Eusebio de Fuente Clara?" Fragte Anthelia.

"Den kenne ich persönlich. Habe damals, als ich selbst noch in Thorny gelerht habe eine Dienstreise zu ihm gemacht, um Austauschprojekte zwischen Plumaverde und Thorntails abzustimmen. Ein sehr männlicher Zauberer, der geistige und körperliche Stärke als wichtigste Werte des Daseins ansieht und dreizehn uneheliche Kinder in seiner Schule beherbergt hat."

"Oh, da hattest du aber bestimmt Viel Selbstbeherrschung nötig, um dem nicht zu zeigen, daß du von derlei Umtrieben nichts hältst, oder?" Fragte Anthelia.

"Er nahm mich nicht so recht für voll, bis ich ihn im Schach besiegt und mehrere Zaubertränke aus dem Kopf nachgebraut habe. Allerdings habe ich es abgelehnt, mich von ihm beschlafen zu lassen. Seitdem stehen wir uns nicht mehr kollegial gegenüber. Jetzt wird er wohl für sein restliches Leben in dieser schwarzen Pyramide verschwinden, wo die größeren Verbrecher der mittelamerikanischen Zaubererwelt lebendig begraben sind. Die alten Flüche sind sehr unerbittlich, wenn sie mit neuen Seelen zum Festhalten gefüttert werden." Anthelia fühlte, wie sich Daianiras Gesicht für einen Moment zu einem Lächeln formte. Doch dann meinte die Sprecherin der Entschlossenen: "Daß er aber wegen dieser Valery dort verschwindet und zwanzig Zaubererkinder wohl in Valerys unersättlichem Wanst zu ihren neuen Abkömmlingen umgewandelt werden ist ein unverzeihlicher Umstand."

"Ich weiß, daß ich dieses Monstrum auf euch losgelassen habe. Mutter. Bitte erwähne das nicht immer wieder", schickte Anthelia zurück. Daianira hörte aus der Gedankenstimme Reue heraus. Ja, offenbar zahlte sich das doch aus, Anthelia neu auszutragen. Falls ihr Geist sich in ihrem heranwachsenden Körper neu entfaltete, würde sie wissen, daß längst nicht alles von Sardonia der Hexenwelt zuträglich war und die heutige Welt nicht mit hemmungslosem Schaffensdrang erobert wurde.

"Wir werden heute noch nach Frankreich aufbrechen. Louisette erwähnte, daß die Schlangenmenschen sich wohl in jenem noch nicht aufgelösten Sammellager zusammenrotten, daß dieser Idiot Didier als Friedenslager Nummer vier bezeichnet hat. Wenn wir raushaben, wo es ist, können wir den Nachschub dort unterbinden und einen irgendwann kommenden Ausfall der alten Krieger bekämpfen. Sollte es uns gelingen, dieses Gewürm endgültig zu vernichten, wirst du mir verraten, wie die von dir erschaffenen Entomanthropen getötet werden können. Denn dann will ich keine mehr auf dieser Welt wissen."

"Die Wertiger werden nicht freiwillig aus Europa verschwinden, nur weil ihre Feinde, die Schlangenkrieger, nicht mehr da sind", wandte Anthelia behutsam ein. "Außerdem könntest du die beherrschbaren Entomanthropen als Gegengewicht zu Valerys unbeherrschter Brut aufbieten. Ich möchte den Fehler, den ich an dieser Kreatur beging korrigieren. Und wie du leider festgestellt hast, ist Valery gegen den Decompositus-Fluch gefeit."

"Erinnere mich nicht daran! Dieser Zach Marchand hat mich angeschrieben und wollte mich zu sich zitieren, um zu erfahren, woher ich diesen Einfall hatte und warum ich so unbeherrscht reagiert habe. Noch ist meine Schwangerschaft mit dir geheim. Ich werde sie erst Ende mai publik machen, wenn die von Leda und mir erarbeitete Legende über deinen angeblichen Vater lückenlos und wasserdicht zusammengestellt wurde. Spätestens dann würde sich der scheinbar segensreiche Zustand der Hexenlady auch nicht mehr verheimlichen lassen. Sie war einfach zu wichtig, um ganz im geheimen ein uneheliches Kind zur Welt zu bringen.

"Weiß deine Bundesschwester Louisette, wen du trägst?" Fragte Anthelia noch.

"Ich konnte ihr gegenüber deine Wiederentstehung verheimlichen, Kleines", erwiderte Daianira verdrossen. Den französischen Mitschwestern und anderen Sprecherinnen hätte sie es eigentlich schon längst erzählen müssen, daß sie wen neues herantrug. Doch sie wußte nicht, wer von den ausländischen Hexen ohne Zugehörigkeit zur erhabenen Sororitas Silenciosa auf Anthelias Seite stand. Nur die Tatsache, daß Daianira sie am Leben hielt mochte sie dann noch vor einem Racheakt bewahren.

Einen Tag später flog Daianira Hemlock zusammen mit ihrer Cousine und Vertrauensheilerin Leda Greensporn auf den organisierten Parsec-Besen zurück nach Frankreich, wo sie schnell alle relevanten Erkundigungen einholte. Der Januar endete damit, daß sie mit einem Pulk Entomanthropen loszog, um die einzeln aufgetauchten Schlangenmenschen zu jagen, die sich nicht unter der Erde bewegten. Denn dann waren sie zu schnell.

"Wir haben jetzt den Standort von Friedenslager vier", schickte Daianira an ihre ungeborene Zweckverbündete, während um sie herum ein Dutzend Entomanthropen flog.

"Dann werden wir jetzt die Zugangswege überwachen und jeden abfangen, der sich oberirdisch nähert", vermutete Anthelia.

"Das werden wir", erwiderte Daianira. Anthelia war froh, durch das umgehängte Medaillon aus der Untätigkeit und Isolation befreit zu sein. Doch wie lange mochte ihre Seele noch im Medaillon bleiben, wo ihre körperliche Entwicklung mehr und mehr Wahrnehmung und Erfahrungswerte ermöglichte? Sie wollte nicht daran denken, daß sie womöglich in einem oder zwei Monaten keinen Zugang mehr zu Daianiras Sinneswelt besaß und sich darauf verlassen mußte, daß ihre Aufbewahrerin ihr auch alles mitteilte. Bis dahin mußte ein Weg her, um nicht wirklich als hilfloses Menschenbaby zurückzukehren. Ihr ganzes erstes und das bis zum unrühmlichen Duell verlaufenes zweites Leben hatte sie gearbeitet, Pläne geschmiedet, verworfen oder durchgeführt, um die Erbschaft ihrer Tante anzutreten. Das durfte doch nicht einfach im Geburtskanal abgestreift werden. Sie hatte viel über die Magie zwischen Lebewesen gelernt, als sie zur Heilerin wurde. Die Liebe und der Schmerz unter der Geburt schmiedeten Mutter und Kind für das ganze Leben zusammen. Wenn sie, Anthelia, diesem Sanctuamater-Zauber unterworfen wurde, würde sie wahrlich nur noch eine gehorsame Tochter dieser ihr an Skrupellosigkeit und Finesse ebenbürtigen Hexe sein, die gerade mit den von ihr, Anthelia, erzeugten Entomanthropen gegen die Schlangenwesen des Waisenknabens vorrückten.

Da vorne ist einer", erkannte Anthelia, deren Empfindung durch das Medaillon auf dunkle Wesen geprägt waren. Daianira nickte und befahl den Angriff. Wenige Minuten später zogen die Insektenwesen den Schlangenmann in die Luft. Er wehrte sich. Doch dann prasselte mit blauen und roten Blitzen etwas von der uralten Kraft aus ihm heraus. Anthelia erkannte durch die Regungen des Seelenmedaillons, daß die gesamte dunkle Magie aus der Erde in diese zurückflutete und dort wohl zerstreut wurde. Der gefangene Schlangenmensch wurde zum normalen Menschen ohne unterbundene Zauberkraft. Jeder Funken Schlangenmagie entwich aus ihm.

"Mutter, der ist jetzt ganz frei von der Macht des Giftes", schickte sie an Daianira, als die Entomanthropen ansetzten, den entkräfteten Gefangenen zu töten, wie sie es schon mit seinen Artgenossen getan hatten. Daianira befahl über den Entomolithen, den Gefangenen nicht zu töten. Sie landete neben ihm. durch den Flug und das Gefühl, mehrere Zentner im Leib zu haben angestrengt sprach sie den nackten, jungen Mann an, der behauptete, er träume das wohl nur, weil er ein Rauschmittel eingenommen habe. Daianira lächelte und brachte den jungen Mann zusammen mit denEntomanthropen in ihr Versteck.

"So, Junge. Wie heißt du noch mal?" Fragte sie ihn freundlich, als er in einem Männerschlafanzug und Bademantel auf einem gepolsterten Stuhl saß.

"Berno, ähm, Bernard Romarin, Madame. Wer sind Sie?"

"Ich bin eine, die eigentlich gegen das kämpft, was du warst. Erzähl mir bitte alles, wie du das wurdest, als was ich dich aufgegriffen habe und was du erlebt und gedacht hast, als du verwandelt warst! Woran kannst du dich erinnern?"

"Schon 'ne krasse Kiste, Madame Hexe. Ich war'n Fichser, also einer, der an der Nadel hing." Anthelia übersetzte unaufgefordert, daß so Rauschgiftsüchtige genannt wurden, die sich ihre Drogen mit einer Einspritzvorrichtung direkt ins Blut verabreichten. Daianira nickte und sagte nur: "So, du meintest also, dein junges Leben wertlos machen zu müssen, um ein paar Sekunden Vergnügen zu erleben? Dann wurdest du von diesem Zeug abhängig und mußtest denen, die es dir nboten für viel Geld abkaufen. Was hast du getan, um an das Geld zu gelangen. Hast du deinen Körper verkauft, gestohlen oder geraubt?"

"Ich meinen Körper ... Nöh, das mußte ich noch nicht, Madame. Ich habe Automaten geknackt, hauptsächlich die, wo teure Sachen drin waren. Die Sachen und das Geld konnte ich dann umsetzen, um das H zu kriegen, ähm, wenn Sie wissen, was ich meine."

"Das weiße, fliegende Pferd", schnarrte Daianira. "So heißt Heroin doch wohl auch hier, oder?"

"Ui, Sie kennen sich aus?" Fragte Bernard. "Ähm, jedenfalls ging das gut, solange Rico, der Typ, der das Zeug verkauft hat, nicht zu viel für 'nen Schuß abkassiert hat." Anthelia übersetzte den Ausdruck Schuß, und Daianira schickte zurück, daß sie nicht ganz so ungebildet war, was Muggel-Kriminalität und Gassensprache anging. So fragte sie laut: "Und dieser Rico hat dir auch das Zeug verpaßt, daß dich verwandelt hat?"

"Genau, Madame. Das war ein Geschenk, weil ich dem so um die zehn Gramm abkaufen konnte."

"Ein Geschenk, soso, als wenn diese Sorte Gauner etwas ohne Gegenwert hergeben würde", knurrte Daianira. Als Amerikanerin und ehemalige Lehrerin war ihr das Problem des grassierenden Drogenmißbrauchs in ihrem Land sehr wohl bekannt. Sie hatte diverse Muggelstämmige in Thorntails gehabt, die meinten, ihren Kameraden und sich selbst fragwürdige Glücksmomente zu bescheren. Nach ihrem Ausstieg aus dem Lehrberuf mußte diese Gesellschaftsseuche noch weiter um sich gegriffen haben. Leider gab es gerade in der Zaubererwelt auch zu viele Tränke und Pulver, die vermeintliche Glücks und Traumerlebnisse bescherten, dabei jedoch Körper, Geist und Seele mal schleichend, mal rasch zersetzten. Eigentlich waren diese Leute, die dann im Teufelskreis der Sucht steckten zu bemitleiden. Sie waren die Opfer derer, die sich an ihnen bereicherten. Bernard sah, daß es der Hexe wohl nicht gefiel, was er war. Anthelia schlug vor, den Jungen mit Diagnosezaubern zu prüfen, ob er noch Auswirkungen seiner üblichen Droge verspürte. Als sie feststellte, daß Bernard oder Berno völlig frei von Giftreaktionen war ließ sie sich von ihm weiter berichten, wie er die Ampulle mit dem wirklich tückischen Inhalt in sich hineingespritzt und die Wirkung erlebt hatte. Sie erfuhr, daß alle von dem Gift verwandelten zu ihren versammelten Artgenossen gehen sollten. Leda Greensporn, die dem Verhör beiwohnte fragte Bernard dann noch, ob er Freunde hätte, die wie er von diesem Verbrecher Drogen erhielten. Der Gefangene nannte die Namen.

"Wir können also festhalten, daß die Wirkung des ausgelagerten Giftes nur vorhält, solange die damit versehenen festen Erdboden unter den Füßen haben", stellte Daianira fest, als der ehemalige Fichser im Zauberschlaf lag. Leda nickte.

"Wo wir diesen Rico finden wissen wir jetzt", sagte Leda. "Denkst du, er weiß, wo er das Gift her hat?"

"Das werden wir klären, wenn wir ihn haben", erwiderte Daianira.

"Du wirst ihn nicht stellen, Daianira. Es könnte durchaus sein, daß er von einem Todesser beschützt wird, der ihn mit dem Gift beliefert", wandte Leda kategorisch ein. Daianira verzog das Gesicht. Sie wollte diesen Fall ohne fremde Hilfe abschließen. Außerdem scheute sie sich nicht vor einem Duell mit einem wohl eher niederstufigen Todesser, wenn sie sich mit Drachen und Valery Saunders anlegen konnte. Doch sie fühlte, daß Leda unerbittlich war. Ein Tag mit einem Fixierungszauber an ihr Bett gefesselt hatte ihr klargemacht, daß ihre Cousine, die im Juni die Hebamme der dann Thalia heißenden Tochter sein würde, jede Möglichkeit ausschließen wollte, daß Daianira das Baby doch schon weit vor der Geburt verlor, womöglich selbst dabei starb.

"Du willst doch nicht etwa dem Zaubereiministerium einen Tip geben, werte Base. Wenn die es bisher nicht wußten, wie sollen wir denen dann erklären, daß die Brut der alten Zeit wohl mit Hilfe von Rauschgiftsüchtigen vermehrt werden soll?"

"Was würde es dir bringen, diesen Rico aufzusuchen und dich womöglich mit seinem Beschützer anzulegen?" Fragte Leda.

"Eine wichtige Erkenntnis. Zum Beispiel, wer der Beschützer ist, wem er sonst noch alles dieses Gift überlassen hat und ob er eine direkte Verbindung zu seinem Herrn und Meister unterhält."

"Aha, falls ja, dann könnte er diese Verbindung sofort nutzen und diesen Herrn und Meister zu Hilfe rufen. Willst du dich wirklich mit diesem duellieren."

"Habe ich schon gemacht", schnarrte Daianira. "Damals, wo ich mit der untreuen Pandora den Mitternachtsdiamanten gesucht habe."

"Ich auch, als der meinte, Spießgesellen werben zu können", wisperte Anthelias Gedankenstimme noch.

Damals warst du nicht schwanger, Daianira. Auch wenn die Kleine dir mit ihren Gedanken wirksame Kampfzauber zuflüstert würde dein Körper dieser Belastung nicht lange standhalten. Er würde dich und dein Baby umbringen, ohne daß die Schwesternschaft dadurch einen Gewinn erzielen könnte."

"Es kommt mir vor, als habe Oma Eileithyia deinen Körper angenommen, um mich fertigmachen zu können, Leda", schnarrte Daianira. "Ich las oft genug, daß Mütter, auch wo sie es noch werden mußten, über ihre gewohnten Stärken hinauswuchsen und große Gefahren von sich und/oder ihrem Nachwuchs abwenden konnten. Wenn wir die Brutstätten dieser pest ausrotten wollen, müssen wir die Überbringer des Todeselixiers aufspüren."

"Willst du dich mit mir streiten, Daianira?" Fragte Leda. "Ich kann gerne von meinen Heilerprivilegien Gebrauch machen und dich gemäß dem Umgang mit werdenden Müttern wie eine minderjährige Hexe behandeln, die nicht mehr weiß, was gut oder schädlich für sie ist", hielt Leda dagegen. Anthelia amüsierte sich wortlos. Daianira schnaufte und sagte dann:

"Ich bin deine Herrin, Leda. Du hast mir Treue geschworen, bei deinem Blut. Ich kann dir befehlen, mich gegen diese Pest alleine vorgehen zu lassen. Und du müßtest dich fügen.""

"Dann müßte ich Anthelia aus dir heraus in meinen Leib übernehmen, wenn du meinst, dein Leben riskieren zu dürfen. Wahrscheinlich würde ich ihr eine bessere Mutter sein als du. Dich interessiert an ihr doch nur deine Überlegenheit ihr gegenüber, daß du gerade ihre Lebenserhaltung bist, du sie als Trophäe deines Erfolges in der Hexenwelt herumzeigen kannst und in deinem Sinne umformen kannst, wenn du das notwendige Übel der Geburt überstehst."

"Du unterstellst mir, daß ich nicht gut genug auf sie aufpassen möchte, weil es mir wortwörtlich schwer im Magen liegt, ihre Vorkosterin, Schlafkammer und Toilettenkammer zu sein?! Ich habe mich daran gewöhnt, mit ihr unter dem Herzen zu leben und bin darauf gefaßt, daß es nicht leicht wird, sie als meine Tochter aufzuziehen. Aber ich will sie haben. Ich will ihr im Juni in die Augen sehen, Leda. Denn wie du ehre und achte ich das Leben jeder Hexe."

"So, tust du das?" Fragte Leda wütend. "Was war dann mit Donata, was wurde mit Thalia, deren Namen du für die in dir wachsende Anthelia benutzen möchtest? Was hast du mit Mabel Pole angestellt? Wenn du nicht die von mir anerkannte Führerin und eine geliebte Base wärest, dann würde ich dir ins Gesicht spucken wegen dieser Heuchelei. Aber mein Heilerkodex und die Verbindung zu dir gebieten es, deine scheinheiligen Ausführungen als Schutzbehauptung zu sehen. Aber ich biete es dir noch einmal an, dir die Last der von Anthelia aufgezwungenen Schwangerschaft abzunehmen, wenn du meinst, den Kampf gegen diese Schlangenwesen alleine führen zu müssen."

Daianira funkelte ihre Cousine an. Diese sah jedoch sehr entschlossen zurück. Vom Aussehen her wirkten die Beiden wie Mutter und Tochter. Doch das lag nur daran, daß Daianira durch Anthelia um etwas mehr als dreißig Jahre verjüngt worden war. Dann legte Daianira Hemlock ihre linke Hand auf den nun schon leicht vorgewölbten Unterbauch und sagte: "Die ist da drin und bleibt da drin, bis ich sie von mir aus rausschieben muß, Leda Greensporn. Ich befehle dir, mich nie wieder damit zu bedrohen, sie mir zu entwenden oder dies auch nur im Ansatz zu erwägen!" Leda erbleichte unter der Wucht des Befehls. Der Schwur der Blutstreue tat seine Wirkung. Sie verdrehte ihre Augen und hockte eine halbe Minute da. Ihr Gewissen, ihre Pflichten und der Wunsch, Daianiras Umstände erträglicher machen zu können, wurden von diesem einen Befehl niedergeschmettert und aus ihrem Bewußtsein geschleudert. Anthelia sah durch Daianiras Augen, wie Leda sichtlich damit rang, ihre Fassung zurückzugewinnen. Ja, Daianira hatte ihre Anhängerinnen sehr sicher unter Kontrolle. Sie schwiegen sich an. Anthelia genoß diese Minute, wobei sie ihr Herz und das Daianiras schlagen hören konnte. Dann sagte Daianira scheinbar einsichtig: "Ich gestehe dir zu, werte Base, daß die Gefahr besteht, daß ich die Kleine bei einem Kampf gegen den Beschützer dieses Ricos verlieren könnte. Weil ich sie dir nicht überlassen werde, da ich nicht weiß, ob du sie mir auch wieder zurücklegen würdest, füge ich mich deinem Vorschlag und gestatte es, daß Angehörige des Zaubereiministeriums diesen Rico aufgreifen und dabei dessen Beschützer dingfest machen. Wir sorgen nur dafür, daß die Entomanthropen weiterhin die Schlangenkrieger jagen. Womöglich können die, die mit der ausgelagerten Giftsorte verwandelt wurden, zurückverwandelt werden. Falls wir die Urkreaturen erwischen, so sind diese natürlich zu töten."

"Ich habe sehr gehofft, daß Eure Übersicht sich wiederfindet, Lady Daianira", erwiderte Leda erleichtert. "Ich werde Louisette damit beauftragen, die heimlichen Hinleitungen auszulegen, um diesen Rico und seinen Gönner zu ergreifen."

"Ich mache das, Leda. Das kann ich auch von hier aus per Eulenpost." Ihr Magen knurrte fordernd. "Ich muß wieder was essen. Die Kleine ist so hungrig, daß für mich selbst nie was übrigbleibt."

"Euer Ladyschaft Verdauungsorgane reißen mir noch einmal die Ohren vom Kopf", beschwerte sich Anthelia. "Wirst du wieder Zwiebeln essen? Das letzte Mal habe ich gedacht, dein Uterus bräche laut donnernd um mich herum auseinander."

"Wo ich das Schokoeis mit denSilberzwiebeln gegessen habe?" Fragte Daianira amüsiert. "Denke ich irgendwie nie daran, daß du das wohl schon hören kannst, Kleines. Gut, dann gibt es eben heute Fisch."

"Guten Appetit", wünschte Anthelia. Da nahm Daianira das Medaillon vom Hals. Schlagartig wurde es dunkel und eng um Anthelia. Zwar empfand sie eine gewisse Geborgenheit. Doch sie wußte, daß sie kein Bein ausstrecken konnte, ohne auf Widerstand zu stoßen. Sie lauschte den Körpergeräuschen ihrer Trägerin und fragte sich, ob sie sich je daran gewöhnen würde. Sie hatte im ersten Leben mehrere Kinder auf die Welt geholt und mehr als fünf eigene Kinder vor der sechsten Woche abgetrieben, um damit hochotente Tränke anzusetzen. Und jetzt hing sie hier fest und hatte gerade die Hälfte der üblichen Zeit hinter sich. Noch zwanzig Wochen, die nicht angenehmer werden würden, je mehr Empfindungen ihr weiter ausreifendes Gehirn selbständig erfassen konnte. Es war ja jetzt schon so, daß sie vieles klar erfaßte, weil ihr Geist bereits in diesem Körper aufkeimte. Rumpelnd und gluckernd arbeitete Daianiras Magen an dem, was diese ihm zumutete. Anthelia wußte nicht, was das war, bis Leda wie durch eine sehr dicke Wand zu hören war: "Ich weiß nicht, ob ich das wirklich je mal essen würde, Camenbert mit Schokoladensträuseln."

"Sieh zu, daß du diesen netten Zauberer aus der HPK dazu kriegst, dir vor deinem Siebzigsten vielleicht doch noch ein Kind in den Schoß zu legen, Leda", klang Daianiras Stimme sehr dumpf und laut um Anthelia herum. "Ich muß aus diesem Weib raus, bevor es mich aus eigener Kraft in die Welt zurückstößt", dachte Anthelia. "Entweder bringe ich sie doch dazu, mich dieser Übergescheiten Leda zu überlassen, wenngleich ich da bestimmt nicht geräumiger untergebracht bin. Oder ich würge mich selbst mit der Nabelschnur ab." Ihre rechte Hand ruderte langsam durch das Fruchtwasser und berührte die pulsierende, spiralförmige Verbindung zwischen ihr und Daianira, über die gerade das zu ihr kam, was Daianiras Magen so lautstark zersetzte. Am liebsten würde sie Patricia oder Tyche anmentiloquieren und diese dazu auffordern, sie hier herauszuholen. Der Gedanke, von patricia weitergetragen zu werden bereitete ihr einen Moment ein gewisses Vergnügen. Immerhin hatte Pandora sie ja mehrere Monate herumgetragen, wo ihr zweiter Körper noch nicht verfügbar war. Doch dann fiel ihr ein - Glululululuck! Wieder hatte Daianira etwas mehr von dem gewöhnungsbedürftigen Durcheinander verdaut, was sie aß. Dann fiel Anthelia ein, daß Patricia das Sonnenmedaillon erbeutet hatte und ihr das wohl auch so wieder zusetzen würde. Mindestens müsse sie dann wohl auf ihr Seelenmedaillon verzichten. Das wollte sie dann doch nicht. Wenn es hart auf hart kam, würde sie eben unter der Geburt eine Selbsterdrosselung ausführen. Doch was, wenn dieser Sanctuamater-Zauber sie bis dahin doch unterwarf? Dann würde sie es ihr nicht antun, sie tot zur Welt zu bringen. Sie dachte an Valery Saunders. Die wollte wohl auch keine Bienenfrau sein und empfand sich jetzt sehr mächtig. Die ganzen Hexen und Zauberer, die sie in sich hineinschlang wollten bestimmt auch keine Entomanthropen sein. Was hatte sie angerichtet? Im Grunde wiederfuhr ihr doch nur, was sie Valery und den anderen Mädchen aufgezwungen hatte, und was Valery jetzt denen aufzwang, die sie für wichtig genug hielt, ihre Kinder zu sein. Doch anders war es nicht möglich, Voldemorts Krieger der Vorzeit zu stoppen. Das hatte diese Besserwisserin Daianira doch heute erst wieder erleben müssen. Anthelia hoffte, daß Daianira sich zu sehr auf ihren Sanctuamater-Zauber verließ und die Heuchelei nicht erkannte, die Anthelia äußern mußte, um keinen Verdacht zu erregen. Dann verfiel sie unter den Rhythmen Daianiras in jenen Schlaf, den die meisten Ungeborenen über den Großteil ihres Werdens schliefen. Sie träumte von ihren früheren Erlebnissen. Doch allen war Daianiras Herzschlag und ihre Stimme unterlegt.

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"Das Material ist optimal", lobte Dr. Backster die Testergebnisse. Die von Calchem Industries erfundene Sonnenschutzfolie hielt einer UV-Strahlung stand, die bereits als hochionisierende Strahlung und erbgutschädigend eingestuft wurde. Sie hatten die Probe mit Infrarotlicht bis zu 2000 Watt 24 Stunden lang bestrahlt, ohne einen darunter liegenden Meßfühler über mehr als zehn Grad zu erhitzen und hatten die Folie diversen elektrischen und chemischen Zerstörungsprozessen ausgesetzt. Sie war unentflammbar, säurefest bis zu einem PH-Wert von 1,3, gegen Laugen bis zu einem PH-Wert von 12,9 unempfindlich und war, das wunderte Wilson und seinen Chemieexperten, sogar im Stande, Mikrobeschädigungen selbst zu reparieren, als wenn es sich nicht um künstliches, sondern lebendes Gewebe handele.

"Also wenn ich die Analyse der Zusammensetzung nicht gesehen hätte müßte ich glauben, daß wir da eine durch Zauberei entstandene Membran vor uns hätten. Allein der Lichtschutzfaktor ist grandios. Aber daß dieses Ding auch den elektrischen Widerstand der Haut um einen Faktor 1000 erhöht und gegen Toilettenreiniger größtenteils unempfindlich ist. Dieser McGregor hat da eine Platinader angebohrt. Ich schlage vor, wir kaufen nicht die Folie, sondern die, die sie hergestellt haben."

"Kannst du knicken, Jeff", sagte Wilson zu seinem Chemiexperten Jefferson Bradley. "Der hat alles abgesichert, Patente, Exklusivfertigung, Lizenzbestimmungen, Markenrecht, das sich auch schon auf die Bezeichnung Lichtschutzfaktor 600 bezieht. Taggert hat das alles geprüft, während ihr in eurer Hexenküche versucht habt, einen haken zu finden. Ich verstehe den jetzt, daß der sich vehement gegen Spionage schützen will. Armin, was sagen die medizinischen Checks?"

"Hautverträglichkeit sehr gut, atmungsaktiv, keine Anhaftung durch Schweiß oder Hautschuppen. Nur die Kopfbedeckung ist natürlich etwas gewöhnungsbedürftig, wenn man noch alle Haare hat." Er zwinkerte Jeff zu, der seine rosige Glatze stolz wie eine Königskrone präsentierte. "Die Säureverträglichkeit ist auch okay. Das einzige, das mir fehlt ist eine antibakterielle Wirkung. Aber da das Ding auf alle Hallogene gleichgültig reagiert könnte man die Folien von innen mit Jodlösung imprägnieren, bevor sie mit der Minipumpe an den Körper gesaugt werden. Ich hörte auch, die arbeiten an Unterkleidung mit dem Patentstoff. Das würde den Lichtschutzfaktor sogar quadrieren, also auf 360.000. Das einzige, was da locker durchkommt sind Alpha-, Beta- und Gammastrahlen. Also als ABC-Schutzfolie nicht ganz zu empfehlen. Für Einsätze an oder in chemischen Anlagen schon eher geeignet. Also von meiner Seite her können Sie Mr. Hazelwood die Kaufempfehlung vorlegen."

"Von meiner auch", pflichtete Bradley bei. Wilson nickte. Auf das Urteil seiner Wissenschaftler konnte er sich verlassen. Der hauseigene Anwalt Taggert hatte auch kein Mäusebein in den Verträgen und den Patenten gefunden. Also zogen die drei schon bald los,um ihrem obersten Vorgesetzten die dringende Empfehlung zu unterbreiten, die Solex-Folie zu bestellen, zusätzlich zu der Mindestabnahme von 1000 Quadratmetern noch einmal 2000. Denn Wilson beabsichtigte, die Entwicklung von Solex-Oberbekleidung zu prüfen. Darauf hatte Calchem noch kein Patent. Er dachte auch schon daran, mit dem Militär zu verhandeln und Kunden in Australien mit ins Boot zu holen, wo die Sonneneinstrahlung durch das Ozonloch über der Antarktis bereits kritische Werte erreichte. Tja, die Australier wollte er zuerst anrufen, weil er sich dort den größeren Absatz versprach, als für die einheimischen Licht- und Sonnenallergiker zu produzieren. So vertröstete er die drei überenthusiastischen Mitarbeiter darauf, daß er zunächst die Absatzprognose für dieses Wundermaterial erstellen lassen wollte und schloß die Tür hinter Wilson, der als letzter den Raum verließ.

Roscoe Hazelwood war schon Mitte sechzig und nicht mehr so leicht für neues zu begeistern wie seine Mitarbeiter. Aber das Hump Wilson so jungenhaft begeistert war erstaunte ihn. Er sah auf die altmodische mechanische Zeigeruhr an seiner mattblau gestrichenen Wand und las ab, daß es in Kalifornien gerade vier Uhr nachmittags war. Dann war es bei seinem alten Studienfreund Peter Bundy in Sydney gerade neunzehn Stunden später, also elf Uhr vormittags am nächsten Tag. Also konnte er ihn ruhig anrufen. Er hatte keine Angst vor den Gesprächskosten. Wenn das Geschäft zu stande kam, würden sie die Telefonkosten hundertmal wieder reinholen. So dauerte es eine halbe Stunde, wobei Roscoe Hazelwood seinem alten Kumpel die Bewertungsprotokolle seiner Mitarbeiter vorlas und auch, das es rechtlich einwandfrei war. Pete Bundy stimmte dann zu, auf Treu und Glauben, daß er das locker bei sich im Land unten drunter auch wieder loswerden konnte, dreitausend Quadratmeter und die Bauanleitung für die Membrananzüge zu bestellen. So formulierte Hazelwood mit seinem Anwalt den Geschäftsvertrag und den ersten Auftrag, den er nach einem kurzen Telefonat mit Direktor McGregor an diesen faxte, um eine unterschriebene Kopie zurückzuerhalten.

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"Sag mal, June, glaubst du das, daß die Leute in den Staaten eine Folie erfunden haben, die die Sonnenstrahlung auf ein Sechshundertstel reduziert?" Fragte Simon Bundy, der Juniorchef eines Schutzbekleidungsunternehmens und halbmuggelstämmiger Zauberer. "mein Dad hat heute einen Abschluß mit Leuten aus Kalifornien gemacht, die so ein Material erfunden haben. Könnte es sein, daß da wer gegen die Geheimhaltung verstoßen und mit alchemistischen Mixturen herumgespielt hat?"

"Sonnenschutz mit einem Faktor Sechshundert?" Fragte June Priestley, die Simon auf einer Tagung über Muggeltechnologie und ihre Wege zur magielosen Lebensqualität kennengelernt hatte. "Kalifornien ist dann das Gebiet von Lucas Wishbone. Mit dem hat die zaubereiministerin im Moment Streit wegen der Handels- und Verkehrsbeschränkungen. Abgesehen davon können auch nichtmagische Wege zu wundersamen Stoffen führen", wandte June Priestley ein.

Simon hatte nach seiner offiziellen Arbeit sofort per Kontaktfeuer durchgerufen und um ein direktes Treffen gebeten. Junes Nichte Aurora hatte sie begleitet, weil Simon was von "Schutz ohne Sonnenkrauttinktur" gesagt hatte.

"Ist aber nicht gerade billig, die Folie. Kann sich also nicht jeder leisten. Dad hat erst dreitausend Quadratmeter davon geordert. Und das geht schon in die Millionen."

"Will sagen, wer damit in die Sonne geht kann sechshundert Stunden in der direkten Sonneneinstrahlung ausgesetzt bleiben, um den Hautveränderungswert einer Stunde ungeschützten Sonnenbadens zu erfahren", erwiderte Aurora Dawn, die von Simon Bundy sehr anbetungsvoll angeguckt wurde. "Dafür bräuchtest du mehrere Flaschen Sonnenkrauttinktur. Auch nicht billig."

"Wenn das echt stimmt und Dad sich da nicht hat vergackeiern lassen, weil den Tüftlern da drüben ein Komma nach rechts verrutscht ist. Hat's in der Wissenschaft alles schon gegeben, Stichwort Eisen im Spinat."

"Da mußten die Ernährungskundler doch etwas umdenken", erinnerte sich Aurora. "Aber die müssen doch die Wirkung oder Abschirmung testen. Da kann eine Kommastellenverschiebung nicht so einfach vorkommen. Ich meine, nach den Muggelstandards erreicht dichte Oberbekleidung schon Schutzfaktoren von sechzig. Das wäre also nichts außergewöhnliches."

"Einer von den Wissenschaftlern, die das Zeug zusammengefriemelt haben soll sogar behauptet haben, daß selbst Graf Dracula damit am Strand von Malibu den Bikinimädchen beim Sonnenbaden zusehen könnte", grinste Simon Bundy. Doch statt daß die beiden Hexen ebenfalls belustigt grinsten zuckte Aurora zusammen, und June verzog das Gesicht zu einer sehr betrübten Miene. Aurora Dawn fragte ihn aufgeregt, ob dieser Wissenschaftler das wirklich gesagt hatte.

"Ein dummer Spruch halt, um die Interessenten zu ködern. Genau wie der Besenbauer Cassini damit wirbt, daß der Lack seiner Rennbesen so feuerunemmpfindlich ist, daß man damit im Krater des Vesuvs landen könnte. Wird wohl keiner nachprüfen. Aber diese hohe Einschätzung zieht Kunden an."

"Und wenn es stimmen sollte, daß anscheinend lichtscheue Kreaturen wie eben Vampire durch eine derartige Erfindung auch bei Tag existieren können?" Fragte Aurora Dawn sehr ernst klingend.

"Dumm nur, daß die auch überempfindliche Augen haben", grinste Bundy, bevor er fast so blaß wurde, als sei er selbst ein Vampir. "Dagegen haben die Muggel starke Sonnenfilter, wie die in der Zaubererwelt, um die Sonne beobachten zu können. Oha, ich glaube mein schöner Tag ist gerade voll in die Binsen gegangen."

"Gesetzt den Fall, daß irgendwo zwischen deinem Vater und dem Hersteller ein Vampir mithören würde, Simon, was ziemlich unwahrscheinlich ist. Aber ansonsten ist die Frage schon sehr wichtig. Könnte jemand wie die Sangazons in Frankreich oder Sanguini in England mit einer solchen Folie unbeschadet mehrere Stunden in direktem Sonnenlicht herumlaufen? Falls ja, dann wäre diese Erfindung in der Tat nicht nur ein Segen für allergische Muggel, sondern eine Gefahr für die ganze Welt, weil die Blutsauger dann nicht bei Tag ausruhen müßten und sich nicht mehr auf völlig abgedunkelte Orte festlegen müßten."

"Stimmt, Tante June. Und ich hörte von meinem Kontakt in die Staaten, daß dort ja im Sommer eine größere Revolte von Vampiren stattgefunden hat. Die könnten es wieder versuchen, wenn sie den Jägern am Tage wunderbar ausweichen könnten. Darf ich deinen Computer mal benutzen, Tante June."

"Wenn du das noch weißt, was du wie damit machen willst, Aurora", erwiderte June. Dann begleitete sie ihre Nichte in das Arbeitszimmer im Haus der Heilerin, wo sie einen nach dem Vorbild von Florymont Dusoleil gebauten Solarstromgenerator anwarfen und June Priestleys PC mit Drucker, Internetverbindung und externen Festplatten in Gang setzten.

"Haben Sie dich noch nicht gefragt, ob du nicht nur noch in der Muggelwelt leben möchtest, June?" Fragte Simon.

"Dann würden die von mir ja nichts neues mehr erfahren, Simon. Aha, jetzt geruht er sich zu melden", sagte sie, während das Betriebssystem hochfuhr. Wenige Minuten später hatte Aurora eine E-Mail an Zachary Marchand, dessen Adresse sie von der in Millemerveilles untergekommenen Martha Andrews erhalten hatte, die Informationen Simons und die Anfrage, ob an dieser Erfindung alles korrekt sei und ob Wishbone das erfahren könne, falls es damit möglich sei, Vampire und andere lichtscheue Kreaturen vor der Sonnenstrahlung zu schützen. Simon knurrte nur, daß das an Industriespionage grenze und sein Vater dadurch eine Menge Geld verlieren könnte.

"Sollte sich rausstellen, daß diese Schutzfolie wirklich so gut ist, müssen wir davon ausgehen, daß auch Mißbrauch damit getrieben werden kann, eben von Vampiren", fuhr Aurora ihn an. "Als Heilerin bin ich immer der Allgemeinheit verpflichtet, nicht der Wirtschaft. Das gilt für die Welt deines Vaters wie die Welt, in der du und ich leben, Simon. Du wärest wohl auch nicht zu uns gekommen, wenn du dir nicht unsicher gewesen wärest, was an dieser Sache dran ist, oder?"

"Wie meinst du das bitte, Frau Heilerin?" Schnarrte Simon. Er sah in der schwarzhaarigen Hexe mit den graugrünen Augen jetzt eher eine Spielverderberin als eine Traumfrau.

"Das du ja auch den Mund hättest halten können und deinen Vater Geschäfte mit vielleicht magisch manipulierenden Leuten hättest machen lassen, wenn dir der Profit wichtiger wäre als die Zaubereigesetze", erwiderte Aurora. Simon mußte zugeben, daß das stimmte. Und die Angst, daß Aurora mit ihrer alptraumhaften Vorstellung doch recht haben könnte, hielt ihn von weiteren Einwänden ab.

"Huch, schon eine Antwort?" Wunderte sich Aurora, als nach nur zehn Minuten das akustische Signal für neue Nachrichten erklang. Hier in Sydney war es jetzt fünf uhr Nachmittags. Zachary saß in New Orleans. Dort hatte er also ein Uhr Morgens. Eigentlich Schlafenszeit.

Hallo Ms. Dawn!

Ich werde Ihren Bericht auf Papier drucken und an die Abteilungen intelligente Wesen, Strafverfolgung und Muggelangelegenheiten weitergeben, sowie das LI informieren. Ihre Anfrage hat mich sichtlich betroffen gemacht. Ich ging bisher davon aus, daß Vampire auch mit Sonnenkrauttinktur nicht länger als zehn Minuten in der Sonne rumlaufen können, ohne zu verbrennen. Mit einer derartigen Schutzmembran könnten sie Tage unterwegs sein, vor allem, wenn sie die Anhänger der Dame sind, die im Sommer schon versucht hat, unsere Gemeinschaft zu erpressen. Als wenn wir hier nicht genug Ärger hätten, wo diese Entomanthropin immer noch herumfliegt und wir nicht wissen, wo die sitzt, die sie uns auf den Hals gehetzt hat. Gestern haben die Kollegen in New York einen Drogenkurier erwischt, der zehn Giftkapseln im Körper hatte, die mit purem Schlangenmenschengift gefüllt waren. Es war nett von unserer gemeinsamen Bekannten Martha, mich früh genug zu informieren. Wenn jetzt auch noch Vampire mit Sonnenschutzhäuten herumliefen, nicht auszudenken.

Noch einmal vielen Dank für die Inforrmationen! Grüßen Sie bitte Ihre Verwandten!

mfg

Zachary Marchand

"Toll, da hat mein dad einen Draht zu superguten Sonnenschutztextilien, und dann heißt es bald, daß die nicht mehr gemacht werden dürfen, weil dann echt die Enkel von Dracula damit in Sydney an den Strand gehen und die Nordhalbkugeltouristen anschmachten, die gerade bei uns kostenlos durchgegrillt werden", seufzte Simon. "Mein Vater enterbt mich und setzt mich morgen auf die Straße, wenn der das rausfindet."

"Dann sprechen wir für dich bei Ministerin Rockridge vor, ob du nicht in eine deinen Kenntnissen und Fähigkeiten zuträgliche Abteilung übernommen wirst, Simon", erwiderte June Priestley beruhigend. Vielleicht war das mit der Sonnenschutzfolie auch ein gigantisches Betrugsmanöver. Dann würde Simons Vater sogar froh sein, nicht mit Hochstaplern Geschäfte zu machen. Und falls diese Schutzmembran doch existierte ... Dann könnte die warnung davor vielleicht schon zu spät kommen, falls doch ein Vampir davon Wind bekam und diese Erfindung für sich und seine Artgenossen nutzen wollte.

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"Geht jetzt hinaus und verbreitet euch über das ganze Land. Greift die Schule und die Zentren der Zaubererwelt an! Laßt keinen so weiterleben wie bisher!" Schickte Lord Voldemort über Sharanagots Stab aus. Das galt auch für seine verbliebenen Schlangenmenschen, die nun losstürmten, um ohne Angst vor den Wertigern alles und jeden zu beißen, der oder die sich in den Weg stellte. Der Februar würde das Ende des europäischen Widerstandes gegen ihn bringen. Dann würden auch die dorthin geflüchteten Schlammblüter ausgerottet sein.

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Sonnenglanz fühlte die Anspannung. Seit Wochen suchte sie mit ihrem Gefährten Feuerkrieger nach den Feinden, den Kriegern Nagabapus. Doch dieses Frankreich war groß. zwar nicht so groß wie ihre geliebte Heimat Indien. Aber hier wohnten so viele Menschen in so vielen lauten Städten mit grellen Lichtern, die selbst den Nachthimmel verfälschten. Sich da heimlich zu bewegen war nicht einfach. Und sie hatten nach der Begegnung mit der schwangeren Zauberin, die laut Ian Wellingford eine Menge Kraft ausgestrahlt hatte, beschlossen, sich nicht auf einen offenen Kampf mit deren brummenden Geschöpfen einzulassen. Sie hatten die Angriffe der Drachen mitbekommen und wie diese zurückgeschlagen wurden. Nur ab und an hatten sie einen Schlangenkrieger zu fassen bekommen und ihn zu fünft niederkämpfen und töten können. Die geflügelten waren einfach besser dazu im Stande. Die brauchten nur einen hochzuheben und in der Luft zu halten. Dann verschwand dessen Kraft, und er konnte mit dem Langen Stachel durchbohrt werden.

"Was machen wir, wenn die Krieger Nagabapus sich schneller vermehren? Dann müssen wir auch mehr werden", sagte Feuerkrieger doch immer. Er war ein Kämpfer. Das Suchen und Warten mißfiel ihm. Sonnenglanz mußte ihn immer wieder beruhigen, daß der Erfolg des Jägers nicht durch Kraft und Schnelligkeit, sondern Geduld und Ausdauer kam.

"Ian soll mit uns noch mal auf die große Insel rüber, wo dieser Drecksack Voldemort wohnt", knurrte Feuerkrieger. Er lauschte. Doch auf den Namen Voldemort reagierte hier nichts und niemand. "Ich habe nämlich auch gelernt, daß der Fisch immer vom Kopf her stinkt. Wenn wir diesen Mistkerl kriegen, können wir den Hahn ganz zudrehen."

"Das haben unsere Brüder und Schwestern schon versucht. Aber er läßt sich nicht finden. Im Moment scheint er nicht einmal im Lande zu sein", erwiderte Sonnenglanz. "Also können wir uns ganz auf die Jagd nach den Dienern Nagabapus machen."

"Wenn er dieses Schlangenzepter hat, kann er doch gefunden werden", stellte Feuerkrieger fest. Seine Gefährtin verzog darüber nur das Gesicht. Nicht schon wieder dieser Punkt! Sie sagte aber keinen Ton und dachte ihrem Gefährten auch nichts zu.

Der Januar verging. Unvermittelt brach die große Flut der Ungeheuer aus ihrem Versteck los, nachdem erst Wochen lang aus allen Teilen des Landes umgewandelte Menschen zum Sammelpunkt gelaufen, gefahren, gekrochen oder geschlichen waren. Jetzt sollten sie aufbrechen.

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"Und du wolltest zu ihnen?" Fragte Daianira Hemlock noch einmal Berno, als sie erfuhr, daß die vor Lager vier postierten Insektenmonster tatsächlich die ersten Schlangenmenschen erwischten. Sie trug das Medaillon nicht, weil Anthelia ihren Schlaf brauchte und sie nur koordinieren mußte, was wer wo zu tun hatte. Bernard erklärte noch einmal, daß er jemanden suchen sollte, der sich als Kenner der sogenannten Zaubererwelt zurechtfand. Daianira nickte.

"Gut, dann können wir nur zur offenen Jagd rufen", sagte sie und mentiloquierte an Leda und Louisette, daß die Entomanthropen nun jeden Schlangenkrieger gnadenlos vernichten sollten, auch wenn dabei unschuldige Menschen starben. Danach legte sich Daianira schlafen. Sie lauschte auf ihr Herz und hörte auch das Anthelias. "Wir werden noch ein sehr gutes Paar werden, meine Tochter", dachte sie. "Aber erst müssen wir diese Schlangenbrut loswerden, und dann die überzähligen Entomanthropen vernichten, bevor wir noch eine Valery Saunders kriegen."

Am nächsten Morgen erfuhr Daianira, die auf Anweisung von Leda im sicheren Versteck zu bleiben hatte, daß die Schlangenkrieger Paris und das Dorf Millemerveilles angriffen. Daianira schnarrte, daß sie sich das ansehen müsse und holte ihren Besen. Die Entomanthropen sollten weiterhin Lager vier bewachen, bis sicher war, daß von dort kein Schlangenmensch mehr loslief. Sie flog in die Nähe von Millemerveilles.

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Florymont Dusoleil und Joseph Brickston sahen sich an. "Dann werde ich mal losfliegen, Joseph. Sollte mir dabei was passieren, möchte Catherine bitte meinen Vater anschreiben, damit Camille und die Kinder weiterhin versorgt sind."

"Du wirst zurückkommen", sagte Joe Brickston. Die Ballons sind sicher genug."

"Will ich hoffen", erwiderte Florymont, bevor er in die Gondel eines nach Joes Plänen gebauten Heißluftballons einstieg und den mit brennbaren Gasen betriebenen Brenner losfauchen ließ. Der bereits aufgerichtete Ballon hob ab, um keine zehn Meter weiter oben über Halteseile mit vier Besenreitern verbunden zu werden, die das einfache Luftvehikel mit großer Fahrt davonzogen.

"Hundertzwanzig Heißluftballons", dachte Joe, als er überall um sich herum die Flammen der ersten von Nichtmagiern gebauten Flugapparate aufleuchten sah. "heute werden wir euch aus der magischen Welt beweisen, daß wir sogenannten Muggel doch was wert sind", dachte er.

"Joe, du wirst nicht mit einem der verbliebenen Ballons mitfahren", sagte Catherine.

"Halt stop, Florymont fährt, und die anderen Familienväter wie Bruno, Gustav und Monsieur Dumas fahren auch. Das ist mein Beitrag für die Verteidigung deines Heimatdorfes, Catherine, wenn ich schon mit Antoinettes Zauberkraft rumlaufen muß, ohne darum gebeten zu haben."

"Ja, aber die anderen können disapparieren, wenn es Komplikationen gibt. Du leider nicht. Dazu reicht die von dir so undankbar entgegengenommene Kraft leider nicht", schnarrte Catherine.

"Catherine, übe deine Mutterinstinkte an Claudine aber nicht an mir. Reicht mir schon, daß deine Tante meint, ihre Schwester vertreten und mich rumgängeln zu müssen", schnarrte Joe und peilte den letzten Ballon an, der startbereit war. Überhaupt schon eine großartige Sache. In nur drei Wochen hatten sie so viele Heißluftballons bauen können. Joe war einmal mitgefahren. Dieses erhabene Gefühl, direkt mit der Luft verbunden zu sein, ohne in eine geschlossene Kabine eingesperrt zu sein unter den Wolken zu schweben, hatte ihn wieder zum kleinen Jungen zurückschrumpfen lassen. Und jetzt sollte er nicht mithelfen, Millemerveilles zu verteidigen? Eine Gemeinheit war das. Doch er wußte auch, daß Catherine genauso unerbittlich sein konnte wie ihre Mutter. Martha, die eine Überdosis aus Antoinettes Lebensquelle abbekommen hatte, bekam das häufig genug zu spüren, wenn sie von Catherine oder Tante Madeleine zu magischen Grundübungen angetrieben wurde. Er fragte, ob sie nicht mit ihm mitfahren würde. Dann könnte sie ihn und sich zusammen zurückbringen, wenn der Ballon abstürze. Doch Catherine lehnte es ab. Sie winkte Monsieur Montpelier aus dem Ministerium und erklärte ihm, was zu tun war. Dieser nickte und eilte zum letzten Ballon. Kaum loderte die Brennerflamme, schwirrten auch schon vier Besen heran, die den Ballon in Schlepp nahmen.

"Ich will dich nicht zum kleinen Jungen degradieren, Joe. Ich fürchte nur, daß die Idee zwar anwendbar ist, aber von den Schlangenkriegern schnell bekämpft wird. Wenn Marthas und dein Plan wirklich so umgesetzt wird, wirkt keine Magie mehr, wenn ein Schlangenkrieger im Netz hängt. Dann bleibt nur der Sprung über Bord und die Disapparition."

"Und ich dachte schon, mit zwei gesunden Kindern hätte ich mein Soll bei dir erfüllt", schnarrte Joe. Eine schallende Ohrfeige war die Antwort darauf. Catherine sah ihn mit verengten Augen an, grapschte ihn mit der linken Hand an den Hals und zog ihn wütend mit sich in eine Disapparition. Er meinte, durch ein buntes, flackerndes Gummirohr gedrückt zu werden. Das war nicht wie schon mal, wo sie ihn mitgenommen hatte und er meinte, den ersten und einzigen LSD-Rausch seines Lebens wiederzuerleben. Also wirkte Antoinettes Kraft wirklich auf ihn ein, erkannte er, bevor sie vor dem Haus standen, in dem er nun seit Ende Oktober wohnte.

"Du gehst da jetzt rein zu Martha und bleibst da. Sei froh, wenn du heute abend was zu Essen bekommen darfst!" Schnaubte Catherine mit wutrotem Gesicht. Joe riß sich los und eilte vom Haus weg. Er wollte sich hier in diesem Dorf nicht als dummer Junge runtermachen lassen, der sich von seiner Frau herumkommandieren lassen mußte. Da apparierte Jeanne Dusoleil genau in seiner Laufbahn. "Oi, nicht umschmeißen, Monsieur Brickston!" Rief sie. Dieser bremste abrupt ab. Da war Catherine bei ihm.

"Dein Vater wollte noch zwei Jungs haben. Und deine Enkel wollen einen Großvater haben. Also geh jetzt ins Haus! Sofort!"

"Da reden wir noch mal drüber, Catherine, schnarrte Joe und ging mit Trotz und widerwillen in jeder Bewegung zum Haus Professeur Faucons zurück.

"Hallo, Catherine, kam ich jetzt ungelegen?" Fragte Jeanne leise.

"Nein, du hast diesen Sturkopf noch rechtzeitig abgebremst", fauchte Catherine. "Der meint, mit diesen Ballons könne er als Muggel genauso gegen die Schlangenkrieger kämpfen wie dein Vater und die anderen. Er will mir das nicht glauben, daß es immer noch gefährlich ist."

"Meine Mutter hätte meinen Vater auch gerne ans Bett gebunden. Aber sie weiß, daß diese Ungeheuer abgewehrt werden müssen", seufzte Jeanne.

"Ja, nur daß dein Vater disapparieren oder auf einen Besen umsteigen kann."

"Ich habe Bruno fliegen lassen, Catherine. Denkst du nicht, du tust Joe unrecht, wo er die Idee hatte?"

"Das ich ihn ins Haus jage, wenn die anderen kämpfen? Ich weiß, daß er sich gerne beweisen möchte, uns Hexen und Zauberern zeigen möchte, wie wichtig die Erkenntnisse der Muggelwelt sind, weil er meint, wir würden das immer noch nicht würdigen. Dabei könnte er sich leicht übernehmen. Das will ich nicht. Du läßt Bruno ja nur mitfliegen, weil er sich auch selber retten kann, wenn der Ballon abstürzt. Sonst würdest du ihn auch zurückhalten."

"Kann ich nicht genau sagen. Aber das von eben hätte ich ihm vielleicht auch gesagt, daß sein Vater noch einen Enkelsohn haben möchte und Vivianes Kinder einen Großvater. Aber jetzt fliegen sie los."

"Was möchtest du bei oder von uns?" Fragte Catherine Jeanne.

"Denises Hausaufgaben abgeben. Maman hat ihr verboten, rauszulaufen, weil wir nicht wissen, ob diese Ungeheuer nicht durch den Schutzdom kommen. Je nachdem, wie lange der Angriff dauert soll die Schule ja zubleiben." Catherine nickte und übernahm von Jeanne die Hausaufgaben. "Wo ist die Kleine?"

"Bei Barbara. Ich appariere gleich wieder da. Ich hoffe, wir kriegen diesen Angriff abgewehrt." Catherine nickte und ging nach kurzem Abschied ins Haus zurück.

Von dort aus beobachteten sie alle schweigend, wie die Ballons zur Dorfgrenze gezogen wurden, wo sie gemäß Konstruktionsplan ihre Drahtnetze auswerfen und die Schlangenmenschen wie mit Fischerbooten fangen sollten. Wenn die Schlangenmenschen festsaßen, sollte der Seilzug im Ballon betätigt werden, und unter voller Brennerkraft jeder nach und nach angehoben und solange in der Luft gehalten werden, bis der magische Schutz versiegt sei. Die Besenreiter, alles Sicherheitszauberer aus Millemerveilles, sollten dann mit Todesflüchen oder Schockern draufhalten, je nachdem, ob es natürlich entstandene oder mit dem Giftkonzentrat erzeugte Exemplare waren. Wenigstens konnte man die nun unterscheiden.

Stunden lang schwiegen sich alle an. Viviane meldete immer wieder, daß die Schlangenmenschen nicht durch den Dom kamen und deshalb locker aufgesammelt und kampfunfähig gemacht werden konnten. Dabei seien bereits fünfzig Menschen befreit worden. Doch es wären mehr natürliche Exemplare, die durch einen Biß zu Schlangenmenschen geworden seien. dagegen half dann nur der Todesfluch. Babette saß neben ihrem Vater und blickte ihn immer wieder fragend an. Doch er sah Catherine an und schwieg. Martha war das irgendwann zu bunt. Sie sagte nur:

"Joe, männlicher Stolz ist nur solange gut, solange er mehr einbringt als kostet. Deine Tochter kann nichts dafür, daß Catherine möchte, daß du hierbleibst. Also sprich bitte mit ihr über irgendwas, und sei es das Wetter!"

"Gibt Regen, überall fliegen die Heißluftballons tief", grummelte Joe. Babette sah Martha an. Diese fragte sie, was sie wolle.

"Kannst du mir verraten, wodurch das kommt, daß heiße Luft leichter ist als kalte. Papa ist ja im Moment stur, weil Maman ihn nicht mit einem von den Ballons fliegen läßt."

"Es heißt fahren, Babette, weil ein Ballon keine Flügel hat", schnarrte Joe.

"Besen haben auch keine Flügel und fliegen doch, bäh!" Entgegnete Babette trotzig und streckte ihrem Vater die Zunge heraus. Dieser holte aus, um seiner Erstgeborenen eine runterzuhauen. Doch Martha fing seinen Schlag ab und zischte: "Willst du ihr zeigen, daß du zum kleinen Jungen regrediert bist, Joe. Soll ich gucken, welche von Claudines Windeln dir passen, falls du auch verlernt hast, wie ein großer Mensch auf die Toilette geht? Babette, mit der Zunge rausstrecken ist nicht anständig", sagte sie dann noch, um zu klären, daß sie Babette nicht komplett verteidigen wollte. "Es ging nur um eine Ausdrucksart. Die Leute ohne Magie sagen zu Ballons und Zeppelinen, daß sie fahren, weil sie sie als in der Luft schwimmende Schiffe sehen. Und Schiffe fahren eben. Wieso das so ist, daß ganz heiße Luft leichter ist als kalte liegt daran, daß sie beim heiß werden mehr Platz braucht. Wenn aber keine neue nachfließt, wird sie leichter, wenn sie sich breitmacht, weil dann in einem Liter Raum weniger Luft drin ist. Sie wird dünner. Dabei verdrängt sie aber immer mehr von der Luft draußen, die ja schwerer ist. Wie bei den Schiffen auchdrückt die verdrängte Menge Luft oder Wasser mit ihrem Gewicht gegen das, was darin herumschwimmt oder schwebt. Je mehr, desto stärker drückt sie das weg. Wenn das größer werdende aber auch immer leichter wird, wird es auch immer stärker nach oben gedrückt. Auftrieb heißt das. Das hatten wir doch vor kurzem bei euch im Unterricht mit der vollen und der leeren Dose im Wasserkessel."

"Achso, dann ist das nicht wichtig, wie schwer die Luft ist, sondern wie viel Platz sie wegnimmt", vermutete Babette. Martha berichtigte sie, daß das Gewicht schon wichtig sei, weil ein volles Schiff ja auch tiefer im Wasser lege, obwohl es die gleiche Menge Wasser wegzudrücken versuchte wie ein leeres. Damit kam sie dann auf die Art, den Auftrieb zu berechnen und erwähnte den Griechen Archimedes, der diesen Zusammenhang herausgefunden hatte.

"Tja ja, der alte Archimedes, ging nur zu Fuß, also per Pedes", witzelte Joe, wohl in Anlehnung an seine alten Oberschulzeiten. Martha nickte und grinste amüsiert. Babette hatte aber das eisige Schweigen gebrochen. Catherine fragte nun Martha, wie das mit dem Badewannenstrudel war, warum der sich immer in dieselbe Richtung drehte. Martha nahm die Gelegenheit wahr und erklärte mit einfachen Worten die ihr noch geläufigen Naturgesetze. Damit überspielte sie die unangenehme Warterei. Doch erst fünf Stunden später meldete Vivianes Bild, daß die Erste Welle der Schlangenmenschen vollständig erledigt worden sei.

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Voldemort fühlte wieder die unheimliche Ausstrahlung Volakins. Er hatte diesen entstellten, aus sich heraus blau schimmernden Vampir nun schon zum dritten mal getroffen. Volakin hatte von ihm, Lord Voldemort, verlangt, ihm die Schlangenmenschen vom Hals zu halten. Denn zwei oder drei waren über die Grenze gekommen und hatten sich vermehren wollen. Voldemort hatte jedoch nur geantwortet, daß die Schlangenkrieger seine Streitmacht seien und Europa sichern würden. Volakin hatte ihm angeboten, diese Sicherung für ihn im Osten Europas zu übernehmen. Voldemort hatte über dieses Angebot nachgedacht. Am dreißigstenJanuar sagte er dem Vampir:

"Ich schicke meine Schlangenmenschen in Westeuropa morgen los. Wenn du mir helfen willst, Volakin, dann stell dich ihnen nicht in den Weg, sondern besorge mir den Mitternachtsdiamanten. Ich weiß, daß Nyx ihn noch hat, und daß diese Schlampe in den vereinigten Staaten von Amerika lebt. Am Besten reist du dorthin und holst sie dir. Aber dann müßtest du ja über fließendes Wasser."

"Du wagst es, mich zu verhöhnen, Voldemort?" Schnarrte Volakin und feuerte aus beiden Händen blaue Lichtblitze ab, die Voldemort umtobten und ihm ein heißes Prickeln auf der Haut verursachten. Voldemort lachte nur darüber. "Ich bin unverwüstlich gegen alle Elementarmagie, du Wurm. Wie auch immer du das hingekriegt hast, so zu werden - mich kannst du damit nicht entmachten. Und ich weiß auch, daß du mein Blut nicht trinken kannst. Ich habe einen Trank aus Knoblauch, zerriebenen Kieseln aus einem Gebirgsbach und Mondstein mit Einhornhorn getrunken. Das wehrt auch deine Fangzähne ab."

"Du wagst es, mir, dem mächtigsten Vampir aller Zeiten, dem unter der Sonne bestehenden, zu widerstehen und hochnäsig zu reden?" Schnarrte Volakin und ließ weitere Salven von Lichtblitzen auf Voldemort einschlagen. Doch dieser lachte nur.

"Du bist nicht der mächtigste Vampir, nur weil du was mit dir angestellt hast, daß dich nicht in der Sonne verbrennt. Crucio!" Volakin schrie einen Moment auf, als der Folterfluch ihn traf. Dann zerstoben blaue Flammen von ihm aus, und er keuchte. "Deine Schlangenkrieger sind hier nicht erwünscht, Voldemort. Ich ging davon aus, daß wir uns einigten."

"Du hast dich angemaßt, mir gnädigerweise zu erlauben, Rußland nach vorhergehender Erlaubnisanfrage zu betreten. Ich mußte prüfen, ob ich dieses große Land überhaupt noch einmal besuchen will. Jetzt habe ich genug Krieger, um dein Reich zu verwalten. Du hast die Chance, zu leben und zu dienen, oder von meinen getreuen Kriegern zertrampelt zu werden."

"Avada Kedavra!" Schrie Volakin und hielt nun seinerseits einen Zauberstab in der Hand. Ein gleißender grüner Blitz sauste auf Voldemort zu und traf ihn. ER fühlte einen Moment lang einen bohrenden Schmerz in Kopf und Herz und hörte die flehenden Schreie: "Nicht Harry! Nein, töte mich! Nicht Harry!" Dann kehrten seine Sinne zurück. Beide Kontrahenten lagen auf dem Boden. Volakins Gesicht hatte das merkwürdige Blaue verloren. Voldemort war nichts zugestoßen. Er lachte.

"Das haben schon einige versucht, blauer Blutfürst. Oh, dein Blau ist ausgegangen. Hast du dich verausgabt?"

"Ich bin der mächtigste Vampir und werde es dir beweisen, indemich deine Schlangenbrut zurück in den Sumpf schleudere, aus dem sie gekrochen kommt. Und den Mitternachtsdiamanten werde ich schon kriegen. Schon bald."

"Das glaube ich nicht, Volakin. Dazu müßtest du die Trägerin besiegen, die nun hundertmal stärker ist als vorher. Sie ist jetzt so stark wie eine Tochter Lahilliotas. Kennst du die vielleicht auch?"

"Du wagst es, ihren Namen zu nennen. Ich bring dich um. Ich zerkoche dich im Licht ... Verdammt!" Einige Blaue Funken entfuhren Volakins Hand. Doch mehr passierte nicht. Voldemort fühlte jetzt auch, daß die unheimliche Kraft, die Volakin ausstrahlte, nicht mehr vorhanden war. Irgendwas in ihm war verbraucht, erloschen, ausgebrannt. Sollte er diesem Wicht da jetzt den Todesfluch aufbrennen? Nein, er hatte eine bessere Idee. Er erhob sich und sagte nur fünf Wörter: "Ohne Mitternachtsdiamant bist du tot."

"Das wirst du erleben, wie ich es doch noch schaffe, dein schmutziges Blut zu trinken oder es meinen Dienern zum Fest auszuschenken", blaffte Volakin. Seine Macht war angeknackst. Voldemort wußte das. Doch der nutzte das nicht aus.

"Du bist nichts wert", sagte Voldemort. "Meine Krieger werden dich endlich aus der Geschichte dieses Reiches tilgen und den Beginn meiner eigenen schreiben. Gehab dich wohl, blauer Blutfürst!" Mit diesen Worten verschwand der dunkle Lord. Volakin keuchte. Dieser Magier war wahrlich mächtig. Doch er würde ihn besiegen. Er würde dieser Nyx den Mitternachtsdiamanten wegnehmen und damit zum Kaiser der Vampire, zum blauen Blutgott werden.

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"Sie greifen Millemerveilles an, scheitern jedoch an dem Dom Sardonias", frohlockte Anthelia, die mal wieder mitbekommen durfte, was in der Welt um sie herum ablief.

"Diese Ballons sind wirklich eine geniale Idee, um den Magieschwund flugfähiger Objekte auszugleichen", sagte Daianira, die auf ihrem Besen in sicherer Höhe und Entfernung durch ein Weitblickfernglas spähte, das mehr als zwei Kilometer wie dicht davorstehend zusammenschrumpfte. Sie fühlte eine sachte Bewegung im Schoß. Anthelia freute sich offenbar so sehr, daß ihr Körper reagierte. "Ich spüre dich, kleines. Nicht so unbeherrscht. Diese Monstren sind zu gefährlich, um uns zu freuen."

"Weißt du, wer in meiner alten Heimat auf die Idee kam, Heißluftballons zu verwenden?"

"Was hat Louisette erzählt? Die Mutter des Jungen Julius ist dort untergebracht, sowie der Schwiegersohn von Professeur Blanche Faucon, der ich vor dreißig Jahren schon einmal begegnet bin, wo Catherine gerade zwei Jahre alt wurde. Womöglich haben sie die Konstruktionspläne geliefert, um die ersten Muggelfluggeräte nachzubauen. Sieh, Kleines. Die Schlangenmenschen werden von ihnen wie Fische im Netz gefangen. Dieser Seilzug mit den vielen Rollen macht, daß der im Ballon sitzende sie dann nur noch mit der Kurbel hoch in die Luft heben muß. Eine sehr einfache und doch durchschlagende Methode, und das ohne Magie. Damit haben sie nicht gerechnet."

"Wirst du die Entomanthropen hinschicken?" Wollte Anthelia wissen.

"Ich denke, sie können dieser Gefahr alleine Herr werden. Wir müssen die jagen, die die Städte angreifen", erwiderte Daianira und flog auf ihrem Besen davon, das Wachpulk Entomanthropen zu einer großen Traube um sie herumfliegend.

"Wir müssen Beauxbatons suchen. Dort werden diese Bestien ebenso zuschlagen. Ich möchte, daß die Schule gerettet wird. Denn dort lernten die größten Hexen aller Zeiten."

"Ich habe mich entschieden, die Schlangenwesen aus den Muggelsiedlungen herauszuhalten. Sie dürfen sich dort nicht ungehindert vermehren, Thalia."

"Du hast recht, Mutter. Verzeih mir bitte", entgegnete Anthelias Stimme reuevoll wirkend. Daianira dachte nur, daß sie eh nicht an allen Orten zugleich auftauchen konnte. Doch wo sie ohne Ledas Veto sein durfte würde sie eingreifen.

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Der Erste Februar kam und ging. Mit ihm liefen die ersten einhundert Quadratmeter Solex-Folie vom Band und wurden gleich zu verschiedengroßen Schutzkombinationen in allen Hautfarben geschnitten und mit tausenden von Stichen zusammengenäht. Denn Hitzestrahlen und Elektrodenstrahlen konnten die Folie unmöglich zusammenschweißen. Wenn die von Sanitech Industries die Maschinen für die Anzüge hatten, konnten die die herstellen. Seine Firma würde dann nur noch Flächenstücke der Folie ausliefern. Direktor McGregor freute sich über den schnellen Abschluß mit Sanitech. Er war bereits in Verhandlungen mit einem General von den Marines. Doch wie schon befürchtet hatten die Militärbuchhalter die Gelder so stark zusammengestrichen, daß jede Neuerung nur dann eine Chance hatte, wenn sie gebraucht wurde. Da war er auf dem zivilen Sektor im Moment besser dran.

"Direktor McGregor, ein Sonderagent Giorgio Moretti vom FBI möchte Sie sprechen", meldete seine Sekretärin, als McGregor gerade weitere Interessenten bedachte. FBI? Was wollte die Bundesermittlungsbehörde von ihm? Er griff zum Telefonhörer und drückte die beiden Tasten, die ihn mit dem Büro seines hauseigenen Rechtsanwalts Bensen verbanden. "Gerald, kommen Sie bitte rüber zu mir! Jemand von der Hoover-Truppe begehrt eine Audienz. Könnte nötig sein, Sie dabei zu haben."

"Bin schon unterwegs", erwiderte Bensen.

"Nancy, schicken Sie den Herrn Sonderagenten herein!" Er drückte auf die Türsperrenentriegelung, die als Extrasicherheit eingebaut war, um nicht doch überfallen zu werden, wenn die Gangster schon bei seiner Sekretärin waren. Und die hatte zwar verwundert aber nicht verstört geklungen. Herein trat ein schwarzhaariger Mann ende Dreißig, der sogleich seine Dienstmarke und einen Ausweis schwenkte.

"Ihr Pförtner hat mir meine Waffe abgenommen. Sie sichern sich aber gut ab, Sir", sagte der Besucher. Dann stellte er sich korrekt vor. McGregor bot ihm den Besucherstuhl an und vertröstete ihn, daß er noch seinen Rechtsexperten hergebeten habe, sollte es um juristisch relevante Sachen gehen.

"In gewisser Weise tut es das. Wir müssen nämlich prüfen, ob Sie mit internationalen Industriespionen in Berührung gekommen sind." McGregors geschäftsmäßiges Lächeln gefror für einen Moment. Der Fed meinte doch nicht etwa Sanitech?

"Herr Direktor, Dr. Bensen ist hier", meldete Nancy. "Soll reinkommen", erwiderte der Direktor und öffnete die Tür. Als der Anwalt auch noch da war, eröffnete Moretti, daß im Hafen von New Orleans jemand verhaftet worden sei, der Pläne verschiedener Projekte dabei hatte, die alle aus Firmen des Westens und Mittelwestens stammten. Jetzt gehe es darum, zu prüfen, ob in den letzten Tagen oder Wochen jemand sich für inovative Projekte der Calchem interessiert und Unterlageneinsicht erhalten habe.

"Da passen wir schon drauf auf, daß die Formeln und Verfahren niemandem frei zur Einsicht vorliegen", sagte McGregor. Dann ließ der FBI-Agent eine Bombe platzen.

"Der verhaftete Spion behauptete, sich für Verfahren zu interessieren, die Schutz gegen solare und radioaktive Strahlung böten. Die meisten Unterlagen betrafen Abschirmmaterialien, Halbwertsdicken und Elastizitäts- und Gewichtstabellen. Wir fürchten, daß jemand einem mit Terroristen paktierenden Land die Schutztechnik zum Aufbau atomarer Fertigungsanlagen beschaffen soll. Dann wäre es keine einfache Industriespionage, sondern eine ausgewachsene Staatsspionage in Tateinheit mit Unterstützung terroristischer Vereinigungen."

"Wir haben niemanden Unterlagen überlassen", sagte McGregor. "Aber ich kann Ihnen gerne meine Mitarbeiter herkommen lassen, die in dem Bereich den Sie betonten tätig sind. Wünschen Sie dies?"

"Auf jeden Fall", erwiderte der Agent beherrscht aber dennoch sehr dringend klingend. So tat ihm McGregor den Gefallen.

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Sonnenglanz fühlte die Nähe des Schlangenkriegers. Sie warf sich nach vorne und wurde zur überlebensgroßen Tigerin mit goldenen Streifen im Fell. Feuerkrieger folgte ihrem Beispiel zusammen mit den fünf Straßenjungen, die sie zu ihrer Kampftruppe hinzugezogen hatten. Da kam er aus dem Kanal herausgestiegen, dieser Naga, dieser Schlangendämon, im Moment in menschlicher Gestalt. als der die Tiger sah sprang er blitzartig zurück in den Schacht. Feuerkrieger und drei der Burschen hinter ihm her. Sie schlugen hart auf. Doch den wergestaltigen Wesen machte das nichts aus. Die Tiger federten den Aufprall gekonnt ab, während der Schlangenmann hier unten zu einer blau-schwarzen Abscheulichkeit wurde. Sofort gingen die Bestien im Fell auf die im Schuppenkleid los, versuchten den sich schnell windenden und harte Schläge austeilenden Gegner zu packen, um ihn wie einige seiner Artgenossen vorher zu vierteilen. Der Schlangenkrieger biß nach den Tigern, konnte ihnen damit jedoch nichts mehr antun. Denn das Gift drang nicht durch den magisch verstärkten Pelz und würde eh keine Änderung mehr bewirken. Ein weiterer Schlangenkrieger tauchte lautlos aus dem Kanalstollen auf. Diesmal war es ein grün-schwarzes Schuppenscheusal. Jetzt geriet die taktische Überzahl der Wertiger in Unordnung. Denn auf einen Schlangenkrieger mußten vier Wertiger kommen, um ihn zu vernichten. Allerdings würde es auch gehen, dachte Feuerkrieger und brach aus dem Angriffspulk seiner Daseinsbrüder aus, um mit einem wuchtigen Sprung den zweiten Gegner zu rammen. Er stieß ihn mit Vorderpranken und Zähnen voran. Der Schlangenmann hieb um sich, verfehlte Feuerkrieger jedoch. Dieser war nun voll im Rausch der Wergestalt und damit um ein vielfaches schneller und stärker. Dann hatte er den Schlangenmann in der entscheidenden Position. Er hebelte ihm das linke Bein mit der rechten Vorderpranke weg und warf sich und ihn in die stinkende Brühe hinein, die das Abwasser aus Millionen Haushalten vereinte. Der Schlangenkrieger erkannte zu spät, was der Wertiger da mit ihm anstellte. Ehe er gegensteuern konnte, trieben sie schon in der Mitte des breiten Fäkalienflusses. Feuerkrieger fühlte, wie die Kraft aus seinem Gegner wich und sah, wie dieser sein Schuppenkleid verlor, daß bisher Krallen und Zähnen wie ein meterdicker Stahlpanzer getrotzt hatte. Der Schlangenkrieger versuchte noch einmal, die Nähe der schützenden Erdoberfläche zu finden. Doch da war es schon zu spät. Feuerkrieger schlug ihm die Zähne in den Hals und biß ihm mit häßlichem Knacken die Halswirbel, Adern und Muskeln durch. Der Kopf des Besiegten rutschte von den Schultern und trieb im Abwasser davon, während der Torso des Toten unter der schmierigen Oberfläche verschwand. Mit schnellen Kraulbewegungen kehrte Feuerkrieger ans Ufer zurück, wo gerade der erste Schlangenmann von den drei anderen Tigern umkämpft wurde. Diese trieben den Gegner nun mit vereinter Kraft ins Wasser und bugsierten ihn in die Mitte. Keine Minute später trieb eine in fünf furchtbar zerfledderte Einzelteile zerlegte Leiche ab.

"Wer hier durch will muß da rein und dann totgemacht werden", dachte Feuerkrieger seinen Helfern zu und postierte sie so, daß sie beide Stollenrichtungen im Auge behielten. Feuerkrieger eilte zurück zum Ausstieg und stieß sich so kräftig ab, daß er ganz leicht mit denVorderpranken den Rand erwischte und sich mit einem kaum anstrengenden Ruck hinauskatapultierte.

"Zweitausend Schritte weiter nach Sonnenaufgang. Hmm, das Wasser ist kein gutes Badewasser", dachte Sonnenglanz, die laut schnüffelnd ihren Gefährten untersuchte.

"Tja, das ist die Stadt, Mädel. Irgendwo muß die ganze Scheiße ja hin."

"Ja, aber du mußt da nicht ... Vergiß es. Ging ja nicht anders", knurrte Sonnenglanz in Gedanken. Dann ging die Jagd weiter durch die Stadt Avignon.

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Wir kommen mit dem Gedächtnisumwandeln nicht hinterher, Monsieur Delamontagne", schnarrte Montpelier. "Die einen kriegen Schlangenmenschen zu sehen. Ein anderer hat einen oder zwei Entomanthropen über sich wegsummen gesehen, und in Avignon haben sich Wertiger mit einem Schlangenkrieger einen Kampf geliefert, von dem wir noch nicht wissen, wer gewonnen hat."

"Anweisung an die Vergissmichs und Desumbrateure, Einfache Gedächtnisveränderung gemäß Vorstellung, daß es keine Ungeheuer sondern Straßenbanditen in Kostümen waren. Diese Erinnerungsüberlagerung einwirken. Dann können die erzählen, was sie wollen. Wir bringen das dann als landesweiten Aufstand anarchistischer Gruppierungen. Das kennen die Muggel hier schon", erwiderte Delamontagne, der den Abwehrkampf von Millemerveilles aus organisierte. Er selbst saß in der Gondel eines Heißluftballons und betätigte immer wieder den Brenner, wenn er durchzusinken drohte. Besenflieger zogen ihn unabhängig von der Windrichtung dorthin, wo Schlangenmenschen waren. Mittlerweile hatten sie es heraus, vier auf einen Streich einzuwickeln und anzuheben. Wo es wieder gewöhnliche Menschen wurden, wurden diese zur Gedächtnisumänderung nach Millemerveilles hineingeschafft. Wo es magisch aktive Bestien blieben, griff der Todesfluch. Die Blitzentladungen zeigten, wer was war. Bei den Schlangenkriegern ursprünglicher Entstehung verringerte sich nur deren magische Kraft im Körper. Bei den durch Gift entstandenen entlud sich die eingespritzte Magie in blauen und roten Blitzen zur Erde hin.

"Unser unnennbarer Hauptfeind hat wohl eine Kleinigkeit übersehen", stellte Delamontagne fest, als er seine Gegner sechzehn bis zwanzig ausgeschaltet hatte. "Offenbar muß die Magie der Verwandlung von lebenden Quellen übertragen werden. Ist so ähnlich wie bei den Vampiren."

"So ähnlich wie bei diesem Versuch Grindelwalds, einer Vampirin angebliche Milch abzusaugen und damit Babys zu Vampiren zu machen?"

"Ja, das klappte auch nicht. Die Kinder starben zwar. Aber sie wurden keine Vampire. Lag daran, daß das Blut eine zu große Menge Eigenblut umwandeln mußte und die Adern platzten. Soviel zu diesen Biestern."

"Monsieur Delamontagne, aber wenn die durch die Spritzen gemachten Bestien andere beißen ..."

"Werden diese ganz ordentliche Sklaven des Unnennbaren", seufzte Delamontagne. Da schossen von unten Steine hoch. Die Reptilienwesen wehrten sich also. Mit schnellen Zauberstabschwüngen fegte die Eskorte des Stellvertretenden Ministers die Geschosse aus der Bahn. Dann konnte Delamontagne das Netz auswerfen und die drei Ungeheuer fangen und mit kräftigen Drehungen der Kurbel über den Flaschenzug außerhalb der Gondel anheben. Gleichzeitig feuerte er den Brenner und heizte damit die Luft in der Hülle so weit auf, daß er in einer Sekunde drei Meter aufstieg. Nach vier Sekunden entlud sich das befreiende Elmsfeuer aus dem Netz. Alle drei waren Opfer der Spritzen und nicht der Monstren, deren Artgenossen sie sein mußten. Drei Schocker, ein Zug am Netz, und die drei fielen heraus. Drei Besenflieger fingen sie ab und brausten zurück nach Millemerveilles. Delamontagne ließ den Ballon noch einige Meter steigen und im Wind nach südsüdosten treiben. Der ältere Zauberer war in einem Handlungsrausch, den er vor fünfzig Jahren überwunden zu haben glaubte. Da kamen auch schon seine Schlepphilfen, nahmen die Schleppseile auf und zogen ihn woanders hin, wo der Kampf weiterging. Wieviele unschuldige hatten sie retten können. Wie viele unrettbare arme Teufel würden ihrem Sklavendasein nur durch den Tod entrinnen können? Er hatte sich als Ligamitglied immer gefragt, wann gutes böses tat und ob es wirklich angebracht war, böses zu tun, um gutes zu erreichen. Diese Leute da unten, die auf einen unhörbaren Befehl hin versuchten, die Bürger Millemerveilles' zu vernichten, konnten nur durch den Tod erlöst werden, wenn sie nicht das Provisorium des Spritzengiftes in sich trugen. Er mußte sich sagen, daß sie in dem Moment starben, indem das Gift der Schlangenbestien in ihnen kreiste und sie zu Ihresgleichen umformte. Jetzt war es schon der zweite Tag wo sie kämpften. Doch es wurden langsam weniger. Das mochte daran liegen, daß die Entomanthropen bereits einige vor dem Lager vier abgefangen hatten oder die anderen sich in den Städten austobten. Schließlich war es ruhig. Am Abend des zweiten Februars griff niemand mehr Millemerveilles an. Drei Ballons blieben als Fangreserve oben. die anderen landeten von Besen bugsiert auf den großen Freiflächen innerhalb der Gemeindegrenzen. Delamontagne hörte sich noch Berichte seiner Truppen in Paris und anderen Städten an. Dann erschrak er. Denn mehrere Bild-Ichs, die ihre Gegenstücke dort besaßen, meldeten, daß Beauxbatons nun von mindestens hundert Schlangenkreaturen angegriffen wurde. Die Ballons dort hinzuschaffen würde mindestens eine Stunde dauern. Madame Maxime ließ mitteilen, daß sie versuchten, möglichst alle Schüler über die Reisesphäre nach Millemerveilles zu verlegen. Doch dann hieß es, die Kreaturen bestürmten bereits das Gelände, und die Sphären seien zu unsicher. Der stellvertretende Zaubereiminister Frankreichs dachte daran, daß vor einem Jahr noch seine Enkeltochter Virginie dort zur Schule gegangen war. Er dachte an Julius Latierre, der ihm und einigen anderen wirksame Abwehrzauber beigebracht hatte, die er an einem geheimen Ort des alten Reiches erlernt hatte. Professeur Faucon hatte ihm, Phoebus Delamontagne, erzählt, daß Julius wohl auch darüber informiert worden sei, wie die Schlangenmenschen zu besiegen waren und ihm einen versiegelten Behälter mit einem zerbrechlichen Inhalt überreicht, den er nur öffnen sollte, wenn sie oder Julius Latierre zu Tode kämen. Er konnte sich denken, Das es Aufzeichnungen waren. Im Moment konnte er nichts tun. Und das belastete ihn mehr als der zweitägige Ansturm Millemerveilles und der Rue de Camouflage.

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Mit Segen Wishbones hatte es Marchand erreicht, als FBI-Agent Moretti, dessen Akte wasserdicht nachvollzogen werden konnte, zu Calchem-Direktor McGregor vorzudringen. Er hatte in der Verwandlungsmaske als Italoamerikaner die scheinbar brisante Begebenheit von dem verhafteten Spion erzählt. Jetzt tauchten McGregors Mitarbeiter auf, ein Ehepaar Vierbein. Marchand betrachtete die beiden, die wohl noch recht jung waren. Dennoch führten sie beide schon den Doktor der Naturkunde im Namen. Offenbar durfte man in dieser Firma nur als Putzfrau, Botenjunge oder Doktor arbeiten, dachte Marchand. Die attraktive Elvira Vierbein sah ihn mit ihren dunkelblauen Augen an, die merkwürdig starr wirkten wie hinter Glas oder Kunststoff. Kontaktlinsen, dachte Marchand. Arnold strotzte für einen Kopfmenschen mit einem durchtrainierten Körper und trug sein Haar kurz. Im hellen goldenen Licht der Vormittagssonne glitzerten seine Augen beinahe wie Brillengläser. Der trug also auch Kontaktlinsen. Und irgendwie fühlte Marchand ein sachtes Kribbeln in seinem linken Arm. Das kam von dem Frühwarner, den er seit der Sache mit Hallitti ständig trug. Die beiden strahlten Gefahr aus! Doch rein äußerlich wirkten sie wie junge, dynamische Wissenschaftler, die hier ihren großen Wurf gelandet hatten. Zachary fragte sie routiniert aus, ob sie die einzigen seien, die alle Unterlagen hätten, wie das mit den Proben und Protokollen geregelt würde und ob sie in den letzten Tagen etwas bemerkt hätten, daß sich jemand Proben angeeignet oder Unterlagen eingesehen habe, der dieses eigentlich nicht dürfe.

"Wir überließen eine Probe unserer neusten Sonnenschutzfolie einer Firma für medizinische Ausrüstung", sagte Elvira Vierbein mit einem Grinsen in der Stimme. Doch sie lächelte nicht. Wieso hörte sie sich so an, als müsse sie gleich lachen, lächelte aber nicht so? Hatte sie etwas zu verbergen?

"Nun, die Firma ist integer und hat anstandslos die Sicherheitsgarantie unterschrieben, dernach sie für jede durch sie ermöglichte Spionage haftbar gemacht werden kann", erwiderte der Anwalt auf Marchands Frage. Jetzt lächelte Elvira Vierbein kurz. Marchand mußte sich zusammenreißen. Außerdem konnte das nicht sein. Die junge Doktorin ließ sich die kalifornische Wintersonne wunderschön auf ihren Blondschopf scheinen. Das konnte nicht gehen!

"Entschuldigung, Sir, ich hörte mal was davon, daß echte Industriespione als falsche FBI-Agenten in einer Firma vorgesprochen haben, um sich von der Lagerung und Aufbewahrung ersehnter Werkstücke, Proben oder Aufzeichnungen zu erkundigen, um Spießgesellen in der Firma genau zu beschreiben, wo und wie sie daran kämen, ohne Sicherheitsalarm auszulösen", schnarrte Arnold Vierbein. "Außerdem war in meiner letzten Firma jemand, der sich als britischer Kunststoffexperte ausgab, in Wirklichkeit aber ein Verbrecher und Massenmörder war."

"Nicht die alte Leier, Arnold. Das war nicht der, den wir hatten. Ein Verbrecher mit derartig gründlichen Kenntnissen wäre denen viel zu wertvoll gewesen um den ausgerechnet bei uns in NY hinzusetzen", erwiderte Elvira. Dann sagte Bensen:

"Unsere Sicherheitsbeamten haben Mr. Moretti gecheckt, von der Körpergröße, Gesicht bis zur Registrierung der Dienstwaffe. Der ist beim Bundesermittlungsbüro."

"Nix für Ungut, Sonderagent Moretti. Ihr Name hat mich nur etwas irritiert", versuchte sich Arnold Vierbein herauszureden und grinste jungenhaft, wobei er seine Zähne weit genug auseinanderbekam, daß Armand sich jetzt doch sicher war. Doch um seine plötzliche Erkenntnis und Erregung zu überspielen gab er den beleidigten Italiener.

"Natürlich, Moretti klingt ja schon nach Don Mafioso für Sie aus England oder Irland. Muß man ja aufpassen, nicht wahr? Ist ja jeder Italiener gleich ein großer Gangster oder arbeitet für die. Mein Großvater Giuseppe stammt aus Rom und nicht aus Palermo, Mr. Vierbein. Schon schlimm genug, in den Straßen von Chicago großzuwerden und immer als "Spaghetti" angeredet zu werden, vor allem von denen, die ihrer Hautfarbe oder Herkunft wegen selbst genug Probleme mit Vorurteilen haben. Ihr Name klingt Deutsch, jüdisch oder mit einem Großvater bei Mr. Hitler, Sir?" Arnold Vierbein schnaufte verbittert. "Sehen Sie? Vorurteile bringen nichts ein und werden immer zum Bumerang. Achso, und was den Verdacht mit der Spionage angeht, so habe ich ganz bewußt keine Akten oder Proben sehen wollen. Da könnten Sie mir ja doch locker ein X für ein U vormachen. Es ging mir und vor allem meiner Behörde darum, zu prüfen, ob besagtes Subjekt bereits hier war oder vielleicht schon avisiert ist."

"Wer genau?" Fragte der Anwalt. Marchand holte vorsichtig ein Foto aus der Jackentasche. Dabei behielt er die beiden Wissenschaftler gut im Auge. Er wußte jetzt, daß der Verdacht Aurora Dawns wohl mehr als berechtigt war und er jetzt mitten in einem Wespennest stand. Der winzigste falsche Schritt würde ihm eine Wolke wütender Wespen um die Ohren wirbeln und ihn von dieser schönen Erde verschwinden machen. Falls diese beiden da nicht meinten, ihm die Gnade einer zweiten Daseinsform zu erlauben und ihn zu ihrem Blutskind zu machen. Aber wieso machte denen die Sonne nichts aus? - Er schalt sich insgeheim einen Idioten. Natürlich, wo die beiden an der Quelle saßen. Wie vernagelt war er heute?

"Diese Person hat uns noch nicht beehrt. Aber warten Sie, ich scanne das Bild und lasse den Sicherheitscomputer die Überwachungsfotos der letzten sechsundneunzig Stunden gegenprüfen", bot McGregor an. Marchand ging auf das Spiel ein, weil ihn jetzt interessierte, wie die beiden Vierbeins reagierten, wenn er sie zu der Sonnenschutzfolie befragte. Doch diese gaben vor, dringenderes zu tun zu haben, jetzt wo geklärt sei, daß sie außer denen von Sanitech keine Proben überlassen hatten. McGregor gewährte ihnen den Ausmarsch. Marchand kam nicht dran vorbei, den beiden die Hand zu schütteln. Dabei reagierte sein Frühwarner besonders stark, und er meinte, eine samtweiche Haut an Arnold Vierbeins rechter Hand zu fühlen. Er hatte ein großes Problem. Er mußte die Vampire fragen, mit welchem Blutsauger sie Berührung hatten. Andererseits würde er die beiden Mitarbeiter in Gefahr Bringen, wenn er die Wissenschaftler als das enttarnte, was sie waren. Oder waren der Direktor und sein Anwalt, vielleicht auch die Sekretärin ...? Nein! Denn dann würde sein Frühwarner wesentlich stärker reagieren. Paranoia half nicht immer, dachte er. Als Elvira Vierbein ihm die Hand gab fühlte er die gleiche Haut, keinen Unterschied. Damit hatte er es jetzt wortwörtlich greifbar vor sich. Er mußte sich durch irgendwas verraten haben. Denn die rosahäutige Wissenschaftlerin fixierte ihn. Sofort okklumentierte er. Damit konnte er den Suggestivblick eines noch jungen Vampirs abblocken. Tatsächlich fühlte er einen Druck auf seinen Schädel. Sie griff ihn an. Dabei bemerkte er nicht, wie Arnold leise an die Tür ging und sich mit dem Rücken dagegenstemmte.

"Huch, haben Sie noch was, Arnold?" Fragte McGregor.

"Elly gefällt wohl das Rasierwasser. Das macht sie leicht erregt", erwiderte Arnold ruhig. Zach Marchand erkannte, daß der Vampir seiner Frau damit eine Gelegenheit bot, sich schnüffelnd seinem Gesicht zu nähern, um ihn zu beißen. Er wußte, daß er jetzt nur noch Sekunden hatte, bis seine Halsschlagader zerfetzt oder dezent angebohrt wurde, je nach Stil des Blutsaugers. Der Frühwarner konnte ihm nicht helfen. Der zeigte nur an. So mußte er seinen Zauberstab in die Hand bekommen, bevor sie ihn erwischte. McGregor sagte gerade, daß Moretti kein Rasierwasser trüge, weil er das mit seiner feinen Nase sicher gerochen hätte. Da setzte Elvira Vierbein schon zum Angriff an.

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Die Schlangenmenschen wüteten in der Rue de Camouflage. Margot Dornier sprach ein ums andere Mal den Schutzbann gegen böse Kreaturen: "Protego Maxima!" Ihr Mann Agilius verbarrikadierte alle Türen mit schweren Möbeln, die er zusätzlich mit langen Nägeln miteinander verband. Dann zog er seine Frau zurück vom Fenster, wo gerade einer der Schlangenunholde hereinblickte. Agilius hielt mit geschlossenen Augen einen Spiegel mit der reflektierenden Fläche nach vorne. ER fühlte eine Vibration und hörte ein wütendes Zischen. Margot hechtete die Kellertreppe hinunter. Ihr Mann hielt noch den Spiegel, bis das Ungeheuer wohl von seinem zurückgeworfenen Blick genug hatte und anstalten machte, die Wand einzureißen. Agilius ließ die schwere Eisentür zufallen. Dann hörten sie ein lautes Geschrei, als würde da gerade ein mehr als drei Meter großes Schwein geschlachtet. Dann erfolgte ein tierhaftes Aufbrüllen.

"Was immer jetzt da draußen ist, gegen das kommen wir nicht mehr an, Liebes", seufzte Agilius. "Hoffentlich sind Connie, Céline und die Kleine noch sicher!"

Ein lautes Donnern wie von einem Blitzeinschlag war zu hören. Doch die beiden Dorniers wagten nicht, den Keller zu verlassen. Wieder Schreie, wieder wie große Schweine, oder wie wütende Vögel. Ja, das eher, dachte Margot Dornier. Donnerschläge und das Brüllen, diesmal weiter weg. Und diesmal hatte sie einen grellen, weißblauen Lichtschein gesehen, der durch das Schlüsselloch hereingestrahlt hatte.

"Ich fürchte, wir werden gleich alles verlieren, Margot. Zumindest haben wir uns in den letzten Sekunden noch", sagte Agilius. Seine Frau nickte und umklammerte ihn für die letzte, innige Umarmung ihrer Beider Leben. Wenigstens würden sie zusammen gehen. Doch was würde mit Constance, die doch noch so jung war, um eine gute Mutter zu sein? Was würde mit Céline? Würde sie Robert heiraten? Und was würde Cythera, ihre Enkeltochter, aus ihrem Leben machen? Die schlimmste Frage wagte sie jedoch nicht zu denken. Würden sie alle sich gleich auf der anderen Seite der Weltenschwelle wiederfinden?

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Britta Gautier, eine Mitarbeiterin des Ministeriums, wäre fast von einem dieser Schlangenungeheuer mit dessen Blick gebannt worden, wenn sie nicht in dem Moment von einem Mondlichthammer gestreift wurde, der sie aus der Bahn warf und das Schlangenungetüm von ihr wegstieß.

"Nicht in die Augen sehen, Goldhaar", zischte ihr Kollege Beaumont ihr ins Ohr, bevor er magische Seile auswarf, um einen Schlangenmenschen zu fangen. Da hörten sie eine Zauberformel, die sie nicht kannten, obwohl sie beide gerade auf dem Gebiet begabt waren.

"Angarte Kasanballan Iandasu Janasar!" Britta sah einen weißen Lichtstrahl voll auf einen der Schlangenmenschen treffen, der nun im weißen Licht erstrahlte, sich aufzulösen schien und für eine Zeit wie ein flüchtiger Nebel dastand, der entfernte Ähnlichkeit mit einem Menschen hatte, einem Geisterwesen, daß aus sich selbst leuchtete. Doch der Zauber verflog nach nur drei Sekunden. Dann stand das Schlangenungetüm wieder da, doch sichtlich irritiert, um Fassung ringend. Britta Gautier sah einen Besen über sich und erkannte Professeur Tourrecandide. Die hatte wohl den Zauber auf den Schlangenmenschen gelegt und ihn wenigstens einige Sekunden blockiert.

"Mächtig, aber bei diesen wohl nicht mächtig genug", schnarrte die ehemalige Lehrerin, als sie fast von einem blendendhellen, weißblauen Lichtbündel getroffen wurde, das eine gerade Bahn, nicht wie ein Blitz, in den Boden brannte, wo der Schlangenmensch stand und gerade erst wieder recht wußte, wo und was er war. Der Boden glühte rot auf wie glutflüssige Lava. Da schnellte von oben etwas langes, spitzes herab, klaffte auseinander wie eine Schere und packte den Gegner. Mit lautem Brüllen schrie dieser seine Panik hinaus. Dann sah Britta ihn. Es war ein mindestens fünf Meter langer, grauer Vogel, der gerade im Eiltempo aufstieg. Die gepackte Schlangenkreatur schrie nun nicht mehr wie ein Tier, sondern wie ein Mensch. Dann schrie er überhaupt nicht mehr. Nur der Vogel stieß ein triumphales Geschrei aus, das Britta meinte, jemand würde ihr mit einer riesigen Kreissäge den Schädel durchtrennen.

"Runter von der Straße!" Rief Tourrecandide. Die beiden disapparierten, gerade als ein weiterer Lichtstrahl schräg von oben einen Schlangenmenschen traf, der gerade in ein Haus eindringen wollte. Dann wurde dieser auch schon aufgepickt und hochgerissen. Blaue und rote Blitze schlugen aus dem Schlangenwesen, als es zum Menschen wurde. Mit einem in höchster Todesangst schrillenden "Bitte nicht!!!" fand der bedauernswerte Mann ein kurzes aber blutiges Ende.

Die Vögel wurden mehr. Es wummerte am Himmel. Blaue Lichtkugeln sausten heran wie auf die Erde zurasende Meteoriten. Ihnen entfielen weitere graue Riesenvögel, die schnell und präzise zuschlugen. Innerhalb einer Minute gab es auf der Zauberrstraße keinen Schlangenmenschen mehr.

"Ach du meine Güte, wo kommen die Biester jetzt her?" Wunderte sich Bruno Dusoleil, der gerade Ballonwache schob, als fünfzehn graue Riesenvögel vor Millemerveilles aus Leuchtkugeln herausfielen und mit grellen Lichtbündeln in den Boden hineinfeuerten, bis sie Schlangenmenschen herauszogen.

"Diese Würmer wollten uns also belauern und hofften, wir schliefen ein", dachte Bruno und wünschte den Riesenvögeln lautstark "Guten Appetit!" Doch als er sah, daß zwei der Schlangenmenschen mit blauen und roten Blitzen ihre magische Kraft verloren, bereute er diesen schadenfrohen Wunsch. Diese Vögel hatten wohl nur den Auftrag, die Schlangenmenschen anzugreifen und zu töten, egal, als was sie ihrer Natur entledigt wurden. Er erinnerte sich an Erwähnungen Professeur Tourrecandides, die von solchen Riesenvögeln und den Schlangenkriegern gesprochen hatte. Da sah er sie also, die Schlacht der Kinder Garudas und den Nagas. Die indische Sagenwelt war nach Frankreich gekommen. Mit einem vielstimmigen, weit hallenden Triumphgeschrei drehten die grauen Riesenvögel ab und rasten nach oben, wurden dabei von blauen Leuchtsphären umhüllt und waren mit lauten Doppelknällen fort und weg.

"Jeanne, ich kann nach hause kommen. Tourrecandides Riesenvögel sind gekommen. Die jagen jetzt die Schlangenbiester", mentiloquierte Bruno seiner Frau.

"Du klingst aber sehr bedröppelt für diese gute Nachricht", erwiderte Jeannes Gedankenstimme.

"Die machen da keine große Auswahl draus, wer ein Dauerschlangenmensch und wer nur mit deren Magie aufgeladen wurde. Die bringen die alle um, Jeanne."

"Komm sofort nach Hause, Bruno!" Befahl Jeanne. Bruno fühlte, wie ihm die Übelkeit aus dem Magen in die Speiseröhre kroch. Er hatte fast zwei Tage Millemerveilles verteidigt, hatte sehen müssen wie die dauerhaften Schlangenkrieger getötet wurden. Doch die Gewißheit, daß die Riesenvögel alle von diesem Fluch betroffenen einfach so ausradieren würden, spülte die ganze geschluckte Angewidertheit und Schuld mit samt seinem Abendessen hinaus. Er übergab sich über den Rand der Gondel, die bereits langsam sank. Er hustete die letzten Brocken ab und rief dann schnell nach seinen Schleppbesen. Als er den Ballon auf den Boden gebracht hatte, sicherte er den Brenner ab. Dann apparierte er vor die Tür des Hauses, in dem er mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter Viviane Aurélie wohnte. Sichtlich geschafft betrat er sein Reich, seine Zuflucht, sein Heim und Herd.

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Daianira saß in ihrem Blockhaus. Leda hatte sie wieder zu Stubenarrest verdonnert, weil sie am zweiten Februar immer wieder ihre Entomanthropen dirigiert hatte, um Schlangenmenschen zu erledigen. Jetzt konnte sie nur Radio hören, weil Leda schon schlief.

"Hier ist der blanke Alptraum im Gange", berichtete ein Reporter des Tagesechos aus Avignon. "Ich fliege mit meinem Besen über dem schrecklichen Geschehen und kann nur zu Ihnen da draußen sprechen. Bleiben Sie in ihren Häusern. Verbarrikadieren Sie Ihre Türen und Fenster und bleiben sie dort, wo sie keiner direkt ansehen kann. Die Schlangenmonstren versuchen, die Gemeinde der zaubererwelt hier anzugreifen, werden aber noch von wehrhaften zauberern mit Flüchen von oben zurückgedrängt. Doch gleich werden die Kreaturen des Unnennbaren in das beschauliche Viertel einfallen, wo viele bekannte Hexen und zauberer wohnen und ... Was ist das?!" Ein doppelter Knall war zu hören. "Überschallknall" schoß Daianira ein Gedanke durch den Kopf, der aus dem kleinen Medaillon kam, das sie um den Hals trug. Solange der Großangriff der Schlangenmenschen dauerte, wollte sie Anthelias ganze Unterstützung besitzen. "Riesige blaue Feuerbälle. Nein! Sphären! Aus denen gleiten graue Riesenvögel und greifen die Schlangenmonster an! Sie speien gebündelte Lichtstrahlen oder Drachenfeuer! Sie hacken nach den Kreaturen, die versuchen, unter die Erde zu gelangen. Doch sie werden von den Blitzen oder Feuerstößen aufgehalten. Ja, die Vögel schmelzen den Boden auf und fischen die Flüchtenden aus der Glut! Das ist grauenhaft und ermutigend zugleich. Die Riesenvögel zerren die Schlangenmonster nach oben. Blaue Blitze und rote. Aus einigen der Ungeheuer schlagen Blitze. Ich .. Beim großen Belenus ..." Daianira hörte die Todesschreie der von ihrer Übermacht entblößten Schlangenmenschen. Sie kannte diese Schreie zu gut. Sie dachte, sich daran gewöhnt zu haben. Sie rechtfertigte das immer noch damit, daß sie das tun mußte. Und jetzt taten es andere. Graue Riesenvögel? Da war doch was! Ja, sie hatte von denen gehört. Das war ende der Siebziger, also gerade zwanzig Jahre her. Da hatten solche Vögel aus blauen Lichtsphären Hogsmeade von einer Drachenplage befreit und geholfen, ein Relikt eines direkten Nachfahren Slytherins zu vernichten. Und jetzt griffen diese Vögel die Schlangenkrieger an. "Alle tot! Meine Damen und Herren! Sämtliche gerade noch anstürmenden Schlangenwesen sind tot. Die Riesenvögel drehen ab." Triumphgeschrei aus vielen Kehlen erklang. Dann wummerte es laut und schnell wie zu schneller Herzschlag. "Sie sind weg. Wie sie kamen sind sie auch wieder verschwunden, diese grauen Riesenvögel. Sie haben Avignons Zauberersiedlung gerettet, meine Damen und Herren. Aber sie haben keinen hier zurückgelassen. Doch da, oh mann, bin gleich wieder da!" Es wurde still im Lautsprecher. Dann kam die Stimme leicht belegt wieder. "Drei Köpfe sehe ich. Diese Riesenvögel haben den Gegnern die Köpfe abgebissen. Das ist das schlimmste, daß ich jemals beobachten mußte, und ich habe schon einiges gesehen, meine Damen und Herren. Jedenfalls sind keine Schlangenkreaturen mehr da."

"Sie wollen die Sensationen und ekeln sich dann genau wie die, die sie zunächst gierig verlangen", schnarrte Daianira. Da flog die Schlafzimmertür auf, und Leda fuhr im grünen Morgenrock heraus.

"Hallo, Daianira. Vom Radiohören habe ich kein Wort gesagt."

"Ich bin kein kleines Mädchen, Leda", schnarrte Daianira. "Sie berichten gerade, daß graue Riesenvögel die Schlangenwesen erledigen. Das heißt wohl, daß wir morgen oder übermorgen in unsere Heimat zurückkehren können."

"Ja, und die Entomanthropen die hier sind umbringen", knurrte Leda. Daianira verstand sie zu gut. Doch sie hatte mit Anthelia etwas anderes ausgemacht. Einige wenige sollten die Wertiger dazu bewegen, Europa zu verlassen. "Den Rest nehme ich mit in die Staaten, um Valerys Macht zu brechen."

"Daianira, du wolltest haben, daß diese Monster erledigt werden."

"Leda, eine die noch nie getötet hat und es von ihrer Ethik und ihrem Charakter her nicht darf sollte niemandem vorschreiben, wen er oder sie am Leben zu lassen oder umzubringen hat", schnarrte Daianira und erhielt ein belustigtes Gedankenkichern Anthelias zur Antwort. "Ich will diese Wesen auch ausrotten. Das geht aber nur, wenn ich weiß, wie ich Valerys Volk vernichten kann. Sonst sind wir diesem hoffnungslos ausgeliefert. Das weißt du mittlerweile wie ich."

"Ja, weil dieser Ball unter deinem Umhang dieses Biest ohne Skrupel und Überprüfung erschaffen hat", fauchte Leda.

"Man könnte meinen, die ist mit uns in anderen Umständen", kicherte Anthelia. Daianira sagte laut:

"Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich diesen - Ball unter meinem Umhang - schon längst irgendwo losgelassen, wo er noch wenige Zentimeter groß war. Und was Valery angeht, so stimme ich dir zu, daß das skrupellos und lebensverachtend war. Und deshalb muß dieser Fehler korrigiert werden. Sie frißt Zauberer und Hexen lebendig auf, damit sie in ihrem Körper zu neuen Kindern umgewandelt werden. Wenn wir sie nicht hindern, landen wir auch in ihrem Konversionsmagen und dürfen uns dann freuen, ihre Töchter zu sein. Willst du das?"

"Ich sollte es aufgeben, dich noch einmal zur Vernunft zu bringen. Mir scheint, Anthelia gewinnt Einfluß auf dich. Du solltest mir das Medaillon geben und sie damit leben lernen lassen, ein Baby zu werden und keine Anführerin mehr zu sein, die durch deinen Körper und deinen Kopf immer noch ihre Taten planen und ausführen kann."

"Uuääääää! War das schon gut für den Anfang?" Stieß Anthelias Gedankenstimme einen fast authentischen Babyschrei aus.

"Leda, ich werde das Medaillon morgen ablegen, wenn ich über den gelben Kontrollstein zwei Aufträge erteilt habe. Erstens die Abwehr der Wertiger. Dafür brauche ich nur zwanzig Entomanthropen hier. Zweitens die Verlagerung der beiden Brutköniginnen nach Amerika. Dann kann ich das Medaillon wegtun und Anthelia auf ihre zweite Kindheit hinschlafen lassen."

"Ich weiß, daß ich das Medaillon nicht berühren kann, weil sie in dir drin ist, Daianira", versetzte Ledas Gedankenstimme resignierend. "Aber es ängstigt mich, daß du sie andauernd in deine Sinneswelt läßt. Sie könnte finden, mit dir den Platz zu tauschen, wenn sie weiß, wie es geht."

"Kann sie nicht, weil sie dann erst meine Seele aus mir hinausdrängen und mit ihrer in meinen Körper eindringen müßte", erwiderte Daianira. "Deshalb veranstalte ich ja keine Geistreisen mehr."

"Du solltest jetzt schlafen", schnarrte Leda und strich über Daianiras hoffnungsvollen Leib. "Und du kleine Dame hast heute auch lange genug Moms ganzen Krempel mitgekriegt. Das ist für so ein kleines Köpfchen noch zu viel. Schlaf schön, Thalia!"

"Du mich auch, Leda", dachte Anthelia so leise, daß es das Medaillon nicht an Daianira weiterstrahlte. Doch weil Daianira das Kleinod wirklich ablegte und Anthelia unvermittelt wieder in diesen dunklen, rumpelnden und schnaufenden Hohlraum zurückversetzte, befand die zukünftige Ex-Nichte Sardonias, vielleicht doch besser zu schlafen, hoffentlich nicht, bis sie geboren würde.

ENDE

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