FEIERN UND FORSCHEN

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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Was bisher geschah |

P R O L O G

Julius, der mit dem Nachnamen Andrews in Hogwarts angefangen hat, ist nun als Julius Latierre mit der Zaubereiausbildung in Beauxbatons fertig. Seine Frau Mildrid muß die wichtigen Abschlußprüfungen zwar noch nachholen. Doch beide richten sich nun darauf ein, ihr eigenes Leben zu leben. Die während Julius' Schulzeit erhaltenen Zaubergegenstände wurden in einem mit mehreren Schutzzaubern umschlossenen Schrank deponiert. Denn vor allem der Lotsenstein für die alten Straßen Altaxarrois ist ein machtvolles Ding, das nicht in unbefugte Hände geraten darf. Die Heilerzunft hat schon angefragt, ob er sich dort zum Heiler ausbilden lassen möchte. Doch Julius schwebt eher etwas in Richtung Umgang mit Zaubertieren oder Zauberwesen oder Zauberkunst vor. Inwieweit das alte Erbe, das er mit dem Lotsenstein übernommen hat, weiterhin sein Leben bestimmen mag weiß er noch nicht. Denn zunächst stehen mehrere Feiern an.

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"In zwei Wochen kriegst du deine UTZs. Dann kannst du die gute Antoinette nicht mehr mit der Antwort hinhalten, noch warten zu müssen", grinste Mildrid Latierre, während sie mit Zauberkraft zwei große Tabletts durch die geöffnete Haustür schweben ließ. Julius, der gerade einen großen, blau-rot-gelb gestreiften Sonnenschirm über dem Tisch auf der Wiese ausrichtete, erwiderte darauf nur, daß Antoinette Eauvive es von ihrer familiären wie beruflichen Stellung her nicht gewöhnt sei, daß jemand nicht sofort sprang, wenn sie einen Vorschlag machte oder einen Rat erteilte. "Die hat sicher gehofft, daß Beauxbatons mich in der Hinsicht umgänglicher macht", sagte er noch, bevor er eine blütenweiße Tischdecke über dem Tisch herabgleiten und sich darüberllegen ließ. Millie Latierre steuerte mit behutsamen Zauberstabbewegungen die beiden Tabletts, daß sie holperfrei in der Tischmitte landeten. Dann apportierte sie zwei Stühle und die mit einem schützenden Baldachin bestückte weiße Wiege auf die Wiese. Danach nahm sie die kleine Aurore aus dem Tragetuch auf ihrem Rücken. Das gerade zwei Monate und vier Tage alte Mädchen blinzelte mit den hellblauen Augen, die es von seinem Vater geerbt hatte. Ihr leicht rötliches, blondes Haar war in den Wochen, seitdem sie auf die Welt gekommen war immer dichter geworden. Millie legte das Baby in die mit einem Pentagramm verzierte Wiege hinein. "Maman muß erst essen und trinken, damit du auch wieder was kriegen kannst, Kleines", säuselte Millie. Dann setzte sie sich zu ihrem Mann an den Tisch. Julius, dessen hellblondes Haar durch die südfranzösische Sonne noch mehr aufgehellt wurde, deutete auf das zwölf meter große, orangerote Etwas, aus dem sie gekommen waren. "Hätte mir wer vor sieben Jahren erzählt, ich würde mit achtzehn Jahren mit einer rotblonden Frau und einem gemeinsamen Kind in einem riesigen Apfel wohnen, ich hätte den oder die glatt für verrückt erklärt."

"Hatten wir es ja schon von. Ich hätte auch nicht gedacht, noch vor meiner großen Schwester zu heiraten und das erste Kind zu haben. Apropos Martine, ich darf dir und den anderen mit uns verwandten sagen, daß sie im Oktober wohl auch Verlobung feiert. Offenbar wurde ihr der Druck zu groß, für eine nicht verheiratbare Latierre gehalten zu werden. Mit Alon Gautier hat die wohl auch mehr Glück als mit Mogeleddie. Der war auch einer wie du, der locker im roten Saal hätte wohnen können, aber dann doch irgendwie zu den Grünen gekommen ist.""

"Dann muß der aber mindestens ein Jahr älter als Martine sein, wo ich den nicht mehr als Schüler kennengelernt habe", sagte Julius.

"Zwei Jahre, Monju. Der ist im letzten Jahr gewesen, als wir mit Beaux und du mit Hogwarts angefangen haben. Seine Schwägerin ist bei den Abwehrzauberern vom Ministerium."

"Ist der im selben Büro wie Martine?" wollte Julius wissen.

"Bloß nicht, Monju! Der ist bei den Cyranowerken als Besenzureiter, hat damals in Beauxbatons auch Quidditch gespielt. Der war Tines erster Versuch, mit wem zu gehen. Aber der wollte nicht, weil er sich wohl mit einer aus dem blauen Saal zusammengetan hat. Aber das war es für den wohl auch nicht wirklich. So kommt doch noch was zusammen, obwohl es scheinbar unmöglich ist", meinte Millie dazu. Julius wollte und konnte darauf keine Antwort geben.

"Oma Line möchte uns morgen im Château begrüßen, um Aurore offiziell als neue Familienangehörige zu begrüßen", sagte Millie nach einigen Minuten gefräßigen Schweigens. Julius hatte mit sowas schon gerechnet und nickte dazu nur.

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Am siebten Juli trafen sich alle Latierres in der großen Festhalle des Sonnenblumenschlosses der Familie Latierre, um offiziell das neue Familienmitglied zu begrüßen. Zwar würden Julius und Millie am neunzehnten Juli noch ein Willkommensfest in Millemerveilles feiern, doch hatten sie hier schon einen Eindruck, wie erhaben es sein konnte, wenn ein neuer Mensch von seinen Angehörigen begrüßt und gefeiert wurde. Ursuline Latierre, die selbst vor kurzem vier Kindern gleichzeitig das Leben geschenkt hatte, küßte Aurore auf jede Wange und sagte ihr mit Stolz und Freude in der Stimme: "Herzlich willkommen in unserer großen Familie Latierre, Aurore Béatrice. Es ist schön, daß du zu uns gekommen bist. Lebe lang, gesund, glücklich und erfolgreich in unserer Mitte!" Martine hielt sich bis zum Abendessen zurück. Dann verkündete sie offiziell, daß sie sich am zehnten Oktober mit Alon Bernard Gautier verloben würde. Wann sie heiraten wollten mußten sie noch klären. Julius beglückwünschte Martine. Beide wußten, daß es durchaus auch hätte passieren können, daß sie mit ihm ein Paar geworden wäre, wenn die im Verborgenen lebenden Mondtöchter dies für richtig und dauerhaft erkannt hätten und wenn Martine nicht in zu großer Sorge, Julius damit mehr Verdruß als Sicherheit zu bieten über die gläserne Brücke gegangen wäre.

"Tante Trice kann wunderbar damit leben, von allen dumm angequatscht zu werden, daß sie wohl die einzige Latierre bleibt, die kinderlos stirbt. Aber ich sehe es gerade an Oma Line und an euch beiden, daß ich in der Hinsicht nicht hinten runterfallen will. Daß Alon bei den Cyranowerken arbeitet hat Millie dir garantiert schon erzählt", sagte Martine. Ihre zweitjüngste Schwester nickte bestätigend. Julius bemerkte dazu:

"Ist wohl auch nicht so unpraktisch, wenn die beiden Eheleute in unterschiedlichen Firmen arbeiten. Dann können die privates von beruflichem trennen und haben sich jeden Tag was neues zu erzählen. Zumindest sah das bei meinen Eltern so aus, als hielte die das ein ganzes Leben zusammen." Martine nickte. Sie kannte die tragische Geschichte um Julius' Eltern ja auch. "Zumindest ist deine Mutter bereit, sich auf wen neues einzulassen. Bist du das auch?" wollte Martine wissen. Julius wiegte den Kopf. Dann erwiderte er:

"Das mußte ich mich auch erst mal fragen. Dann ist mir aber klargeworden, daß ich ja mit Millie ein eigenes Leben führe und daß meine Mutter alles recht hat, sich wen neues zu suchen. Ich habe ihren Verlobten ja kennengelernt. Der ist sehr lustig, aber kann auch, wenn er es für wichtig hält, sehr ernst sein. Das einzige, wo ich wohl noch mit warmwerden muß ist die Sache, daß meine Mutter noch mal ein Kind kriegen könnte. Ich bin wohl nicht das geborene Geschwisterkind."

"Wer ist das schon, Julius. Aber irgendwie habe ich mich an Millie und wir zwei uns an Miriam gewöhnt und machen jetzt was, wo unsere Eltern sich noch dran gewöhnen müssen, die uns ja immer noch als kleine Kinder sehen, wenn wir sie lassen. Falls deine Mutter echt meint, die Mutter von noch jemandem zu werden, dann gönn es ihr, mit allem was da dranhängt! Anders kriegst du nämlich keine Ruhe." Julius erkannte, daß dies wohl die einzige kluge Entscheidung war.

"Wann fliegst du morgen zu deiner Mutter?" klang kurz vor dem Abendessen die wie ein sanft gespieltes Cello klingende Gedankenstimme in Julius Kopf. Er stutzte. Das war lange her, daß die in der Flügelkuh Artemis wiedererwachte Darxandria ihn auf diese Weise angesprochen hatte. Er konzentrierte sich auf die fünf Stufen des Gedankensprechens und schickte der vierbeinigen Gefährtin zurück:

"Das fliegende Schiff bringt uns um fünf Uhr am Nachmittag nach Amerika hinüber, weil da, wo meine Mutter feiern möchte die Sonne erst neun Stunden später aufgeht als hier."

"Dann komm bitte allein zu mir, wenn die jüngere Barbara da ist, wo sie arbeitet!" kam Temmies Antwort für alle außer Julius vernehmbar zurück. Er fragte, ob was schlimmes passiert sei. "Dann hätte ich dich selbst geholt oder wäre zu dir gekommen, um es dir zu sagen", erhielt er die Antwort. "Aber es ist was, daß außer dir und den nur von dir zu betrauenden keiner wissen soll", begründete die außergewöhnliche Gefährtin von Julius Latierre ihren Gedankenkontakt. Julius verstand, daß er da nicht absagen durfte und versprach, am Vormittag auf den Latierre-Hof zu kommen. "Nutze nicht die Kisten, durch die ihr zwischen den orten reisen könnt und auch nicht den Weg des Feuers! Von denen, die hier wohnen muß keiner wissen, daß du zu mir kommst", forderte Artemis vom grünen Rain. Julius versprach es ihr. Dann hörte die über große Entfernung geführte Gedankenunterhaltung auf.

Julius ließ sich nicht anmerken, daß die Verschmelzung von Artemis und der Seele Darxandrias mit ihm mentiloquiert hatte. Er genoß das mehrgängige Abendessen und unterhielt sich mit seiner Schwiegermutter über mögliche Berufe im Ministerium. Zumindest wollte er nicht in der Spiele- und Sportabteilung anfangen. Ihm schwebte eher ein Beruf in der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe vor. Dabei erfuhr er, daß es den europäischen Zaubereiministerien gelungen sei, mit den gemäßigten Werwölfen eine Übereinkunft zu treffen, daß sie sich nicht an Umsturzversuchen gegen die Zaubereiministerien beteiligten. Es sei gelungen, genug über den mysteriösen Trank zu erfahren, der eine gezielte Verwandlung bewirke und in jedem fall dafür sorgte, daß ein Werwolf selbst in Wolfsgestalt die Herrschaft über seine Handlungen behalte. "War diesen Mondbrüdern nicht so recht, daß wir diesen fragwürdigen Trank jetzt auch brauen können. Damit haben sie ihren Trumpf verloren, sich willfährige Bundesgenossen zu verschaffen", beendete Hippolyte die Erläuterung. Julius war froh, daß dann Leute wie der bei der Schlacht von Hogwarts gefallene Remus Lupin eine Chance hatten, in der Zaubererwelt angesehene Berufe auszuüben. Vorher war das wegen der Werwut höchst selten, und die Lykanthropen wurden nicht selten von allen anspruchsvollen Tätigkeiten verstoßen, sobald ihre magische Erkrankung bekannt war.

"Na ja, Ma, aber wenn du schon den Kantinenklatsch aus dem Ministerium servierst, sage deinem Schwiegersohn bitte auch, daß diese sogenannte Mondbruderschaft, die in Spanien gegründet worden ist, mit den indischen Wertigern kungelt. Nur der Kampf gegen Nocturnia hindert die daran, die unbelasteten Menschen zu erpressen", warf Martine ein.

"Ja, aber du kennst auch die Gerüchte, daß Nocturnia einen herben Rückschlag erlebt haben soll. Wie war das mit den zwanzig Vampiren, die versucht haben, die Rue de Camouflage mit diesem Vampirisierungsgift zu verseuchen? Die sind von einer Sekunde zur anderen verglüht, als sie mit deiner zukünftigen Schwippschwägerin und ihren Kollegen gekämpft haben. Keiner weiß, warum die so plötzlich vernichtet wurden und warum das fast zeitgleich auch zwei Ddeutschen Vampiren und vieren aus Italien passiert ist", sagte Hippolyte.

"Vielleicht hat wer was gefunden, um alle von diesem Vampirwerdungszeug befallenen auf einen Schlag zu töten. Aber das müßte dann eine Art magische Superbombe gewesen sein, die sonst keinen Schaden angerichtet hat", sagte Julius.

"Eben, und wir wissen nicht, wer eine solche Waffe erfunden haben könnte, ob damit das Problem Nocturnia ganz erledigt oder nur verringert wurde oder ob wir damit rechnen müssen, daß die Anführerin einen Gegenschlag plant, um diese Niederlage zu vergelten", erwiderte Hippolyte Latierre. "Zumindest haben die Ministerien deshalb erst einmal keine Erfolgs- oder Krisenmeldung in die Zeitungen gesetzt. Und wo wir es von den Wergestaltigen haben, so wäre eine offizielle Meldung, daß Nocturnia erledigt sei für die ein Weckruf, ihre eigenen Unternehmen gegen die Zaubererwelt zu verstärken. Hinzu kommt noch die Schwesternschaft dieser Wiederkehrerin, die sich ja nur deshalb stillverhalten hat, weil sie selbst mit Nocturnia Probleme hatte."

"Achso, und wenn ein Minister offen ausruft, daß Nocturnia Geschichte ist, dann könnten die Schwestern der schwarzen Spinne ihr eigenes Ding weitermachen, bevor die Ministerien sich darauf vorbereitet haben", vermutete Julius.

"Sofern diese Hexenbande nicht diejenige ist, die das mit den im gelbweißen Feuer verglühten Vampiren ausgelöst hat", warf Martine ein. Julius wollte dann noch wissen, was das für gelbweißes Feuer war. Er kannte das blaue Schmelzfeuer, das in einer bestimmten Situation Menschen und andere Lebewesen restlos verbrannte. Als er erfuhr, daß das Feuer so aussah wie zu einer Stichflamme geformtes Sonnenlicht klingelte es bei ihm leise. Er erinnerte sich daran, daß Temmie ihm von den wiedererwachten Sonnenkindern erzählt hatte. Wer das genau war wußte er nicht. Sie sollten aber wohl auch aus dem alten Reich stammen und als Gegenspieler der Vampire in die Welt gebracht worden sein. Vielleicht hatten die was angestellt, um alle Nocturnia-Vampire zu vernichten. Wenn die Anführerin dabei ebenfalls erledigt worden war gab es wohl keinen Vergeltungsschlag, es sei denn, die nicht von ihr abstammenden Vampire würden jetzt erst recht darauf ausgehen, ein eigenes Weltreich der Vampire zu gründen. Das war ja nicht auszuschließen. Er war sich aber jetzt sicher, daß Temmie ihn genau deshalb zu sich gebeten hatte. Warum aber nur er zu ihr sollte mußte sie ihm selbst sagen.

Da Ursuline und Ferdinand Latierre ihre Gäste über Nacht beherbergen wollten, hatten Millie und Julius die Festtagskleidung für die Verlobungsfeier von Martha Eauvive bereits in zwei großen Reisetaschen mitgenommen. Die beiden Kniesel Goldschweif und Sternenstaub jagten ihr eigenes Fressen und kamen auch mehr als einen Tag lang ohne ihre menschlichen Gefährten aus.

"Gut, daß wir die Kleine bei uns im Zimmer haben. Am ende hätte Oma Line die glatt bei ihren vier jüngsten behalten", sagte Millie, als sie neben Julius im großen Doppelbett lag. Julius konnte das nicht so recht ausschließen. nur der Gedanke daran, daß Aurore dann von der eigenen Urgroßmutter gesäugt und gewickelt würde irritierte ihn ein wenig. Für die sogenannten Muggel war das womöglich eine unerhörte, ja abartige Vorstellung.

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Da sie erst um halb fünf am Nachmittag aufbrechen wollten, um zum Luftschifflandeplatz von Millemerveilles zu reisen, war am Morgen noch einmal Quidditch angesagt. Da die Latierres, die keinen Arbeitstag hatten, drei Mannschaften bilden konnten, fand Julius eine Gelegenheit, sich einmal für zwanzig Minuten abzusetzen, um ungesehen vom Hof des Château Tournesol aus zum Latierre-Hof direkt vor die mehr als elefantengroße, blütenweiße Kuh mit den adlergleichen Flügeln auf dem Rücken zu apparieren. Als Mitglied der Latierre-Familie hatte er mit den auf Nichtfamilienmitglieder wirkenden Apparitionsabwehrzauber keine Probleme. Artemis vom grünen Rain, die im letzten Oktober zum ersten Mal ein Kalb bekommen hatte, sah ihren menschlichen Vertrauten und offiziellen Eigentümer mit ihren großen goldbraunen Augen an und legte sich nieder, wobei sie eine große Menge Gras aus ihrem Pansen hochwürgte, um sie wiederzukäuen. Dabei mentiloquierte sie mit Julius und verriet ihm, daß sie eine überstarke Woge der Sonne verwandter Kraft gespürt habe, die von Süden nach Norden über sie und alles Land hinweggerast sei. Sie beschrieb in kurzen Sätzen, daß sie dabei Schreie vergehender Wesen gehört und eine Frauengestalt wahrgenommen habe, die wie ein großer Strudel viele ihr verwandter in sich eingesaugt und mit sich vereint habe. "Es war mir, als müsse eine Mutter ihre vielen Kinder und Kindeskinder in ihren Schoß zurücknehmen, um mit ihnen allen davongespült zu werden", war die entsprechende Beschreibung Temmies. Julius erwähnte auf geistigem Weg, was er gestern über die vernichteten Vampire gehört habe und vermutete, daß die Anführerin Nocturnias damit auch erledigt worden war. Das bestätigte Temmie. Doch was sie dann erwähnte war für Julius völlig neu. "Die mächtige Kraft aus der Sonne, die sicher von einem sein Leben gegebenen Sonnenkind stammt, hat die vom dunklen Stein Iaxathans beherrschte Nachttochter entkörpert und ihre durch das innere Selbst ihrer unnatürlich erzeugten Kinder verstärkt in den Stein selbst hineingetrieben. Sicher hat sie mit dem diesem eingelagerten Wächter kämpfen müssen, um entweder dessen Platz einzunehmen oder endgültig zu vergehen. Jedenfalls hat es den König der Mitternächtigen verärgert. Der wird nun, wo seine zweite große Säule der Macht gestürzt ist, einen neuen Knecht suchen, der seine Wünsche auf der Welt der Lebenden erfüllt. Deshalb solltest nur du zu mir kommen, weil du im Moment der einzige bist, der zu den Altmeistern gehen kann um weiteres zu lernen, was die dem Licht verbundenen dir beibringen wollen und die träger der blutroten Gewänder dir beibringen möchten. Außerdem schlafen überall auf der Welt noch Dinge, die von meinen Verbündeten wie denen der Meister der vier Grundkräfte und den Mitternächtigen geschaffen wurden. Sie dürfen nicht in die Hände von Unkundigen oder von Gier erfüllten geraten. Deine große Aufgabe ist es, darüber zu wachen, daß das Erbe meines Volkes nicht noch einmal die Zerstörung eines ganzen Landes herbeiführt. Die dritte Säule Iaxathans, das Auge der Mitternacht, darf nicht entdeckt werden, und falls doch jemand es findet und ihm unterworfen wird, darf der- oder diejenige die Welt nicht in unauslöschliche Finsternis stürzen."

"Du lädst mir gerade die ganze Welt auf die Schultern, Temmie. Ich bin ja nicht mal ein Viertel so stark wie du", gedankengrummelte Julius. Er fragte sich, warum Temmie ihm das unbedingt an dem Tag sagen mußte, wo er sich mit seiner Mutter über ihren Verlobten freuen wollte.

"Ich habe dir nicht die große Kugel auf die Schultern gelegt, auf der wir wohnen, sondern nur deine Bestimmung verraten. Wie es meine Bestimmung war, als geflügelte, fruchtbare Kuh wiederzuerwachen, so ist es deine Bestimmung, mit dem, was du dir durch das Tragen meiner Krone der Weisheit aufgeladen hast umzugehen." Derartig streng hatte Temmie ihn noch nie anmentiloquiert. Doch sie hatte ja recht. Hätte er damals nicht Darxandrias Kettenhaube mit der darin eingelagerten Seele der alten Herrscherin aufgesetzt, um gegen geistige Beeinflussung immun zu sein, hätte er sie nicht in sein Unterbewußtsein eingelassen und damit alles in Gang gesetzt, was bis zur Vernichtung der Schlangenmenschen von ihm gefordert wurde. Da er zudem neben dem Lotsenstein für die alten Straßen auch noch Ailanorars magische Flöte in seinem Besitz hatte, mußte er sich damit abfinden, daß das Erbe des alten Reiches ihn nicht mehr losließ. Er konnte nur hoffen, daß es am Ende nicht an ihm lag, wenn die ganze bekannte Welt in die Brüche ging.

"Ich werde immer da sein, um dir als Begleiterin und Beraterin zu helfen. Selbst wenn ich in einem Jahr erneut ein Kind empfangen sollte, bin ich weiter für dich da. Denn du hast mir geholfen, aus meiner selbstgewählten Verbannung zurückzukehren", mentiloquierte Temmie und schluckte das wiedergekäute Gras hörbar hinunter. Sie rülpste laut und erhob sich dann. "Kehre nun zu deinen Angehörigen und Freunden zurück! Ich werde jetzt erst einmal trinken, um das gegessene ordentlich verdauen zu können und um für Orion und jeden, der davon haben möchte genug Milch zu haben", gedankensprach Temmie noch. Julius verabschiedete sich und sah noch zu, wie die majestätische Flügelkuh vom Boden abhob und leicht wie eine Feder zur großen Tränke hinüberflog. Julius besprühte sich schnell mit dem vorsorglich mitgenommenen Entduftungselixier, das die an ihm haftenden Ausdünstungen Temmies beseitigte. Dann apparierte er zurück zum Schloß, wo er seine Frau traf, die ihm Rückendeckung gegeben hatte, damit keiner nach ihm fragte.

"Und?" mentiloquierte sie ihm über die beiden rubinroten Herzanhänger. "Sie hat bestätigt, daß Nocturnias Brut erledigt wurde. Offenbar hat einer von diesen Sonnenkindern sein eigenes Leben geopfert, um genug Magie freizumachen, um alle von Lamia abstammenden Vampire und sie selbst mit einer art Reinigungswelle wegzuputzen. Dabei ist die aber wohl in diesem Vampirbeherrschungsstein hängengeblieben. Temmie weiß nicht, ob sie dabei endgültig ausgelöscht wurde oder jetzt in diesem Stein als eingelagerte Seele steckt. Jedenfalls will sie, daß ich aufpasse, daß dieser finstere Fürst Iaxathan keinen neuen Erfüllungsgehilfen findet wie diesen Spiegelknecht, von dem Delamontagne uns erzählt hat."

"Solange du dabei nicht mal wieder selbst dein Leben aufs Spiel setzt habe ich keine Probleme damit", gedankengrummelte Millie. Dann sagte sie hörbar: "Wir sind übrigens gleich wieder dran. Mas Mannschaft hat die von Onkel Otto gleich mit hundertfünfzig Punkten Vorsprung versenkt. Man merkt doch, daß die nie wirklich vom Quidditchbesen runtergerutscht ist."

"Dann spielen wir jetzt gegen Onkel Ottos Mannschaft und versenken die auch", sagte Julius. Millie nickte heftig.

Nachdem das dritte Quidditchspiel in gerade einmal einer halben Stunde zu Ende gegangen war trafen sich alle noch mal beim Mittagessen.

Am Nachmittag reisten sie alle zum Château Florissant, wo sie die Eauvives und Julius' Mutter trafen, mit denen sie dann in nur zwei Stunden nach Millemerveilles flogen. Julius' Mutter hatte auf konkrete Anweisung Madeleine L'eauvites und ihrer Adoptivmutter Antoinette den eigenen Besen nehmen müssen. Sie wäre am liebsten mit Flohpulver gereist. Martine fragte sie keck, ob sie nicht lieber apparieren wollte, wo sie vor einer Woche ihre Abschlußprüfung geschafft hatte.

"Ich habe immer noch lieber ein Steuer in der Hand, wenn ich irgendwo hinreise", erwiderte Martha Eauvive. Julius meinte, daß das Apparieren schon praktischer sei, wenn man mal eben größere Strecken überspringen wollte.

"Ja, und ich muß mich daran gewöhnen, daß ich in den Staaten ja eben auch größere Strecken überwinden muß, wenn ich nicht mehr als tausend Kilometer auf einem Besen reiten will", schnaubte Martha Eauvive. "Oder ich fahre mit diesem Rumpelbus blauer Vogel zur Arbeit. Wird sich alles noch ergeben müssen."

Am Luftschifflandeplatz warteten bereits die beiden Familien Dusoleil mit gepackten Taschen und Tragekörben. "Geneviève hat es noch nicht erfahren, Martha. Aber spätestens wenn es in den Zeitungen steht könnte sie böse auf dich werden", meinte Camille Dusoleil. Die für die Gärten und Grünanlagen in Millemerveilles zuständige Hexe wirkte in ihrem smaragdgrünen Festkleid wie eine orientalische Prinzessin. Das lag an ihrer schwarzen, leichtgewellten Haarpracht, ihrer hellbraunen Haut und den dunkelbraunen Augen.

"Ich habe es ihr hunderttausendmal gesagt, daß ich mit dem, was ich mache zufrieden und gut genug bedient bin. Ich hätte ja auch damals wie Joe darauf verzichten können, ihr zu helfen. Ich habe es aber nicht, weil ich was nützliches machen wollte. Das mache ich jetzt auch", grummelte Martha Eauvive.

"Geh mal davon aus, daß Geneviève mitbekommt, daß wir alle mit einem der Luftschiffe losfliegen", erwiderte Jeanne darauf. Sie trug ein saphirblaues Festkleid. Ansonsten sah sie ihrer Mutter so ähnlich wie ein zwanzig Jahre jüngeres Spiegelbild. Sie trug ihre Zwillinge Janine und Belenus auf dem Rücken.

Kurz vor dem Start trafen noch die Brickstons zusammen mit den Eheleuten L'eauvite und Blanche Faucon am Startplatz ein. Julius hatte es bis dahin gut verstanden, sich von Antoinette Eauvive fernzuhalten. Doch wenn sie erst in der gerade startbereit gemachten fliegenden Zigarre abgehoben hatten, konnte sie zumindest eine halbe Stunde lang mit ihm reden, ohne daß er ihr ausweichen konnte.

"So, alle rein, die auf der Liste stehen!" rief Robin Jones, der aus den Staaten gekommene Pilot des Pendelluftschiffes, der heute mit seinem französischen Kollegen Alphons Berlios die überschallschnelle Überfahrt beaufsichtigen würde. Er ließ alle erwachsenen und jungen Hexen und Zauberer die Strickleiter hinaufsteigen. Dabei konnte Julius feststellen, daß Ursuline Latierre für ihr Alter und ihre Körperfülle sehr gelenkig war. Joe Brickston, der mit einem Gefühl von Unmut dabeistand meinte nur: "Kaninchen müssen ja immer in Form bleiben."

"Sei mal froh, daß meine Mutter das jetzt nicht gehört hat", grinste Otto Latierre Joe Brickston an. "Sie hätte dich wohl sonst ausgelacht."

"Auf jeden Fall ist sie gelenkiger als Phoebe Gildfork", warf Julius ein. Hippolyte Latierre pflichtete dem ohne zu zögern bei.

Als alle Reisenden und ihr Gepäck in der leicht schaukelnden und schwingenden Gondel unterhalb des zigarrenartigen Auftriebskörpers verstaut waren rollte sich die Strickleiter von selbst ein. Dann klappte die Luke mit vernehmlichem Schlag zu. Der Anker löste sich um genau eine Minute nach fünf Uhr vom baumdicken Haltemast. Sofort gewann das magische Luftschiff an Höhe und durchstieg die unsichtbare Glocke aus Zauberkraft, die Millemerveilles vor dem Zutritt bösartiger Zauberer und unvorbereiteter Muggel abschirmte. keine halbe Minute später durchbrach der Zauberzeppelin die Schallmauer, ohne den typischen Doppelknall zu verursachen. Denn der Antrieb sorgte dafür, daß die in der Flugbahn vorhandene Luft aus dem Weg und hinter das Luftschiff versetzt wurde, ohne dabei einen Millimeter beschleunigt oder zur Seite verdrängt zu werden. Zwei Minuten nach dem Start erreichte der Zeppelin bereits die Reiseflughöhe von über dreißigtausend Metern über Grund und raste westwärts über das Mittelmeer dahin. Kein Radar und kein Beobachter auf der Erde konnte das magische Fluggerät aufspüren.

An Bord des Luftschiffes drängten sich vor allem die Kinder an den Fenstern, um den rasend schnellen Flug über den Atlantik zu verfolgen. Die Sonne, die schon im Südwesten stand, stieg nach süden wandernd wieder auf und überschritt ihren Zenit, um weiter nach Osten zu wandern. Ganz versinken würde sie nicht, weil die Reisenden ja um neun Uhr morgens kalifornischer Ortszeit landen würden. Julius konnte an seiner Armbanduhr ablesen, wie sie eine Zeitzone nach der anderen weiter westwärts flogen. Antoinette Eauvive hatte sich mit Béatrice Latierre auf eine der sonnengelben Bänke gesetzt, die in dem großen saal bereitstanden. Ob es um Julius ging wußte er nicht. Jedenfalls sprachen die beiden Heilerinnen sehr angeregt aber leise miteinander. Julius unterhielt sich mit seiner Mutter, wie sie die letzten Tage und Wochen verbracht hatte, während Madeleine L'eauvite sich mit Ursuline über ihre vier jüngsten Kinder unterhielt.

"Ui, wie groß ist das da unten, wenn wir es von hier sehen können?" wollte Callie Latierre wissen, die auf dem blau glänzenden Meer was gesehen hatte. Julius nahm sein Superomniglas und holte sich das fremde Objekt näher heran. Er erkannte an der rechteckigen Form und den nur seitlichen Aufbauten, die wie eine Insel wirkten, daß es ein Flugzeugträger sein mußte. Dann konnte er auch die blau-rot gestreifte Flagge mit den weißen Sternen erkennen. Er holte das Schiff so nahe es ging heran und konnte die es begleitenden Schiffe und Boote als winzige Sprenkel im Meer erkennen. Auf jeden Fall konnte er den an den Bordwänden aufgemalten Namen entziffern: "USS Ulysses Grant". Er suchte nach startenden Maschinen und konnte nur an einer glühenden Spur erkennen, daß gerade wieder eine Maschine von Bord katapultiert wurde.

"Das da unten ist ein Flugzeugträger. Das ist ein Schiff, das es möglich macht, daß Kampfflugzeuge der Kriegsmarine ohne festen Flughafen losfliegen und da auch wieder landen können. So'n Schiff ist so groß, daß man darüber locker Quidditch spielen kann, ohne daß der Quaffel ins Wasser fällt", sagte er.

"Und die können diese Zigarre hier nicht orten?" wollte Joe wissen.

"Dann hätten die uns schon längst mit weit nach oben fliegenden Raketen beballert, Joe", sagte Julius. "Das Luftschiff schluckt Radarstrahlen und ist gegen die kosmische Strahlung abgeschirmt. Infrarotspuren machen wir auch keine. Die können uns von da unten aus nicht mitkriegen."

"Und Laserstrahlen?" wollte Joe wissen.

"Dafür sind wir denen wohl zu schnell, zumal die einen Lidar wohl dann senkrecht nach oben richten müßten, um uns mitzukriegen. Außerdem fliegen wir mindestens einen Kilometer an Steuerbord an denen vorbei. Von hier oben aus sieht es nur so aus, als wenn wir genau über dem Träger wären."

"Hoffe mal, daß wir nicht den dritten Weltkrieg auslösen, weil die uns für eine Interkontinentalrakete halten", grummelte Joe.

"Joe, die Luftschiffe der Amerikaner sind gegen alles abgesichert, was deren magielosen Soldaten an Aufspürgeräten kennen, gerade um nicht von denen belästigt zu werden", bemerkte Blanche Faucon dazu.

"Was für ein Lied soll denn machen, daß die uns finden?" wollte Mayette wissen, die Julius' Bemerkung von einem Lidar aufgeschnappt hatte. Er erklärte ihr, wie verschiedene Ortungsgeräte arbeiteten und daß die im Luftschiff etwas ähnliches benutzten, um Schiffe und Flugzeuge aus der Ferne anzumessen. "Ein Lidar ist eben ein auf die Echos eines losgeschickten Lichtstrahls ansprechendes Gerät, während ein Radar eben für Augen unsichtbare Funkwellen benutzt und ein Sonar eben Schallwellen benutzt, wie es Fledermäuse und die im Meer wohnenden Säugetiere benutzen", beschloß Julius seine Stehgreifvorlesung. Dann sahen sie im Westen die nordamerikanische Ostküste. Sofort suchte Julius nach großen Städten und konnte tatsächlich im Nordwesten eine Stadt ausmachen, die von zwei Flüssen durchzogen wurde und wie winzige Stecknadelspitzen wirkende Hochhäuser besaß. Er holte sich mit seinem Fernglas die Stadt so nahe es ging vor die Augen und war nun sicher, daß er die Riesenstadt New York entdeckt hatte. Er sagte das auch seiner Mutter.

"Da oder in San Francisco wollen Lucky und ich uns ein Haus suchen", sagte Martha Eauvive. "Lorena Forester und Brittany meinen zwar, wir könnten ja dann gleich in Viento del Sol wohnen, wenn wir schon an die Westküste ziehen. Aber so wie ich das von Brittanys Vater immer mitbekomme liegt mir doch was an einer magielosen Umgebung und vor allem Infrastruktur", bekräftigte Julius' Mutter.

"Was ist denn eine Infrastruktur? Heißt Infra nicht unten oder drunter?" wollte Patricia Latierre wissen. Martha und ihr Sohn nickten. Martha sagte dann, daß damit die Grundlage für alles lebensnotwendige in der magielosen Welt gemeint sei, also die Versorgungsleitungen für Strom, Telefon, Radio und Fernsehen, Wasser und Gas, sowie Straßen, Schienen, Häfen und Flughäfen, wie auch die Abwasserkanäle und Mülldeponien. "Insofern heißt infra hier, daß das alles als die unbedingt zu unterst zu errichtenden Sachen gebaut zu werden hat, wenn Menschen aus meiner früheren Lebenswelt auf nichts verzichten möchten. Patricia bedankte sich und schrieb sich den Begriff und die Beschreibungen auf. "Damit steche ich Marc demnächst in Muggelkunde aus, wenn der mal wieder meint, mir und den anderen Zaubererweltgeborenen immer was vorauszuhaben", grinste sie.

"Das kommt aber alles erst in den UTZ-Klassen dran, Pattie", wußte Millie, die das Fach ja bis zur UTZ-Klasse behalten hatte. "Da haben wir den Begriff Infrastruktur in der sechsten auch durchgenommen und warum das für die Muggel so wichtig ist, daß die immer gut gewartet wird und daß die viel Geld kostet." Patricia nickte nur. Julius erwähnte, daß das Flohnetz, die Reisesphären und die Einkaufsstraße Rue de Camouflage ja auch Infrastruktur seien. Jetzt konnte Patricia erst recht was damit anfangen und zwinkerte ihrem Schwiegerneffen dankbar zu.

Der Flug verlief nun über weitestgehend unbebaute Landflächen. Die Überquerung der Rockie Mountains war für alle ein erhabener Vorgang. Obwohl die Gipfel des mächtigen Gebirges von hier oben im Verhältnis zur sanften Erdkrümmung winzig erschienen, wußten doch alle, daß die Berge mehrere tausend Meter hoch waren und ohne Hilfsmittel nicht so locker zu überqueren waren. Dann überflogen sie die weiten Ebenen Neumexikos, bis sie westlich den silbernen Streifen der Pazifikküste sahen. Dann sank das Luftschiff und verlor für die Reisenden unspürbar an Fahrt. Als sie dann über dem wie Millemerveilles weitläufigen Ort Viento del Sol schwebten sahen sie den berühmten uhrenturm. Er wirkte aus dieser Höhe wie ein mitten in das filigrane Straßennetz gerammter Zauberstab. Beim weiteren Sinkflug konnten sie auch alle den schlanken Stab auf dem Dach sehen, der als Schattenspender einer Sonnenuhr diente. Dann flog das Luftschiff noch eine weit ausladende Kurve, um den Rest an Fahrt aufzuheben. Jetzt sank es über seinem zugewiesenen Landefeld herunter. Der Anker fiel und fing sich am Haltemast. "Ladies and Gentlemen, willkommen in Viento del Sol. Das Wetter ist prächtig, die Temperaturen liegen bei zwanzig Grad Celsius. Wir haben Wind aus Südsüdwest mit achtzehn Kilometer in der Stunde. Genießen Sie das Wetter und die Gastfreundschaft Kaliforniens!" klang Robin Jones' Stimme noch einmal wie aus unsichtbaren Lautsprechern.

Martha Eauvive durfte als erste das magische Luftschiff verlassen, das nun einen ganzen Tag hier bleiben mußte, um die erschöpfte Zauberkraft wiederzugewinnen. Julius folgte seiner Mutter, als sie unter beiden Füßen festen Boden hatte. Dann hangelte sich Antoinette Eauvive hinunter, gefolgt von ihrem Mann. Da sie Marthas magische Adoptiveltern waren war es auch für die Verlobung wichtig, daß sie anwesend waren. Nach den Eauvives hangelte sich Millie die Strickleiter hinunter. Aurore lag sicher in dem Tragetuch auf ihrem Rücken. Sie schlief wohl sicher. Denn sie gab durch nichts zu erkennen, daß sie diese für sie fremde Bewegungsart ihrer Mutter ängstigte oder begeisterte. Nach Millie verließen auch alle anderen Fluggäste ihr Überseegefährt.

Die Reisenden wurden bereits erwartet. Die Eheleute Forester und Brocklehurst, sowie der glückliche Bräutigam und seine Mutter waren da, ebenso die blonde Quodpotspielerin Venus Partridge und ihre drei Mannschaftskameradinnen Dawn, Hope und Eve Friday. Als Ursuline Latierre sicher und geschmeidig die Strickleiter hinabgeklettert war erhielt sie von den fünf Quodpotterinnen begeisterten Beifall. Brittany Brocklehurst, die von der Körperlänge her mit den Latierres und Julius mithielt und ihr weizenblondes Haar gerade ungebändigt im Wind wehen ließ, begrüßte erst die angereiste Braut und dann Julius. Dabei flüsterte sie ihm zu: "Jetzt habe ich den Vergleich. Die Gildfork hätte das sehen sollen, wie eine ältere Dame sich in Form halten kann."

"Das ist die Latierre-Kuhmilch, Britt", mußte Julius dazu loswerden. Brittany verzog ein wenig das rosige Gesicht. Ihre dunkelbraunen Augen funkelten einen winzigen Moment lang. Doch dann lächelte sie wieder.

"Es gibt auch genug pflanzliche Elixiere, die den Körper in Form halten", sagte sie überzeugt. Dann begrüßte sie Millie und besah die kleine rosige Last, die auf Millies Rücken ruhte. "Och joh, in echt ist die kleine ja schon ganz groß geraten. Ich hoffe mal, die kam nicht so groß und propper auf die Welt."

"Neh, da war sie noch drei Zentimeter kürzer und noch so ein Kilo leichter", grinste Millie. Brittany verzog kurz das Gesicht. Als junge Ehefrau dachte sie wohl daran, daß sie ja selbst mal Kinder haben mochte. Millie fügte dann noch an, daß sie trotzdem richtig froh war, Aurore zur Welt gebracht zu haben. Genauere Einzelheiten über Aurores Geburt behielt sie für sich, weil so viele Leute umstanden, die das nicht alles mitbekommen brauchten.

Überhaupt wirkten die mitgebrachten Säuglinge wie Magneten auf die hier bereitstehenden Bewohner von Viento del Sol, sowohl Jeannes Zwillinge wie auch die Vierlinge Ursulines wurden bestaunt. Julius hätte fast gerufen, daß seine Mutter noch eifersüchtig würde, wenn die Leute hier nur die Babys anstrahlten. Doch das konnte seine Mutter gerne selbst sagen, wenn es so war.

"Und, schon bei euren Mercurios angeklopft, ob du mit der halben Weltmeistertruppe nicht bis zur nächsten Weltmeisterschaft bei denen mitspielen kannst?" wollte Venus Partridge wissen. Julius verneinte das, weil er wohl doch gleich was machen wollte, wo er mehr als zehn Jahre was mit machen konnte.

Als Julius Linus Brocklehurst begrüßte meinte der: "Britt freut sich wie eine Lichterfee am Weihnachtsabend, daß Millie und du über mich noch ihre Cousins werdet. Obwohl, daß die Windriders ihren Titel verteidigt haben dürfte sie immer noch ein kleinwenig mehr freuen."

"Für mich ist das auch lustig, daß ihr jetzt doch mit Millie und mir verwandt werdet", sagte Julius grinsend. Dann unterhielt er sich mit Linus über seine Erfahrungen als junger Vater. Anschließend begrüßte er die Foresters. Brittanys Mutter fragte ihn, ob er wirklich jetzt in die Tier- oder Zauberwesenabteilung wollte. Brittanys Vater fragte ihn nur mit schwer gezügeltem Unmut, ob es für Julius nicht ein herber Schlag sei, daß seine Mutter sich einen neuen Mann ausgewählt hatte und vielleicht von dem noch Kinder bekommen würde. Julius hatte sich innerlich auf diese Frage vorbereitet und antwortete so gelassen er konnte:

"In dem Moment, wo meine Mutter mich abgestillt hat hatte ich kein Anrecht mehr an ihrem Körper, Sir. Insofern akzeptiere ich jede Entscheidung, mit wem sie ihre Zeit verbringt und von wem sie noch einmal Kinder bekommt, sofern sie dies wünscht. Oder hat Ihre Mutter sie gefragt, ob Sie geschwister wollen oder nicht?" Daniel Forester grummelte nur noch, daß eine so den Überblick behaltende Frau mit einem solchen Fachsenmacher wie Lucky Merryweather zusammenkommen sollte könnte er nicht verstehen. Darauf gab Julius keine Antwort, weil er das selbst nicht so recht begriff.

Die Festgesellschaft flog nun auf den eigenen Besen zum Haus zum sonnigen Gemüt, das sowohl das Hotel wie auch der Saloon und das Tanzhaus von Viento del Sol war. Der Eigentümer, Charlie Beam, begrüßte alle Gäste aus Frankreich mit überglücklichem Gesicht. Sicher, die Feier hier und die wohl Ende des Jahres anstehende Hochzeit brachten ihm eine Menge Geld und Bekanntschaft ein. Vor allem, als er die Latierres sah dachte er wohl daran, groß rauszukommen. Daher war verständlich, daß er seiner Nichte kurze aber unmißverständliche Anweisungen erteilte. Im Moment waren viele Zimmer bewohnt. Doch der Speisesaal für die Wohnklassen Gold bis Drachenhorn war frei und für die Feier hergerichtet worden. Da die Feier an sich erst mittags beginnen würde, durften sich die Gäste in dem Zaubererdorf Kaliforniens umsehen. Barbara Latierre wollte selbstverständlich in den Tierpark um zu sehen, wie es den dort gehaltenen Latierre-Kühen erging. Babette wollte mit Patricia, Mayette und den Zwillingstöchtern Barbaras in die Einkaufsstraßen. "Laßt aber noch was in denLäden für die anderen!" mußte Joe seiner Tochter mitgeben.

"Mit den drei Galleonen, die du mir gegönnt hast kriege ich nicht mal einen Laden leergekauft", grummelte Babette. Ihre Mutter räusperte sich und wandte ein, daß Babette ffoh sein durfte, überhaupt Geld für diesen kurzen Ausflug zum ausgeben bekommen zu haben. Blanche Faucon wollte mit ihrer Schwester Madeleine auf den Markt um zu sehen, was die einheimischen an frischer Ware feilboten. Julius lud Florymont Dusoleil und dessen Schwiegersohn Bruno ein, den berühmten Uhrenturm zu erklettern. Millie genoß die ihr und Aurore entgegengebrachte Aufmerksamkeit und bildete mit den anderen jungen Müttern ein Gespann, um in den Einkaufsstraßen Babysachen und Erstlingsspielzeug zu suchen. "Dann könnt ihr auf die halbgroßen Damen ja aufpassen", meinte Joe dazu. Jeanne sagte darauf nur:

"Die gehen garantiert nicht in Läden für Babysachen rein, Joe. Wenn du nicht willst, daß Babette was passiert mußt du schon mitgehen."

"War nur'n Vorschlag", grummelte Joe. Daniel Forester, der in Joe Brickston gewissermaßen einen Schicksalsgenossen sah, lud ihn und seine Frau ins Rotbuchenhaus ein, um mit ihm über die Unterschiede zwischen US-amerikanischen und europäischen Ehen zwischen Hexen und Magielosen zu reden.

So besichtigten die aus Millemerveilles angereisten Gäste die verschiedenen Sehenswürdigkeiten. Im Zaubergarten traf Julius Camille, die sich mit Antoinette die amerikanischen Zauberpflanzen ansah. Antoinette winkte Julius zu. Er hatte schon mit sowas gerechnet und dachte: "Erste Angriffswelle". Dann ging er zu der obersten Heilerin Frankreichs hin.

"Ich weiß, daß du mir gleich einmal mehr damit kommen wirst, erst auf die Endergebnisse der UTZ-Prüfungen warten zu müssen, Julius. Aber ich denke doch, daß du dir doch schon eine einigermaßen sichere Vorstellung machst, welchen Berufsweg du einschlagen möchtest. Hast du mein Angebot sorgfältig gelesen und durchdacht?"

"Gelesen habe ich es, Antoinette", sagte Julius, weil sie hier im Umkreis von hundert Metern keinen Zuhörer hatten. Es mochte nur sein, daß Linda Knowles, die scharfohrige Reporterin der Stimme des Westwindes, ihre magischen Lauscher wie Radarantennen nach interessanten Informationsquellen suchen ließ. Aber das Julius mit den Eauvives verwandt war pfiffen ja alle Spatzen von allen Dächern der Zaubererwelt.

""Und, was genau hast du überlegt?" wollte Antoinette wissen.

"Daß ich mir einen Beruf suchen werde, bei dem ich Arbeit und Familienleben gleichberechtigt nebeneinander ablaufen lassen kann, Antoinette. Bei der Heilerausbildung, wie die Delourdesklinik sie seit ihrer Gründung bietet, müßte ich vier Jahre mehr oder weniger von meiner Familie abgeschottet lernen und üben und bekäme dadurch nur in Ausschnitten mit, wie sich meine Tochter entwickelt. Insofern kann ich gemäß dem erwähnten Ausbildungsverfahren der Delourdesklinik keinen Sinn darin sehen, eine Familie gegründet zu haben, wenn ich nicht daran teilhaben darf. Ich habe gerade sieben Jahre Internatsschule hinter mir und möchte endlich auch meine dort gewonnene Eigenständigkeit ausleben. Was ich dazu an Gold brauche kann ich hoffentlich auch in anderen Zweigen der Magie verdienen, ohne noch mal zum Internatsschüler zu werden. Aber wie du gesagt hast muß ich ja erst mal abwarten, was die Prüfungen ergeben haben." Wenn Antoinette enttäuscht oder verärgert war ließ sie es sich nicht anmerken. Sie sah Julius sehr selbstbeherrscht an und fragte:

"Heißt das, daß nur unser bewährtes Ausbildungsverfahren dich davon abschreckt, einen deinen vielseitigen Veranlagungen und Kenntnissen gerecht werdenden Beruf zu erlernen?"

"In letzter Konsequenz heißt es das", erwiderte Julius ganz im Stil eines Akademikersohnes. Camille hielt sich bewußt zurück. Doch konnte sie ein amüsiertes Grinsen nicht verbergen, als Antoinette Julius noch einmal ganz genau ansah, daß dieser schon die erlernten Occlumentiekenntnisse benutzte, um sie nicht in seinen Geist hineinsehen zu lassen.

"Dann frage ich doch jetzt mal, wo du dein gerade begonnenes Familienleben als Hauptargument gegen die Heilerausbildung anführst, welchen Werdegang du siehst, bei dem du während der Ausbildung und Berufsausübung nicht große Teile des Tages oder gar der gesamten Zeit für die Arbeit aufbringen mußt?"

"Ich habe mit keinem Wort behauptet, ich wolle keinen zeitaufwendigen Beruf ergreifen, Antoinette. Ich habe nur gesagt, daß ich nicht noch mal vier Jahre in eine mehr oder weniger abgeschirmte Lehranstalt reingehen möchte, weil dann nämlich die ganzen bisherigen Anstrengungen, die meine Frau und ich durchgestanden haben, fast für nichts und wieder nichts gewesen wären. Ich weiß, daß es Berufe gibt, wo meistens der Mann längere Zeit von Zuhause wegbleiben muß, Fernfahrer, Berufssoldaten, Seeleute. Und gerade ein Seemann, mein verstorbener Großvater mütterlicherseits, hat mir, wo er noch keine Probleme mit seinem abbauenden Verstand hatte gesagt: "Junge, wenn du mal groß bist und willst was machen, denke dran, daß ich als Smutje immer nur das gekocht habe, von dem ich wollte, daß es den Kameraden auch schmeckt. Denn alles andere ist die totale Zeitverschwendung und bringt obendrein noch 'ne Menge Ärger ein." Mr. Merryweather, den ich ab heute wohl zu meinen nächsten Verwandten zählen darf, hat mir auch mal gesagt, daß ich es in der Hand habe, wofür ich meine Arbeitszeit und Freizeit einsetze, ob für Gold, für gutes Ansehen, für die Familie oder für alles zusammen, wenn das möglich ist. Deshalb werde ich zusehen, etwas zu finden, wo ich die meiste Zeit jeden Abend nach Hause kann, um bei meiner Frau und Aurore zu sein. Soweit ich weiß dürfen Ehepartner nicht mit in die Adeptenunterkunft der Delourdesklinik einziehen." Antoinette Eauvive nickte nun doch leicht verdrossen. Dann sagte sie:

"Gut, du möchtest also ein Gleichgewicht zwischen deinem Familien- und dein Berufsleben herstellen, bei dem das eine nicht des anderen wegen vernachlässigt wird. Des weiteren möchtest du deine Prüfungsendergebnisse abwarten, um Gewißheit zu haben, in welche Richtung du dich weiterentwickeln möchtest. Darf ich diese beiden Aussagen einstweilen als verbindlich festhalten?"

"Das darfst du", erwiderte Julius. Von einem Gleichgewicht hatte er zwar nichts gesagt, wollte aber die für ihn im Moment sinnlose Diskussion nicht unnötig fortführen. Jetzt schaltete sich Camille ein und sagte ganz bewußt herausfordernd:

"Mein Angebot steht ja schon, seitdem ich weiß, daß du in meinem Fach sehr gut mitkommst und dich sehr dafür interessierst, Julius. Dabei würdest du auch jeden Tag genug Freizeit mit Millie und der Kleinen verbringen, falls nicht noch die eine oder der andere bei euch dazukommt. Millie findet, wenn Aurore ggroß genug für die Kindertagesgruppe ist sicher auch was, wo sie diese Ziele miteinander verbinden kann."

"Camille, bei allem Verständnis für die Leidenschaft, mit der du deinen Beruf ausübst, das kannst du nicht wirklich so meinen, daß du diesen Jungen, der dir ja wie ich weiß auch sehr wichtig ist, als einfachen Gartengehilfen ohne gesellschaftliches Gewicht kultivieren möchtest", schnarrte Antoinette.

"Nichts für ungut, Antoinette, aber unsere gemeinsame Ahnherrin Viviane war auch eine Kräuterhexe und sowohl vor als auch nach ihrer Zeit als Gründungsmutter in Beauxbatons weithin geachtet und gefragt. Irgendwer muß ja auch die Kräuter züchten, mit denen ihr in der DK die Kranken heilen könnt."

"Gut, ich erkenne an, daß eine Fortführung dieser Unterredung gegenwärtig ohne Ergebnis ausfallen muß", grummelte Antoinette Eauvive und wünschte Julius noch, daß seine UTZ-Prüfungen ihm viele Auswahlmöglichkeiten ließen."

"Hui, die wäre fast mit lautem Knall explodiert, wenn deren Gemüt nicht wie ein mehrere Zoll dicker Stahlkessel wäre", feixte Bruno, als seine Schwiegermutter mit Antoinette auf den Spendebaum zuging, der bereits die ersten Früchte trug.

"Glaub nicht, daß die schon ihr ganzes Pulver verschossen hat, Bruno. So wie sie meine Antworten ausgelegt hat rotiert gerade das Schwungrad in ihrem Kopf, ob sie nicht noch was findet, um mich nicht doch noch für die Heilerzunft anzuwerben."

"Ich hörte was davon, daß die sogenannte Fremdenlegion hauptsächlich aus Männern besteht, die die Werber erst total besoffen gemacht haben, um sie dann den Beitrittsvertrag unterschreiben zu lassen", warf Bruno ein. Florymont, der die Unterhaltung auch schweigend verfolgt hatte sagte darauf:

"Das dürfen die Heiler nicht, weil deren ganzer Berufsstand auf Einsatzbereitschaft und Arbeitsfreude baut, Bruno. Ist wie bei meinem. Wenn du keine Lust darauf hast, daß dir dieses oder jenes mal um die Ohren fliegt oder auf flinken Beinchen davonrennt, darfst du kein Zauberschmied werden." Julius nickte. "Ich peile immer noch was bei der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe an, Florymont und Bruno. Falls das nicht geht könnte ich mir auch was bei der Katastrophenumkehrtruppe vorstellen, vielleicht sogar Desumbrateur. Letzteres aber nur dann, wenn echt nichts anderes in Sicht ist", sagte Julius. "Aber bis dahin ist noch ein wenig Zeit, Jungs. Freuen wir uns erst mal drüber, daß wir heute eine große Fete feiern dürfen!" Die ihn begleitenden Zauberer nickten beipflichtend.

Beim Mittagessen unterhielten sie sich alle über ihre Erlebnisse in Viento del Sol. Charlie Beam hatte gemäß der Speisenwünsche der Gastgeber leichtes Mittagessen servieren lassen. Béatrice Latierre grinste einmal, als Antoinette ihr was sagte. Julius konnte sich vorstellen, daß es um die erste Abfuhr ging, die er Antoinette erteilt hatte. Babette schwärmte von einem silbernen Haus, das wie ein großer Pfannekuchen oder ein gelandetes Raumschiff aus einem anderen Sonnensystem wirkte und daß sie über den Zaun hinweg einen roten Rasensprengerelefanten beobachtet habe. Sie erwähnte auch ein kleines Mädchen von wohl gerade drei Jahren, daß auf diesem roten Elefanten geritten sei und ihn mit lauten Kommandos von einer Ecke zur anderen getrieben habe.

"Hast du mit dem Mädchen gesprochen?" wollte Millie von Babette wissen.

"Na klar, die hat uns doch gesehen und hat gewinkt. Die hat gesagt, daß sie Larissa heißt. Dann hat sie mich gefragt, ob ich mit ihr spielen wollte. Ich hatte aber keine Lust auf Kleinmädchensachen. Außerdem darf ich ja nicht mal eben bei anderen Leuten auf den Rasen gehen, schon gar nicht, weil kleine Kinder das von mir wollen. Ich weiß ja nicht, wer die Eltern von der kleinen sind. Da war sie ein wenig eingeschnappt und hat dem Elefanten gesagt, uns naßzuspritzen. Da sind Mayette, Denise und ich ganz schnell in Deckung gegangen. Wir haben die dann nur noch lachen gehört."

"Oh, ihr wart bei den Swanns am Haus?" wollte nun Brittany wissen. "Die kleine Larissa kommt jetzt, wo sie ganz frei laufen kann immer mal wieder zu meinen Eltern rüber. Die spielt gerne mit dem Gartenschlauch in Daddys Garten."

"Das habt ihr richtig gemacht, Babette", lobte Blanche Faucon, die hier problemlos Englisch mit britischem Akzent sprach. "Gerade bei Zaubererfamilien ist es immer sehr anständig, erst dann in ein Haus oder einen Garten zu gehen, wenn die dort wohnenden Erwachsenen das einem erlauben und auch die eigenen Eltern das erlauben. So hättest du dann auch erst mal deine Eltern oder mich fragen müssen, wenn die Bewohnerin dieser architektonischen Herausforderung dich eingeladen hätte."

"Die kleine ist für ihre drei Jahre und die paar zerquetschten schon sehr aufgeweckt, um nicht zu sagen, durchtrieben", grummelte Daniel Forester. "Aber sie kann einen immer so angucken, als hätte sie nichts angestellt. Da ist es verdammt schwer, streng zu bleiben."

"Finden Sie, Mr. Forester?" fragte Blanche Faucon. Brittanys Mutter wandte ein, daß Larissa in ihrem jungen Alter schon heraus hatte, mit wem sie was anstellen konnte oder durfte. Blanche Faucon konnte da nur mit einem verhaltenen Kopfnicken antworten. Wußte die Schulleiterin von Beauxbatons womöglich auch, warum Larissa Swann so aufgeweckt war? Julius wollte sie nicht drauf ansprechen. Florymont interessierte sich für das silberne Haus, zumal er von Brittanys Mutter erfuhr, daß die Swanns sich viel mit Sonnenzaubern beschäftigt hatten. Insofern interessierte es ihn, ob er dieses Haus besichtigen durfte. Natürlich wurde er an die Hauseigentümerin verwiesen. Denise konnte ihm zeigen, wo das Haus stand.

Venus Partridge lud Julius ein, mit ihr und den anderen von der Mannschaft noch einmal Quodpot zu trainieren. Millie konnte leider nicht, weil sie ja immer für Aurore bereit seinsollte. Julius nahm die Einladung an.

Nach dem Mittagessen und genug Verdauungszeit übten die Friday-Schwestern, Brittany, Venus und die anderen aus der Quodpotauswahl von VDS das rasante und teilweise ruppige Spiel, wobei ja nur ein Ball gespielt werden mußte. Bei der Profi-Ausführung konnte der Ball jedoch jederzeit und ohne Vorwarnung explodieren und damit den, der ihn führte, ein vorzeitiges Ende der Partie bereiten, wenn nicht durch ein grobes Foul eine Rückkehrerlaubnis für den herausgeknallten ausgesprochen wurde. Drei Stunden flogen sie mit einem Übungsquod in der Stoß- und Hitzeabweisenden Spielerkluft, die aus der abgeworfenen Haut eines Wüstenwollwurmweibchens bestand. Julius schaffte es auf verschiedenen Positionen, mindestens zehn Direkteintopfpunkte zu erspielen. Er bildete eine Mannschaft mit Brittany, den Fridays und Kestrel Jones und mußte immer mal wieder gegen die von Venus geführte Gegenmannschaft parieren, die alle die Schnelle Richtungsänderung beherrschten, die wegen der blitzartigen Drehung um zwei Achsen Doppelachse hieß und von der Heilerin Aurora Dawn erfunden worden war, als diese selbst noch Hogwarts-Schülerin und Mitglied ihrer Hausmannschaft war. Sichtlich abgekämpft kleidete sich Julius wieder festtagstauglich um und apparierte mit den Mitspielern vor dem Haus zum sonnigen Gemüt. Da landete gerade Florymont Dusoleil mit Denise auf dem Besen. Ebenso trafen noch Peggy und Larissa Swann auf einem Familienbesen ein. Peggy beglückwünschte Julius zum hoffentlich erfolgreichen Schulabschluß und dazu, daß Millie und er eine gesunde Tochter bekommen hatten. "Kleine Mädchen gelten immer als pflegeleicht. Aber das ist eine blanke Selbsttäuschung. Ich hoffe aber, daß ihr mit der kleinen mehr Spaß als Mühe haben werdet." Millie, die mit der kleinen Aurore bei Jeanne und ihren Zwillingen stand nickte nur und sagte, daß sie mit dem richtigen Mann verheiratet sei, um Aurore zu einer interessanten, mit anderen Leuten gut klarkommenden Hexe zu erziehen. Larissa deutete auf das Mädchen im Tragetuch und fragte: "Wie heißt die?"

"Das ist Aurore", sagte Millie und ging ein wenig in die Knie, damit Larissa den dünnen Hals nicht überstrecken mußte. Aurore konnte das andere Mädchen nochgerade so erkennen und machte unbeholfene Winkbewegungen. Julius erkannte einmal mehr, daß Kinder voneinander fasziniert sein konnten, wenn sie noch ziemlich klein waren. Das lag sicher daran, daß sie im Vergleich zu den Erwachsenen noch gut zu überschauen waren. Für eine körperlich drei Jahre alte Junghexe war es sicher entspannend, mal wen zu sehen, der kleiner war als sie selbst.

"Will di immer reiten?" wollte Larissa wissen. Millie verzog für einen winzigen Moment das Gesicht und mußte dann grinsen. "Die kann noch nicht selber laufen. Die muß noch größer werden", sagte sie dann. Julius hörte heraus, daß sie sich sehr zusammenreißen mußte, um nicht verärgert zu knurren.

"Du warst auch mal so klein", sagte Peggy ihrer Tochter und hob sie hoch, damit sie Millie und Aurore problemlos in die Augen sehen konnte. Julius wollte gerade dazwischengehen, damit Larissa nicht auf die Idee kam, seine Tochter zu legilimentieren, als die Stimme einer bereits mittelalten Frau in seinem Geist erklang:

"Schon groß für eine gerade zwei Monate alte Junghexe. Habt ihr gut hinbekommen."

"Ja, und die ist echt", feuerte Julius eine Antwortbotschaft ab, die in seinem Kopf deutlich nachhallte. Also war sie auch ins Ziel gegangen.

"Hallo, ich bin auch echt, Jungchen. Es war für meine Mutter anstrengend, mich zu tragen, hat uns beiden sehr weh getan, damit ich auf die Welt kam. Ich mußte mich genauso anstrengen, um nicht zu verhungern wie eure Kleine und habe es als ganz unangenehm empfunden, in meinen eigenen Ausscheidungen zu liegen, weil keiner in der Nähe war, mir die vollen Windeln abzunehmen. Ich bin auch echt."

"Merke ich gerade", gedankengrummelte Julius. Larissa Swann wand sich in den Armen Peggys. Doch diese hielt sie noch fester, weil sie dachte, das sie ihr sonst herunterfallen mochte. So kam bei Julius nur noch eine verbittert nachschwingende Gedankenbotschaft an:

"Ich hätte es dir damals nicht offenbaren dürfen." Julius konnte nur ein verächtliches "Ich hab ja auch nicht drum gebeten" zurückmentiloquieren. Beinahe hätte er der scheinbar unsichtbaren Gedankensprechpartnerin noch mitgegeben, er könne sie ja wegen Verstoßes gegen die Iterapartio-Auflagen anzeigen. Doch das behielt er besser für sich. Denn er wußte ja, mit wem Peggy und Larissa Swann gut auskamen.

"Die kleine will wieder auf ihre eigenen Beine. Dann fliegen wir wieder nach Hause", sagte Peggy Swann und wünschte Millie und Julius noch einmal mehr Freude als Verdruß mit der kleinen Aurore. Julius sah dem Mutter-Kind-Gespann auf dem Besen nach. Millie mentiloquierte ohne Zuhilfenahme des Zuneigungsherzen:

"Hat dieses kleine Biest wieder mit dir in Gedanken geturtelt?" Julius mentiloquierte ein "Ja, hat sie" zurück. "Erzähl mir das nachher im Bett, was die wollte!" pflanzte Millie eine verbindliche Aufforderung unter die Schädeldecke ihres Mannes.

Der Abend kam und mit ihm das strahlende Paar. Noch trug Julius' Mutter kein Brautkleid. Doch in ihrem seegrünen, fließenden Kleid aus Grünstaudenfasern wirkte sie trotzdem schon wie eine Braut nach dem Jawort. Julius hatte seine Mutter nur wenige Male wirklich als Frau mit starken Gefühlen erlebt. Jetzt durfte er mitverfolgen, wie glücklich sie war. Lucky Merryweather trug ein Kostüm aus einem sonnengelben Umhang, auf dem himmelblaue Sonnenscheiben aufgestickt waren, wolkenweiße Tanzschuhe und einen blattgrünen Zaubererhut, an dessen Spitze ein Gebilde steckte, das wie ein umgedrehter Baum mit grünem Stamm und braunen Blättern aussah. Viele Gäste rümpften die Nase. Andere lachten lauthals. Magische Kameras blitzten und rauchten rot, um diese total verdrehte Farbmischung einzufangen. Julius mußte komischerweise an den Spruch denken, mit dem er am letzten Tag seiner Schulzeit alle anderen geweckt hatte: "Morgen, Leute, die Sonne wölbt sich bereits hell über der Erde und der Himmel geht im Osten strahlend auf!" Außer Millie hatte er das keinem erzählt. Woher hätte Lucky das dann als Inspiration für sein Kostüm nehmen können?

"Onkel Lucky, ist deinem Maßschneider der Farbkasten durcheinandergeraten?" wollte Linus Brocklehurst wissen. Lucullus Enceladus Merryweather genannt Lucky lachte darüber nur und verwies auf die kurze Ansprache, die er gerne nach dem Abendessen halten würde.

"Jetzt bin ich doch mal gespannt, was dabei herumkommt, wenn Mum und Mr. Merryweather echt noch ein eigenes Kind auf den Weg bringen", meinte Julius zu seiner Frau.

"Mindestens ein wildes Partyhexlein und einen planmäßig Streiche spielenden Zauberer wie Petronellus Collinebleu", vermutete Millie. Im Grunde hätte den beiden ja auch keiner zugetraut, daß die einmal ein gemeinsames Kind haben würden.

Anders als beim Mittagessen fuhr der Wirt nun ein sechsgängiges Menü mit verschiedenen Köstlichkeiten aus verschiedenen Küchen der Welt auf. Natürlich gab es hier in den Staaten auch Hamburger, wenngleich die raffinierter zubereitet waren als jene aus den Schnellrestaurants der Muggelwelt und dazu noch die vierfache Größe besaßen.

"Jau, Maismehlbrot für die Fleischklopse und echtes Tomatenmark", lobte Millie die Küche, als sie sich einen der Hamburger schmecken ließ. Joe langte dafür bei den Rippchen in Grillsoße zu und mußte schnell was nachtrinken, weil die Soße ungemein scharf war.

"Hilfe, was hat der denn da reingetan", röchelte Joe Brickston, während er noch ein Glas Wasser in einem Zug leerte.

"Hoffentlich müssen Sie nicht niesen, Mr. Brickston. Der letzte, der Charlies Drachenfeuersoße gekostet hat hat beim Niesen den halben Saal abgefackelt", scherzte Lucky Merryweather.

"Das Zeug ist doch nicht so heftig", meinte Albericus Latierre, der ebenfalls von den Rippchen nahm. Brittany hielt sich lieber an die Tortillas mit Auberginen und Succhinis und Avokadocreme. Überhaupt mied sie alles, was mit Tierprodukten angerichtet worden war. So hielt es auch ihr Vater, der mißmutig zu Ferdinand Latierre hinblickte, der ein gewaltiges Hüftsteak in sich hineinstopfte.

"O Mann, in meinem Bauch brennt ein Feuerball. Wenn ich gleich explodiere kriegt der Grinsecowboy da unten aber noch Ärger", kkrächzte Joe.

"Onkel Lucky, so kann man Fleischfressern auch den Appetit verderben", meinte Brittany dazu. "Ich kitzel das Rezept aus Winnie raus, wie die Soße geht."

Antoinette Eauvive ging zu Joe und gab ihm aus ihrer immer mitgeführten Heilertasche eine kleine Phiole und bestand darauf, daß er sie leertrank. Er traute der zitronengelben Mixtur nicht so recht. Doch dann schluckte er das magische Elixier.

"o, Sie sind eine Spielverderberin, Madame Eauvive", seufzte Lucky Merryweather.

"Das verbitte ich mir, ob Sie nun als Gastgeber meinen Respekt erwarten dürfen oder nicht. Womöglich wissen Sie nicht, daß ein Übermaß von venezuelanischen Feuererbsen bei Nichtmagiern zur Übersäuerung des Magens und wüstengleicher Überhitzung des gesamten Organismusses führen kann, die ohne Gabe des zertifizierten Abkühltrankes zum Kreislaufzusammenbruch führen kann, abgesehen von der starken Dehydration. Wollen Sie sich wegen ihres Bedürfnisses nach Kurzweil eine Anklage wegen magischer Körperverletzung von Muggeln einhandeln?"

"Der Typ hat mir so'n Feuerschluckzeug untergejubelt?" brach es aus Joe heraus, der nun ganz von seinem überscharfen Essen kuriert war. Da begann Mayette wild zu husten und kleine Funken zu spucken. Auch sie hatte von der besonderen Soße genascht.

"Du auch?" fragte Madame Eauvive. Da stand Béatrice Latierre auf und ging zu ihrer Halbschwester, um ihr auch den Abkühl- und Beruhigungstrank zu geben. Madeleine L'eauvite verwandelte sich derweil ohne eigene Zauberstabbenutzung in einen Kanarienvogel. Julius fragte sich, ob das nicht ein wenig zu weit ging. Denn er hatte es noch mitbekommen, daß die Weasleys Cremeschnitten erfunden hatten, die eine vorübergehende Verwandlung in einen Kanarienvogel ermöglichten.

"Madeleine, findest du das jetzt witzig, dich bei Tisch in irgendwas anderes zu verwandeln?" herrschte Blanche Faucon ihre ältere Schwester an, bevor sie die Cremeschnitten sah, die auf dem großen Tisch für Nachspeisen bereitgehalten wurden. Indes begann der Kanarienvogel ein fröhliches Lied zu pfeifen, daß Lucky Merryweather laut lachen ließ. Blanche Faucon ließ mit einem Zauberstabwink sämtliche Cremeschnitten verschwinden und zielte dann auf ihre verwandelte Schwester. Es krachte laut, und in einem violetten Blitz erschien Madeleine L'eauvite in ihrer ursprünglichen Gestalt, wobei ihr noch drei Wörter eines wohl sehr frivolen Liedes über die Lippen rutschten, bevor sie merkte, daß sie wieder eine Hexe im bunten Festkleid war. Dann mußte sie unvermittelt aufstoßen, wobei vor ihrem Mund ein kanariengelber Rauchpilz aufblühte, der knisternd zerfaserte.

"Wenn du nicht meine älteste Schwester wärest", fauchte Blanche Faucon.

"Hätten Maman und Papa sicher weniger Spaß im Leben bekommen", konterte Madeleine. Ihre jüngere Schwester lief an den Ohren rot an, während Madeleine noch einmal, aber mit geschlossenem Mund aufstieß. Dabei blies etwas ihre Backen auf, und sie mußte den Mund öffnen. Wieder zersprühte ein kanariengelber Rauchpilz vor ihrem Mund.

"Wo erwirbt man diese höchst interessanten Süßwaren, Mr. Merryweather?" wollte sie von dem leise kichernden Gastgeber wissen.

"Die hat meine Verwandte aus England geschickt, als ich anfragte, ob es Leckereien mit magischen Überraschungen gebe."

"Ja, und Ihre Anverwandte war sich nicht zu schade, Ihnen die auf reinen Schabernack mit Verwandlungszaubern ausgelegten Erzeugnisse der Gebrüder Weasley zukommen zu lassen", knurrte Blanche Faucon. Antoinette nickte ihr beipflichtend zu. Madeleine bedankte sich bei ihrer Schwester für die gewünschte Auskunft, was Blanche ein wenig verunsicherte. Millie fragte Julius, ob es nicht lustiger wäre, wenn Madeleine L'eauvite Lucky Merryweather heiratete. Doch weil Monsieur L'eauvite nicht so weit fort saß und sich gerade über die ungewollte Verwandlungseinlage seiner Frau amüsierte, ließ Julius die Frage besser unbeantwortet. Er hoffte nur, keinen Würgzungentoffey oder die Nasch-und-schwänz-Leckereien abzubekommen, die Fred und George erfunden hatten.

Julius probierte die Rippchen in der Grillsoße aus, konnte aber keinen heftigen Hitzestoß in seinem Körper verspüren. Millie meinte dazu, daß hier wohl eine Art Lotterie mit den Gästen gespielt wurde, wer die Ladung Feuererbsenpulver erwischte.

"Ein Chemiker namens Scoville hat alle scharfen Gewürze einmal gemäß ihres Capsaicingehaltes in eine Skala eingeteilt. Pures Capsaicin ergibt einen Wert von einer Million Scovilleeinheiten. Könnte sein, daß diese Feuererbsen da noch drüberkommen, wenn man sie pur ißt. Zumindest kannte ich die bis heute nicht. Wollte uns Trifolio sicher nicht im Unterricht vorstellen."

"Auch wenn du nun seit einigen Tagen ehrenvoll aus Beauxbatons verabschiedet wurdest bitte ich dich darum, meinen werten Mitarbeiter mit Respekt und dem ihm gebührenden Titel zu benennen", sagte Blanche Faucon, die um den Tisch herumging und nach verdächtigen Speisen suchte, die nachher noch irgendwas unbeherrschbares anstellten. Julius überspielte die kurze Verlegenheit mit der frechen Bemerkung:

"Also, wenn hier auch Jackalopenfleisch serviert wurde wird das nachher noch eine wilde Feier."

"Oh, das wäre dann aber ein Fall für den Ausschuß gegen den Mißbrauch der Magie und das Verbot von magischen Nahrungszusätzen, welche den freien Willen unterdrücken", fauchte Blanche Faucon, bevor sie Julius kurz am rechten Ohr zog und "Lümmel", hinzufügte. Dann ging sie weiter.

"Also, außer den Cremeschnitten und einigen Portionen der ansonsten sehr zu empfehlenden Rippchen finde ich nichts beanstandenswertes vor", verkündete Madame Faucon. Mr. Merryweather verzog das Gesicht. Seine Mutter, die bis dahin angespannt auf ihrem Stuhl gesessen hatte, entspannte sich und warf ihrem Sohn und der zukünftigen Schwiegertochter einen tadelnden Blick zu. Julius' Mutter machte jedoch ein Gesicht, als wolle sie vor einem Gericht ihre reine Unschuld beteuern.

Mit gewisser Vorsicht, aber dann doch wieder kräftig zulangend beendeten die Gäste das Festessen. Danach klopfte Lucky Merryweather an seinen Kristallkelch. Sofort kehrte aufmerksames Schweigen ein.

"Sehr geehrte Festgäste von hier und von überm großen Wassergraben, ich freue mich heute, euch und Sie hier zu Gast zu haben, um allen, die es jetzt schon angeht zu verkünden, daß ich, der von den meisten Lehrern und Mitschülern für einen ewigen Junggesellen angesehen wurde, bereit bin, mit einer höchst interessanten Hexe weiterzuleben. Martha, du mußt nicht so verlegen kucken! Ich habe doch recht." Ein kurzes Lachen unterbrach den Redner. Dieser räusperte sich kurz und fuhr fort. "Nun, es ist jetzt anderthalb Jahre her, wo Martha und ich uns bei der Hochzeit meines Neffen Linus und seiner starken wie entschlossenen Frau Brittany kennenlernen durften und zur Belustigung allgemein und zu unserem persönlichen Vergnügen die beiden Hochzeitssträuße aus der Luft fingen. Sicher haben sie und ich da erst gedacht, das dies eben nur eine lustige Schau ist, die für nette Unterhaltung sorgt. Als ich aber diesen Mai erkannte, daß ich diese aus England stammende Hexe, die noch als angebliche Muggelfrau großgeworden ist, immer mehr verehre, anbete und liebe, fiel es mir, dem geborenen Spaßvogel schwer, das einfach so als tollen Witz meines Gehirns zu verlachen. Denn irgendwie habe ich gemerkt, wie ernst mir die Sache war. Sicher, zwischen ihr und mir lag und liegt dieser große breite Salzwassergraben, den andere als atlantischen Ozean bezeichnen." Wieder klang amüsiertes Lachen auf. "Aber wie sagt der Fürst aller Hochzeitsutensilien, Amando Aureanulus Millamant zutreffend: "Im Klang des Hammers, der einen Kessel schmiedet, klingt bereits das Lied der Arbeit, mit der sein Deckel geschmiedet wird." Auch wenn Jahre vergehen und große Entfernungen zwischen dem Kessel und seinem passenden Deckel bestehen, so fügt es sich doch irgendwann, daß beide zusammengeführt werden und ein neues vollständiges ganzes bilden. Das sagte mir die Hexe, deretwegen wir heute überhaupt hier zusammensitzen", wobei er auf seine Mutter deutete und mit der anderen Hand um Applaus bat. Als dieser verklungen war fuhr er fort: "Somit sind wir heute alle hier, damit ich euch allen, wie ihr hier sitzt, dankbar die Hexe vorstellen möchte, die Am Ende dieses Jahres mit mir vor den Zeremonienmagier treten und ihm die zwei wichtigsten Fragen unseres Lebens beantworten wird. Leute, das ist Martha, meine Verlobte. Meinen Blutsverwandten sage ich's besser gleich: Seid nett zu ihr. Denn sie hat es drauf, zwischen Muggel- und Zaubererwelt zu vermitteln und kennt die Tricks aus der einen wie die aus der anderen Welt. Denn sie hat einen scharfen Verstand, einen unbeugsamen Willen und das Talent, scheinbar schwierige Sachen zu einem sinnvollen Ende zu bringen. Ich konnte, kann und will das nicht so häufig, wie ihr ja wißt. Ich weiß aber, daß ich mir nicht alleine das Leben mit Martha teilen kann. Denn sie hat bereits einen sehr gut geratenen, mal scherzhaft, mal ernsthaft durch die Welt gehenden Sohn auf diese unsere Welt gebracht, der, wie ich mitbekommen durfte, ein höchst erfolgreiches Leben als Zauberer vor sich hat und mich in dem Moment schon zum Opa macht, wenn ich mit Martha vor dem Zeremonienmagier trete. Hätte meine geliebte und geachtete Mutter wohl auch nicht erwartet, daß der Sohn, der es bisher nicht geschafft hat, eine Hexe zu finden, die ihre Enkelkinder gebären möchte, auch ohne eigenes Kind zum Großvater werden kann." Einige der Männer im Raum lachten, während die meisten Frauen verlegen umherblickten. Nur Ursuline Latierre und Madeleine L'eauvite fielen mit in das verrucht klingende Lachen ein. "Ich weiß, wie wichtig es für euch beide, Martha und Julius ist, weiterhin gut miteinander auszukommen. Daher nutze ich diese Gelegenheit und frage dich, Julius: "Darf ich der neue Mann deiner Mutter werden?" Julius stellte sich kurz hin und sagte feierlich:

"Wenn Sie versprechen, ihr niemals weh zu tun oder sie zu verraten oder feige vor einer gemeinsamen Schwierigkeit wegzulaufen, dann sollen Sie das Glück sein, daß meine Mutter verdient hat. Ich beglückwünsche euch beide." Verhaltener Beifall klang auf. Doch weil Brittany diese kurze Erwiderung für sehr mutig und entschlossen hielt klatschte sie lauter, bis alle anderen auch lauter klatschten. "Dann möchte ich mich auch bei dir, Julius, für deinen Zuspruch und dein Vertrauen bedanken und dir versprechen, daß ich nichts tun werde, um es zu zerstören. Das schwöre ich beim Barte Merlins, dem Stab des Belenus und allen Gestirnen unseres Universums, aus deren Kraft wir entstanden sind. Ich freue mich, daß ihr alle heute dabei sein könnt und übergebe jetzt, falls sie das möchte, das Wort an meine Verlobte, Martha Eauvive, geborene Holder, verwitwete Andrews." Noch einmal scholl Applaus aus den Reihen der Gäste. Lucky Merryweather verbeugte sich kurz und setzte sich wieder hin. Martha Eauvive erhob sich und wartete, bis der Beifall verklungen war. Dann sprach sie zu den Gästen:

Sehr geehrte Festgemeinde, vor allem Madame L'eauvite, Antoinette und Albert Eauvive, sowie Madame Faucon, Mildrid und Julius, ich freue mich, daß nach einer langen Zeit der Mühen und der Ungewißheiten wieder ein fester Halt für mich erkennbar ist, ein Anker, der mich in der stürmischen See des Lebens sicher an dem Ort hält, der für mich wichtig ist. Lucky Merryweather hat ja schon gesagt, wie unverhofft alles war. Doch in sich birgt das, was er über die Kessel und ihre Deckel gesagt hat, eine gewisse Logik, und mit Logik bestreite ich seit meiner Schulzeit den größten Teil meines Lebens. Daher ist es trotz anfänglicher Vermutungen, es könne eine geheime Zauberei im Spiel gewesen sein, doch ein nachvollziehbarer Vorgang gewesen, etwas, daß wohl deshalb passierte, weil die Bedingungen dafür überwogen als die dagegen. Und das ist es doch, was jedesmal bei einer Verlobung oder gleich einer Hochzeit wichtig ist: Es muß immer mehr geben, was dafürspricht als das, was dagegenspricht. Ich mußte mich auch erst mit dem Gedanken vertraut machen, daß ich ab Dezember oder Januar einen neuen, hoffentlich abwechslungsreichen und andauernden Lebensabschnitt beginne, in dem ich Platz für Menschen und Ereignisse freihalten muß, die ich vor anderthalb Jahren noch nicht kannte, ebensowenig wie diese mich kannten. Lucky, wenn du mit einer jungen Großmutter Tisch und Bett teilen willst, kannst du auch als junger Großvater glänzen. Ich danke dir dafür, daß du mich und Julius, der trotz seiner Eigenständigkeit und Errungenschaften immer ein Teil von mir bleiben wird, um seine Zusage gebeten hast. Keiner konnte dich dazu zwingen, dies zu tun. Also ist es doppelt so erhaben, daß du es getan hast. So bleibt mir auch noch eine aus Anstand und Dankbarkeit erwachsene Pflicht: Hygia, gibst du mir deinen Segen, mit deinem Sohn Lucky das weitere Leben zu verbringen, jenes Leben, daß du ihm gegeben hast?" Die Schulheilerin von Thorntails erhob sich in ihrem mintfarbenen Festkleid und sagte laut: "Martha, ich stimme dir vollkommen zu, daß das Kind auch im Erwachsenenalter immer ein Teil seiner Eltern sein wird und ein Teil der Mutter im besonderen, da sie es ins Leben trug. Das wichtigste für eine Mutter ist, daß jedes ihrer Kinder unbesorgt und auch erfreut durch sein Leben gehen kann. Da ich mitbekommen durfte, wie mein Sohn Lucullus und du euch trotz der bereits erwähnten Entfernung einander angenähert habt, will ich diesem Schicksal nicht im Weg stehen. Ich hoffe, wir beide lernen uns in den kommenden Jahren so gut kennen, daß du in mir nicht nur die Hexe erkennst, die deinen Mann geboren hat, sondern auch eine Vertraute, eine Gefährtin und Ansprechpartnerin, solltest du Angst bekommen, daß mein Sohn und du das gemeinsame Glück verlieren könnten. Daher gebe ich dir und allen noch in deinem Leib ruhenden Nachkommen meinen Segen, mit meinem Sohn Lucullus lange und glücklich zu leben." Martha Eauvive lief an den Ohren rosarot an. Doch sie sprach nun mit derselben Freude in der Stimme zu ende, daß sie nun, wo das geklärt war, dem weiteren Weg mit Lucky Merryweather vorfreudig entgegensehe. Sie verbeugte sich. Wieder klatschten die Gäste Beifall. "So laßt uns alle tanzen, bis wir bei dem guten Charlie und seiner Winnie in der Küche landen!" rief Lucky. Mit diesen Worten löste sich die hintere Saalwand auf und enthüllte eine Tanzfläche im Schein von hunderten frei schwebender Kerzen und eine Bühne, auf der Kulissen wie für einen Western aufgebaut waren. Durch die Atrappe einer Saloontür betraten fünf in Cowboykleidung steckende Musiker mit Gitarre, Banjo, Fidel, Flöte und Schellentrommel die Bühne. Sie winkten dem Bräutigam zu. Dieser stellte die Kombo als "Die lautstarken Lassospringer" vor. Der Boss der Band nickte Lucky zu und begrüßte die Gäste. Er trug einen breitkrempigen Cowboyhut aus feuerrotem Filz und trug eine grün-weiß längsgestreifte Weste und ein grünes Halstuch. Seine Füße steckten in silbernen Westernstiefeln. "Howdy zusammen, als der gute Lucky mir und den Jungs erzählt hat, daß er echt wen gefunden hat, mit dem er sowas wie'n Familienleben führen will, haben wir erst mal nur gelacht und geglaubt, der macht mal wieder Witze. Ihr kennt ja den guten Lucky. Aber als wir dann von seiner Mom mitkriegten, daß der echt mit einer anderen Hexe vor den Goldfunkensprüher will, da mußten wir alles absagen und jede Aufforderung zum Duell auf später nachzuholen verschieben, um hier und heute hierzusein und uns die Braut anzusehen. Wer ist es?" Er deutete auf die einzelne Wiege, in der Aurore lag. "Joh, jung gefreit, nie gereut, junge Lady", grinste er, als er auf die gerade aufwachende Tochter Millies und Julius' deutete. Dann stupste ihn der Flötenspieler an und zischte ihm was ins Ohr. Dieser Cowboy trug einen blütenweißen hut, ein himmelblaues Hemd und eine sonnengelbe Weste. Aber die Stiefel waren ebenso silbern wie die des Schellentrommlers und Sprechers.

"Oh, hätte ich fast einen mächtigen Bock geschossen", lachte der Leiter der lauten Lassospringer und tat schuldbewußt. "Jack meinte, daß Lucky das Babypudern erst nach dem Heiraten lernen will und nicht schon davor. Jack, du hast recht. Aber wer ist denn dann die glückliche Braut?" Jetzt deutete er auf Ursuline Latierre, die vergnügt grinste. "Joh, Lucky, da mußt du aber gut ranschaffen, damit die immer genug zu essen kriegt, sonst wird sie zu dünn", sagte der Bandsprecher. Darauf stupste ihn der Fidelspieler den Bogen in die Seite und zischte was. "Ui, Fred meint, daß Lucky gleich sechzehn stramme Kinder mitheiraten müßte, weil die Dame schon so gut vorgearbeitet hat. Glückwunsch, Ma'am!" Ursuline bedankte sich schmunzelnd für die Gratulation. Blanche Faucon wirkte immer ernster, während die Eheleute L'eauvite leise lachten. Dann deutete der Leiter der Band auf Blanche Faucon, die schon Anstalten machen wollte, dieser Vorstellung ein abruptes Ende zu bereiten. Als der Musiker in der grün-blau-weißen Weste dann noch sagte, daß Lucky wohl eine Hexe gefunden hatte, die ihm noch was neues beibringen wollte, mußten Madeleine und einige von Luckys angereisten Freunden lachen. Joe Brickston hielt sich die Hände vor das Gesicht, wohl um seine Schwiegermutter nicht sehen zu lassen, wie das ihn amüsierte. Jetzt bekam der Sprecher des kleinen Orchesters die Gitarre in den Rücken geschlagen. Er wirbelte herum und hörte, was der Gitarrenspieler ihm zuflüsterte. "Oha, Lucky, Gordy glaubt's nicht, daß deine Mom dich ins alte Europa entwischen läßt, wo sie nix von ihren Enkelkindern mitbekommt, bis die selber lesen und schreiben können." Das löste eine Lachsalve der älteren Hexen bis auf Antoinette Eauvive aus. Die jüngeren hielten sich still. Joe platzte fast vor krampfhaft unterdrücktem Lachen. Babette sah ihre Großmutter mit übergroßen Augen an. Sich vorzustellen, daß sie wie die kleine Viviane Dusoleil noch eine Tante oder einen Onkel im Babyalter haben könnte gefiel ihr nicht. Blanche Faucon wollte schon den Zauberstab ziehen, als der Mann mit dem feuerroten Cowboyhut auf Venus Partridge zeigte, die bei den Friday-Schwestern saß und die Schau verfolgte. "Jiha, die Heldin der Windriders, Lucky. Das hätte ich aber jetzt nicht für möglich gehalten, daß du selbst noch mal einen Quod eintopfen möchtest und ... Autsch!" Erst dachte Julius, daß Madame Faucon irgendwas angestellt habe. Doch es war nur das Banjo des fünften Musikers, daß dem rothütigen eine Beule in den Hut drosch. "Sowas sagt man nicht vor Kindern und Ladies", schnarrte der Banjospieler. "Ben, unsere moralische Instanz", bemerkte der mit dem roten Filzhut. Er blickte sich mit seinen hellbraunen augen um und fuhr sich durch den struppigen braunen Bart. Dann sah er Martha Eauvive und fragte sie: "Bevor ich von allen vieren da hinter mir zusammen was übergebraten kriege, Ma'am, sind Sie die Braut?" Martha lächelte und bestätigte es. "Angenehm, ich bin Old Firehat Felix. Die Banditen da hinter mir machen mit mir zusammen Musik. Brauchen Sie gerade Musiker?" Martha Eauvive und Lucky nickten. "Okay, die beiden wollen unsere Musik hören. Womöglich kennen sie noch nix von uns. Ähm, wer will noch unsere Musik hören?" Die amerikanischen Festgäste klatschten und johlten. "Ich hör nix!" feuerte Old Firehat Felix die Gäste an. Die Kinder stimmten mit ein, auch die, die kein Englisch verstanden. "Okay, Leute, ihr wollt das so. Gehen wir's langsam an. der Weites-Land-Walzer zum eintanzen, Jungs!" Nach dem letzten Wort zählte er auf seiner Trommel das Lied an. Ein im Dreivierteltakt gehaltenes Stück begann. Zuerst stand das künftige Hochzeitspaar auf und begann, sich zu drehen. "Hey, Lucky, das ist ein Westernwalzer und kein Wiener Walzer", mußte Old Firehat Felix dazu bemerken. Lucky lachte zurück: "Dann können meine Braut und ich aber nicht mehr zu deiner Musik tanzen."

"Gibt's Damen und Burschen, die Lucky vortanzen können?" fragte Felix und stoppte mitten im takt. Die Brocklehursts stellten sich auf, ebenso Venus, die mit einem ihrer Quodpotkameraden tanzte. Schnell fanden sich weitere Paare zusammen. Dann setzte die Musik wieder ein, bis die Tänzer im schwungvollen Walzer mit immer wieder kurz aufspringen tanzten. Julius tanzte natürlich zuerst mit seiner Frau, während Blanche Faucon und Hygia Merryweather dem ganzen Treiben nur zusahen. Der Walzer wurde jeden dritten Takt um einige Taktschläge pro Minute schneller, bis die Saiteninstrumentalisten unvermittelt aus dem Dreiviertel- in den Viervierteltakt wechselten und die Tänzer einen Schritt zu wenig auf das Parkett bekamen, bevor sie richtig in das neue Stück hineinfanden, zu dem die vier Musiker ohne Blasinstrument vierstimmig sangen. Die Geschwindigkeit blieb jedoch erhalten, so daß die Tänzer sich gut erhitzten. Dann hörte das Stück mitten im Takt auf, um nach einer Pause von vier stummen Taktschlägen weiterzuklingen. "Wo hat dein zukünftiger Stiefvater die Jungs her?" fragte Millie. "Das sind ja echt fiese Fallen, die die für die Tänzer bauen."

"Frage ich ihn, wenn mal Pause ist", versprach Julius. Dann teilte er seinen Atem für den schnellen Tanz ein. Einmal hörten alle auf, ihre Instrumente zu spielen und sangen nun fünfstimmig weiter. Dann setzte erst die Trommel, dann die Gitarre und dann der ganze Rest wieder ein, bis das Stück in den Walzertakt zurückfiel, mit dem alles angefangen hatte. Der Walzer klang langsamer, bis der Gitarrist und der Fidler plötzlich ein Wienerisch angehauchtes Lied spielten, das durchaus vom legendären Walzerkönig Johann Strauß dem Jüngeren komponiert worden sein mochte. Dabei zupfte der Gitarrist seine Saiten so an, daß die Gitarre wie eine Zitter klang, wie sie im Film vom dritten Mann zu hören war. Dann meinte Felix: "Gut jetzt, sonst muß ich noch 'ne Herde weißer Pferde einfangen, die zu dem ganzen Zeug tanzen." Blanche Faucon sah Old Firehat nun mit Erstaunen an, wo sie ihm und seinem Auftritt vorhin noch mit gewissem Unmut gegenübergestanden hatte. Millie meinte zu Julius, daß Madame Faucon sich sicher nach Apollo und Julius als Rapperduett zurücksehnte.

"Ich glaube das mit den Enkelkindern ist bei ihr nicht so gut angekommen", mentiloquierte Julius seiner Frau ohne Herzanhängerhilfe. Diese drückte nur seine Hand, weil Nicken und andere Erwiderungsgesten ja unstatthaft waren, wenn wer Gedankenbotschaften verschickte.

Nach dem etwas anderen Walzer folgte ein gemächlicher Vierertakt. Danach krähten erst Blanche Berenice Latierre und dann auch Aurore, womit ein Schreichor aller gerade im Saal befindlichen Babys einsetzte. Die Musiker beendeten das gerade gespielte Stück manierlich. Der Flötenspieler Jack rief: "Also so falsch habe ich nun auch wieder nicht geblasen, ey!" Viele jüngere Gäste lachten darüber. Ursuline erwiderte darauf:

"Nein, aber unsere Kinder sind es Leid, daß wir denen den ganzen Abend was vorgegessen haben, ohne was abzugeben. Habt ihr ein paar nette Wiegenlieder drauf, wenn wir wiederkommen?"

"Yo, Baby!" rief Fred, der Fidelspieler. Dafür zog ihm Ben, der Banjomann sein Instrument über den blauen Cowboyhut. "Wir machen Westernmusik und keinen Rap. Also entschuldige dich bei der Lady!"

"'tschuldigung, Lady", sagte Fred reuevoll tuend.

"Ihr könntet glatt von mir sein, Jungs", sagte Ursuline und zwinkerte keck den fünf Musikern zu, bevor sie ihre vier schreienden Kinder einsammelte. "Gut, Julius, dann gebe ich auch mal was von dem ab, was ich gegessen habe. Gut, daß ich keine Feuererbsensoße erwischt habe."

"Stimmt, da würde unsere Kleine glatt auf ihrem eigenen Pups zum Kamin rausfahren, wenn sie das Zeug aus dir raussaugt", erwiderte Julius.

"Du könntest auch von Oma Line sein", grinste Millie und nahm ihre Tochter. Als die jungen Mütter mit ihren fordernden Kindern in das Bad für Damen verschwunden waren bildeten sich neue Paare. Dabei konnte Julius mit Venus Partridge tanzen.

"Kennst du die Band auch schon?" fragte Julius.

"Die haben es drauf, Julius. Ja, die waren bei der Feier nach dem Spiel der Mountain Peaks da. Wir haben das Spiel gewonnen. Aber die haben zusammen mit den Mittagströtern und ihren Maskottchen Dotty und Bläänch richtig Stimmung gemacht. Soweit Britt mir von Linus erzählt hat sollen alle von den Lassospringern und den Mittagströtern mit Lucky in einer hausübergreifenden Band gespielt und sich so um das Tanzen bei den Schulabschlußbällen herumgemogelt haben. Aber Linus oder dein ... ähm, Lucky Merryweather können dir das garantiert besser erzählen."

"Ähm, ich weiß nicht, ob Madame Faucon das so mag, wie hier ihr Vorname ausgesprochen wird", seufzte Julius.

"Vor allem, wenn sie mitkriegt, daß ich dabei an eine schneeweiße Langhornkuh gedacht habe, über die die Bandmitglieder immer wieder springen oder auf der sie reiten, während sie tanzt. Könnte passieren, daß zur Hochzeit die andere Bande aufspielt. Die können alles, was hier in den Staaten und südlich davon so geboten ist", sagte Venus und drückte sich aus einer Tanzbewegung heraus eng an Julius. Julius erwiderte die innige Umarmung. Er kannte es von den Tänzen mit Bärbel Weizengold, daß nichts dabei war, so zu tanzen.

Beim nächsten Stück, das mal wieder ein Walzer war, bat Hygia Merryweather Julius um den Tanz.

"Es ist für uns beide ein einschneidendes Erlebnis, nicht wahr? Deine Mutter nimmt sich einen neuen Mann und ich muß mir meinen Sohn mit einer anderen Frau teilen", begann sie zu sprechen. Julius bestätigte, daß es schon eine Gewöhnungsfrage war, seine Mutter aber auch sehr früh durch ihn vor gewisse Tatsachen gestellt worden war. "Und an dir kann sie sehen, daß es eine schöne Sache sein kann, jemanden an der Seite zu haben, mit dem man in derselben Wohnstatt lebt. Aber du brauchst keine Angst zu haben. Lucullus wird nie versuchen, deinen Vater zu ersetzen. Dafür bist du ihm schon zu weit voraus." Julius machte nur "Häh?!" "Immerhin darfst und mußt du ihm vorleben, wie ein Familienvater zurechtkommt, der gerade erst seinen Weg ins Berufsleben angetreten hat. Gut, daß meine altehrwürdige Kollegin Greensporn nicht hier ist. Aber die würde sicher genau wie deine Schwiegertante Béatrice versuchen, dich für unsere ehrenvolle Zunft zu gewinnen."

"Sie nicht?" fragte Julius verunsichert.

"Zum einen ist es vielleicht angeraten, wenn wir uns ab heute zumindest beim Vornamen nennen, wenngleich ich schon gerne hätte, wenn der Sohn meiner Schwiegertochter Gran oder Grandma zu mir sagt. Aber das findet sich mit der Zeit. Zum anderen lege ich keinen Wert darauf, dich zu etwas zu überreden, was dich von deiner Frau und deiner Tochter fernhält, und das ist, soweit ich das von meiner Kollegin Rossignol mitbekommen habe, der Fall, wenn du die Heilerausbildung in Frankreich machen würdest. Natürlich wird die erwähnte Kollegin dir mit Vernunft und Ehrgeiz dazu geraten haben, dich für eine Ausbildung zum Heiler zu bewerben. Aber sie ignoriert dabei das wesentliche, daß ein Heilkunstadept mit allen Fasern seines Hirns und Herzens für diese Ausbildung eintreten muß. Sie hat damals erst ihre Kinder bekommen, als sie aprobiert war. Ich bin fünf Jahre lang unverheiratet gewesen, bis die Heilzunft meinen Auserwählten für geeignet befunden hat. Insofern kennen weder sie noch ich es, ein Familienleben mit der Heilerausbildung zusammenzubringen. In Australien könntest du vielleicht ausgebildet werden, aber die verpflichten einen dann auch gleich, in ihrem Land zu praktizieren, soweit ich das von deiner Bekannten Aurora Dawn gehört habe." Julius nickte. Dann sagte er: "Wenigstens eine aus der Heilzunft, die zumindest versteht, warum ich da nicht freudig zusagen kann."

"Ja, das wird die gute Antoinette Eauvive einiges Kopfzerbrechen bereiten, wie sie deine Bedenken ausräumen und ihren Willen bekommen könnte."

"Ich werde wohl eher was mit anderen Zauberwesen oder Zauberkräutern anfangen, wo ich jeden Abend nach Hause kann. Gerade jetzt, wo ich das hautnah mitbekommen kann, wie Aurore aufwächst, will ich nicht denselben Fehler machen wie mein Vater, der wegen seines Berufes öfter Überstunden gemacht hat als sonst was." Julius dachte dabei daran, wie Hygia Merryweather seinen von dieser Patricia Straton zum Neugeborenen zurückverjüngten Vater in die Arme genommen hatte, als sie ihnen beiden aus der Mojavewüste herausgeholfen hatte.

"Wie gesagt, Julius, du mußt mit Herz und Hirn ganz bei der Heilerausbildung sein. Ich habe Lucky immer begreiflich gemacht, daß aufgezwungene Arbeit außer Brot nichts einbringt. Wenn du nur für Gold leben willst, dann hast du bereits einen Fehler gemacht, als du dich zu Mildrid Latierre bekannt hast. Die wird sicherlich darauf hoffen, mindestens noch ein Kind von dir zu haben, um ihre an Fruchtbarkeit ausdauernden Großmutter zu zeigen, daß sie deren Enkeltochter ist. Und ich weiß, daß ihr euch bei der Sache mit den Schlangenmenschen und Madame Maxime einander unterstützt habt und du ihr während ihrer Schwangerschaft mit dem Anhänger beigestanden hast so gut du konntest. Das weiß Antoinette zwar auch. Aber sie ist in der Hinsicht wohl zu sehr auf die Erhaltung ihrer Zunft bedacht, auch wenn du gewissermaßen auch sie als Großmutter anerkennen könntest."

"Also, Sie, ähm, du verstehst, daß ich mich nicht für eine Arbeit entscheiden kann, bei der ich vier Jahre überwiegend von zu Hause weg bin. Danke für diesen Zuspruch!"

"Das bin ich dir schuldig, wo ich die böse Hexe bin, die den Mann ausgebrütet hat, der deine Mutter heiraten will", sagte Hygia Merryweather und knuddelte Julius, der überrascht von dieser Selbstverulkung lachen mußte. Da wurde der Walzer wieder schneller. "Die können es nicht lassen", lachte die Heilerin. Julius wollte schon anbieten, den Tanz manierlich zu beenden, als er fühlte, wie irgendwas in dieser Hexe ansprang, das wie ein Nachbrenner wirkte, etwas, daß ihr Temperament anheizte. Unvermittelt fand er sich in einem immer schnelleren Tanz mit seiner künftigen Stiefgroßmutter. Dabei wurde er von allen, die gerade keine Babybetreuung machten beobachtet. Vor allem Catherine und Joe, die versuchten, mit dem steigenden Tempo mitzuhalten, sowie Babette, die mit den anderen Latierremädchen eine Gruppe bildete, staunten. Dann nahmen die lauten Lassospringer das Tempo Takt für Takt zurück.

"Danke für diesen wundervollen Tanz, Julius", sagte Hygia Merryweather und küßte ihm einmal auf die Wange. Dann ging sie an die aufgebaute Bar, hinter der ein junger Zauberer in weißer Schürze die Gäste bediente.

Julius ging zu Martine, die gerade mit Miriam tanzte.

"Hui, deine Stiefoma könnte glatt eine Latierre sein, so wie die losgetanzt hat", sagte Martine. Julius bestätigte das und sah zu, wie andere wieder Aufstellung nahmen. Da kam Callie auf ihn zu, ihre Zwillingsschwester Pennie konnte sich gerade von der Gruppe um Babette lösen. "Kannst du mit mir auch so schnell tanzen?" fragte Callie. Da war Pennie heran. "Ey, das ist unfair, dir einen von den freien Jungs zu suchen und mich dann alleine rumhängen zu lassen."

"Mädels, kein Zank! Wir tanzen zu dritt", sagte Julius. Denn gerade fing die Band ein langsames Stück an. So konnte Julius mit den beiden Schwiegercousinen ruhig tanzen. Leicht enttäuscht, weil sie nicht rasant tanzen konnten schoben sie wieder zu ihren Verwandten ab. Da kam Brittany.

"Ui, dauert das immer solange, die Kleine satt und sauber zu kriegen?" fragte sie Julius. Julius erwähnte, daß es schneller ging, sie sauber zu kriegen als satt. "Oha, dann sollte ich aber echt erst nach der Zeit bei den Windriders ... Na ja, mein Vertrag läuft noch ein Jahr. Bis dahin kann ich überlegen, ob ich das blaue Zeug weglasse oder weiternehme. Ähm, möchtest du auch mit mir tanzen?" Julius stimmte zu. Das Stück war fast ein Blues, nicht zu schnell aber auch nicht zu langsam. Danach war wieder ein Walzer dran. Julius schaffte es, sich an die Bar zu verdrücken, wo er Bruno und Ferdinand traf, die eineTrinkwette laufen hatten. Sie hatten sich zwei große Humpen randvoll mit goldgelbem Zeug füllen lassen. "Wer zuerst geext hat, Ferdinand. Auf das unsere Kleinen noch in dieser Stunde ihre Windeln vollgestrullt haben.""

"Dich Jungspund sauf ich im Handumdrehen unter jeden Tisch hier", prahlte Ferdinand.

"Ey, Julius, willst du auch mitmachen, wo deine Millie eure Aurore gerade richtig vollaufen läßt?" fragte Bruno.

"Was ist das für ein Zeug?" wollte Julius wissen.

"Honigtraum, eine geniale Mischung aus Met und Bourbon", sagte Bruno und behielt seinen Trinkwettpartner im Auge, daß der nicht einfach seinen Humpen leerzauberte, um sich als Sieger zu bezeichnen.

"Da ist mir nicht nach, Jungs. Richtiger Met oder Wein. Aber dann nicht in so Kaventsmännern. Millie soll mir nachher nicht vom Besen fallen, wenn wir zum Luftschiff zurückfliegen."

"Der muß doch tanzen, Ferdinand. Wenn der sich mit uns die Birne volldröhnt kriegen wir krach mit allen Mädels, inklusive derer, die du selbst auf die Rutschbahn zur Welt geschubst hast, Ferdinand."

"Quatsch, der Junge verträgt nix", provozierte Ferdinand. Julius grinste überlegen und sah Bruno an. "Sag meinem Schwiegeropapa, wer nach unserer kleinen Willkommensfeier für unsere Babys wen ins Bett bringen mußte, Bruno."

"Ey, neh, dann glaubt der Typ noch, er könnte mich schon fertigmachen, wenn er den halben Krug da leersäuft", grummelte Bruno. Da kam Béatrice. Julius zog sich einige Meter zurück, bis er seine Mutter sah, die fragte, ob er sich gut unterhalte. Er bejahte es. Dabei beobachtete er, wie Bruno und Ferdinand von Béatrice offenbar ausgeschimpft wurden. Er trat näher und hörte Ferdinands Erwiderung:

"Trice, du kannst deine Mutter beglucken, weil die für wen anderen mittrinken muß. Deshalb muß ich ja für sie mittrinken. So einfach ist das. Bruno hier auch."

"Du willst für wen mittrinken. Kein Problem. Ich kann dir morgen gerne den Nutrilactus-Trank geben, damit du merkst, wie anstrengend das sein kann, so kleine Kinder sattzuhalten", sagte Béatrice. Dann sah sie Julius. "Du willst doch nicht etwa auch dieses geschmacklose Mischgesöff da mit diesen Möchtegernhelden wegtrinken, Julius?"

"Nöh, ich muß ja noch fahren", sagte Julius. Béatrice verstand nicht. Aber Patricia, die gerade auftauchte, um Julius zum Tanz aufzufordern lachte. "Trice, das sagen die Muggel, die diese Autowagen fahren, wenn sie sagen müssen, warum sie keinen Alk trinken dürfen oder wollen."

"Die Herren müssen auch noch ihre Besen steuern. Obwohl ich mir vorstellen kann, daß Maman dich gerne auf einer Schlepptrage hinter sich herzieht, zur allgemeinen Belustigung der Dorfbewohner, Papa."

"Roland, wo immer du bist, sieben hätten echt gereicht", knurrte Ferdinand. Sicher hatte der schon etwas intus. Béatrice überhörte die offene Beleidigung und sagte: "Das Angebot mit der Trage und mit dem Nutrilactustrank gilt, meine Herren. Julius, darf ich bitten?"

"Ey, Trice, das ist jetzt fies. Ich wollte den fragen", maulte Patricia.

"Hattest eben doch genug Zeit dazu, Pattie", grinste Béatrice. Julius erkannte einmal mehr, daß sie mindestens zwei, wohl aber eher drei Gesichter hatte. Er ging auf ihre Bitte ein, während Patricia sich zurückzog, weil sie den beiden Wetttrinkern nicht zusehen wollte.

"So, wir zwei tanzen den beiden Schluckspechten jetzt was feines vor, und wenn die meinen, sich doch noch unter die Bar saufen zu müssen, bin ich zumindest zur Tatzeit zu beschäftigt gewesen, als sie daran zu hindern. Wer nicht hören will muß eben fühlen, so widerwärtig dieser Spruch für mich auch ist." Julius dachte auch, daß Béatrice ihn jetzt auch noch mal für die Heilerzunft anwerben wollte. Doch sie wollte einfach nur über VDS und den Kräutergarten und die bisherige Feier plaudern. Nach dem Tanz führte sie ihn an einen anderen Bereich der Bar, während Bruno und Ferrdinand wohl schon den nächsten Humpen leertranken. Sie hatten auf jeden Fall schon reichlich Seegang, erkannte Julius. er bestellte sich Kokosmilch mit Zitronensaft, was Brittany ihm empfohlen hatte. Béatrice nahm das auch. Der Barzauberer bediente und eilte zurück zu den beiden Kampftrinkern. Die Cowboys auf der Bühne sahen es offenbar als Inspiration, ein leieriges Sauflied über einen Mann und seinen Freund, dem Flaschengeist zu singen, der ihn immer mit Feuer vor der Kälte und mit köstlichem Naß gegen den Durst half.

"Antoinette ist geknickt, weil du nicht gleich bei ihr mitmachen wolltest. Sie meinte, es wäre vielleicht doch zu früh gewesen, daß du mit Millie ein Kind habt, weil sie dagegen nicht ankäme. Ich sage dir das, damit du dich nicht wunderst, warum Antoinette es zunächst bei diesem einen Versuch belassen wird. Aber bis zum August sind es noch ein paar Wochen. Wahrscheinlich geht ihr jetzt erst richtig auf, was für eine Verpflichtung du übernommen hast. Ich hätte kein Problem damit, dich zum Heiler auszubilden, sofern Hera nicht da weitermachen möchte, wo sie vor deiner Umschulung nach Beaux aufgehört hat. Aber das steht ja nicht in den Ausbildungsrichtlinien der französischen Heilerzunft. Noch nicht."

"Du meinst, die werte Madame Eauvive würde meinetwegen die Ausbildungsrichtlinien ändern, weil sie ja als Zunftsprecherin die Regeln ändern darf?" wollte Julius wissen.

"Mach dich besser darauf gefaßt, daß sie genau das denkt!" sagte Béatrice Latierre. Dann sah sie Millie mit einer selig schlummernden Aurore zurück in den Festsaal kommen.

"Also, vier auf einmal sind wohl einer zuviel. Ich habe es mir bei Oma Line angesehen", sagte Millie. "Ich habe aber gefühlt, daß du dich amüsiert hast. Hast du für mich auf ihn aufgepaßt, Tante Trice?"

"Nein, ich habe versucht, ihn dir für die Heilerzunft wegzunehmen, Millie", erwiderte Béatrice. Mildrid Latierres Gesicht versteinerte einen Moment, und sie hob die rechte Hand wie eine mit der Pfote drohende Katze. Dann lachte Béatrice und zeigte, daß sie ihre Nichte gründlich verladen hatte. "Mann, und ich fall da drauf rein. Offenbar saugt die Kleine mir auch Gehirnmasse raus", grummelte sie noch. Béatrice erwiderte:

"Das kann ich definitiv ausschließen, wo meine Mutter nach mir noch acht Kinder bekommen hat und geistig immer noch voll auf der Höhe ist, wenn ich mal von diesem inneren Drang absehe, immer wieder neues Leben hervorbringen zu müssen."

"Auch du Kessel findest mal den für dich geschmiedeten Deckel", grummelte Millie, die sich wohl etwas angegriffen fühlte.

"Wer sagt dir, daß ich nicht der Deckel bin?" konterte Béatrice.

"Lassen wir es! Julius, bist du noch wach genug zum tanzen oder sollen wir mit der Kleinen schon abschwirren. Jeanne will auf jeden Fall mit den kleinen und Viviane gleich ins Luftschiff. Der Ortszeitanpassungstrank wirkt auf sie wohl heftiger."

"Ich kann noch tanzen", sagte Julius. So verbrachte Julius die nächsten Tänze noch mit Millie, Brittany, jeder der Friday-Schwestern und einer Cousine von Lucky. Dann war Pause. Die Band hatte Durst. War ja auch zu qualvoll, den anderen beim Trinken zusehen zu müssen. Blanche Faucon ging zu Old Firehat Felix und sprach mit ihm. Sie wirkte im Moment nicht so angespannt. Der Zauberer mit dem feuerroten Cowboyhut nickte zweimal. Dann ging er zu seinen Kameraden an die Bar. Madame Faucon kam zu Julius hinüber und sagte ihm: "Ich habe diesem Rohling mit einer üppigen Portion Narrenblut gefragt, woher er die Lipizanerpferde in Wien kenne. Er hat mir erzählt, daß er dort mal mit seinen Musikanten aufgespielt hat und auch einige Wiener Stücke gelernt hat, um das Publikum zu unterhalten. Ich habe mir dann von ihm die Geschichten aus dem Wiener Wald gewünscht, einen schwungvollen, aber nicht ekstatischen Walzer. Darf ich bitten, Monsieur Latierre?" Sie durfte.

Während des Tanzes sprachen sie über Antoinettes Versuche, ihn für die Heilzunft zu werben und was Hygia Merryweather dazu gesagt hatte. "Nun, es ist fast vier Jahre her, wo wir drei uns in Thorntails in dieser unrühmlichen Lage trafen. Ich kann mir vorstellen, daß es ihr wichtiger ist, daß du trotz der heirat ihres Sohnes glücklich wirst, und daß die Heilerzunft ja doch eine Menge fordert. Ich persönlich stehe ja auf dem Standpunkt, daß du auf jeden Fall etwas tun solltest, wo du dein vielfältiges Talent und die umfangreiche Ausbildung immer einbringen und erweitern kannst. Die Heiler sind da ja nur eine Möglichkeit." Per mentiloquismus fügte sie hinzu: "Zumal du durch sie unwissentlich gehemmt werden kannst, die Last des alten Erbes zu tragen." Für Ohren hörbar fügte sie noch hinzu: "Insofern sollte sich die werte Madame Eauvive in Geduld üben und wie wir alle darauf warten, was die UTZ-Prüfungen ergeben." Dem pflichtete Julius bei.

"Ich will nicht zu privat sein, aber das eben mit dem roten Cowboyhut und daß Sie die Braut sein könnten war wohl echt nur ein Witz."

"Nun, es könnte mich ehren, wenn mir jemand zutraut, seine Ahnenlinie um einige Kinder zu erweitern. Nur rührt mich sowas an, wenn ich daran denke, daß ich mit meinem mann noch so viele Jahre hätte haben können und dieser geisteskranke Verbrecher Riddle ihn mir weggenommen hat", sagte sie leise. Dann mentiloquierte sie noch: "Genau um solche Untäter im Keim zu verhindern, ohne sie gleich umzubringen mußt du als Erbe Darxandrias verfügbar sein." Dieser in direkt in sein Gehirn gesprochene Satz machte Julius deutlich, daß Blanche Faucon nicht nur mit ihm mitfühlte, sondern genau wußte, was ihm aufgeladen worden war. Als Heiler konnte er sich nicht so frei bewegen wie als freier Zauberer oder Angehöriger einer Sondertruppe, die speziell auflodernde Brände löschen sollte, bevor sie zu Flächenbränden ausuferten.

"Temmie hat eine magische Energiewelle gespürt, die aus Sonnenkraft war. Sie vermutet eine Selbstopferung eines Sonnenkindes", schickte er an Blanche Faucon. Diese hielt gerade noch die Schrittfolge ein.

"Das habe ich schon irgendwo vermutet. Nocturnia hüllt sich in Schweigen. Alle ausgebrachten Vampirwerdungsgifte sind auf einen Schlag zerstört worden. Zaubereiminister Grandchapeau trifft sich übermorgen mit seinen europäischen Kollegen und will dann mit Schaklebolt in die Staaten, um dort zu klären, was passiert sein könnte", bekam er die Antwort in seine Gedanken. Dann sprachen sie nur noch über Sachen, die alle mithören konnten.

Ursuline bat Julius einmal um einen Tanz, weil ihr Mann bereits zu betrunken war, um noch die einfachsten Schritte zu tun. "Er hat sich von einem Jungspund herausfordern lassen. Dann soll der morgen auch die Armee der fleißigen Zwerge im Kopf haben", sagte sie nur. Julius sang kurz das Lied der sieben Zwerge aus der Disney-Fassung von "Schneewittchen".

Als die Mitternachsstunde schlug kam der Wirt der Herberge und fragte, ob alles soweit in Ordnung war. Béatrice hatte mit ihrer Kollegin Eauvive die munteren Wetttrinker in ein freies Zimmer der Silberklasse bringen lassen. Ursuline stellte dem Wirt die Auszahlungsanweisung für die eine Nacht aus. Jeanne bedankte sich bei ihrer angeheirateten Verwandten. Gegen ein Uhr spielten die Cowboys noch das Abendlied von Johannes Brahms, zu dem es tatsächlich neben dem deutschen Originaltext auch eine englische und französische Textfassung gab. Danach bedankten sich alle bei den lustigen Westernmusikern.

Ursuline und Jeanne flogen parallel zueinander auf den Familienbesen, direkt gefolgt von Millie, Julius und Aurore. Es ging zurück zu ihrem gelandeten Luftschiff, wo sie die Nacht verbringen konnten.

Im Bett flüsterte Julius seiner Frau noch zu, was da mit Larissa Swann passiert war.

"Nur mit dem Unterschied, daß unsere Kleine keinen andauernd anschwindelt, auch wenn sie nicht den Mund aufmacht", grummelte Millie. "Deshalb hast du vollkommen recht, daß Aurore und ihre vier Großonkel und -tanten echte Babys sind. Nacht, Monju!"

"Nacht, Mamille", wisperte Julius.

__________

Den nächsten Vormittag brachten sie noch in Viento del Sol zu. Julius ließ sich von Brittany zeigen, wie die ominösen Feuererbsen aus Venezuela aussahen, die in einem Gewächshaus für tropische Zauberpflanzen gehalten wurden. Dann traf er im Zaubertierpark die Brickstons, die gerade auf einer der Latierre-Kühe ritten und erkundigte sich, wie es Megan, dem Drachenweibchen ging.

Am Nachmittag verabschiedeten sich die künftigen Verwandten und Schwiegerverwandten voneinander. Brittany übergab Julius eine schriftliche Zusage auch von Melanie und Myrna, die mit ihren Verwandten aus England nach Millemerveilles kommen wollten. Dann ging die Reise zurück nach Millemerveilles, wobei diesmal der Tag rasend schnell verstrich. Um Vier uhr nachmittags Pazifikzeit gestartet landeten sie um zwei Uhr nachts in Millemerveilles. Jeanne rollte den bunten Teppich aus und brachte damit ihre Verwandten zurück in ihre Häuser. Bruno und Ferdinand laborierten immer noch an ihrem mächtigen Kater. Julius freute sich, Stäubchen und Goldschweif zu sehen. Er fragte sie, ob es ihnen gut ginge.

"Wir zwei haben die Stimmung ausgelebt. Wenn er mir gute Jungen machen kann, kriege ich sie in drei Mondzeiten hier", übermittelte Goldschweif ihrem Besitzer, während Millie leise lachte, weil ihr Kniesel Dusty wohl von seiner grandiosen Eroberung und Leistung schwärmte. So leise sie konnten zogen sich die Latierres in ihr Apfelhaus zurück. Sie verzichteten auf den Zeitanpassungstrank. Die von keinem elektrischen Licht gestörte Dunkelheit reichte auch so, um schlafen zu können.

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Die Tage vergingen mit schönem Wetter, Erholung und den für Julius eher interessanten als lästigen Säuglingspflegesachen. Allein schon zu sehen, wie viel Aurore an jedem Tag dazulernte, ohne ein Wort sagen zu können war interessant. Auch die Rückmeldungen von Goldschweif und Dusty gefielen ihm.

Nach und nach trudelten die Antworten auf seine Einladungen ein. Außer den Delamontagnes und Rochforts, sowie Madame Faucon, wie auch den direkten Anverwandten aus Millemerveilles, zu denen ja auch die Dusoleils gehörten, würden auch Julius Mutter mit den Brickstons, die Pflegehelfer mit ihren Ehepartnern oder verlobten einschließlich der Malones, Céline und Robert, die Porters, die Watermelons, die Whitesands außer Sophia und Patience, sowie die Brocklehursts aus Viento del Sol dazukommen. In der Woche vor dem neunzehnten Juli machten sie klar, was sie noch am Feiertag geliefert bekamen und daß genug milch- und fleischloses Essen und alkoholfreie Getränke dabei waren. Camille half mit bei der Herrichtung des Gartens. Um ihn nicht von so viel Festleuten ruinieren zu lassen überspannte sie die Beete mit Gemüse- und Blumensämlingen mit sacht im Sonnenlicht flimmernden Auffangnetzen, die einen ganzen Mondzyklus halten konnten. "Den habe ich mir vor zehn Jahren patentieren lassen. Da ist Eleonores Maman heute noch neidisch drauf, daß ihr das nicht eingefallen ist", freute sie sich.

Am Tag vor der Feier sagte noch Aurora Dawn zu, die bis zum ersten August freie Tage bekommen hatte. Julius vermutete zwar, daß sie die nur bekommen hatte, weil ihre Zunftsprecherin davon ausging, daß Aurora ihn dazu bekam, bei den Heilern anzufangen. Doch er freute sich, daß die Hexe, die ihm geholfen hatte, in die Zaubererwelt hineinzufinden, dazukommen konnte.

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Früh um sechs holte Julius Brittany und die Redliefs am Landeplatz für die Überschallpendler zwischen Millemerveilles und Viento del Sol ab. Myrna grüßte ihn und sagte, daß sie gesternihre UTZs bekommen hatte. Damit würde sie jetzt beim Kristallherold einsteigen, der eine Korrespondentin auf dem zaubererhut, einem von Hexen und Zauberern bewohnten Hügel knapp hundert Meilen westlich von Manhattan beauftragen wollte.

"Vielleicht wartet da auch der Zauberer für's Leben", schnarrte Melanie. Ihre bisherigen Beziehungsversuche waren irgendwie nie zu was konkretem geworden. Jetzt von vielen jungen Familien umzingelt zu sein frustrierte sie irgendwie.

"Wir haben unsere UTZs noch nicht bekommen", sagte Julius. "Offenbar müssen die dreimal geprüft werden, daß keiner sagt, daß die nicht richtig gewertet wurden."

"Hatte Gloria auch", sagte Melanie Redlief. "Apropos, kommen die auch rüber?"

"Mit dem fahrenden Ritter nach Calais und von da mit dem Bus von meinem Schwiegervater nach Paris in die Rue de Camouflage, wo meine Schwiegereltern wohnen und dann von da mit den Brickstons und meiner Mutter per Reisesphäre rüber zu uns. Die bringen ein Varanca-Haus mit, daß die am Farbensee hinsetzen können."

Als die Brocklehursts und Redliefs das Apfelhaus erreichten, kamen sie zeitgleich mit einer Posteule an, die durch das von Millie geöffnete Küchenfenster einflog. "Dann hol mal deine UTZs ab", sagte Brittany, während sie die Gepäckstücke in der Wohnhalle hinstellte. Die Brocklehursts und Martha Eauvive würden im Apfelhaus übernachten, während Aurora wie üblich bei Camilles Familie übernachtete.

"Lies die dir erst mal durch, bevor du den anderen was sagst", grinste Millie und hielt Julius einen ordentlich verschlossenen Umschlag hin. Er nahm ihn und öffnete ihn.

ERGEBNIS DES ULTIMATIVEN TESTS ZAUBERFERTIGKEITEN

Bestanden mit den Noten: Nicht bestanden mit den Noten:

Ohnegleichen (O) Mies (M)
Erwartungen übertroffen (E) Schrecklich (S)
Annehmbar (A) Troll (T)

Alte Runen: E
Herbologie O
Magische Alchemie: O
Praktische Magizoologie: O
Protektion gegen die destruktiven Formen der Magie: O
Transfiguration: O
Zauberkunst: O

"Ähm, sind denen die anderen Noten ausgegangen. Nur ein E?" fragte Julius und las Millie seine Wertungen vor.

"Das zeigst du besser nicht Aurora Dawn. Die packt dich gleich ein und wirft dich ihrer Chefin auf den Schreibtisch", lachte Millie. "Aber mit den ganzen Kringeln läßt dich Tante Babs auch nicht in ihre Abteilung. Die wäre ja dann in einem Jahr arbeitslos. Wenn das Bernie Lavalette noch mitgekriegt hätte ... Wuppi!" Millie freute sich überschwenglich, als hätte sie ihre eigenen Noten erfahren. Julius fragte sich, ob da nicht irgendwo eine Spur Neid oder Eifersucht war. Aber Millie hatte ja noch keine Prüfungen gemacht und konnte daher ja noch hoffen, ebensogut abzuschneiden.

"Hier ist noch eine Empfehlung von der Prüfungskommission. Das liest du besser selbst." Millie nahm die Empfehlung und las halblaut: "Sehr geehrter Monsieur Latierre. Da Sie neben den Mesdemoiselles Hellersdorf, Porter, Lagrange und Eschenwurz der einzige Zauberer sind, der mehr als drei Ohne-Gleichen-Ergebnisse mit Unterstreichung erringen konnte, werden Ihnen seitens der Abteilung für magische Ausbildung und Studien die allerherzlichsten Glückwünsche ausgesprochen. Zeitgleich wird Ihnen mit diesem Schreiben offiziell bescheinigt, daß Sie bei der Wahl Ihrer beruflichen Lebensbahn eine gesonderte Vorrangstellung innerhalb des Zaubereiministeriums zuerkannt bekommen. Dieser hoch ehrenvolle Bescheid eröffnet Ihnen die Möglichkeit, vom Zeitpunkt der Zustellung der Prüfungsergebnisse bis zu Ihrem vierzigsten Lebensjahr, jederzeit eine vakante Stelle im Zaubereiministerium jedes Mitgliedslandes der internationalen Zaubererkonföderation antreten zu dürfen, egal wann und warum. Besonders im Hinblick auf die durch Ihre Prüfungsergebnisse ersichtliche Vielseitigkeit wird Ihnen unsererseits versichert, daß Sie eine Bereicherung für jedes Ministerium darstellen mögen.

Hochachtungsvoll, Cicero Descartes, Abteilung für magische Familienfürsorge, Ausbildung und Studien"

"Klar, die warten ja jedes Jahr drauf, Zuwachs zu kriegen", sagte Julius dazu und nahm das Schreiben zurück. Millie sah ihn mit ihren rehbraunen Augen an und flüsterte:

"Womöglich haben da auch welche im Ministerium gewisse Vorstellungen, daß du für die noch mehr von den alten Sachen ranschaffst, nachdem du denen geholfen hast, Didiers Friedenslager zu knacken. Ob das auch so gut ist?" Julius überlegte kurz, kam aber auf keine halbwegs intelligente Antwort.

Als Catherine Brickston mit der Reisesphäre aus Paris ankam brachte sie neben ihrer eigenen Familie und Julius' Mutter auch die Latierres, Watermelons und Porters mit, sowie die Dorniers, die in Begleitung von Robert und Laurentine waren. Allerdings fehlten die Malones. Julius sah sich zweimal um. Doch er konnte sie nicht im Ausgangskreis stehen sehen. So fragte er Gloria, ob Kevin ihr was geschrieben hatte.

"Das letzte, was ich von ihm bekommen habe war ein Brief, unter dem stand "Dann bis zum neunzehnten im fahrenden Ritter. Aber als wir den in unserer Straße ankommen sahen waren keine Malones drin", erwiderte Gloria. "Dad hat den Schaffner gefragt, ob jemand in Irland zugestiegen sei. Der meinte, daß sie gestern das letzte Mal auf der anderen Insel gehalten hätten, um zwei Zauberer in der Nähe von Beaufort abzusetzen, aber sonst von keinem da gerufen worden wären. Dad wollte dann noch mal hin. Er hat diesem Shunpike noch dreißig Sickel hingelegt, um den Umweg zu machen. Aber das Haus der Malones war leer. Eine Nachbarin von denen hat nur gesagt, daß die vorgestern, also einen Tag, nach dem Kevin mir den Brief geschrieben hat, abgereist seien, wohin, das wisse sie nicht. Ich habe da ein ganz dumpfes Gefühl, daß das auf dem Mist von Kevins Vater gewachsen ist, daß der Patrice vor den nächsten vier oder fünf Jahren nicht mehr zu sehen kriegt."

"Ui, das kann aber dann teuer werden. Eine Hochzeit ohne Absage zu verpassen kostet mindestens hundert Galleonen plus die Auslagen der Gastgeber, in dem Fall der Duisenbergs", sagte Julius. Er dachte an die eigene Vergangenheit, wie sein Vater versucht hatte, ihn von Hogwarts fernzuhalten. Doch die Malones waren Zauberer. Wenn die nicht gefunden werden wollten, dann konnten die auch keine magischen Suchtruppen finden. Die Frage war nur, ob Kevin da mitmachte oder dazu gezwungen wurde.

"Ist Patrice denn schon bei euch?" fragte Pina, die die kurze Unterhaltung mitbekommen hatte. Julius nickte. Patrice war mit ihrer Nichte Corinne und ihren eigenen Eltern schon herübergekommen. Die Duisenbergs wollten sich mit den Malones über die letzten Vorbereitungen für die Hochzeit beraten.

"Dann wirds aber düster", grummelte Pina. Mr. Porter trat vor und sagte:

"Irgendwie hatte ich den Verdacht, daß Clayton Malone da was gegenhaben könnte, eine Französin zur Schwiegertochter zu kriegen und seinen Sohn noch früh genug verstecken würde. Aber da können wir jetzt nichts dran ändern."

"Mr. Porter, Patrice kommt aus Belgien", berichtigte Julius Glorias Vater.

"Ups, daher der merkwürdige Name", sagte Plinius Porter. "Jedenfalls waren die Malones nicht mehr in ihrem Haus, als wir dahinkamen. So mußten wir ohne sie herkommen, um den Termin zu halten."

"Ist zwar jetzt ganz finster für Patrice, aber von mir aus leider nicht zu ändern", grummelte nun Julius, der sich gerade zwischen zwei Stühlen zu hängen wähnte. Er begrüßte die anderen Gäste. Babette wußte auch schon, daß wer fehlte und meinte: "Dein Freund aus Irland hat wohl die Hosen voll, weil er Patrices Eltern nicht kennenlernen will, oder was?"

"Babette, ich kann und ich will dazu nichts sagen. Ist auch so schon blöd für Patrice und ihre Familie", sagte Julius dazu. Dann begrüßte er Claudine, die bis dahin bei ihrer Mutter gestanden hatte. Das Nesthäkchen der Brickstons, daß wie Miriam Latierre im Mai 1997 geboren worden war, hatte in den letzten Monaten auch einiges an Größe zugelegt, war aber auch etwas pummeliger geworden. Als er meinte, Claudine sei ein richtiger Wonneproppen, sagte Catherine: "Wettbewerb der Omas und Tanten, wer die Kleine am schnellsten aus ihren Kleidern rausfüttert, wie im Muggelmärchen mit der kinderfressenden Lebkuchenhexe. Die beiden Akteurinnen dieses Überfütterungsdramas kommen ja auch zu eurer Party."

"Stimmt", erwiderte Julius. Dann begrüßte er Joe Brickston, der sichtlich mißmutig war, wieder nach Millemerveilles zu müssen. Immerhin konnte er jetzt ohne Einnahme von Muggelbannabwehrtrank herumlaufen. Aber womöglich war es genau das, was ihn so ärgerte, weil er nicht gefragt worden war, ob er das wollte.

"Hallo, Mum. Millie freut sich schon drauf, dich zu sehen und die Brocklehursts sind auch schon da."

"Hallo Julius. Hast du deine Noten schon bekommen?" fragte sie ihren Sohn. Dieser nickte und flüsterte ihr die Ergebnisse zu, weil Babette gerade lange Ohren machte. Seine Mutter nickte nur und drückte ihn kurz an sich. Dann ging es auf Besen zum Apfelhaus.

"Wie, Kevin ist nicht mit?!" fauchte Patrice. "Meine Eltern wollten das mit den Malones klären, was da noch an Mißverständnissen in der Luft hängt. Ich dachte, die kommen mit Gloria und Pina rüber."

"Das haben hier fast alle gedacht, Patrice. Ich weiß nicht, was für eine Nummer Kevins Vater gerade aufführt oder welchen Film er dreht oder wie auch immer das gesagt wird. Ich kann auch nicht sagen, daß mir das leid tut, weil ich das Ding nicht gedreht habe", erwiderte Julius, der Patrices Wut nachempfinden konnte. Sie nickte ihm zu und ging zu ihren Eltern. Corinne kam zu Julius und sagte:

"Sie ist jetzt ganz wütend, weil sie meint, daß Kevin sie versetzt hat. Oder es ist wegen Kevins Vater. Macht es euch was aus, wenn wir nicht so lange bleiben?"

"Du meinst, weil deinr Tante und deinen Großeltern die Lust am Feiern vergangen sein könnte?"

"Nicht könnte, sondern ist", erwiderte Corinne. Julius nahm ihr das unbestritten ab. So blieb ihm nur, die anderen Gäste zu begrüßen und die mit Camille eingerichtete Tobewiese für die kleinen Kinder vorzustellen, damit Claudine mit den anderen Kindern unter dem Grundschulalter spielen konnte. Cythera hatte schönes langes schwarzes Haar, nur nicht so gewellt wie das von Viviane Dusoleil oder ihrer jüngeren Tante Chloé. Constance freute sich, auch mit eingeladen worden zu sein und erwähnte, daß sie für ihren Abschlußbericht über das trimagische Turnier ein Sonderhonorar bekommen habe. Für sie als alleinerzihende Mutter war jede Sickel extra ein Segen.

Belisama und Laurentine unterhielten sich mit Gloria und Pina über die Eindrücke vom letzten Schultag in ihren Heimatschulen. Julius beglückwünschte Gloria und die beiden zu ihren guten UTZs und lieferte gleich nach, warum er wußte, daß sie so gut abgeschnitten hatten.

"Madame Grandchapeau, also die Mutter von Belle, war gestern bei Célines Eltern, ihr und mir und hat mit mir lange gesprochen, was ich jetzt vorhabe", sagte Laurentine. "Ich habe mich ja wegen Muggelstudien bei allen Abteilungen beworben, die das Fach als Einstiegsbedingung suchen. Sie meinte, ich könnte auch bei ihr anfangen, zumal ich ja auch zweisprachig unterwegs sei und dieses Jahr ja auch wichtige Leute in der Richtung getroffen habe. Muß sich wohl rumgesprochen haben, daß ich auch gut mit Bärbel Weizengold zurechtkam. Die hat geschrieben, daß sie je nach besten Fächern entweder in der Personenverkehrsabteilung, bei den Zauberwesen oder bei der Handelsabteilung rein will. Ich habe mir das Berufsprofil für Angehörige in der Abteilung zur friedlichen Koexistenz von Menschen mit und ohne Mmagische Begabung gründlich durchgelesen. Ist auf jeden Fall was, was ich machen kann, allein schon, weil ich das ja selbst mitbekommen habe, wo da die Schwierigkeiten liegen. Ich habe noch bis zum Augustende Zeit, um das zu entscheiden, ob ich da reingehe oder anderswo unterkomme. Ich prüfe noch Angebote aus der freien Wirtschaft, wie es so schön heißt."

"Die meistens besser bezahlt werden", warf Julius ein. Laurentine nickte, sagte dazu dann aber gleich:

"Nur solange, wie die Kasse stimmt. Stimmt sie nicht mehr, wird die Lohnschraube runtergedreht oder Menschen gefeuert, wie Ballast aus einem sinkenden Ballon geworfen. Muß ich nicht unbedingt haben, schon gar nicht, wo die ganze Zaubererwelt ein einziges Riesendorf ist, in dem alles schnell rumgeht", zischte Laurentine. Dann winkte sie Millie, die gerade den Grund für die heutige Feier präsentierte. Alle Besucher klatschten, als die kleine Aurore aus ihrem Tragetuch gewickelt und einmal hochgehalten wurde. Sie war davon nicht besonders begeistert. Sie fing sofort zu schreien an. Augenblicklich wurde sie mit Dudidus, und Eidudeis bombardiert und konnte nur winkende Hände und verwegen bis albern grinsende Gesichter um sich herum sehen. Julius fragte sich, ob ihm das gefallen würde. Die Antwort war ein kklares Nein. Doch wenn er sich mit den anderen hier gut verstehen wollte, dann mußte er diese Leute dazu kriegen, auch seine Nachkommen zu akzeptieren. Um das zu können mußten sie diese ja einmal zu sehen kriegen.

Eleonore Delamontagne freute sich, als hätte sie gerade ihr eigenes Kind vor sich. Dabei lag die kleine Giselle in einem Tragekorb bei den anderen Babys, während Baudouin mit seinem Neffen Rober zusammen auf dem kurzzeitigen Kleinkinderspielplatz tobte. Die beiden Kniesel Goldschweif und Dusty hatten es vorgezogen, sich in ihre Baumhäuser zurückzuziehen. Als Streichelzootiere wollten sie dann wohl nicht herhalten.

"Schon ein heftiges Stück Arbeit, daß ihr euch da aufgehalst habt", meinte Melissa Whitesand, die mit ihrem Bruder und dessen Familie mit Pina und ihrer Familie herübergekommen war.

"Immer wollen wir das auch nicht machen. Aber Millie und ich haben uns drauf geeinigt, daß wenn wir eine Kinderbegrüßungsfeier machen, dann auch die ganzen Kinder der erwachsenen Gäste einladen müssen. Und Perseus ist ja auch schon bei den Tobenden auf der Wiese."

"Hoffentlich zerlegen die nicht deinen Nachrichtenpilz", meinte Melissa Whitesand. Julius hoffte das auch. Doch er hatte die Tür fest verschlossen und mit einer zusetzlichen Sicherheitskette abgesperrt. Magie durfte ja nicht auf den Schuppen angewendet werden. Ursuline Latierre, die ihre vier Jüngsten bei ihrer Tochter Hippolyte abgestellt hatte, beaufsichtigte gerade zusammen mit Virginie die etwas größeren Kinder, die lärmend und lachend herumtollten.

Julius und Millie warteten noch, bis Madame Faucon mit ihrer Schwester Madeleine und deren Mann François herüberkam. Daß die Malones sich vor der Feier und allem danach gedrückt hatten ärgerte ihn mehr, als er nach außen zeigen durfte. Er verzichtete darauf, zu okklumentieren. Corinne konnte ruhig wissen, daß ihm das auch peinlich und ärgerlich war. Immer wieder fragte er sich, ob es echt von Kevins Vater ausgegangen war oder ob Kevin nicht doch kalte Füße bekommen hatte und jetzt den einzigen Weg gehen wollte, der blieb, nämlich den Termin zu verpassen und die fällige Schadensersatzzahlung abstottern.

"Ich hoffe sehr, daß das ganze ein einziges Mißverständnis ist und Monsieur Malone sich der übernommenen Verantwortung stellt", schnarrte Madame Faucon, als sie erfuhr, daß sicher angekündigte Gäste fehlten.

"Sie meinen", sagte Julius, sie eher offiziell ansprechend, "daß die Malones nicht vor zu viel Publikum darüber reden wollen, was nun ansteht?"

"Dann wäre es anständig und wesentlich unkomplizierter verlaufen, wenn der junge Monsieur Malone die Einladung zu dieser Feier höflich abgelehnt hätte. Sie ist ja keine offizielle Verpflichtung gewesen", erwiderte Madame Faucon. Julius nickte.

"Machen wir uns besser keinen Kopf um Leute, die nicht wissen, was sich gehört, Blanche", erwiderte Eleonore Delamontagne. Die angesprochene nickte verhalten. Doch Julius war sich sicher, daß sie daran dachte, daß Patrice Kevin unter dem Dach ihrer Schule auf den Besen gerufen hatte. Das machte sie im gewissen Rahmen mitverantwortlich für alles, was sich daraus ergab.

Millie trug Aurore wieder in den großen Empfangsraum zurück, der zur vorübergehenden Säuglingsaufbewahrungsstation geworden war, weil ja alle draußen saßen und darauf warteten, Kaffee zu trinken. Als Millie wieder herauskam schwirrte ein Besen mit Reiter aus Westnordwest heran. Es dauerte zehn Sekunden, bis der schnelle Flugbesen nahe genug war, um zu erkennen, wer da herankam. Es war Gwyneth Malone auf einem Nimbus 2002. Sie trug einen himmelblauen, hautengen Anzug, den Julius irgendwo zwischen einteiligem Badeanzug und Jogginganzug einstufte. Jedenfalls bot er keinen Luftwiderstand. Sie winkte den Gastgebern zu und landete in der Nähe der Kinderspielwiese. die anderen blickten auf. Corinne stupste ihre Tante an und grinste verwegen, während Patrice nicht wußte, was das jetzt geben sollte. Julius eilte zu Gwyneth hin. Diese umarmte ihn kurz. Dann sagte sie: "Habe den Besen hier fast an die Abschmiergrenze geritten, Julius. War jetzt sieben Stunden im Direktflug von Irland über Belgien hier runter, ohne zwischenzulanden. Kann ich mal eben zu einem eurer Gästeklos?" Julius war so perplex von der kurz angebundenen Begrüßung, daß er nur nicken und der unerwarteten Besucherin eines der Gästebäder zeigen konnte. "Den Besen kannst du da ablegen, wo die anderen ihre Besen hingetan haben", sagte sie noch, bevor sie durch die Tür verschwand und diese hinter sich zuzog. Julius bejahte es halblaut und trug den leicht zitternden Besen zu einem großen Ständer, wo viele andere Flugbesen eingehängt worden waren. Er merkte sich die Nummer des freien Halters, in dem er Gwyneths Besen einhängte. Dann kehrte er zu seinen Gästen zurück. Patrice und Corinne kamen ihm entgegen.

"Corinne meint, die hätte was heimliches abgezogen und wäre angespannt, weil sie wohl was gemacht hat, was sie nicht durfte. Wenn die mir gleich einen erzählt, warum sie statt Kevin gekommen ist kann die gleich wieder nach Hause fliegen", sagte Patrice.

"Interessant. Ich habe Gwyneth Malone nicht auf die Liste gesetzt, weil ich nur Kevin und seine Eltern hierhaben wollte, um das mit dir und deinen Eltern abzusprechen, wie es weitergeht, Patrice", sagte Julius.

Zwei Minuten dauerte es, bis Gwyneth an den im runden Empfangsraum abgestellten Tragekörben vorbeikam. Doch sie war nicht mehr allein. Hinter ihr ging Kevin, ungewohnt verunsichert und offenbar nicht recht wissend, wie ihm gerade geschah. Er trug einen Festumhang aus grünem Stoff.

"Ich glaube, der fehlte euch noch!" rief Gwyneth vollkommen unbekümmert in die Runde der Gäste. Patrice fielen fast die Augen aus dem Kopf, während Madame Faucon ein sehr ernstes Gesicht machte und Madeleine L'eauvite ein vergnügtes Grinsen darbot.

"Hi, Leute, ich weiß nicht, wie ich hier herkam. Ich weiß nur, daß ich gerade noch meine Eltern gefragt habe, was ich für die Reise hierher mitnehmen soll. Da hörte ich nur ein Geflüster von meinem Vater, und dann bin ich einfach weggepennt und erst hier wieder aufgewacht. Was dazwischen abging hab' ich voll verpennt oder wie?"

"Dies steht wohl zu vermuten", erwiderte Madame Faucon. Julius wandte sich an den doch noch eingetroffenen Gast und fragte ihn, ob er auch hierherkommen wollte.

"Ich habe Gwyneth und meinen Eltern gesagt, daß ich mich mit Patrices Eltern treffen wollte und das mit der Hochzeit klarmachen will. Gwyneht ist dann abgerauscht. Einen Tag später bin ich dann zu meinen Eltern und wollte wissen, welches Zeug ich in meinen Koffer tun soll, als ich von irgendwas aus den Schuhen gehauen wurde. Gwyn hat mir gesagt, das heute schon der neunzehnte ist. Stimmt das echt, ohne Scherz?"

"Heute ist schon der neunzehnte Juli 2000, Kevin", sagte Patrice und umarmte Kevin.

"Kann nich' sein. Als ich das Ding von irgendwem abbekommen habe war noch der siebzehnte. Ich kann doch keinen ganzen Tag verschnarcht haben, ey!"

"Muß aber so sein", erwiderte Gloria, die nun vortrat. Sie wirkte ebenfalls angespannt. Dann winkte sie ihrem Vater, der vortrat und Kevin ansprach, wo er denn gewesen sei. Dieser erwähnte, daß er bei seinen Eltern im Haus gewesen sei.

"Da wart ihr aber nicht mehr. Ich habe euch da gesucht und dann von eurer Nachbarin Mrs. O'Toole erfahren, ihr seid abgereist", sagte Mr. Porter sehr ernst. Kevin erbleichte. Dann kapierte er es wohl und nickte. Dann blickte er abbittend auf Patrice und deren Eltern, die sich nun auch in seine Nähe begeben hatten und bat um Entschuldigung, falls es bei denen so angekommen sei, als hätte er die Verabredung absichtlich vergessen. Die Duisenbergs nahmen ihm das nur ab, weil die Porters bestätigten, daß Kevin noch einen Brief geschrieben hatte, daß er sie treffen wollte.

Jedenfalls konnte sich Kevin nun zu den anderen Gästen setzen, auch ohne seine Eltern.

"Ich bleibe nur die eine Stunde hier, die der Besen regenerieren muß. Dann brause ich wieder weg. Wenn Onkel Clay einen Suchzauber versucht, muß der mich nicht da finden, wo auch Kevin ist."

"Das Ding ist heftig", grummelte Julius. "Du hast Kevin von seinen Eltern weggeholt?"

"Er hat mir am sechzehnten noch gesagt, daß er zu den Duisenbergs hinwill, weil er das mit Patrice nicht verderben will, auch wenn sein Vater da immer noch sauer drüber ist. Als die sich dann aus einem Versteck gemeldet haben, daß sie nach der Rückkehr aus den Staaten eingerichtet haben, bin ich hin und habe ihn da schlafen gesehen. Onkel Clay hat behauptet, nur so könne er Kevin vor Vergeltungszaubern der Duisenbergs schützen, weil Kevin nicht auf dieses Hochzeitsversprechen eingehen wolle. Dann hat er mich weggeschickt. Ich bin dann klammheimlich zurück und habe ihn da rausgeholt. Frag mich nicht wie, wenn du nachher noch gut essen und nachts noch gut schlafen willst! Jedenfalls habe ich ihn dann im Marathonflug hergebracht. Na ja, Onkel Clay und Tante Dana könnten auch glauben, daß Kevin noch schläft, weil ich ein oberflächlich gleichaussehendes Trugbild hingepflanzt habe. Das hält aber nur eine Woche vor. Spätestens dann wird's rauskommen. Aber ich unterschätze keinen Malone."

"Du warst allein auf dem Besen", stellte Julius fest und dachte sich seinen Teil. "Wie hast du ihn denn aus dem Schlaf geweckt, wenn das ein magischer Tiefschlaf war?"

"In dem ich ihn hier abgeliefert habe, Julius. Mehr mußt du echt nicht wissen", erwiderte Gwyneth. Madame Faucon kam herbei. Ihr war deutlich anzusehen, daß sie sich Luft machen mußte. Sie war aber zu sehr Dame, als einfach loszupoltern. Sie bat Gwyneth höflich, sich mit ihr in eine Ecke zu setzen, wo sie "in Ruhe" sprechen konnten. Gwyneth nickte schuldbewußt und folgte der Beauxbatons-Schulleiterin. Julius fragte sich, ob Gwyneth für dieses dreiste Manöver belangt werden konnte. Sie hatte eine Entführung begangen. Jetzt kam es darauf an, ob es eine Entführung mit Willen des Entführten war. Kevin war volljährig. Wenn er irgendwo hingehen wollte, hatte er das Recht dazu, solange er nicht rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt war. Wenn stimmte, daß Kevins Vater oder Mutter ihn mit einem Schlafzauber belegt hatte, erfüllte das den Straftatbestand der Freiheitsberaubung, sofern Kevin bereit war, es anzuzeigen. Also hatte Gwyneth ihn womöglich befreit. Dafür konnte sie nicht belangt werden. Nur wie sie ihn befreit hatte konnte zauberrechtlich ins Gewicht fallen. Er dachte ja schon wie ein Anwalt. Das sollten aber weder Millie noch Antoinette und die Verwandten aus dem Ministerium mitbekommen.

Nach fünf Minuten kehrte Madame Faucon etwas beruhigter zurück und sagte zu Julius: "Kevin ist nicht gegen seinen Willen hergebracht worden und wurde offenbar gegen seinen Willen in einen magischen Langzeitschlaf versenkt. Somit muß ich Mademoiselle Malone in letzter Konsequenz sogar zubilligen, ihn befreit zu haben."

"Aber ein magischer Tiefschlaf muß durch einen Auslöser beendet werden", erwiderte Julius. Catherines Mutter nickte und wies ihn darauf hin, daß er die Möglichkeiten einer Wiedererweckung ja selbst kannte. Er bräuche ja nur an die Lektion zu denken, die sie ihm vor vier Jahren erteilt habe. Das Stichwort reichte, um Julius darauf kommen zu lassen, daß es vier Arten gab, einen magischen Tiefschlaf zu beenden: Die bei der Bezauberung eingefügte aufwachbedingung, ein die Körpersubstanz schädigender Einfluß, der zu großen Schmerzen führte, wie Feuer, Messerstiche oder Krallen und Zähne von Tieren, der gewaltsame Tod durch Stich ins Herz oder Enthauptung oder eine gegenständliche Fremdverwandlung, bei deren Umkehr alle magischen Fesseln und Schlafzauber mitverschwanden. Da war ihm klar, wie Gwyneth Kevin von seinen voreingenommenen Eltern stiebitzt hatte. Ja, das mußte echt nicht jeder wissen, erkannte er.

Der Vorfall wurde noch weiterdiskutiert, ohne jedoch von Gwyneth mehr zu erfahren. Sie schlug die Einladung aus, in Millemerveilles zu bleiben. Eine stunde später flog sie auf ihrem Besen davon. Von irgendwo außerhalb der Schutzglocke würde sie wohl disapparieren, um möglichst schnell möglichst weit von Kevin entfernt zu sein. Vielleicht tat sie auch ganz unschuldig und kehrte in das eigene Wohnhaus zurück. Fand ein Suchzauber sie dort, konnte Mr. Malone sich fragen, wie Kevin ihm entwischt war.

Beim Abendessen langten alle gut zu. Danach besetzte Julius eines der Metfässer und bediente die Gäste. Babette stand neben ihm an einem Faß voller Traubensaft und schenkte für die Kinder aus. Als Brittany mit zu zwei Zöpfen gedrehtem Haar herantapste und mit künstlich erhöhter Stimme fragte, ob sie auch was vom T-Saft abkriegen dürfe mußte Babette glockenhell lachen.

"Du bist aber ein großes Mädchen. Da muß ich ja 'nen halben Eimer mit Saft vollmachen, daß du keinen Durst mehr hast", scherzte sie. Brittany stellte ihr einen kleinen Eimer hin, den sie aus dem Nichts gezaubert hatte. Babette lachte und zapfte. Doch der Eimer wurde zum frei schwebenden Glas und füllte sich. Brittany lächelte und sagte, daß sie den anderen nicht zu viel wegtrinken wolle.

"Julius, ich löse dich ab. Du verdurstest ja noch", meinte Florymont Dusoleil, der schon ein paar Gläser Wein getrunken hatte. Dafür war Bruno zuständig.

"Ich halte mich nur an die Regel, daß wer zapft am Ende der Feier noch nüchtern ist, Florymont", sagte er.

"Verstehe", grinste Florymont.

Aus dem Musikfaß drangen Schlager der Zauberer- und Muggelwelt, wobei Julius wegen der älteren Hexen und Zauberer eher akustische Stücke in das Faß gelegt hatte, wie das von Mike Oldfield über Mary Stuard, die vergeblich nach Frankreich zu fliehen versuchte.

Gegen zehn entschuldigte Millie Aurore bei den anderen Gästen. "Sie bedankt sich recht herzlich für alle Geschenke und die guten Wünsche von euch und Ihnen und hofft drauf, daß sie mit allen, die sie heute kennengelernt hat, das ganze Leben lang gut auskommt. Aber jetzt möchte sie schlafen." Die Gäste wünschten der bereits schlafenden leise und mit erhöhter Stimme eine gute Nacht und winkten ihr zu. Julius mußte an die Fernsehsendung mit den Teletubbies denken. Doch hier wuchs kein blechern klingender Telefonhörer aus der Wiese, was gerne auch so bleiben durfte.

Die jungen Mütter aus Millemerveilles und den anderen Zauberergegenden brachten ihre Kinder in einem der größeren Gästezimmer unter. Sie teilten Wachschichten ein, die alle halbe Stunde wechselten. So konnten sie weiterfeiern und gleichzeitig die ganz kleinen Kinder beaufsichtigen.

Die Party verlagerte sich gegen elf Uhr in das Apfelhaus. Jetzt zeigte sich, wie nützlich es war, so viele Sitzgelegenheiten in die große runde Halle gestellt zu haben. Um die schlafenden Kinder nicht zu stören wurde auf Musik verzichtet. So konnten sich kleinere Gruppen bilden, wobei Kevin mit Patrice und ihrer Verwandtschaft die beinahe geplatzte Hochzeit besprach. Julius unterhielt sich mit seiner Schwiegerverwandtschaft über die Zukunft, jetzt, wo die UTZs bekannt waren. Aurora Dawn unterhielt sich mit Camille und Béatrice Latierre über die Reise nach Viento del Sol. Julius konnte ihr ansehen, daß sie unter Druck stand. Melissa Whitesand unterhielt sich mit Pinas Hilfe mit Laurentine über das Nebeneinander der beiden Menschenwelten, während Blanche Faucon und ihre Schwester sich hinter einem schallschluckenden Wandschirm in einer hitzigen Diskussion ergingen.

Kurz vor Mitternacht erhob sich Millie, die gerade keinen Babywachdienst hatte und strich mit angefeuchtetem Finger über den Rand ihres Weinglases. Ein sanfter, heller Ton schwebte wie aus einer anderen Daseinswelt durch die Halle. Sofort wurde es still. Millie blickte auf Julius und die gemeinsamen Gäste.

"In einer Minute ist der zwanzigste Juli. An diesem Tag vor achtzehn Jahren hast du, liebe Martha, mit einer sehr großen Anstrengung einen kleinen Jungen auf die Welt gebracht. Ich weiß jetzt aus eigener Erfahrung, wie anstrengend das für dich war. Um so glücklicher darfst du dich fühlen, zu sehen, daß sich das in so vieler Hinsicht gelohnt hat. Ihr anderen steht bitte auf, um gleich, wenn unsere Standuhr zwölf Uhr schlägt, einem großartigen Burschen und wild umgarnten Zauberer zu beglückwünschen!" Alle Gäste, die saßen, standen auf. Einige schwankten schon wie Gras im Wind. Dann zählte Florymont die letzten Sekunden des Tages herunter. Die Gäste stimmten leise mit ein, bis alle die letzten fünf Sekunden laut abzählten. Als dann mit raumfüllendem Glockenschlag die Mitternachtsstunde eingeläutet wurde, warf sich Millie an Julius' Hals und hauchte ihm zu: "Alles gute zum Geburtstag und danke für das kleine, quirlige Bündel, daß du mir letztes Jahr zu tragen gegeben hast." Sie gab Julius einen leidenschaftlichen Kuß. Dann überließ sie ihn seiner Mutter, die von allen anderen respektvoll vorgelassen worden war.

"Das du so schnell so groß wirst hätte ich nie gedacht, Julius. Alles gute für alle Lebensjahre, die noch vor dir liegen. Ich werde immer für dich da sein, wenn du mich brauchst", sagte sie und knuddelte ihren Sohn. Dann kamen die anderen noch verbliebenen Gäste. Sandrine, die gerade Wachdienst hatte, würde sicher gleich noch zu ihm hinkommen.

"Ich erfuhr von Antoinette und Béatrice, daß du nur dann Heiler werden möchtest, wenn du jeden Tag nach Hause kannst", sagte Aurora Dawn. "Meine werte Zunftsprecherin hat mich gebeten, auszuloten, ob du nicht zu uns ins Land unten drunter kommen möchtest. Du könntest Millie und meine französische Namensvetterin mitbringen, hat sie gesagt, falls du zusagen möchtest. Antoinette hat mitbekommen, daß du bis auf alte Runen nur unterstrichene Kringel abgeräumt hast. Die Begründung, noch auf die Ergebnisse warten zu müssen, ist damit wohl vollkommen hinfällig."

"Darfst du nur zu euch nach Australien zurück, wenn du der guten Madam Morehead vermelden kannst, daß ich bei euch anfangen will?" wollte Julius von Aurora Dawn wissen. Diese schüttelte den Kopf.

"Nun, ich bin immer noch verpflichtet, in Australien zu praktizieren. Insofern muß ich auch wieder dorthin zurück. Außerdem hat sie nicht gefordert, dich mitzubringen, sondern nur darauf bestanden, dir alle Vorzüge einer Heilerausbildung zu vermitteln. Antoinette Eauvive konnte dich mit dem hiesigen Ausbildungsgang für Heiler offenbar nicht begeistern. Bei uns kann ein verheirateter Adept in seinem Haus wohnen bleiben, sofern er die vorgeschriebenen Lehrzeiten einhält und die Sana-Novodies-Klinik bestätigt, daß er die vorgeschriebenen Stunden innerhalb der Ausbildungsstätte zubringt. Deshalb kam ich darauf, dir und Millie anzubieten, ihr könntet auch zu uns runterkommen, wo ihr beide ja auch Englisch könnt."

"Ich möchte dir nicht auch noch einen Korb geben, Aurora. Doch bevor du mich verbindlich fragst, ob ich zu euch ziehe und Millie dazu bringen soll, mitzukommen kuck dich bitte um, wie wichtig es für Millie ist, die ganzen Verwandten in der Nähe zu haben. Außerdem möchte sie trotz ihrer Liebe zur Mutterrolle auch gerne arbeiten. Nur als notwendiges Übel zum erfolgreichen Anwerben eines aussichtsreichen Heilkunstadepten will sie nicht herhalten. Du weißt auch, was mir in den ganzen sieben Jahren so aufgeladen wurde und kannst garantiert verstehen, wie wichtig mir das ist, in einer Gegend zu wohnen, in der ich mich sicher fühlen kann, in der Platz genug für mich und meine Familie ist und wo ich mit den Leuten gut bis sehr gut auskomme. Die Leute hier haben sich alle Mühe gemacht, Millie und mir ein warmes Nest zu bauen. Jetzt zu sagen, daß ich das alles wieder wegwerfe, um ganz weit wegzuziehen, wäre denen gegenüber voll undankbar. Ich möchte mit dir auch weiter gut auskommen, Aurora. Deshalb möchte ich, daß du mir keine Entscheidung abverlangst, bei der ich eher Magendrücken kriege als Freudensprünge zu machen. Frage Béatrice bitte, was Madam Merryweather bei einem ähnlichen Gespräch mit mir gesagt hat! Soweit ich weiß hat sie das Béatrice weitergegeben."

"Das habe ich schon gehört, daß deine zukünftige Stiefoma dir zubilligt, daß du nicht zu den Heilern gehen brauchst. Das tu ich auch, Julius. Ich habe auch keinen Vollstreckungsauftrag von Laura Morehead. Was ich dir geschrieben habe ist nur insofern wahr, daß sie sofort, wenn du zu uns gekommen wärest, deine Gastunterkunft belagert hätte, bis sie dir alle von ihr aus wichtigen Einzelheiten vorgelegt hätte und alle anderen Berufsmöglichkeiten als unzureichend begründet hätte. Das meinte ich, als ich dir geschrieben habe, daß du besser vor einer klaren Berufsentscheidung nicht mehr nach Australien kommen solltest."

"So'n Pech aber auch, daß ihr Julius nicht zwingen könnt, bei euch einzusteigen", schnarrte Millie, als sie nach einer kurzen Unterhaltung mit ihrer großen Schwester zu Julius und Aurora hinkam und die letzten Worte der australischen Heil- und Kräuterhexe hörte.

"Ich würde es nicht als Pech ansehen, weil ja sonst jemand behaupten könnte, er sei von uns zu etwas gezwungen worden, was er oder sie nicht machen wollte und deshalb halbherzig mitarbeitet. Ich kriege es doch hier mit, wie wichtig Julius das ganze Umfeld hier ist. Ich weiß ja auch, was ihm so alles aufgeladen wurde. Doch wenn ich nach Sydney zurückfliege brauche ich zumindest eine gescheite Begründung dafür, warum dein Mann ein großzügiges Angebot ablehnt", sagte Aurora Dawn.

"Eine Antwort liegt gerade in unserem Schlafzimmer und heißt fast so wie du", sagte Millie. "Die meisten Heiler bei euch fangen ohne eigene Ehepartner oder Kinder an, weil sie erst mal was haben wollen, wovon sie leben können. Deshalb kann eure Zunftsprecherin sich da gar nicht reinversetzen." Julius nickte seiner Frau zu und wandte sich dann wieder an Aurora Dawn.

"Mein Vater hat von mir nur sehr sehr wenig mitbekommen, als ich zwischen null und fünf Jahre alt war. Ob er das so gewollt hat, weil er kein Familienmensch war weiß ich nicht. Wenn er es nicht gewollt hat, dann möchte ich seinen Fehler nicht wiederholen und irgendwo anfangen, wo ich von Millie und unserer Tochter nichts mitbekomme. Aber wo Millie schon mal hier ist erwähne bitte, was Madam Morehead dir gesagt hat!" Aurora Dawn sah Millie an und wiederholte, daß sie mit Aurore und jedem noch nicht gezeugten Kind in Australien unterkommen würde, um bei Julius zu sein.

"Ich kann eure Sprache zwar sprechen und schreiben. Aber so weit von meinen Leuten wollte ich doch nicht weg, weil ich sonst gleich drauf hingearbeitet hätte, daß Julius mit mir ganz weit von denen allen wegzieht. Außerdem komme ich hier in Millemerveilles super zurecht, habe Schulfreunde hier und finde das schön, daß Sardonias Schutzglocke mich und jedes Kind beschützt, daß ich mit Julius haben werde. Meine Vorfahren hatten unter der dunklen Matriarchin heftig zu leiden. Daher will ich, wenn ich das kann, einen Punkt setzen, daß Sardonias Versuche nicht geklappt haben, die Latierres auszulöschen und die sogar noch in ihrer ehemaligen Zentralburg weiterwachsen. Julius hat sofort gesagt, daß er mir dabei helfen möchte." Julius nickte. Aurora Dawn nickte auch. Gegen so viel Idealismus kam der Wunsch, kranken Menschen zu helfen nicht wirklich an. So sagte sie noch:

"Soweit ich Antoinette verstanden habe hast du ja noch bis zum ersten August Zeit, zumindest eine klare Entscheidung zu treffen. Ich persönlich werde alles akzeptieren, wofür oder wogegen du dich entscheidest, Julius. Ich werde weiterhin eine weit fort lebende, aber nur einen Brief oder einen Mausklick von dir entfernte erwachsene Freundin bleiben. Ich wollte dir nur Laura Moreheads Botschaft überbringen, daß sie sich sehr freuen würde, wenn du unserer Zunft beitrittst. Mehr war nicht und ist nicht." Julius bestätigte, daß er verstanden hatte. Sie würde für ihn Ansprechpartnerin sein, wenn Millie und er doch noch zu den Heilern gehen wollten. Millie könnte ja bei entsprechenden UTZs auch eine Heilerausbildung anfangen. Doch das würde sich erst Weihnachten entscheiden.

Als es ein Uhr war verabschiedeten sich die Festgäste und flohpulverten in ihre Häuser. Die Geburtstagsfeier würde dann am Nachmittag fortgesetzt. Als Millie und Julius mit Brittany, Linus und Julius' Mutter alleine in der großen Halle waren und Brittany anfing, mit Säuberungszaubern zu hantieren, sagte Linus:

"Da habt ihr eure heimliche Hochzeit jetzt wohl nachgefeiert. Aber wie diese Irin das mit Kevin gedreht hat ist schon heftig. Hoffentlich kommen meine Cousinen nicht auch mal auf so abgedrehte Ideen."

"Dann kriegen die Ärger mit mir", grummelte Brittany und ratzeputzzauberte die Tische von allen Krümeln und Getränkeringen frei. Dann winkte sie ihrem Mann zu, der sich von Martha und den Gastgebern verabschiedete.

"Wann wacht die Kleine auf?" wollte Martha von ihrer Schwiegertochter wissen.

"Zwischen drei und fünf kann sie was wollen. Sie begrüßt in den letzten Wochen gerne die aufgehende Sonne. Mal sehen, ob sie im Winter später aufwacht. Du hörst sie aber nicht. Ihre Wiege hat einen Schallabschwächungszauber, daß nur Julius und ich sie hören. Schlaf also ruhig aus, Martha!"

"Dann sehen wir uns beim Frühstück wieder", sagte Martha Eauvive und zog sich in das ihr zugewiesene Gästezimmer zurück.

__________

Der zwanzigste Juli 2000 war ein herrlicher Sommertag. Aurore hatte ihre Eltern schon um vier Uhr wachgeschrien. Nachdem sie frisch gewickelt und von Millie satt und müde gesäugt worden war, hatten die Latierres noch drei Stunden durchschlafen können. So leise sie konnten waren sie dann aufgestanden und hatten das Frühstück für sich und die Gäste vorbereitet. Von neun bis halb elf saßen sie dann vor dem Apfelhaus und genossen die Sommersonne. Mit Sonnenkrauttinktur trotzten sie der Uv-Strahlung des Tagesgestirns. Mittags aßen sie auch auf der großen Wiese vor dem runden Haus. Aurore ruhte gut verstaut im Tragetuch auf Millies Rücken. Daß ihr Vater heute erst achtzehn wurde kümmerte sie nicht, solange sie umsorgt und behütet wurde.

Am Nachmittag trudelten alle Festgäste vom Vortag wieder ein und legten Geschenke in die Wandelraumtruhe, auf der Julius' Name und Geburtsdatum erschienen waren. Auf die Frage, ob Kevin seinen Eltern eine Eule geschickt habe antwortete dieser: "Wenn die nichts davon wissen wollen, daß ich Patrice heirate, dann kriegen die das eben erst mit, wenn die Glocken geläutet haben. Tut mir zwar für Mum leid. Aber die hätte das Ding mit dem Schlafzauber ja auch abblocken können."

Nachdem Julius die achtzehn weißen Kerzen auf der von seiner Mutter und seiner Frau gebackenen Schokoladentorte ausgeblasen hatte freuten sich alle an der herrlichen Sommerluft. Gegen sechs Uhr abends war dann das große Geschenkeauspacken dran. Julius bekam weitere Bücher über Zauberkunst und Kräuterkunde, sowie einen Satz reiß- und feuerfester Umhänge. Von Barbara van Heldern bekam er ein auf Hosentaschengröße zusammenfaltbares Schlauchboot mit eingewirktem Propulsus-Zauber, wo er ja jetzt in Steinwurfweite vom See der Farben entfernt wohnte. Gloria und ihre Eltern schenkten ihm und Millie zum Hochzeitstag eine rauminhaltsbezauberte Kosmetiktasche, die an jedem Besen mitgeführt werden konnte. Sie enthielt vieles vom Rasierwasser über Hautcreme für sie und ihn, Babypflegemittel und Lausloselixier, falls Aurore einmal diese kleinen Plagegeister abbekommen sollte, die sich trotz aller Hygiene immer mal wieder gerne bei im Dreck spielenden Kindern einnisteten und dann gerne die Runde machten. Aurora Dawn schenkte Julius ein Buch über die Geschichte der europäischen Heilzunft, in dem auch Megan Bakersfield geborene McGonagall erwähnt wurde, die eine Vorfahrin von Julius war. Antoinette Eauvive hatte Julius ein Messer mit goldener Klinge in einer Scheide aus Drachenhaut geschenkt. "Mit einer Klinge aus purem Gold lassen sich besonders heilkräftige Zauberpflanzen abernten", sagte sie dazu. Bruno und Jeanne schenkten ihm und Millie Jahreskarten für alle Heim- und Auswärtsspiele der mercurios. "Ihr müßt nicht zu jedem Spiel hin. Aber wenn ihr uns zusehen wollt braucht ihr euch zumindest nicht dumm und dämlich zu zahlen", hatte Bruno dazu gesagt.

"Hätte ich gewußt, daß ihr den beiden Jahreskarten für euren Dorfverein schenkt hätte ich meinen Vater sicher dazu gekriegt, mit Millies Mutter eine Jahreskarte für alle Pelikan-Spiele lockerzumachen, wo wir die nächste Saison den Ligapokal holen werden", sagte Céline Dornier.

"Wenn sie die sehen wollen brauchen die doch nur bei mir anzufragen", erwiderte Hippolyte Latierre darauf. Céline grummelte nur.

Der weitere Abend verging mit Musik und Tanz.

"Und ihr habt wirklich keine Probleme damit, wenn Trice, Pattie und ich mit den vier ganz kleinen zum Schachturnier bei euch wohnen?" erkundigte sich Ursuline Latierre noch einmal bei Millie und Julius, bevor die Gäste alle abreisten. Millie und Julius beteuerten, daß sie sich wohl gut arrangieren würden, zumal ja Julius' Mutter noch bei ihnen wohnen würde. Denn die Teilnahmeregeln für das Schachturnier verlangten, daß die Teilnehmer entweder Bürger von Millemerveilles oder Übernachtungsgäste von Bürgern von Millemerveilles waren. Kevin hatte die Einladung der Redliefs angenommen, bis zur Hochzeit im Glashutturm zu wohnen. Jetzt, wo ja sicher war, daß er Patrice heiraten würde, hatte er kein Problem damit, mit Myrna unter einem Dach zu wohnen. Und wenn sein Vater einen Suchzauber auf ihn ansetzte, dann mochte dieser auf der Strecke Irland - Nordamerika verhungern. So die Vermutung.

Kurz vor Mitternacht verließen alle Gäste das Apfelhaus wieder. Die Bewohner von Paris reisten per Reisesphäre ab und nahmen die Porters, Whitesands und Watermelons mit. Die Gäste aus Übersee wollten in den verstrichenen Tag zurückfliegen und um Mitternacht mit dem Luftschiff starten, um noch zur Kaffeezeit in Viento del Sol zu landen. So kam es, daß eine Minute nach Mitternacht nur noch Millie, Julius und Aurore im zwölf Meter durchmessenden Apfelhaus waren.

"Ja, doch, hier ist immer Leben in der Bude", meinte Millie. "Ich hoffe nur, Kevins Eltern kriegen sich wieder ein, bevor Kevin vor den Zeremonienmagier tritt."

"Ich habe Mr. Malone eigentlich als sehr vernünftig kennengelernt. Aber der Heuler von dem und was er sich mit Kevin geleistet hat läßt mich echt an meinen eigenen Vater denken", erwiderte Julius darauf.

"Von irgendwem muß Kevin seinen Dickschädel ja haben und du deine Beharrlichkeit auch", erwiderte Millie. Dann schlug sie vor, jetzt zu schlafen. Denn Aurore würde sicher wieder sehr früh was wollen. Julius stimmte ihr zu. Doch als sie beide die Wohnküche verlassen wollten, um ins Bett zu gehen räusperte sich Viviane Eauvives Bild-Ich.

"Julius, Komm bitte alleine zu Tiberius Odin ins Haus "Pierre des Grenouilles"! Er hat mich gebeten, dich sofort zu benachrichtigen, wenn eure Gäste abgereist sind. Millie, du paßt bitte auf Aurore auf!"

"Häh? Was möchte Tiberius von mir?" wollte Julius wissen.

"Es geht um ein letztes Erbe Aurélies, das erst um Mitternacht am zwanzigsten Juli sicht- und greifbar wurde. Mehr möchte ich nicht sagen, weil er es dir selbst erklären möchte."

"Okay, ich komme rüber", sagte Julius zu. "Mamille, tut mir leid, daß ich dich und die Kleine allein hierlassen muß. Aber wenn Aurélie Odin echt was in ihrem Haus versteckt hat, was erst an einem bestimmten Tag auftauchen sollte, dann noch ausgerechnet an meinem achtzehnten Geburtstag, dann kläre ich das besser sofort, bevor mir noch wer nachsagt, was schludern gelassen zu haben."

"Hoffentlich ist es nicht was, was dich in eine weitere haarsträubende Nummer aus dem alten Reich reinzieht, Monju", fauchte Millie. Julius wiegte den Kopf. Er hoffte auch, daß es nichts war, was er am Ende bereuen mußte. Er entzündete den Kamin, gab seiner Frau einen Gutenachtkuß und warf Flohpulver in die Flammen. Eine smaragdgrüne Feuerwand entstand im Kamin. Julius stieg auf den Rost und rief "Pierre des Grenouilles!" während er durch das Flohnetz gewirbelt wurde fragte er sich, warum Aurélie und Tiberius ihr Haus "Froschfelsen" genannt hatten. Doch eine Antwort wollte ihm nicht einfallen, zumal sein Kopf durch die wilde Wirbelei im magischen Reisenetz keinen klaren gedanken festhalten konnte. Dann landete er auf einem anderen Kaminrost. Den Raum dahinter kannte er. Zwar war er nur einmal im Leben hier gewesen. Doch diesen Ort würde er nicht vergessen. Von hier aus war er mit Claire und Professeur Faucon nach Beauxbatons zurückgereist, nachdem Aurélie Odin ihnen erzählt hatte, was in der Festung des alten Wissens geschehen war.

Camilles verwitweter Vater saß auf einem hochlehnigen Stuhl dem Kamin gegenüber. Er trug einen dunkelvioletten Gebrauchsumhang. Er wirkte angespannt.

"Ah, Julius, gut, daß du sofort kommen konntest. Ich hätte dich sehr gerne schon vor einem Tag zu mir gerufen. Aber Vivianes Bild-Ich erwähnte, daß ihr Übernachtungsgäste hättet. Noch einmal herzlichen Glückwunsch Nachträglich zum Geburtstag, mein Junge."

"Danke, Tiberius. Viviane sagte was von einem jetzt erst aufgetauchten Erbe deiner Frau. Was genau soll das sein?" kam Julius gleich auf den Punkt.

"Das guckst du dir bitte selber an, Julius. Denn nur du kannst es ganz und gar ausschöpfen, hat Aurélie geschrieben." Julius nickte. Er kannte Zauber, die Sachen oder Räume nur für ausdrücklich vorbestimmte Personen erreichbar machten. So folgte er Tiberius Odin aus dem Kaminzimmer hinaus durch das Haus, daß er seit dem körperlichen Tod seiner Frau alleine bewohnte. Daß ihm das hier alles nicht auf die Decke fiel lag schlicht daran, daß er als Zaubertrankbraumeister in der Delourdesklinik arbeitete, also offiziell ausgebildeter Heiler war.

Das Studierzimmer meiner vorausgegangenen Frau kennst du vielleicht noch. Ich habe es seit ihrem Fortgang nicht mehr verändert", sagte Tiberius Odin und schloß eine Tür auf. Dahinter lag jener Raum, in dem Julius den schwarzen Verschwindeschrank sah, der jedoch seit bald vier Jahren funktionslos war. Denn sein Gegenstück war bei der Flucht aus der Festung des alten Wissens durch verzögert zündenden Feuerzauber zerstört worden. Julius sah noch das Bücherregal, den Schreibtisch und den hochlehnigen Stuhl, alles wie damals. Was allerdings anders war war der dreibeinige Tisch, der mit einer mitternachtsblauen Spitzendecke überzogen war. Darauf ruhte ein männerkopfgroßer Würfel aus einem durchsichtigen Material, als bestünde er aus Glas oder Kristall. Der Würfel war mit einem aus sich heraus violett leuchtendem Gas angefüllt. Julius konnte jedoch sehen, daß noch mehr als das leuchtende Gas in dem Würfel steckte. Auf dem seltsamen Würfel lag ein Stück Pergament. Darauf stand das Modell eines Hauses mit vier kurzen Ecktürmchen. Julius konnte deutlich zwei erleuchtete Fenster erkennen. Erst fühlte er sich an den White Tower, das Zentralgebäude des Towers in London erinnert. Doch die runden Kanten und die Kuppel im Zentrum des ansonsten flachen Daches paßten nicht zu dem altehrwürdigen Wahrzeichen seiner Geburtsstadt.

"So habe ich eine halbe Minute nach Mitternacht am Vortag alles vorgefunden, Julius. Ich wollte gerade zu Bett gehen, als aus dem Zimmer ein lautes, mehrstimmiges Glockenspiel erklang. Es war das Lied, zu dem Aurélie und ich damals den ersten Walzer als Mann und Frau getanzt haben. Das kleine Haus ist eine Nachbildung der Villa Binoche, dem Elternhaus meiner vorausgegangenen Frau. Ich weiß, daß es eine Spieldose mit voreinstellbarer Zeit und dreißig Melodien sein kann, aber auch als das fungiert, was die Muggel Telefon nennen, wenn auch nur zwischen den Angehörigen der Binoches funktioniert hat. Leider ist die Familie seit dreißig Jahren erloschen, seitdem mein Schwager Giscard, der das Haus geerbt hat, bei einem Kampf mit einer Hydra auf Rhodos sein Leben verloren hat. Außer meiner Frau wußte danach keiner mehr, wo genau die Villa liegt. Aber ich schweife ab, Julius. Es geht um das, was in dem Würfel steckt. Am besten liest du dazu Aurélies letzten Brief an mich, der auch an dich gerichtet ist", erläuterte Tiberius Odin. Julius fragte nach den erleuchteten Fenstern des Hauses. "Das waren das Schlafzimmer meiner Schwiegereltern und das Schlafzimmer meiner Frau. Daß sie erleuchtet werden konnten wußte ich bis gestern auch nicht. Aber ich erkenne die Fenster, weil Aurélie es mir mehrmals erklärt hat, daß man von dort aus die Berge sehen konnte. Welche berge das waren wollte oder durfte sie mir nicht sagen. Sie wiegelte immer ab, daß nur blutsverwandte oder direkte Nachgeborene der Binoches das Haus ohne Gefahr betreten könnten. Deshalb habe ich darüber nicht mehr gefragt. Emil und seine leiblichen Kinder sowie Camille und ihre Töchter dürften wohl noch Zugang zu dem Haus erhalten. Doch Aurélie hat das Wissen darum mit ins frühe Grab genommen. Und Ammayamiria wollte es mir auch nicht verraten, obwohl sie alles weiß, was Aurélie erlebt und gelernt hat."

"Waren deine Schwiegerverwandten so sehr bedroht, daß sie einen derartigen Aufwandt betrieben haben? Ich meine, meine Schwiegerfamilie hat Sanctuafugium um ihren Stammsitz liegen, und jeder, der hinkommen will, kann auch zum Château Tournesol hin, solange er oder sie nichts böses vorhat", erwiderte Julius.

"Das gehört auch zu den Dingen, über die meine Vorausgegangene Frau mir nichts erzählen wollte oder durfte. Doch lies bitte ihren Brief und entscheide, ob du ihr Erbe entgegennehmen willst. Du bist volljährig und mit der Schule fertig. Ich darf und werde dir nicht dreinreden, auch wenn du hier in meinem Haus bist", erwiderte Tiberius Odin.

"Kann ich das Haus runterheben?" wollte Julius wissen. Tiberius hob das Modell der Villa ohne Innenhof an und setzte es auf den Schreibtisch. Sofort erlosch das Licht hinter den zwei Fenstern. Julius näherte seine Hand dem merkwürdigen Würfel. Dabei hatte er den Eindruck, daß unsichtbare Ameisen über seine Haut krabbelten. Offenbar umgab den Würfel ein magisches Kraftfeld. Er bedauerte es ein wenig, kein Pflegehelferarmband mehr zu tragen. Das hätte ihm sicher verraten, ob das Kraftfeld gut- oder bösartig war. Er blickte auf seine Hand. Sie sah aus wie immer. Kein Flimmern, kein Verschwimmen, keine wie auch immer erscheinende Aura. Er nahm den Pergamentzettel von dem Würfel herunter und las:

Geliebter Tiberius!

Wenn du diese Zeilen liest, werde ich dir ins Land der Ewigkeit vorausgeielt sein. Ich muß jeden Moment damit rechnen, angegriffen, entführt oder gleich hier getötet zu werden. Ich mußte mich gegen die Brüder des blauen Morgensterns stellen, zumindest gegen sechs von ihnen, zu denen auch Yassin iben Sina gehört, von dem ich dir schon erzählt habe, daß er nicht begeistert war, daß Mehdi Isfahani vorgeschlagen hat, mich als Beobachterin in die Reihen der Bruderschaft einzulassen. Sie wollten Claires Verlobten Julius festsetzen und ihm den Finger mit Claires Haar abschneiden, weil eine ungeheure Angst sie fast zum Wahnsinn getrieben hat. Der Junge ist offenbar, ohne es zu wollen, zum Erfüller einer uralten Prophezeiung geworden und konnte deshalb an einen geheimen Ort der Bruderschaft. Dort hat er eine uralte Prüfung bestanden. Deshalb fürchten Yassin und seine engsten Vertrauten, er könne damit die Rückkehr eines uralten Dunkelmagiers einläuten, der Sardonia, Grindelwald und diesen Wahnwitzigen Voldemort locker in die linke Umhangtasche stecken kann.

Ich habe mit Blanche und Claire sprechen müssen, weil der Junge zeitweilig aus Beauxbatons verschwunden ist. Doch alles konnte ich den dreien auch nicht sagen. Du kennst die Geschichte meiner mütterlichen Blutlinie und was die Familie meines Vaters gegen Sardonia und andere Hexen und Zauberer der dunklen Seite aufgeboten hat. Deshalb schreibe ich nicht mehr dazu, weil ich auch nicht weiß, ob meine Zeit dazu ausreicht.

Es gibt noch mehr, was Julius unbedingt erfahren muß, Tiberius. Daher habe ich die für ihn entscheidenden Dinge aus meinem Besitz in den von meiner Mutter mit dem Heilsstern geerbten Fugittempus-Tresor gesteckt und diesen darauf eingestimmt, dem Zeitfluß vorauszueilen, sobald mein Herz zu schlagen aufhört und erst dann wieder von der Zeit eingeholt werden soll, wenn Julius Andrews achtzehn Jahre alt geworden ist. Dann wird er hoffentlich mit Beauxbatons fertig sein. Ich hoffe, er und Claire werden ein glückliches Leben führen, sofern meine weibliche Blutsverwandten nicht mit mir zusammen auf einen Schlag getötet werden. Wenn Julius aus der Obhut von Blanche Faucon heraus ist und frei entscheiden darf, wem er sich anvertraut und wohin sein Weg führt, erst dann soll er dieses Vermächtnis erhalten, daß außerhalb meiner testamentarischen Verfügungen von mir hinterlassen wird. Wenn der Würfel erscheint wird das Modell meines Elternhauses unseren Hochzeitswalzer spielen, um dir zu sagen, daß etwas eingetroffen ist. Danach wird er drei volle Tage sichtbar bleiben. Diese Tage mußt du nutzen, um Julius Andrews zu finden und herzuholen. Der Würfel kann nicht bewegt und fortgetragen werden. Julius muß also herkommen. Kann er dies nicht innerhalb dieser drei Tage, so muß ich fürchten, daß er entweder unauffindbar bleiben muß oder ebenfalls schon gestorben ist. Ich gehe aber in aller Hoffnung vom besten Fall aus, daß er von dir rechtzeitig gefunden werden kann. Dann gib ihm diesen Brief zu lesen!

Julius, diese Zeilen richten sich an dich, mein Junge. Ich konnte dir, wo Blanche und Claire dabei waren, längst nicht alles erläutern, was ich über dein Erlebnis in der Festung und was dir damit aufgeladen wurde weiß. Deshalb habe ich dir drei Dinge in den Fugittempus-Tresor gelegt. Nur du kannst in den Würfel hineingreifen und sie herausholen, weil seine Schutzvorkehrungen auf deine Lebenskraftaura und deinen bei Geburt verliehenen Namen reagieren. Du mußt es nicht tun, wenn du bereits weißt, ob du mit dem alten Reich weiterhin in Berührung kommen wirst und den Stein als das zu nutzen erlernen konntest, was er ist. Falls du es nicht weißt, so empfehle ich dir auch in Claires Namen, mein Erbe anzunehmen. Denn mit dem Stein und dem, was du bereits in deinem Kopf hast bist du vorbestimmt, einer der Hüter zu werden. Was damit gemeint ist entnimmst du bitte dem, was ich in den Würfel eingeschlossen habe! Ich hoffe, mein Heillstern kann nach meinem Tod geborgen und an meine Tochter weitergegeben werden. Denn sie ist die nächste, die ihn tragen soll, bis ihre Zeit kommt und sie ihn an Jeanne weitergeben muß, um seine Macht und seinen Schutz wachzuhalten. Julius, mein Junge, ich hätte dich gerne noch besser kennengelernt als in der Zeit um Jeannes Hochzeit herum und bei deinem abenteuerlichen Ausflug in die Festung des alten Wissens. Ich will dir nicht befehlen, in den Würfel zu greifen. Tue es nur aus freien Stücken und nur dann, wenn du dir sicher bist, mit dem leben zu können, was du dabei erfährst! Wenn du mein Erbe nicht annehmen willst, weil du Angst davor hast, dich auf etwas nicht zu überblickendes einzulassen, so mußt du aber auch den von dir in der Festung ergatterten Stein unbenutzt lassen. Ich hoffe nur, diesen Hinweis nicht viel zu spät an dich weitergegeben zu haben.

So, jetzt kann ich dem entgegensehen, was auf mich zukommt. Lebt alle wohl, die mir lieb und teuer wart, seid und sein werdet!

Aurélie Odin

"Die goldene Tür", grummelte Julius. Tiberius fragte ihn, was er damit meine. "Es gibt bei den Muggeln ein Märchen, wo einer oder eine in einem Schloß voller Zimmer wohnt. Er oder sie darf alle Türen öffnen, nur nicht die goldene. Natürlich macht die Person die Tür doch mal auf und sieht dahinter. Es kommt raus und die Person wird entweder verunstaltet oder muß mit dem, was hinter der Tür war zu leben lernen. So sehe ich das hier. Und das ist dann auch nicht die erste verbotene Tür", erwiderte Julius. Er dachte an den unerlaubten Ausflug mit Brittany nach San Rafael, wo er die Berichte über seinen zum Serienmörder gewordenen Vater gelesen hatte. Er dachte an den Ausflug zur Festung des alten Wissens und an die Reise zur Burg Ailanorars. Im Grunde konnte er aber auch schon den Ausflug in Slytherins Galerie des Grauens als Blick hinter eine verbotene Tür sehen. Was der runde Stein sollte wußte er ja auch schon. Wegen ihm war Darxandrias in ihrer Kettenhaube ruhender Geist in die Latierre-Kuh Artemis übergewechselt. Er steckte schon zu tief drin, als jetzt noch einen Rückzieher zu machen. Er dachte an Ammayamiria. Natürlich wußte diese seit ihrer Entstehung, was Aurélie Odin getan und gewußt hatte. Sie würde ihn sicher tadeln, wenn er etwas verdammt wichtiges aus Angst oder womöglich auch Feigheit zurückwies. Ein Feigling war er nie gewesen, auch wo er noch keinen Karatekurs gemacht und nicht im Traum gedacht hatte, daß er ein echter Zauberer war. Neugierig war er auch schon immer gewesen. Jetzt auf Wissen zu verzichten, das vielversprechend war, lag ihm auch nicht. Aber am meisten trieb ihn seine eigene Haltung an, den Würfel anzufassen, nämlich die, einen einmal betretenen Weg weiterzugehen und die Folgen zu ertragen. So legte er den Zettel auf den Schreibtisch zurück, um beide Hände freizuhaben. Er blickte noch einmal Tiberius Odin an und sagte: "Im Namen des Opfers, daß deine Frau und Claire für dich und mich gebracht haben, damit wir keine bösen Überraschungen aus der alten Zeit erleben nehme ich das Erbe deiner Vorausgegangenen Frau an." Tiberius nickte hilflos. Im Moment fühlte er sich als gerade so geduldeter Zuschauer als als Hausherr. Julius streckte die Hände ganz aus und senkte sie mit den Flächen nach unten über dem Würfel herab. Knapp zehn Zentimeter über der spiegelglatten, von innen her violett leuchtenden Oberfläche, fühlte er wieder jenes Kribbeln und Krabbeln, als liefen hunderte Ameisen über seine Hände. Das Kribbeln verstärkte sich und breitete sich über die Arme und den ganzen Körper aus, bevor Julius die glatte Oberfläche berührte. Dann bekamen seine Handflächen Kontakt. Er meinte, auf eine mit heißem Tee gefüllte Porzellankanne zu fassen. Doch das Gefühl der Hitze verflog sofort. Statt dessen durchflutete ein Gedanke seinen Kopf: "Wie lautet dein Geburtsname?" Keine Hundertstelsekunde später dachte er: "Julius Andrews". Dann meinte er, das glatte Material des Würfels würde unter seinen Fingern schmelzen. Es wurde erst wie Gummi, dann wie Wasser und dann zu einer warmen luftigen Substanz. Das Ameisenkribbeln blieb ihm erhalten. Dann sanken seine Hände in den Würfel. Er sah sie im inneren des violetten Dunstes verschwinden. Er ertastete etwas, das sich wie eine bauchige Glasflasche anfühlte. Er dachte an die Geschichten von Flaschengeistern, von denen er jetzt wußte, daß längst nicht alle reine Märchen waren. Er zog den Behälter aus dem Dunst des Würfels heraus. Ohne Widerstand konnte er das Gefäß durch die flüchtig wirkende Oberfläche ziehen. Sofort ließ das Kribbeln auf der Haut nach. Jetzt konnte er sehen, daß er tatsächlich eine Flasche freigezogen hatte. Doch in ihr steckte kein eingesperrter Dschinn, sondern jene silbrigweiße Substanz, die er von Denkarien her kannte. Das war ausgelagerte Erinnerung, womöglich mehrere wichtige Erlebnisse. Tiberius trat vor, um sich das näher anzusehen. Doch irgendwas stoppte ihn und drängte ihn sacht zurück. Julius wog die Flasche in den Händen. Sicher war sie unzerbrechlich gezaubert. Erinnerungsessenz wog nichts. Er schüttelte die bis zum oberen Halsende volle Flasche ein wenig. Er hörte jedoch nichts, und die geheimnisvolle Substanz geriet ein wenig in Aufruhr. Doch er konnte nicht mehr sehen als sich verstrudelnde, mondlichtartige Essenz. Er steckte die Flasche in seine rechte Umhangtasche. Was er damit zu tun hatte wußte er jetzt schon. Dann griff er erneut nach dem Würfel. Diesmal ging er forscher vor. Seine Hände versanken sofort im violetten Dunst. Er dachte einmal an jenen Würfel in der Himmelsburg, aus dem er Ailanorars Flöte herausnehmen mußte. Das war ihm nur gelungen, weil er einen hergezauberten Enterhaken und einen Antifluchhandschuh benutzt hatte. Hier hatte er bedenkenlos zugefaßt.

Der zweite Gegenstand, den er ertastete, fühlte sich ebenfalls gewölbt an, aber eher metallisch als gläsern. Er zog den Gegenstand aus dem Würfel und hielt einen wohl einen halben Liter Flüssigkeit fassenden Pokal aus Silber in seinen Händen. Kaum hatte er das Gefäß aus dem Würfel freigezogen, meinte er, einen Nadelstich vom Trinkgefäß in die Hand zu bekommen. Er zuckte zusammen, wollte das Gefäß wieder loslassen. Doch es wirkte wie festgeklebt. Tiberius stieß einen kurzen, unterdrückten Schreckensschrei aus. Julius fühlte nun auch an der anderen Hand, mit der er den Pokal hielt, einen einstich, der blieb, als setze ihm wer eine Spritze oder wolle ihm Blut abnehmen. Er versuchte noch mal, den ihm unheimlich werdenden Pokal fallen zu lassen. Doch er klebte wie angewachsen an seinen Händen. Er fühlte nun ein sachtes Pulsieren, das von den schmerzenden Einstichen ausging. Die Idee, ihm würde wirklich Blut abgenommen, kam ihm nun immer wahrscheinlicher vor. Tatsächlich begann sich der Pokal zu verfärben. Erst wurde er dunkler. Dann nahm er einen scharlachroten Farbton an, der wie frisches, arterielles Blut wirkte. Julius fühlte sich ein wenig schwindelig. Was war, wenn dieser Vampirpokal ihm nun alles Blut aus dem Leib saugte? Er blickte in die Öffnung des Behälters hinein. da sah er eine hellrot aufleuchtende Inschrift am Boden: "Frequens homo solus non sufficit", las Julius lautlos. Er erkannte, daß es keine Zauberformel war, sondern ein Sinnspruch oder eine Lebensweisheit: "Häufig reicht ein Mensch allein nicht aus", übersetzte er das gelesene laut. Da ließ das pulsierende Stechen nach, und fast entfiel ihm der Pokal, der übergangslos seine silberne Grundfärbung zurückgewonnen hatte. Tiberius Odin atmete hörbar auf. "Der Pokal der Verbundenheit, Julius. Sie hat ihn nicht Emil überlassen, sondern dir. Sie sagte mir, daß sie dieses Ding Emil geben würde, aber nur, wenn sie ihn aus eigenen Händen an ihn weiterreichen könnte und ihn deshalb nicht im Testament erwähnt habe. Es ist ein mächtiger Gegenstand, mein Junge. Sie erwähnte, daß es von ihm nur zehn Stück auf der Welt gebe und außer diesem noch einer bei den Latierres und bei den Eauvives zu finden sei."

"Dann war das doch eine Zauberformel?" fragte Julius Tiberius und stellte den Pokal auf den Schreibtisch. Er betrachtete seine Hände. Da, wo er die Einstiche gefühlt hatte, konnte er je ein winziges Loch in der Haut sehen, aus dem ein wenig Blut tropfte. Doch während er die beiden Verletzungen sah, heilten diese auch schon wieder zu.

"Er ermöglicht es dem, der ihn nach dem Tod des letzten Vorbesitzers zum ersten mal ohne Drachenhauthandschuhe anfaßt, nach Erkenntnis des aufleuchtenden Spruches, mit jedem fühlenden oder auch denkenden Wesen in Verbindung zu treten, dessen Blut oder Milch in dem Behälter aufgefangen wird. Allerdings saugt dieses Teufelsding dem ersten, der es nach dem Tod des Vorbesitzers mit nackten Händen anfaßt Blut aus, bis er oder sie um Hilfe bittet, um den Spruch im Inneren zu übersetzen oder mit eigener Stimme die Übersetzung ausspricht. Dank wem auch immer, daß du die lateinische Sprache weiter als bis zum Pauken der Zauberformeln gelernt hast!"

"Die Dame hat mich vor achtzehn Jahren und einem Tag zur Welt gebracht", erwiderte Julius darauf. Ja, seine Mutter hatte schon gewußt, warum sie ihm ein umfangreiches Lateinlehrbuch geschenkt und ihn angehalten hatte, die scheinbar so tote Sprache zu lernen. Denn sie fand sich in vielen Zaubersprüchen, wenn auch nicht immer der Grammatik folgend. Auf jeden Fall hatte sein Wissen ihm wohl das Leben gerettet. Doch er hätte wohl eher Tiberius um Hilfe gebeten, als sich von diesem Vampirpokal alles Blut aussaugen zu lassen. Doch jetzt steckte etwas von seinem Blut in diesem Ding drin. Damit hatte er sich diesem Gefäß verbunden. Was war das? Wer freiwillig Blut oder Milch von sich hineingab konnte mit dem neuen Besitzer in Verbindung bleiben? Das war dann so wie bei Goldschweif und dem Interfidelis-Trank.

"Ist noch so eine kleine magische Mausefalle da drin?" wollte Julius von Tiberius wissen.

"Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß dieser Würfel am dreiundzwanzigsten Juli Punkt Mitternacht verschwindet und ich wohl gerade nicht näher als anderthalb Armlängen zu dir hingehen kann, solange du bei dem Würfel stehst", erwiderte Tiberius. Julius verstand. Mit dem Kontakt hatte er um sich und den Würfel einen Bannkreis erschaffen, bis er von selbst aus dem Wirkungsbereich heraustrat. Dann erkannte er, daß noch ein dritter Gegenstand im violetten Dunst schwebte. Er streckte die nun wieder vollständig verheilten Hände aus und legte sie auf die Würfeloberfläche. Wieder sackten sie wie durch warme, vibrierende Luft in den leuchtenden Dunst hinein. Jetzt fühlte er etwas wie Leder unter den Fingern und tastete es ab. Er war sich sicher, ein dickes, in Leder gebundenes Buch zu berühren. Auch wenn Bücher nicht immer so harmlos waren wie sie aussahen wollte er es jetzt wissen. Er griff fest zu und zog den dritten Gegenstand aus dem Würfel. Da erlosch das violette Leuchten. Dann verschwammen die bisher so klaren Kanten und Ecken des Kubus. Aus dem Würfel wurde eine graue Dunstwolke, die von einem Moment zum anderen verschwand und mit ihm der Tisch, auf dem er gelegen hatte. Ein leises Säuseln war das einzige Begleitgeräusch. Dann waren Würfel und Tisch restlos verschwunden. Nur die drei herausgeholten Gegenstände, der Zettel und das Modell der Binoche-Villa verrieten, daß hier etwas gewesen war.

"Jetzt wird der Würfel wohl solange verschwunden bleiben, bis ich selbst ins Land der Ewigkeit hinübergegangen bin", seufzte Tiberius. Julius hörte es nur mit halbem Ohr. Denn er besah sich gerade das freigezogene Buch.

Es war ein Foliant, der fast die Ausmaße des Würfels erreichte, in dem er über fast vier Jahre lang gelegen hatte. Auf dem Buchrücken stand in goldener Schnörkelschrift: "Desincantatio deorum antiquorum" Julius übersetzte nur für sich selbst: "Die Entzauberung der alten Götter". Laut sagte er zu Tiberius: "Ich hoffe mal, daß nicht das ganze Buch auf Latein ist. So fit bin ich mit der alten Sprache dann doch nicht."

"Du hast es wohl deshalb erhalten, weil du es entweder lesen kannst oder jemanden kennst, der es dir übersetzen kann. Sonst hätte meine vorausgeeilte Frau es sicher nicht für dich verborgen."

"Eigentlich gehört alles doch dir, was in dem Würfel war", stellte Julius fest.

"Der Pokal der Verbundenheit gehört mir jetzt definitiv nicht mehr, weil du ihn aus dem Würfel gezogen hast und damit sein Blutsgebundener Besitzer wurdest. Die Flasche mit den Erinnerungen will ich nicht anrühren, weil ich keine Möglichkeit habe, sie vor anderen zu verbergen. Aurélie hat mir diese Flasche auch nie gezeigt. Das Buch kenne ich auch nicht. Doch weil es in blauer Seeschlangenhaut gebunden ist muß ich davon ausgehen, daß zumindest der Einband bezaubert wurde, daß es nur der nehmen oder aufschlagen kann, der es auch in den Händen halten kann oder als erster nach dem Tod des letzten Besitzers daran rührt."

"Du kannst keinen Bergestein herstellen?" fragte Julius seinen Beinaheschwiegergroßvater.

"Das konnte Nur Aurélie und ihr Verein, mit dem sie sich wohl am Ende verhoben hat", knurrte Tiberius ungehalten. Julius verstand. Selbst ein guter Occlument mochte nicht stark genug sein, so brisante Erinnerungen ohne entsprechende Zauber vor fremdem Zugriff zu schützen. Ihn, Julius, schützten die Zauber der alten Meister aus Altaxarroi und der Familienschutzzauber der Latierres vor ungewolltem Verrat. Hatte Aurélie Odin das vorausgesehen oder einfach nur darauf gesetzt, daß Julius sich Leuten anvertrauen konnte, die ihm nicht in den Rücken fielen? Auf jeden Fall wollte sie, daß er mehr über das wußte, was er sich aufgeladen hatte. Sicher, er konnte jetzt jederzeit das gläserne Konzil in Khalakatan befragen. Doch nur die, die seiner Grundhaltung entsprachen, würden ihm erzählen, was er wissen wollte oder auch nur das, wovon sie dachten, daß er es wissen durfte. So ein Buch und eine Flasche voller Erinnerungen waren da wohl nicht so wählerisch in der Wissensweitergabe. Dann fiel ihm ein, daß es sicher auch Zauber gab, die das Lesen von Büchern gefährlich machten. Winnies wilde Welt gehörte zu diesen Büchern. Wußte er wirklich, ob er nicht etwas ähnliches wie Orions Buch "De Amore Calidissimo" aus dem Château Tournesol geerbt hatte? Dann erkannte er, daß Aurélie oder die ihr Wissen enthaltene Ammayamiria ihn garantiert gewarnt hätte, daß er bloß nicht dieses Buch lesen durfte. Diese eine Gewißheit reichte aus, um Julius dazu zu bringen, das Buch und den Trinkpokal ebenfalls einzustecken.

"Was genau stand über das Haus und die Bücher im Testament deiner Frau?" wollte Julius von Tiberius wissen. Dieser erkannte, warum Julius diese Frage stellte und erwiderte mit einem wissenden Lächeln:

"Was das Haus angeht, so hat Aurélie es mit allen zum Zeitpunkt der Testamentseröffnung darin enthaltenen Möbeln, Haushaltsgegenständen, Büchern, Schmuckstücken und Kunstwerken mir vererbt, und sollte ich da schon tot sein Emil oder dessen erstgeborenem Kind, weil Emil unser erstes Kind ist."

"Grund für Cassiopeia, dich auch bald unter die Erde zu wünschen", grummelte Julius.

"Tja, da steht aber drin, daß sichergestellt sein muß, daß ich eines natürlichen Todes im hohen Alter gestorben sein muß, damit mein Sohn das Haus bekommen konnte. Das Testament ist zwanzig Jahre alt."

"Alles, was zum Zeitpunkt der Testamentseröffnung im Haus ist gehört also dir, bis du es verkaufst oder verschenkst, richtig?"

"Ja, bis auf das Modell des Hauses und die Bücher. Die darf ich weder verkaufen noch verschenken sondern nur vererben. Aber die Sachen, die du aus dem Würfel geholt hast waren ja zum Zeitpunkt der Testamentseröffnung nicht in diesem Haus vorhanden. Folglich habe ich kein Eigentumsanrecht darauf. Du hast wohl gefürchtet, meine Kinder und Enkelkinder könnten dich zur Herausgabe der Gegenstände zwingen, richtig?"

"Können könnten sie das wohl mit dem Imperius-Fluch oder Gewaltandrohungen. Aber rechtlich geht das wohl nicht", erkannte Julius.

"Ruf bloß keinen großen Drachen, mein Junge", grummelte Tiberius. "Aber was sie nicht wissen, können sie auch nicht beanspruchen. Also nimm die drei Sachen mit und gehe in Frieden, sofern die Dinger dir Frieden verschaffen!"

"Ich wollte es nur absolut sicher mit dir klären, daß ich dir nichts wegnehme, Tiberius. Immerhin könntest du mit dem Buch ja auch was anfangen."

"Probieren wir es aus?" erwiderte Tiberius. "Probieren wir es aus!" bekräftigte Julius und holte das Buch noch einmal aus seinem Umhang. Er legte es auf den Schreibtisch und trat zurück. Tiberius trat an den Schreibtisch heran und versuchte, das Buch zu ergreifen. Doch als wenn er einen flachen Glaskasten berührte, der seine Finger fernhielt, er kam nicht einmal einen Zentimeter an den Einband heran. "Ich kann es nicht anfassen. Entweder konnte ich das nie, oder ich kann es jetzt nicht mehr, weil du der erste nach Aurélie bist, der es angefaßt hat und damit der alleinige Besitzer bist. Besser als wenn es mir die Finger verbrannt hätte oder mir eine Besondere Form des Decompositus-Fluches aufgeladen hätte. Julius machte die Gegenprobe. Ihm gelang es mühelos, das Buch anzufassen und aufzunehmen. Dann probierten sie, ob Tiberius die Flasche voll Erinnerungen anfassen konnte. Doch auch hier passierte es, daß Tiberius nur knapp zwei Zentimeter an die Flasche herankam. Dann sagte er: "Aha, der Flaschenhals ist mit Seeschlangenhaut umnäht. Dürfte also derselbe Festlegezauber sein wie bei dem Buch." Julius besah sich die Flasche auch und nickte. Seeschlangenhaut war neben Drachenhaut und Einhornkörperteilen am besten zu bezaubern und eignete sich daher für mächtige Bezauberungen. Er steckte die Flasche und das Buch wieder ein. Der Pokal war ja schon auf ihn geprägt.

"Ich hoffe, wir beide müssen es nicht doch irgendwann bereuen, daß du mir dieses letzte Erbe deiner Frau überlassen hast, Tiberius. Ich werde meiner Frau davon erzählen. Uns schützt das Latierre-Geheimnis. Hoffentlich sind in der Flasche nicht tausenduneins Alpträume drin, und das Buch ist kein Menschenfresser wie Winnies wilde Welt. Was machst du mit dem Modellhaus?"

"Das bekommt einen Ehrenplatz in meinem Salon", sagte Tiberius. Julius nickte. Dann fragte er ihn noch, warum das Haus ausgerechnet Froschfelsen hieß.

"Du hast das Haus wohl noch nie von außen gesehen, wie?" amüsierte sich Tiberius. Dann führte er Julius kurz hinaus und zeigte ihm, daß es auf einem gewaltigen Findling in einem bewaldeten Tal lag. Dieser große Felsbrocken lag in Mitten eines flachen Tümpels, der von Schilf umstanden wurde. Ein Steg führte vom Haus zum Ufer. Doch was am beeindruckensten war erschloß sich nur den Ohren. Denn kaum daß sie das Haus verlassen hatten, hörten sie es um sich herum in allen Tonlagen quaken. Julius blickte sich um, ob er die Tiere sehen konnte, die so durchdringend quakten. Erst nach einer Minute konnte er zwei fast handgroße Frösche sehen, einen großen und einen kleinen. Der große trug den kleinen auf dem Rücken. "Ui, ich wollte garantiert nicht spannen", lachte Julius auf die beiden Frösche deutend.

"Sag besser, du wurdest nicht zur Hochzeit eingeladen, Julius", erwiderte Tiberius über das laute Gequake hinweg. Dann winkte er Julius, in das Haus zurückzukehren. Kaum war die Tür zu, hörten sie nichts mehr von dem Lärm.

"Kannst du im Sommer nicht bei offenem Fenster schlafen, Tiberius?" wollte Julius wissen.

"Doch, das geht ganz gut. Ich bin die Nachtmusik gewöhnt und freue mich, wenn es um mich herum noch lebendig zugeht. Wenngleich ich immer mal wieder dran denken muß, wie viele Frösche ich wegen Zaubertränken schon zerlegt und zermörsert habe. Nicht das mir eines Tages der Rächer aller Frösche auf die Bude rückt und mir die Hachsen ausreißt."

"Das hoffe ich mal für dich und alle Froschschenkelliebhaber mit", erwiderte Julius. Sich eine Art dämonischen Rächer der Tiere vorzustellen gefiel ihm selbst nicht. Andererseits gab es garantiert genug Horror- und Science-Fiction-Geschichten, die mit dieser alptraumartigen Idee spielten, daß die Tiere sich an den Menschen rächten oder Dämonen die mit ihnen verbundenen Kreaturen verteidigten, wenn der Mensch es zu wild trieb.

Nach einem kurzen Gutenachtgruß kehrte Julius in das Haus "Pomme de la Vie" zurück. Millie war noch auf.

"Huch, wenn ich gewußt hätte, daß du wegen mir noch wach bleibst wäre ich besser erst morgen früh gegangen", sagte Julius schuldbewußt.

"Monju, du glaubst doch nicht ernsthaft, ich würde mich hinlegen, wenn du mal wieder wegen was mysteriösem unterwegs bist, wo ich jetzt bestimmen kann, ob ich im Bett bin oder nicht. Aber besser ist es, wenn wir zwei jetzt Heia machen, bevor Aurore uns wieder nötig hat."

"Ich übernehme das Wickeln, wenn sie weckt", sagte Julius.

"Du bist lustig, Süßer. Wo sie, kaum daß sie neue Windeln umhat gleich nachlegen muß, um die wieder voll zu kriegen. Also ab ins Bett und geschlafen!"

"Ich muß nur die Sachen in unseren speziellen Aufbewahrungsschrank legen, die ich aus einem violetten Würfel gezogen habe", sagte Julius und ging zu dem von ihm und Millie mit eigenem Blut bezauberten Schrank, in dem das Denkarium, der Lotsenstein und das Intrakulum aufbewahrt wurden. Millie sah ihm zu. Als er die Flasche hervorholte meinte sie: "Erinnerungen? Dann kipp die gleich in das Denkarium um!" Julius schüttelte den Kopf. "Wenn ich wissen will, was Aurélie Odin mir da aufgehalst hat darf ich die Erinnerungen nur einfüllen, wenn ich sie in weniger als zwei Stunden nach Einfüllen erkunden will. Sonst vermischen die sich mit den anderen Erinnerungen. Dann kriege ich die nicht mehr so einfach zu fassen, wenn ich nicht weiß, wonach ich suchen muß."

"Stimmt, hast du mir erzählt. Dann laß die solange in ihrer Flasche drin! Oh, den Pokal hatte die auch für dich zurückgelegt. Ähm, Tante Babs wolte es mir nicht erzählen. Aber ich las in unserer Familienchronik, die ich zum Siebzehnten bekam, daß wir Latierres so einen Trinkbecher haben und damit mehrere Leute, die gut mit Zaubertieren konnten und die dazu bekamen, ihr Blut oder wenn weiblich eigene Milch da hineingaben und deren Kinder und Geschwister verstehen konnten, bis diese oder die Menschen sterben. Das Ding macht Interfidelis voll überflüssig, wenn du ein Tier- oder Zauberwesen oder einen Menschen mit und ohne Magie dazu kriegst, freiwillig Blut oder Milch zu spenden. Woher wußte die, daß du sowas gebrauchen könntest?"

"Stimmt, Claire könnte ihr erzählt haben, daß ich ja schon mit Goldschweif den Trank geschluckt habe und ... Natürlich, sie ging davon aus, daß ich den Pokal mit Claire zusammen benutze, damit wir beide irgendwie in Verbindung bleiben."

"Wir zwei süßen brauchen dafür keinen Blutpokal, weil wir die Herzchen haben. Und du hättest mit Claire sicher auch sowas schnuckeliges angeschafft", erwiderte Millie.

"Dann ging es wohl darum, daß Claire auch ohne Interfidelis mit Goldschweif Kontakt bekam und eben auch mit mir besser mentiloquieren konnte."

"Jau, das wird's wohl sein", wisperte Millie. "Tu den Becher gut wegschließen, bevor Oma Line noch meint, sich halb auswringen zu müssen, damit du sie ohne den ganzen Vorlauf zum Mentiloquieren verstehst", raunte sie noch. Julius nickte.

"Könnte der glatt einfallen, wenn die wüßte, daß ich einen von zehn Pokalen habe", flüsterte Julius. Dann verstaute er das Trinkgefäß und das Buch über die Entzauberung der alten Götter im Schrank und schloß ihn sorgfältig ab. in den Tagen bis zum Schachturnier wollte er Aurélies Vermächtnis genauer erforschen.

__________

Nach dem Frühstück nahm sich Julius zunächst das alte Buch vor. Der römischen Zahl MCCCXXXII nach stammte es aus dem Jahre 1332. Außerdem fand er noch vier in einem gestrichelten Kreis angeordnete Tiersymbole: Einen Schwan mit klassisch gebogenem Hals, einen auf seiner Schwanzflosse stehenden Delphin, einen Bären, der einen Baumstamm mit ausladenden Zweigen über seinen Kopf hielt und ein Drache, aus dessen Maul eine lange Flammengarbe züngelte. Der Drache, so wußte er bereits, stand für den McFusty-Clan. Der Bär mit dem über dem Kopf ausbalancierten Baum stand für die Sippe Lesauvage und war von Orion dem Wilden damals selbst als Familienwappen ausgearbeitet worden. Doch für welche Familien die beiden anderen Tierzeichen standen wußte er nicht. Vielleicht konnte ihm Viviane Auskunft geben. Millie war aber gerade in der Wohnküche. Sie hatte Aurore wieder im Tragetuch bei sich. Es war sicher nicht gut, wenn er mit seiner Frau über dieses Buch sprach oder Viviane fragte, wo seine Tochter unfreiwillig mithören konnte. Nachher war sie in Gefahr, weil sie die möglichen Geheimnisse des Buches in ihrem Unterbewußtsein trug. Das mußte er wirklich nicht riskieren, wo er nun viel über Gedächtniszauber und Erinnerungsrückschau wußte. So blätterte er zunächst einmal in dem Buch herum. Er stellte fest, daß es wirklich in lateinischer Sprache geschrieben worden war. Er dachte einmal an seine frühere Schulkameradin Moira Stuard und ihren geschichtskundigen Vater. Der hatte mal erwähnt, wie aufregend es sein konnte, in einer uralten Klosterbibliothek zu stöbern und da wahre Schätze finden konnte, wo er Latein, Altgriechisch, keltisch und sogar ein wenig Arabisch lesen und schreiben konnte. Julius erschauderte, als er feststellte, daß das Buch auch handgemalte Bilder enthielt. Auf einem Bild erkannte er eine Gruppe aus zehn Menschen in langen Gewändern, das mit "Decem reges" untertitelt war. Welche zehn Könige es waren wußte Julius zunächst nicht, bis er bei einer der Frauen das helle Gewand und eine aus vielen feingliedrigen Ketten zusammengeschmiedete Haube auf dem Kopf erkannte. Einer der "zehn könige" war dagegen in dunkle Tücher gekleidet und hielt mit einer Hand einen kugelförmigen Gegenstand wie einen Globus aus schwarzem Gestein in die Höhe. Er blätterte weiter und sah ein Bild, wo Drachen über den brennenden Dächern einer Stadt flogen. Auf einem Drachen ritt ein Mann in einer Rüstung, die wie aus zusammengeschmiedeten Flammen aussah. In der rechten Hand hielt der Drachenreiter ein Schwert, dessen Klinge ebenfalls wie aus zusammengeschmiedeten Flammenzungen aussah. Darunter stand "Magister Ignium solis terraeque, imperator draconum. Also ging es in dem Buch tatsächlich um die mächtigen Magier des alten Reiches Altaxarroi und die von ihnen hinterlassenen Gegenstände. Doch Julius würde Wochen brauchen, um das Buch einigermaßen zu übersetzen, wobei er davon ausging, daß es noch Passagen gab, die er mit seinen bisherigen Lateinkenntnissen noch nicht verstehen konnte. Er blätterte weiter. Da glitt ihm zwischen zwei Seiten ein scharlachrotes Stück Pergament zwischen die Finger. Er dachte an ein altes Lesezeichen, das die aus der Welt gegangene Besitzerin des Buches zurückgelassen hatte und wollte gerade die damit markierte Seite ansehen, als das Pergamentstück in seiner Hand leicht vibrierte und sich erwärmte. Er fürchtete schon, daß es gleich aus sich heraus verbrennen würde und wollte es gerade in eine Ecke werfen, wo es keinen Schaden anrichten konnte, als die sachte Schwingung und die Erwärmung abklangen. Das Pergament hatte sich jedoch verändert. Es war nicht mehr durchgehend rot, sondern hell. Allerdings konnte er noch rote Zeichen erkennen, als habe jemand mit roter Tinte oder Blut geschrieben. Er hielt sich das Pergamentstück vor die Augen und las in bestem, handgeschriebenen Englisch:

Hallo Julius!

Nur du wirst diese Zeilen lesen können, weil ich sie mit einem durch Eigenblut bekräftigten Beschränkungszauber versehen habe.

Das Buch enthält das Wissen über die mächtigsten Herrscher und Herrscherinnen des alten Reiches, aber auch einige Familiengeheimnisse der Verfasser, die nur mit ihren Wappen unterzeichnet haben. Der Schwan steht für Collin O'Shanes Sippe, die im vierzehnten Jahrhundert in die Nebenlinien Swann und Rainbowlawn verzweigte, Chrysopodos aus der Familie des Anaxichthys von Samos, für den der auf seiner Fluke balancierende Delphin steht. Der bär mit dem gefällten Baum ist das Wappen der Lesauvages, wie du es wohl schon längst in den Bulletins des Beauxbatons gefunden hast. Der feuerspeiende Drache ist das Wappen der McFustys, die auf den unortbaren Hebriden schwarze Drachen hüten. Posaune bitte nicht herum, daß du ein altes Buch bekommen hast, an dem diese vier Leute mitgeschrieben haben! Es gibt nur dieses eine Exemplar, das deshalb in den Besitz meiner Vorfahren gelangte, weil ein Zauberer es gut meinte und einen Krieg um das Buch verhindern wollte und es ins Ausland brachte. Es gilt für die heute lebenden Nachkommen als "verlorenes Erbe". So solltest du es auch weiterhin gelten lassen. In ihm stehen neben den wichtigsten nachprüfbaren Dingen über die mächtigsten Magi aus dem alten Reich und ihre mächtigsten Artefakte auch Erwähnungen über Orte, zu denen du mit dem runden Stein aus der Festung gelangen kannst, sofern du dieses Wissen noch nicht aus anderer Quelle erworben hast. Die Flasche mit den Erinnerungen zeigt dir die wichtigsten Erlebnisse, die ich und meine weiblichen Ahnen, die alle Trägerinnen des Silbersterns waren, für Aufbewahrenswert hielten. Schöpfe sie nur aus, wenn du deine Occlumentieausbildung abgeschlossen hast oder den Divitiae-Mentis-Zauber erlernt hast! Der Pokal macht es möglich, daß du mit den Blutsverwandten jedes Tier- oder Zauberwesens wie mit Menschen sprechen kannst, die freiwillig Blut oder Milch von sich in den Pokal tropfen lassen oder es sich gefallen lassen, daß du diese für das Leben so wichtigen Körperflüssigkeiten von ihnen dort einfüllen darfst. Bei Menschen mit magischen Fähigkeiten ermöglicht dir der Trank, daß du zehnmal so gut mit ihnen mentiloquieren und mit ihnen den Exo- oder Introsensozauber ausführen kannst wie sonst. Doch wähle deine Vertrauten weise aus! Denn du kannst nur bis zu sieben Urvertraute damit gewinnen.

Der Fugittempus-Tresor ist bereit. Ich hoffe zwar noch, daß ich selbst dir alles erklären kann, was du wissen mußt. Doch falls es mir nicht vergönnt ist, bleibt mir nur, dir noch einmal ein friedliches, glückliches, erfolgreiches Leben zu wünschen. Paß gut auf Claire auf, falls ich sie mit meinem Widerstand gegen Yassins Leute nicht mit aus der Welt reiße!

Aurélie Odin

Julius las die Zeilen noch einmal. Dann nickte er. Einen Moment lang dachte er wieder, die verschüttete Trauer um Claire käme wieder hoch. Doch dann erkannte er, daß Aurélie ja selbst befürchtet hatte, sie könne nicht alleine aus der Welt verschwinden. Er legte das Pergament mit der blutigen Botschaft auf den kleinen Lesetisch. Kaum hatte er seine Hand davon fortgezogen, zerfiel die Mitteilung zu feiner, grauer Asche. Julius nahm den Zauberstab und ließ sie mit dem Staubsammelzauber verschwinden.

Ich denke nicht, daß in dir alles über die alten Straßen steht, was ich von Darxandria, Garoshan und Kantoran gelernt habe, dachte Julius für sich und tippte das aufgeschlagene Buch an. Er blätterte nun zurück zum Anfang und las diesen still, wobei er sich abmühte, seine mittelmäßigen Lateinkenntnisse richtig anzubringen. Doch irgendwie schaffte er es, zu lesen, daß die vier Schreiber ihnen zugängliche Quellen beschrieben, die von den alten Gegenständen berichteten. Er merkte nicht, wie die Zeit verging. Erst als Millie laut genug an die Tür klopfte kehrte sein Geist in die Gegenwart zurück. Er merkte, daß er sich sichtlich angestrengt hatte.

"Oh, schon Mittagszeit? Mist!" Erwiderte Julius das Klopfen. "Ich komme rüber. Bin sowieso noch nicht so richtig fit, um das hier richtig zu lesen."

"Dann leg es wieder gut weg, Monju!" hörte er Millies Stimme durch die geschlossene Tür. Er nickte für sich und klappte das Buch zu. Nachdem er es wieder im sicheren Aufbewahrungsschrank verstaut hatte ging er zum Mittagessen. Seine Frau hatte den Eintopf gemacht, dessen Rezept sie von ihm und seiner Urgroßmutter Hillary übernommen hatte.

Beim Essen sprachen sie nicht über Aurélies Erbe, weil Aurore unfreiwillig mithörte und es besser nicht jetzt schon ins Unterbewußtsein aufnahm, was für brisante Geheimnisse ihr Vater aufgeladen bekommen hatte. Sie sprachen über die anstehenden Ereignisse von Millemerveilles und wann Julius die ersten Bewerbungen losschicken wollte.

"Stimmt, am besten schreibe ich heute Nachmittag zwei für Tante Babs und den Gesamtchef der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe. Morgen schicke ich dann noch eine Bewerbung an die Abteilung zur Bekämpfung magischer Katastrophen. Mal sehen, was von deren Behauptung zu halten ist, ich könnte jede freie Stelle antreten."

"Und das mit Antoinette ist jetzt ganz vom Tisch?" wollte Millie wissen. Julius wiegte den Kopf und sagte, daß er sich bei dem Ausbildungssystem für französische Heilmagier klar gegen die Heilerausbildung entscheiden müsse.

"Wird der guten Antoinette nicht schmecken. Es sei denn, sie hat für dich eine Ausnahme auf Lager, die du nicht so einfach ablehnen kannst."

"Die will ich erst mal kennen, bevor ich dazu was sage", erwiderte Julius entschlossen. In seinem Kopf spukte ohnehin noch was anderes herum: Konnte er wirklich einen gewöhnlichen Beruf ausüben, wo ihm jetzt noch mehr altes Wissen aufgeladen worden war? Vielleicht sollte er sich doch jemandem anvertrauen, der von Berufswegen mit uralten Vermächtnissen zu tun hatte, ohne gleich um Hilfe bei der Liga gegen dunkle Künste zu bitten. Doch um sich da sicher zu sein wollte er erst sehen, was in Aurélies Flasche steckte.

"Bis jetzt ist nicht bei Geneviève durchgesickert, daß Martha wohl bald auswandert", schnitt Millie ein anderes Thema an. Julius erwiderte darauf, daß sie wohl früh genug davon Wind bekommen würde und scherzte mit seiner Frau, daß Sandrines Mutter ihm und seiner Mutter womöglich noch einen Heuler schicken mochte oder ob sie nicht Lucullus Merryweather mit einem Gleichgültigkeitszauber belegen würde, um ihm Martha wieder abspenstig zu machen.

Nach dem Essen kümmerte sich Millie um Aurore, daß auch sie ihr Mittagessen bekam. Julius hielt seine Tochter sicher, während diese ihre Mittagsmilch trank. Er dachte einmal daran, daß wenn er Millie dazu bekam, auch für den Pokal der Verbundenheit etwas davon abzugeben, er von da an bis zum Lebensende problemlos mit seiner Tochter und allen künftigen Kindern in optimaler Verbindung stehen würde. Sicher mochte Millie sofort darauf eingehen. Doch er konnte nur sieben Urvertraute auswählen, mit denen und deren Blutsverwandten er sich verständigen wollte. Außerdem brauchte seine Tochter noch jeden Tropfen Muttermilch, den Millie ihr geben konnte, erkannte er. Besser war es, wenn er sie erst einmal nicht bat, sich ihm und dem Pokal anzuvertrauen.

"Ja, so komme ich gut auf mein Ausgangsgewicht runter", säuselte Millie, als Aurore fertig war. Sie legte das Baby zum Schlafen in die Wiege. Dann flüsterte sie Julius zu: "Zeig mir bitte, was in dieser Flasche drin ist, Monju!"

"Könnte lange dauern", erwiderte Julius. "Camille und Aurora wollten vielleicht noch einmal vorbeikommen."

"Stimmt, hatten sie ja gesagt", grummelte Millie. "Dann nach dem Abendessen", erwiderte sie.

Julius ging mit Millie für eine halbe Stunde in den kleinen Geräteschuppen und prüfte seine elektronische Post und was in der Welt sonst so passiert war. Frankreichs Fußballfans freuten sich immer noch über den Europameistertitel, die portugiesischen Fans, die im Halbfinale randaliert hatten, konnten damit rechnen, daß sie bis auf weiteres kein Länderspiel mehr besuchen durften. Ansonsten nichts, was Julius oder gar Millie an den muggelweltnachrichten interessiert hätte.

Gegen vier Uhr Nachmittags tranken die Latierres auf der Wiese Kaffee. Genau rechtzeitig dazu trafen Camille Dusoleil und Aurora Dawn ein. So wurde es noch ein entspannter Nachmittag, wo es um die Gartengestaltung und die Pläne nach den UTZs ging. Einmal ertappte Julius seine australische Bekannte dabei, wie sie etwas wehmütig zusah, wie Millie das Baby versorgte. Eigentlich hätte er gerne gefragt, ob Aurora Dawn traurig war, daß sie bisher keinen Partner für eine Familie gefunden hatte. Doch wenn sie das nicht selbst erwähnte ging es ihn wohl nichts an, erkannte er.

"Morgen kommt ihr bitte zu uns herüber. Jeanne und ihre Familie kommen auch", legte Camille fest. Julius konnte nichts dagegen vorbringen. Auch wenn Claire schon seit bald vier Jahren nicht mehr da war, feierte Camille immer noch ihren Geburtstag. Jetzt, wo Julius noch ein letztes Vermächtnis von Aurélie erhalten hatte, wog diese Tatsache noch schwerer auf seiner Seele. Doch er durfte nicht zeigen, daß es ihn gerade in diesen Tagen wieder besonders bedrückte, an Claire erinnert zu werden, auch wenn Millie und er in diesem Jahr ihr Familienglück gefestigt hatten.

Nach dem Abendessen sicherte Millie, daß Aurore Béatrice Latierre sicher und ruhig schlief. Sie trug nur die kleine Brosche, die vibrierte, wenn ihre Tochter zu schreien beginnen würde. Da sie wußte, daß sie jederzeit eine Denkariumssitzung unterbrechen konnte, bestand sie darauf, mit ihrem Mann nun in die von Aurélie übergebenen Erinnerungen einzutauchen.

"Ich hoffe nur, daß wir danach noch gut schlafen können", erwiderte Julius darauf nur. Dann schloß er die Tür von dem Zimmer, in dem der Schrank mit den mächtigen Gegenständen stand. Julius hatte auch Ailanorars Flöte in ihrer Conservatempus-Schachtel in den Schrank gelegt. Bisher war niemand darauf gekommen, daß er dieses mächtige Instrument im Besitz hatte. Doch solange er es nicht erneut spielen mußte, sollte es in seiner Schachtel bleiben, um die Verbindung zwischen Ailanorars Geist und seiner lebenden Schwester Naaneavargia zu unterbrechen.

Julius holte das Denkarium und Aurélies Erinnerungsflasche aus dem Schrank. Er zog den Glasskorken aus dem Flaschenhals und schüttete bedächtig den silbrigweißen Inhalt aus der Flasche in das magische Granitgefäß, in dem er bereits viele Erinnerungen und Träume eingelagert hatte. Außer seinen und Millies wichtigsten Erinnerungen hatte Madame Faucon auch die entscheidenden Erlebnisse Serena Delourdes' in den Gründerjahren von Beauxbatons dort eingelagert.

"Okay, Mamille, wir können", sagte Julius.

"Gut, Monju, dann auf zur nächsten Zeitreise!" spornte Mildrid Latierre sich und ihren Mann an.

Sie beide kannten es schon, in ausgelagerte Erinnerungen einzutauchen. Sie senkten ihre Köpfe in das berunte Granitbecken. Doch als sie die silbrigweiße Substanz der Erinnerungen berührten, meinten sie, durch einen Schacht zu fallen. Ohne aufzuschlagen landeten sie mitten in einer prunkvollen Halle. Meterhohe Säulen stützten eine makellos weiße Decke. Elfenbeinringe um die Säulen trugen goldene Halterungen, in denen goldene Öllampen steckten, die die Halle mit ihrem Licht erfüllten. In den vier Ecken der Halle standen wuchtige Wasserbecken, aus denen fidele Fontänen bis fast zur Decke hinaufspritzten. Das nach oben geschleuderte Wasser regnete wie vom glitzernden Hut eines Pilzes in die Becken zurück. Die Farbe Grün beherrschte diese Halle. Sie fand sich in den Ziersträuchern, die ein kleines Labyrinth bildeten und den Mustern in den Teppichen, die Wände und Boden bedeckten. Die Luft war erfüllt vom leisen Plätschern der Springbrunnen, leiser, orientalischer Musik und dem Duft der Sträucher und Blumen, die die Halle verschönerten. Im Zentrum der Halle standen vier Personen, zwei bärtige Männer in dunkelblauen Umhängen mit silbernen Verzierungen und zwei Frauen in blaßgrünen Gewändern, die Kopftücher und Schleier trugen, wie es strenggläubige Muslime bis heute in vielen Ländern von ihren Frauen und Töchtern verlangten. Julius wußte nicht, wessen Erinnerungen er miterlebte, bis er die Stimme eines Mädchens wie aus allen Richtungen zugleich hörte:

"Mutter, ich hoffe sehr, daß ich nicht als alte federlose Henne im goldenen Hühnerstall enden muß."

"Du wirst ihm das Fliegen beibringen und mit ihm diesem goldenen Käfig entfliegen, meine Tochter", klang die Stimme einer mittelalten Frau wie aus allen Richtungen zugleich zur Antwort. Dann wurde ein Wandteppich angehoben, und mehrere Dienstboten traten ein. Sie entrollten einen hellen Teppich und sprühten etwas aus gläsernen Flakons in die Luft, das mit dem bereits angenehmen Duft der Pflanzen noch mehr Behaglichkeit bewirkte. Dann traten zwei überreich gekleidete Männer ein. Der Vater war so gut genährt, daß er fast zu rollen vermochte, erkannte Julius und dachte kurz daran zurück, daß er vor drei Monaten fast selbst wie eine übergroße Kugel gewirkt hatte. Der zweite Mann war gerade so alt wie Julius und wirkte etwas verlegen. Die Dienerschaft stellte die beiden vor. Dann begann eine langwierige Verhandlung über eine anstehende Hochzeit. Dabei hielten sich die beiden Frauen zurück und überließen es nur den Männern, zu sprechen. Julius wollte nur wissen, wessen Erinnerungen er gerade nacherlebte. Ihm war nicht danach, das ganze Geplänkel mitzuhören. Er hörte jedoch heraus, daß das Mädchen Ariassa hieß. Den Namen kannte er von Viviane Eauvives magischem Wandteppich, der alle Zweige des Eauvive-Stammbaums abbildete. Sie hatte 1728 christlicher Zeitrechnung den dritten Sohn eines mesopotamischen Adeligen geheiratet, der sich in der Tradition der alten Kalifen von Bagdad sah. Das war damals eher schöner Schein, weil die Osmanen weite Teile der islamischen Welt beherrschten. Das der Jüngling auch noch Harun hieß, wie der legendäre Kalif Harun Al Raschit, klang in Julius Ohren eher wie ein Scherz. Doch er wußte, daß die Ehe tatsächlich geschlossen worden war.

"Bevor wir in die näheren Verhandlungen eintreten, möchte ich die Gesichter von Mutter und Tochter sehen", sagte der Jüngling auf einmal. Sein Vater nickte und fügte an, daß er ja auch kein Pferd kaufen würde, dem er zuvor nicht ins Maul schauen durfte. Das trieb den künftigen Brautvater fast dazu, in seinen Umhang zu langen. Sicher trug er da sowas wie einen Zauberstab. Doch seine Frau warf ihren Schleier ungestüm zurück und zeigte dem Hausherren und dem erwünschten Schwiegersohn ihr Gesicht. Auch Ariassa lüftete ihren Schleier und blickte verlegen ihren erhofften Bräutigam an. Jetzt konnte Julius erkennen, daß sich die schwarzen, leicht gewellten Haare, die hellbraune Hauttönung und die dunkelbraunen Augen von heute an bis zu Jeanne und ihren Schwestern, ja sogar bis zu Jeannes Kindern immer weitervererbt hatten, egal mit wem die Nachkommen Fatimas und Ariassas in den nächsten Generationen verbunden wurden. Der Jüngling und sein übermäßig genährter Vater blickten von der Mutter zur Tochter und zurück. Erst als der Brautvater fand, daß der Hausherr zu begehrlich auf seine Frau blickte durften die beiden ihre Schleier wieder vor die Gesichter hängen. Dann bekamen sie die Anweisung, in einem Nebenraum zu warten.

"Ich hoffe mal, nichts wirklich wichtiges zu verpassen, wenn wir hier aussteigen", grummelte Julius. Denn ihm war klar, daß er sich keine endlos lange Unterhandlung oder Warterei antun wollte. Millie stimmte ihm zu. Sie drehten sich also um und gingen auf einen der Wandteppiche zu. Da verschwamm die Umgebung, und die Geräusche versickerten in leisem Säuseln. Dann standen die beiden unvermittelt in einem Schlafzimmer. Sie fielen fast über das niedrige Bettgestell mit dicken Matratzen. Beide kamen sich vor wie Voyeure, höchst ungebetene Zuschauer. Zwei einander liebende übertönten die fröhliche Musik von draußen und ergingen sich in wilder Leidenschaft. Julius konnte sehen, daß es wohl Ariassa war, die mit ihrem wohl schon angetrauten zusammenlag. Sie vollzogen die Ehe, wie es wohlformuliert genannt wurde.

"Jetzt ist mir klar, warum Aurélie Odin wollte, daß ich das erst mit achtzehn zu sehen kriege", scherzte Julius. Millie, die die Handlungen mit einer gewissen Belustigung beobachtete meinte dazu:

"Wahrscheinlich hat Claires Oma vor ihrer unfreiwilligen Abreise nicht mehr die Zeit gehabt, die ganzen Erinnerungen durchzusehen, was davon für dich wichtig war. Was die da tun kennen wir zwei doch längst." Julius mußte ihr vollkommen zustimmen. Dennoch wollte er das nicht länger mit ansehen. Da er jedoch nicht wußte, ob diese so pikante Erinnerung nicht noch was wichtiges für ihn enthielt, blieb ihm nur, sich umzudrehen. Millie blieb unbeeindruckt so stehen und sah dem wilden Treiben zu, bis die Brautleute erschöpft genug waren und nun nebeneinander lagen. Dann hörten sie beide Ariassa sagen:

"Das ist ein schönes Haus. Doch willst du immer nur als geduldeter dritter Sohn hier wohnen und deinem Vater und deinen älteren Brüdern zugucken, wie sie den Glanz der alten Zeiten zu erhalten versuchen? In dir steckt dieselbe erhabene Kraft, die dein Vater geleugnet hat, weil er dachte, sie sei vom Sheitan, und er dürfe sie nicht nutzen."

"Soll ich dich hier und gleich erwürgen lassen", schnarrte Harun verärgert. "Willst du sagen, du bist eine Hexe?"

"Genau wie du ein Magier bist, Harun. In dir fließt das alte Blut ehrwürdiger Magier aus aller Welt", erwiderte Ariassa. "Und wenn du mich umbringen läßt, so werden meine Eltern mich rächen. Denn auch sie tragen die erhabene Kraft in sich", sagte Ariassa.

"Ich bin niemals ein magier. Nur die Nachfahren Sulaimans durften Zauberei betreiben. Allen anderen hilft nur Sheitan mit seinen Dschinnen", sagte der Bräutigam, der sich gerade wohl überlegte, ob er seine Braut nicht gleich köpfen, erwürgen oder sonst wie töten lassen sollte. Ariassa griff unter das Bett und zog einen Zauberstab hervor. Harun wollte rufen. Da hörte Julius, wie Ariassa "Schweige stille" murmelte oder vielleicht nur dachte. Harun brachte keinen Laut über die Lippen. Er warf sich herum. Seine Braut entsprang so unverhüllt wie die Natur sie erschaffen hatte dem Bett und wirbelte noch im Flug herum. Der leere Tisch im Schlafzimmer sprang in die Luft und flog auf Harun zu, der die Hände vorschnellen ließ. Da prallte der Tisch auf ein unsichtbares Hindernis. Funken umtanzten das magisch bewegte Möbelstück. dann flog es federleicht zurück und landete punktgenau da, wo es abgehoben hatte. Julius konnte aber genau sehen, daß Ariassa ihren Zauberstab nicht auf den Tisch ausgerichtet gehalten hatte.

"Du hast es gespürt, daß die große Macht der Magie in dir erwacht ist, Harun. Dein Vater will davon nichts wissen, und deine Brüder haben sie nicht im Blut. Doch du hast sie im Blut. Deine Bestimmung ist es, sie zu erwecken und zu nutzen. Wenn du fürchtest, daß der Sheitan dir diese Kraft gab, so verhöhne den von Allah verbannten dadurch, daß du seine Gabe zum Gefallen des Höchsten benutzt! Denn so wollen es deine Ahnen, alles große Magier." "

Harun sprang auf seine Braut zu, die den Zauberstab noch in der Hand hielt. Er ließ seine Hände vorschießen. Funken sprühten daraus hervor. Julius war sich sicher, daß der Jüngling seine Braut sicher mit einer Art Stromschlag treffen oder übermenschliche Kräfte bekommen würde. Da hörte er das Wort "Katashari!" aus Ariassas Mund. Harun sprang voll in einen silberweißen Lichtstrahl hinein, der ihn völlig umhüllte. Dann sprühten Funken aus dem Körper des Bräutigams heraus und verflogen. Harun sackte zusammen. Sein Blick wirkte leicht weltentrückt. Er landete auf dem breiten Bett, auf dem vorhin noch die eheliche Vereinigung gefeiert worden war. Ariassa, immer noch völlig nackt, stand mit wieder gesenktem Zauberstab vor ihrem Mann und sprach auf ihn ein, daß er nun, wo er ihr vollkommen verbunden war, keine Angst mehr davor haben sollte, die alten Künste neu zu erlernen, von denen sein Vater nichts wissen wollte. Julius wußte, daß jemand, dem der altaxarroische Mordlustabwehrzauber auferlegt worden war, bei klarem Bewußtsein blieb, wenn er auch erst mal verstört war, von einem Moment zum anderen alle Mordlust ausgetrieben bekommen zu haben. Dieser Zustand konnte bis zu fünf Minuten vorhalten. Wollte Harun seine Frau danach erneut umbringen, würde sie sich wohl nur mit direkten Lähm- oder Bannzaubern wehren können. Doch die fünf Minuten vergingen, in denen Ariassa dem Mann, der sie gerade zur Frau gemacht hatte berichtete, daß sie die Tochter aus einer langen Reihe von Töchtern war, die von einer großen, den hellen Zauberkräften zugetanen Magierin abstammten, die im alten Babylon wie eine Göttin angesehen worden war. Julius und Millie erfuhren, was sie beide schon zum Teil erfahren hatten und noch einiges mehr, daß es außer Ariassas Blutlinie noch sechs weitere Zweige von dieser überragenden Magierin gab, von denen fünf Linien im Morgenland und wohl eine im Abendland weiterbestanden. Sie erwähnte jedoch keine weiteren Namen, nur daß sie Harun geheiratet habe, um neben den männlichen Linien des Abendlandes noch eine weibliche Linie dort zu begründen. Denn auch wenn im Land der Ungläubigen ebenfalls mehr auf das Wort von Männern als das von Frauen gegeben wurde, sehe sie mit ihrer ererbten Lebensaufgabe nur im Land des Sonnenuntergangs eine Zukunft. Doch dazu bräuche sie einen ihr vertrauenden, an ihrer Seite stehenden und ihr helfenden Gefährten, in dem magisches Blut fließe. Er sei der einzige, den bisher keine andere im Morgenland lebende Zaubererfamilie ausersehen hatte. Denn die Magieverweigerung seines Vaters hatte dazu geführt, daß die Wächter der Magie, wie die Hüter der Zaubererwelt im Osmanischen Reich hießen, davon ausgegangen waren, daß Haruns Vater und dessen Abkömmlinge keine frei nach außen wirksame Zauberkraft besaßen. Harun hörte das alles im Bann des Todeswehrzaubers. Ariassa sprach ruhig, keineswegs siegestrunken oder überheblich klingend. Sie wußte wohl, wie viel Zeit ihr zur Verfügung stand, um ihr Anliegen vorzubringen. Sie erwähnte dann noch, daß Harun den Tisch mit eigener zauberkraft zurückgetrieben hatte, als Ariassa diesen auf ihren Mann geschleudert hatte, um seine unterdrückte, aber vorhandene Zauberkraft hervorzurufen. Da wich die aufgezwungene Tatenlosigkeit von Harun. Zwar wirkte noch immer der Schweigezauber seiner Frau auf ihn. Doch er konnte wieder frei entscheiden. Er sah seine Frau an und blickte sich dann um. "Ich kann dir den Bann von deiner Stimme nehmen, wenn du mir versprichst, niemanden gegen mich herbeizurufen. Denn dann müßte ich dich schon jetzt verlassen und womöglich deinen Sohn oder deine Tochter weit von dir fort großziehen, wo du und die Diener deines Vaters mich nicht finden können." Harun wirkte niedergeschlagen. So viel Magie in den wenigen Minuten mußte er erst verdauen. Dann machte er eine Geste, die Ariassa wohl als Bejahung auffaßte. Julius dachte daran, daß Ariassa zwei Kinder von ihrem Mann bekommen hatte, einen Sohn und eine Tochter. Der Sohn hatte eine spanische Hexe geheiratet, während die Tochter in die Delourdeslinie eingeheiratet hatte. Doch dann fiel ihm ein, Daß die Kinder im selben Jahr geboren worden waren. Ariassa nahm den Schweigezauber von ihrem Mann. Dieser sagte nur:"Bis morgen Früh bist du aus diesem Haus heraus, oder bei Allah und allen meinen Vorvätern werden du und deine dem Sheitan entstammende Familie gejagt und hingerichtet. Niemals will ich diese Macht des von Allah verfluchten nutzen. Niemals will ich einer Hexe Heim und Bett gewähren. Ich bete zum Allerhöchsten, daß das mir aufgeschwatzte Beilager kein weiteres Kind des Sheitans gezeugt hat. Kleide dich an und verschwinde durch eine der Lieferantentüren und komm mir niemals mehr näher als eintausend Schritte, wenn du nicht willst, daß wir dich und deine Verwandtschaft grausam hinrichten!"

"Du verstößt mich?" wollte Ariassa wissen.

"Ja, ich verstoße dich, du Hure des Verfluchten. Hinaus! Möge Allah mir verzeihen, dein sündiges Fleisch berührt zu haben."

"Das wird er sicherlich", erwiderte Ariassa verdrossen. Dann schlüpfte sie mit einer blitzschnell ausgeführten Zauberstabbewegung in ihre Brautgewänder. Harun wollte schon nach den Wachen rufen, die Hexe festzunehmen, da verschwanden er und das Hochzeitsgemach in einer von allen Seiten heranstürmenden Schwärze, die alles verschlang. Doch nach nur einer halben Sekunde standen Millie, Julius und Ariassa in einem bescheiden möblierten Schlafzimmer. Ein Gong erklang in nächster Nähe. Ariassa wandte sich einer Tür zu. Da betrat ihre Mutter, nun unverschleiert, den Raum. "Hat er dich angehört?" fragte sie Ariassa. Diese bejahte es. "Und er wollte nicht bei dir bleiben?" fragte Fatima weiter. Ariassa verneinte es. "Hast du ihn denn zumindest vor her zu dir genommen, um von ihm empfangen zu können?" wollte Fatima wissen. "Fünfmal, Mutter. Wenn wir richtig gerechnet haben kann mein Leib dadurch seine Frucht empfangen haben."

"So bleibt uns wohl nur die Abreise. Dein Vater und dein Bruder haben den Teppich schon ausgerollt."

"Er wird uns jagen lassen, jetzt wo er weiß, daß jemand seine verborgene Kraft kennt, Mutter", warnte Ariassa ihre Mutter.

"Solange er sich keinem gelehrten Magier anvertraut, von ihm alles zu lernen, um einen Suchzauber hinter uns herzuschicken oder unbändige Dschinnen zu seinen Sklaven zu machen, solange kann er drohen und zürnen. So werden wir wohl ohne einen Gefährten aufbrechen müssen", sagte Fatima noch. In ihrer Stimme schwangen Bedauern und doch auch Entschlossenheit. Julius und Millie konnten mitverfolgen, wie Fatima und Ariassa mit ihren männlichen Verwandten einen großen, vollbeladenen Flugteppich bestiegen und damit fortflogen. Da Millie und Julius zu spät darauf kamen, mit auf den Teppich zu springen verschwamm die nacherlebte Umgebung bereits, als ein gleißender Feuerball von Ariassas Vater gezaubert in das kleine, eher einer Hütte ähnelnde Haus einschlug und es in lodernde Flammen hüllte.

Die nächste Szene, die sie mitbekamen, war eine Zwillingsgeburt. Da Julius und Millie sowas schon kannten interessierte es sie nur, daß Ariassa irgendwo bei Alexandria ihre beiden Kinder zur Welt brachte, und daß sie erst eine Tochter und dann einen Sohn gebar. Ihre Mutter half ihr bei der Entbindung. Ariassa gab den beiden Kindern ihre Namen, die Julius schon gelesen hatte. Dann verwischte die Szenerie erneut.

Die nächste Erinnerung war ein Kampf gegen eine überlebensgroße Schlange, die aus dem Sand der Wüste hervorgekrochen war. Über der Szene spannte sich ein tintenschwarzer, kristallklarer Sternenhimmel. Julius erinnerte sich an das Quidditchspiel, bei dem er die mexikanischen Maskottchen gesehen hatte und an das Gespräch mit dem Hüter der ägyptischen Maskottchen. Der hatte ihm erzählt, daß die Unterweltschlange Apep oder Apophis auf echte Riesenschlangen zurückging, die bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein existierten. Das mußte eines dieser Ungeheuer sein. Denn die Schlange war mindestens vierzig Meter lang und fünf Meter breit. Die alten Zauber aus Altaxarroi mochten gegen dieses Ungetüm nicht helfen, das wohl ein friedliches Dorf in Angst und Schrecken hielt. Fatima rief jene alte Zauberformel aus, die Julius in Fleisch und Blut übergegangen war, und mit der er auch das Denkarium und die Wiege seiner Tochter geschützt hatte. Sie hielt den silbernen Stern der Kinder Ashtarias in der Hand und streckte ihn der heranrobbenden Schlange entgegen. Ein gleißendes Licht trat aus dem Heilsstern und fuhr dem Monstrum ins Scheunentorgroße Maul mit den mehr als zwanzig Zentimeter langen Reißzähnen. Laut brüllend wich die gewaltige Schlange zurück, während Ariassa nun einen alten Zauber wirkte, der wohl sowas wie eine Verbannung war. Aus dem gleißenden Licht des Heilssterns wurde ein blaues Flimmern. Die Schlange wurde durchsichtig und verschwand.

"Das war sehr gewagt, meine Tochter", sagte Fatima mit tadelnder Stimme.

"Es war die einzige Möglichkeit, wo wir beide niemanden töten dürfen", sagte Ariassa.

"Ich wollte das Ungeheuer in seine Höhle treiben und diese dann mit dem Bann des verlangsamenden Schlafes füllen, damit dieses Scheusal die nächsten Jahrtausende darin gefangenbleibt. Aber dein Lied der Ortsreinigung hat es nur aus den Grenzen des Dorfes vertrieben. Es kann und es wird sich anderswo neue Opfer suchen. Wolltest du das?"

"Die Zauberer werden das Ungeheuer töten, wenn es versucht, anderswo Beute zu machen, Mutter", erwiderte Ariassa. "Mir ging es um dieses Dorf, in dem niemand wohnt, der unsere große Kraft geerbt hat. Sie konnten sich nicht wehren und hätten dem Sohn Apeps weiter ihre Kinder geopfert, um in Ruhe gelassen zu werden. Wolltest du das?"

Die nächste nacherlebte Erinnerung spielte im Château Florissant. Da Millie und Julius den Stammsitz der Eauvives schon besucht hatten erkannten sie sofort, wo sie waren. Offenbar hatte sich über die Jahrhunderte nicht viel geändert. Fatima und Ariassa sprachen gerade mit einem Zauberer, der eindeutig der Eauvive-Linie entsprossen war. Hinter ihm stand Viviane Eauvive im goldgerahmten Gemälde. Ariassa beschrieb, warum sie den Vater ihrer Kinder nicht davon hatte überzeugen können, bei ihr zu bleiben. Arion Eauvive, der in dieser Erinnerung als Führer des Eauvive-Clans existierte, hörte sich die Geschichte an und sagte dann mit gewissem Tadel: "Wenn unser sich immer weiter ergänzender Ahnenteppich nicht klar zeigen würde, daß deine Kinder von Harun sind, dessen Vater drei der alten Blutlinien in sich vereinte, so hätte ich dich und deine vorwitzige Mutter längst meines Hauses verwiesen. Doch weil du deine kinder ehelich empfangen hast kann ich nicht umhin, sie als legitime Träger unserer Blutlinien zu begrüßen. Doch wenn du willst, daß sie hier in unserem Land aufwachsen, dann müssen sie auch hier ausgebildet werden. Ihr werdet also unter meinem Dach leben. Doch deine Kinder werden sich meinen und meiner Gemahlin Anweisungen unterwerfen müssen. Dir und deinen Verwandten bleibt dann nur das Vorrecht, von ihnen als Verwandte anerkannt zu werden. Ist dir das klar?"

"Ich bin bereit, meinen Kindern zu raten, alle Anweisungen auszuführen, die nicht ihren Leib und ihre Ehre verletzen", sagte Ariassa. Die betreffenden Kinder standen hinter ihrer Mutter. Sie waren sicher schon neun Jahre alt.

"Gut, so werde ich durchsetzen, daß sie nach Beauxbatons kommen, sofern sie hier ihren Wohnsitz erhalten. Die französische Zauberergemeinschaft ist immer noch argwöhnisch, was fremde Hexen angeht, Ariassa. Der dunkle, kalte Schatten Sardonias ist noch nicht restlos überwunden."

"Ich hoffe, Ihr werdet mir ausgiebig davon berichten, Arion", erwiderte Ariassa darauf. "Ich habe es mit meinen Kindern besprochen, daß sie hier in diesem Land ihre neue Heimat finden sollen. Außerdem hoffe ich, eine andere alte Blutlinie wiederzufinden, die irgendwo im Abendland bestehen soll. Doch ich weiß nicht, wo ich nach ihr suchen soll. Es wird immer von einer Tochter gesprochen, die weit vor dem Tod meiner Urmutter in den Westen gegangen ist. Wohin, haben wir nie erfahren. So muß ich im Moment davon ausgehen, daß ich die einzige bekannte Nachfahrin einer Tochter Ashtarias bin, die in diesem Land lebt. Sonst, so weiß ich, gibt es wohl noch die Linien zweier Söhne der alten Lichtmagierin aus dem alten Reich."

"Das alte Reich ist doch nur eine Legende, ein hilfloses Festhalten an Träumen, daß es mal eine mächtige magische Zivilisation gegeben hat", schnaubte Arion Eauvive.

"Wir wissen, daß es dieses Reich gab und wir wissen auch, daß viele heute noch lebende Wesen und Kreaturen in diesem Reich entstanden sind, wie die Blutsauger, die Wergestaltigen und weitere Zaubergeschöpfe", sagte Ariassa. Arion Eauvive lachte erst. Dann sagte er:

"In Ordnung, ich gewähre dir und deinen Verwandten Obdach und deinen Kindern die Möglichkeit, in Beauxbatons zu lernen, ihre Magie zu nutzen. Aber erspare dir und mir weitere Diskussionen um dieses Märchenreich Atlantis und verschone mich und meine anderen Verwandten damit, daß du dich für eine Nachfahrin aus diesem vergangenen Volk hältst! Nur dann kannst du darauf hoffen, daß ihr in diesem Schloß ffriedlich weiterleben könnt."

"Ich verspreche dir, dich und deine hier lebenden Verwandten nicht mehr damit zu behelligen, Arion", sagte Ariassa. Dann wandte sie sich ihren beiden Kindern zu und befahl ihnen, in die zugewiesenen Zimmer zu gehen, sie dürften jetzt hier wohnen. Dann verwischte die Umgebung wieder.

Nun wurden Millie und Julius Zeuge, wie Ariassas Kinder in Beauxbatons eingeschult wurden. Schon damals gab es die Reisesphärenverbindung. Julius erwähnte kurz, wer um 1740 Schulleiter gewesen war. Dann begleiteten sie Ariassa zurück in das Schloß der Eauvives, wo sich die Mutter der Zwillinge mit ihrer Mutter in einem Klangkerkerzimmer unterhielt.

"Wir müssen davon ausgehen, daß der alte Herrscherstab Skyllians noch existiert. Ich würde gerne mit einem anderen Träger des Silbersterns nach Indien reisen und den Ort suchen, wo er versteckt ist, bevor irgendein Dunkelmagier es schafft, den Stab zu finden und herausbekommt, wo die letzten Krieger schlafen. Sie dürfen nicht erweckt werden", sagte Fatima. Ariassa fragte, um was für Krieger es sich handele. Da erfuhr sie die Geschichte der Schlangenmenschen und ihres Anführers Skyllian, wie sie über Jahrtausende von einer Trägerin des Heilssterns zur anderen weitererzählt worden war und wie diese Wesen ausgesehen haben mochten. Ariassa verstand, daß unbedingt nachgeforscht werden mußte, ob an diesen Geschichten etwas dran war. Ihre Mutter holte aus einer großen Kiste, die sie mit dem silbernen Heilsstern berühren mußte, um sie zu öffnen, mehrere Schriftrollen und las ihrer Tochter vor, was darauf stand. Julius und Millie erfuhren wie Ariassa, daß diese Schriftrollen aus der durch ein schweres Erdbeben verschütteten Bibliothek von Alexandria geborgen werden konnten, da sie in einer den Elementen trotzenden Goldamphore aufbewahrt worden waren, die aber nur Träger magischen Blutes öffnen konnten. Für alle anderen Menschen war es einfach nur ein dekoratives Schmuckstück ohne Nutzwert.

"Für dich ist das doch jetzt ein alter Hut, wo du diese Monster persönlich erlebt und erledigt hast, Julius", meinte Millie.

"Ja, aber überlege mal, daß Aurélie damals nicht davon ausgegangen war, daß ich schon so früh mehr über den Lotsenstein mitbekomme, ja von Darxandria selbst auf die Schlangenmenschen angesetzt worden bin", erwiderte Julius.

Die nächste nacherlebte Szene spielte im Dschungel. Fatima und Ariassa waren mit Ariassas Bruder zusammen aufgebrochen, um nach dem Herrscherstab Skyllians zu suchen. Hier irgendwo im Dschungel mußte er versteckt sein. Indische Zauberer munkelten, daß er von den Tigermenschen bewacht in ihrem Heiligtum versteckt gehalten wurde. Das gefährliche an diesen Wesen war, daß sie die Zauberkraft von Hexen und Zauberern lähmten, sobald sie sich in gewaltige Tiger verwandelt hatten.

"Wenn wir angegriffen werden, dürfen wir diese Tigerleute töten, Mutter?" fragte Ariassa.

"Da sie ursprünglich Menschen waren und auch wenn sie gebürtige Tigermenschen sind noch menschliche Anteile tragen, dürfen wir sie wohl nicht töten, wenn wir die mächtigen Schutzzauber Ashtarias nicht verlieren sollen", erwiderte Fatima. Dann stutzte sie. Julius und Millie meinten auch, ein Geräusch gehört zu haben. Dann entspannte sich Fatima wieder. Sie holte ihren Heilsstern hervor. Dieser glomm im goldenen Licht. "Gratus ist in der Nähe. Unsere beiden Erbstücke erkennen sich bereits. Dann hat er meine Nachricht doch erhalten."

"Hast du daran gezweifelt, wo die Abendlandzauberer auf die Nachteulen schwören?" wollte Ariassa wissen. Dann trat jemand in Begleitung zweier Männer in Umhängen aus dem Dickicht hervor. Julius glaubte schon, einer Sinnestäuschung aufzusitzen. Doch Millie mußte dasselbe sehen. Sie stupste ihren Mann an und zischte: "Gibt's das? Der Typ sieht fast aus wie Glorias Onkel Victor, nur mit schwarzem Haar und Ziegenbart." Julius sah noch einmal hin. Bei dem Zauberer im blattgrünen Umhang handelte es sich in der Tat um jemanden, der von Gesicht und Augenfarbe her wie Victor Craft aussah. Auf seiner Brust glühte ebenfalls ein fünfzackiger Stern im goldenen Licht. Die beiden Sternträger begrüßten einander auf Französisch. Fatima stellte ihm ihre Tochter und Erbin vor. "Mein Erstgeborener ist gerade erst am Ende des Quintenniums und erwirbt die Grade, um seinen weiteren Bildungsweg bestimmen zu können. Den konnte ich unmöglich mit in den Dschungel nehmen. Aber pssst! Wir könnten schon in der Nähe dieses ominösen Tigertempels sein", zischte der mann, der fast wie Victor Craft aussah und Gratus Weidenstock hieß.

"Wenn bei denen wirklich keine Magie wirkt, Mutter, so ist es doch sehr gefährlich, sich ihnen zu nähern", sagte Ariassa.

"In der Tat. Aber wir müssen wissen, ob dieser Herrscherstab Skyllians wirklich bei ihnen gut aufgehoben ist", sagte Fatima. "Sicher habt Ihr auch davon gehört, daß ein dunkler Magier Unterlagen über den Verbleib von hundert Schlangenkriegern gefunden hat."

"Ich gehe dem bereits nach. Doch versprechen kann ich nichts", zischte Gratus Weidenstock.

Sie mochten sich mit Abtrennzaubern und ungesagten Sprengflüchen gerade einen Kilometer weiter durch den Dschungel gearbeitet haben, als die beiden Heilssterne blau aufstrahlten und wilde Funken sprühten. Da kamen sie auch schon aus dem Buschwerk, überlebensgroße Tiger, mindestens doppelt so groß wie jene, die Julius schon in diversen Zoos gesehen hatte. Die Heilssterne flimmerten nur noch. Ariassa erstarrte, als sie in gleich drei gefährliche Mäuler blickte.

"Ihr seid nicht eingeladen worden, sprach eine befehlsgewohnte Männerstimme. Julius verstand nur deshalb die Sprache, weil Ariassa, die wohl nach wie vor als Erinnerungsfokus arbeitete, diese Sprache konnte. Dann sahen sie einen Mann, der glatt als Mowglis Sohn oder Enkelsohn herhalten mochte. Denn der dunkelbraunhäutige Mann mit dem schwarzen wilden Haar trug nur einen Lendenschurz, womöglich aus Krokodilleder.

"Wir wollten euer Heiligtum nicht ungefragt betreten. Doch wir sind besorgt, daß in eurer Nähe etwas lagert, daß aus uralter Zeit stammt und die Nagas auf die Erde rufen kann", antwortete Fatima in derselben Sprache wie der Dschungelmann, der offenbar Macht über die Riesentiger hatte.

"Die Nagas? Ihr sucht das Zepter Nagabapus? Das ist euch auch nicht erlaubt", sagte der Mann im Lendenschurz.

"Wir wollen ihn nicht benutzen. Wir wollen nur, daß kein böser Magier ihn findet und damit die Nagas weckt, die noch irgendwo schlafen", beteuerte Fatima. Der Mann im Lendenschurz lachte laut.

"Euch umgibt was, das uns anwidert. Aber meine Geschwister und Söhne halten es schwach, solange sie euch umstellen. Ihr meint wohl damit, den Stab Nagabapus zerstören zu können. Doch damit würdet ihr auch unseren erhabenen Tempel zerstören, dem ihr zu nahe gekommen seid. Ich weiß nicht woher ihr überhaupt wußtet, wo wir wohnen. Aber ihr werdet dieses Wissen nicht weitergeben. Entweder werdet ihr unsere Mitgeschwister oder sterbt."

"Wir glauben euch erst, daß ihr den Stab habt und das sonst niemand an ihn herankommt, wenn wir ihn gesehen haben", sagte Fatima entschlossen.

"Nun gut, da ihr hier sowieso nicht mehr wegkommen werdet, sei es so", lachte der Mann im Lendenschurz. "Steigt auf meine Brüder. Sie werden euch solange nichts tun, solange ich ihnen keinen Befehl dazu gebe", sagte der Herr der Riesentiger.

"Wir ziehen es vor, auf eigenen Füßen zu gehen", sagte Fatima. Der Dschungelmann überlegte. Dann machte er eine Geste, die wohl als Bejahung galt.

Umringt von den Tigern ging es durch den Dschungel zu einem imposanten Gefüge aus Steinen. Julius prägte sich die Formationen ein, wenngleich er auch gerne gewußt hatte, wo diese Steine lagen. Denn sie waren das Heiligtum der Wertiger. Daß es Wertiger waren, erkannte er daran, daß fünf der riesigen Raubkatzen sich innerhalb von zehn Sekunden in nackte Inder verwandelten, darunter auch zwei Frauen. Der lendenschurzmann indes wurde zu einem kapitalen Tigermännchen und brüllte alle in Tigergestalt wachenden Artgenossen aus dem Weg.

"Sprichst du unsere Sprache, Schwarzhaar?" fragte eine braunhaarige Wertigerin mit schwarzen Augen Gratus Weidenstock zugewandt. Dieser verstand sie jedoch nicht und schüttelte den Kopf. Das jedoch faßte die Wertigerin als ein Ja auf. "Dann sage ich meinem Bruder Waldrufer, daß du mein Gefährte sein sollst", erwiderte die Tigerfrau mit begehrlichem Blick.

"Tut mir leid, Fräulein, aber ich kann Eure Sprache nicht verstehen", erwiderte Weidenstock auf Französisch, damit Fatima es verstehen konnte.

"Sie hat Euch gerade einen unablehnbaren Heiratsantrag gemacht, Gratus. Wir sollten zusehen, schnellstmöglich fortzukommen, wenn wir den Stab gesehen haben."

"Dort in diesem Haus liegt der Stab des Schlangenvaters", sagte die Tigerfrau, die Gratus für sich eingefordert hatte.

"Könnt ihr ihn nicht herausholen?" fragte Fatima argwöhnisch.

"Könnten wir schon, weil unsere Kraft dem Gift des Stabes entgegenwirkt", sagte die Tigerfrau und warf Gratus einen neuen begierigen Blick zu. Julius fragte sich, ob sie ihn nicht lieber fressen als heiraten wollte. Millie blickte nur auf die versammelten Tiger, die alle von dem großen, braun-schwarz gestreiften Patriarchen zurückgehalten wurden.

"Ich gehe rein und sehe ihn mir an", sagte Gratus und bekam die Erlaubnis. Als er wieder zurückkehrte sagte er: "Und ihr könnt diesen Ort verteidigen und niemanden mit bösen Absichten an diesen Stab lassen?" wollte er wissen. Fatima übersetzte es.

"Du wirst uns dabei helfen, mein Gefährte", sagte die Tigerfrau, die sich nicht genierte, vollkommen nackt vor Gratus zu stehen. Fatima übersetzte und mahnte sofort an: "Wir haben womöglich nur noch eine Minute, bevor sie über uns herfallen."

"Dann rufe ich die jetzt", sagte Gratus leise. Mentiloquieren ging offenbar im Bereich des Wertigertempels nicht.

"Ihr wißt jetzt, daß der Stab da ist. Eure Neugier hat euch zu uns geführt. Deine Tochter gebe ich meinem Sohn zur Gefährtin. Du kannst meine dritte Gefährtin werden. Schwarzbart wird der Gefährte meiner Schwester", sagte der Wertigerpatriarch, nachdem er sich vorübergehend in seine Menschenform zurückverwandelt hatte.

"Wir legen keinen Wert darauf", erwiderte Fatima und holte ihren Heilsstern hervor. Doch dieser blieb nur silbern. Die Wertiger wurden davon jedoch angewidert. Der Kreis der Umstehenden erweiterte sich. Ariassa trat schnell zwischen ihre Mutter und Gratus.

"Legt diese widerwärtigen Dinger fort und nehmt meine Entscheidung hin. Oder wir zerreißen euch!" schnarrte der Dschungelfürst, der wohl Waldrufer hieß. Seine Schwester trat vor und sagte: "Ihn läßt du leben. Ich will ihn für mich. Er soll meine Kinder machen."

"Geh zurück, Schwester. Wenn sie lieber sterben wollen, soll das eben so sein", knurrte Waldrufer. Gratus hatte unbemerkt ein großes Horn unter seinem Umhang hervorgeholt und drehte an einem kugelförmigen Etwas, das da saß, wo das Mundstück sein sollte. Darauf gab das Horn einen die Bauchdecke erschütternden, ganz tiefen Ton von sich. Waldrufer und seine Wertiger zuckten zusammen, als der lange Ton von den Bäumen und Tempelbauten widerhallte. Julius flüsterte Millie das Wort "Infraschall" zu. Denn er war sich sicher, daß das Horn auch unhörbar tiefe Töne von sich gab.

"Aber wie geht das, wo hier keine Magie wirken soll und wen ruft das?"wollte Millie wissen.

"Daß das Horn geht liegt wohl an der reinen Muggelphysik. Die Kugel ist ein Druckluftbehälter, den Gratus gerade ... Oha, jetzt geht's böse zu." Tatsächlich erwachten die Wertiger nun aus der Schockstarre, als der lange Hornton verklungen war. "Zerreißt sie!" brüllte Waldrufer. Da zog Gratus eine Phiole aus seinem Umhang und warf sie so, daß sie mitten zwischen den vorrückenden Tigern landete. Mit leisem Klirren zersprang sie. Keine Sekunde später loderte dort, wo sie zersprungen war Feuer auf. Die Tiger sprangen wie von der Tarantel gestochen aus dem Weg der sich ausbreitenden Flammen. Da flog noch eine Phiole und noch eine und noch eine, bis ein regelrechter Ring um die drei Besucher aus der magischen Welt entstanden war.

Gratus rief etwas in einer Sprache, die hier keiner außer ihm konnte. Dann hörten sie alle das Rauschen von Flügeln. Julius blickte nach oben und sah sieben schemenhafte Geschöpfe wie gespenstische, durchsichtige Pferde mit Flügeln. Das waren Thestrale. Für ihn waren sie eigentlich sichtbar. Doch für Ariassa, die wohl diese Erinnerung spendiert hatte, waren sie wohl noch nicht sichtbar. Was jedoch für alle sichtbar war war das große Netz, daß die Pferdewesen trugen. Die Thestrale fielen mehr als sie flogen herab. Die aufgeloderten Feuer flackerten bereits bedrohlich. Eine Frau kreischte. Das war wohl die Schwester von Waldrufer. Da ergriffen die drei waghalsigen Ausflügler das Netz, nicht ohne das Gratus noch zwei Phiolen dorthin warf, wo sich gerade ein Pulk Wertiger zusammenrottete.

"Und ich kriege dich doch!" brüllte die Wertigerin und verwandelte sich, während die drei sich an das Netz klammerten und sogar versuchten, hineinzuklettern. Da sprang eine schwarz-gelb gestreifte Raubkatze von mehr als zwei Metern Länge auf sie zu, gerade so zwischen den soeben erlöschenden Flammen der anderen Phiolen hindurch. Sie hatte auf Gratus gezielt und erwischte ihn mit ihren mörderischen Zähnen am rechten Bein. Sie zog daran. Doch Fatima stieß unvermittelt einen schrillen Pfiff auf einer Trillerpfeife aus. Der Schock des lauten, wohl in den Ultraschall reichenden Tones ließ die an Gratus hängende Wertigerin zusammenfahren. Ihr Maul klaffte auseinander. Sie fiel zu boden, während die Thestrale ihre drei Passagiere nach oben zogen. Drei weitere Wertiger setzten zu Sprüngen an. Doch Gratus schaffte es trotz des Schmerzes und Schocks, die letzten Feuerphiolen zu werfen. Dann waren sie aus der Gefahrenzone heraus. Die Thestrale nahmen Fahrt auf. Da glühten die Heilssterne auf. Der von Gratus erstrahlte in einem blutroten Farbton und pulsierte wild.

"Sie hat mich erwischt, Fatima. Wenn mein Heilsstern den Fluch nicht austreibt muß ich euch beiden Morgenlandprinzessinnen verlassen, bevor er mich völlig überwältigt", sagte Gratus, dessen Bißwunde wohl höllisch schmerzte.

"Wir treiben den Keim aus, wenn wir weit genug weg sind. Wir vereinen unsere beiden Erbstücke, Gratus", sagte Fatima.

Gratus begann zu ächzen und zu stöhnen. Offenbar wirkte der magische Keim bereits. Doch der Heilsstern arbeitete gegen alle bösen Einflüsse seines Trägers. Aber war er mächtig genug?

"Wir rufen die mächtigen Worte, Gratus. Ich hoffe, du hast von deinem Vater die ursprüngliche Formel gelernt", sagte Fatima. Gratus versuchte, Schmerzenslaute zu unterdrücken. Er nickte nur. Dann holte er tief Luft. Dann sprachen beide die mächtige Zauberformel, mit der die ganze Kraft des Heilssterns wachgerufen werden konnte. Sie sprachen sie in der Sprache von Altaxarroi. Da Ariassa die Sprache nicht kannte, hörten Millie und Julius sie so, wie sie sie bei der Absicherung von Aurores Wiege gehört beziehungsweise gesprochen hatten. Die Wirkung war überwältigend. Aus beiden Sternen erstrahlte goldenes Licht. Dieses verband sich und umhüllte Gratus. Dieser schien immer durchsichtiger zu werden. Dann sah es so aus, als spalte sich etwas von ihm ab, ein Schemen, der blutrot aus dem goldenen Licht herausströmte und in der Luft die gespenstischen Umrisse eines großen Tigers annahm. Eine Sekunde lang blieb diese Erscheinung in der Luft, bevor sie mit lautem Knall in Millionen Funken auseinanderstob. Dann wurde das Licht um Gratus noch einmal heller. Doch nun wurde er wieder ein Wesen aus Fleisch und Blut. Blitze zuckten dort auf, wo ihn die Wertigerin gebissen hatte. Dann erlosch das Licht. Die bösartige Bißwunde war vollständig verschwunden. Gratus atmete hörbar auf. "Focus Amoris, das war wohl das einzige Mittel gegen diesen Fluch", seufzte Gratus.

"wir sind ihnen entwischt, weil sie nicht damit gerechnet haben, daß wir uns nicht nur auf Zauberei, sondern das, was die Magielosen Physik und Chemie nennen verlassen konnten. Fliegen wir nun zurück nach Hause. Dein Sohn wird sich sicher freuen, daß du überlebt hast", sagte Fatima, nun die förmliche Anrede fortlassend.

"Und meine beiden Töchter Hildegund und Elke sicher auch", sagte Gratus Weidenstock. Hier hörte dieses Erinnerungsbild auf.

In der nächsten Erinnerung war Ariassa sichtlich gealtert. Sie wirkte runder und behäbiger als in der Erinnerung an die Reise zu den Wertigern. Millie und Julius konnten mitverfolgen, wie sie durch einen mit Spinnweben verhangenen Tunnel ging. Ihre Mutter Fatima war nicht zu sehen. Ariassas Zauberstab leuchtete in einem goldenen Licht, das Millie und Julius noch nie zuvor gesehen hatten. Das Zauberlicht schien von den stumpfen Wänden wider wie glosendes Feuer.

"Hat sie rausgekriegt, wo die Schlangenmenschen wohnten?" wollte Millie wissen. Julius wußte darauf keine Antwort. Auch wenn die gefährliche Episode mit den Schlangenmenschen schon seit über zwei Jahren überstanden war, interessierte er sich doch noch dafür, wo diese Jahrtausende lang geschlafen hatten.

Ariassa schlüpfte um eine scharfe Biegung, wobei sie den Kopf einziehen mußte. Deshalb mußten sich die Latierres auch ducken. Denn in erinnerten Räumen boten Wände und verschlossene Türen denselben Widerstand für die Erinnerungsbesucher, wie es im wirklichen Leben war. Dann sahen sie etwas, das mit hoher Geschwindigkeit auf die sichtlich fülligere Hexe zuraste. Julius vermeinte, den Schatten eines Drachens zu erkennen. Da geriet das Etwas in den goldenen Lichtstrahl aus Ariassas Zauberstab. Ein ohrenbetäubendes Brüllen klang auf. Gleichzeitig blähte sich der Lichtstrahl zu einer golden flirrenden Wand vor Ariassa auf. Ein dumpfer Schlag durchfuhr den Tunnel. Julius konnte durch das flirrende Licht einen grauweißen Körper erkennen, der zu einer knapp einen Meter großen Kugel zusammengeballt wurde und wie ein mit Wucht getretener Fußball in den Gang zurückflog.

"Was war das denn? Diese Art Zaubergeschöpf kenne ich nicht", stieß Millie aus, während die goldene Lichtwand wieder zu einem dünnen Lichtstrahl zusammenschrumpfte, der die Wände und den Boden bestrich. Ariassa tastete sich unbeeindruckt davon, beinahe von einem Ungeheuer angegriffen worden zu sein, weiter durch den Tunnel.

"Könnte ein Illusionszauber gewesen sein. Aber wie das goldene Licht geht weiß ich auch nicht", sagte Julius. Dann traf Ariassa auf einen Raum, von dessen Wänden es glitzerte wie in einem Spiegelkabinett. Ein gequältes Wimmern und stöhnen erklang, als würde jemand von dauernden Schmerzen gepeinigt. Ariassa hielt den Zauberstab mit der Spitze gegen sich. Sie wurde nun in goldenes Licht gebadet. Die Schmerzenslaute wurden lauter und qualvoller.

"Ich bin gekommen, Kanoras, Herr der Schattenbestien. Deine Spiegel der Zersplitterung wirken nicht auf mich und das Licht des Friedens!" rief Ariassa. "Wo ist Nachtwurz?"

"Du widerwärtiges Weib, Auswurf einer verfluchten Kreatur. Ich werde dir nicht verraten, wo Afranius Nachtwurz ist. Auch wenn dein widerliches Friedenslicht dich vor meiner Magie schützt wirst du hier nicht lebend herauskommen. Deine Linie wird hier und jetzt verlöschen", heulte eine unortbare Stimme, die nicht eindeutig männlich oder weiblich klang. "Auch wenn du meinen besten Wächter, den gestohlenen Schatten des Götterdrachens, in die Flucht geschlagen hast, sind meine anderen Fallen wirksam. Du wirst die Rückkehr der Streitmacht nicht verhindern. Du wirst die Wiederauferstehung des größten Meisters nicht erleben. Deine Brut wird von den Heeren der alles endenden Finsternis zertreten und im Staub der zerbrechenden Erde verrieben", stieß die fremde Stimme unter großen Qualen aus.

"Wo ist Nachtwurz?" rief Ariassa. Da verschwanden die Spiegelflächen von den Wänden. Das goldene Licht schien nicht wieder. Außer die in Goldlicht gehüllte Ariassa war nichts zu erkennen. "Verrecke, du Balg!" brüllte die fremde Stimme. Ariassa warf sich zu Boden. Keinen Sekundenbruchteil später schwirrten Pfeile aus den Wänden und bildeten einen tödlichen Sturm. Der Boden erbebte, und Julius erahnte, daß auch die Decke erschüttert wurde. Dann hörte er ein Schaben und Knirschen, als würden große Steine übereinandergeschoben. Weitere Pfeile fuhren aus den Wänden. Die beiden Besucher aus der Gegenwart standen erschrocken da, bis sie merkten, daß die schwirrenden Pfeile durch sie hindurchzischten wie durch Rauch und Nebel. Kunststück! Sie waren ja nicht wirklich in diesem Raum, der schlagartig zur tödlichen Falle geworden war.

"Wie du wird deine unerwünschte Brut vertilgt im Dunkel der Erde", triumphierte die fremde Stimme. Zwar war ihr immer noch anzuhören, daß irgendwas sie quälte. Doch die Tonlage klang nach Überlegenheit, Mordlust und Triumph. Julius sah, wie zwei Pfeile auf die am Boden liegende Ariassa trafen und mit scharfem Knall zu goldenen Stichflammen wurden, die in den Raum hineinschossen und andere Pfeile entzündeten. Dann hörte der mörderische Beschuß aus hunderten von Quellen genauso schlagartig auf, wie er eingesetzt hatte. Allerdings wurde das Schaben und Knirschen nun lauter.

"Monju, das hört sich nicht gut an", unkte Millie. "Irgendwie kommt mir der Raum kleiner vor."

"Hört sich so an", bestätigte Julius. Ihm war eine sehr üble Ahnung gekommen. Ariassa ließ den goldenen Lichtstrahl einmal umherschweifen, um zu sehen, ob sie weiterhin beschossen wurde. Dann erhob sie sich schwankend. Jetzt konnten sie und die Latierres erkennen, daß die Wände stumpfgrau waren und sich langsam nach innen bewegten. Ariassa fuhr herum. Die Latierres blickten dem zauberlichtstrahl nach und erkannten wie die Tochter Fatimas, daß der Zugang zu diesem Raum verschwunden war. Außerdem stellten sie fest, daß auch die Decke immer niedriger wurde.

"Können wir zerquetscht werden?" fragte Millie.

"Wenn wir nicht mehr genug platz haben müßten wir eigentlich aus der gerade ablaufenden Erinnerung rausfallen. Gleiches müßte gelten, wenn Ariassa sterben würde. Aber sie wird nicht sterben", sagte Julius. Millie machte "Häh!" Dann schlug sie sich selbst vor den Kopf. Daß sie beide die Erinnerung an diesen Alptraum nacherleben konnten ging ja nur, weil Ariassa sie irgendwie irgendwem übergeben konnte.

"Kanoras, auch wenn du meinst, mich in Mutter Erdes Schoß zurückstoßen zu müssen, weil du das mit dem meiner Mutter nicht kannst, wirst du verlieren!" rief Ariassa. Dann hielt sie den Zauberstab gegen sich und sprach eine Formel, die Julius sofort Bilder an eines seiner erschütterndsten Erlebnisse ins Bewußtsein zurückbrachte: "Ajandahirmas Yoanavari gaharda Amashi!" Das goldene Licht wechselte zu einem blauen Strahl. Ariassa wiederholte diese Formel. Da erschien sie immer durchsichtiger, ja sie leuchtete von innen heraus, aber war nun völlig transparent. "Mein Körper sei befreit vom Schmerz und aller Stofflichkeit", übersetzte Julius die Formel, die ihm Darxandrias in ihm aufgewachtes Bewußtseinssplitter beigebracht hatte.

"Sie kann zur Geisterfrau werden?" fragte Millie erstaunt. Dann sah sie, wie Ariassa einfach nach unten durch den immer weiter nach oben angehobenen Boden tauchte. Die beiden Latierres versuchten, ihr nachzufolgen und wunderten sich nicht schlecht, daß sie auch durch den so massiven Boden dringen konnten wie echte Gespenster durch unbezauberte Wände.

"Die hat voll Sachen drauf", meinte Millie, als sie der aus sich heraus bläulichweiß leuchtenden Ariassa hinterherfielen. Julius sah seine Frau an. Auch sie erstrahlte in jenem bläulichen Weiß wie Ariassa. Er blickte auf seine Hand und erkannte, daß er ebenso verändert war. Dann fielen sie aus einer Decke heraus in eine weite Halle, wo mehr als drei Meter hohe Steinplatten an Wänden hingen. Der Raum wurde an fünf Stellen von blau lodernden Flammen erhellt.

"Verflucht seist du, Ashtarias schleimiger Auswurf!" brüllte jene Stimme, die vorher in dem Spiegelraum gestöhnt hatte. Julius und Millie sahen, wie Ariassa zwischen zwei wohnzimmergroße Feuerbecken schwebte, aus denen die mehr als vier Meter auflodernden Zauberflammen schlugen.

"Du hättest statt des Milliasagitas-Zaubers und des Saxicresco-Zaubers besser daran getan, dir eine Armee aus willigen Geistersklaven zu halten, Kanoras. So konnte ich dir und deinen beiden Fallen entwischen und bin jetzt hier. Auch deine Schattenbestien können mir in dieser Zustandsform nichts tun. Wo ist Afranius Nachtwurz?!"

"Ich sage es nicht", schnaubte die nicht auf ein Geschlecht festlegbare Stimme. Jetzt konnten Julius und Millie erkennen, wo sie herkam. In einer von den Flammen nicht gründlich genug erleuchteten Ecke der Halle mußte sich der Gegner aufhalten. Millie meinte zu Julius: "Ich habe keinen Boden unter den Füßen. Soll das so sein, Monju?"

"Solange Ariassa eine lebende Geisterfrau ist bleiben wir auch so wie sie", vermutete Julius. Dann sah er, wie Ariassa nach oben stieg. Julius flüsterte seiner Frau zu, nur daran denken zu wollen, nach oben zu steigen. So schafften die beiden Latierres es, ebenfalls aufwärts zu steigen. Jetzt sahen sie, daß die fünf magischen Feuerstellen im Fünfeck angeordnet waren, ähnlich wie jenes Pentagramm, das die Kinder Ashtarias am Körper trugen.

"Sag mal, träumt die das nur und damit ich auch?" fragte Millie ihren Mann, als sie mit der bläulichweiß leuchtenden rechten Hand auf etwas deutete, was im Licht der Geistererscheinung Ariassas widerschien. Julius konnte auf die Frage erst einmal keine eindeutige Antwort finden und schwieg. Denn auch er sah, worauf sich Ariassa zubewegte.

In der von den Feuern unbeleuchteten Ecke ruhte eine mindestens drei Meter durchmessende Glaskugel auf einem goldenen Sockel. Die Kugel war mit einer durchsichtigen Flüssigkeit angefüllt. In dieser Flüssigkeit schwamm ein fast gallertartiger, zwei Meter durchmessender Klumpen aus einer grauweißen Substanz, aus dem immer wieder tentakelartige Auswüchse herausfuhren. Julius mußte erst schlucken. Doch dann nahm er das gesehene als Tatsache hin. In der gewaltigen Kugel schwamm ein überlebensgroßes Gehirn in einer Nähr- und Schutzlösung.

"Klar, daß Aurélie mich das mit vierzehn noch nicht sehen lassen wollte", seufzte Julius. Millie fragte, ob das in der Kugel ein Tier oder ein anderes Wesen war.

"Das ist ein lebendes Riesengehirn, Millie. Offenbar ist es ähnlich wie eine Amöbe in der Lage, Scheinfüße auszubilden", erwiderte Julius nun so sachlich klingend wie bei einem wissenschaftlichen Vortrag.

"Ich erkenne, daß du in deinem Lebensgefäß vor Geistern sicher bist", sprach Ariassa, nachdem sie zweimal versuchte, durch die gläserne Kugelschale zu greifen und immer wieder davon abprallte. "Aber wähne dich trotzdem nicht beschützt genug. Denn ich werde die Zufuhr an Lebenskraft schließen, die dich erhält, wenn du mir nicht verrätst, wo ich Afranius Nachtwurz finde."

"Du darfst mich nicht töten", klang es von der Kugel her. Julius sah keinen Mund oder ein anderes Tonerzeugungsorgan in der wabbelnden Gehirnmasse. Stielaugen richteten sich auf Ariassa.

"Du hättest die Geschichte unserer Linien wirklich studieren sollen, Kanoras. Dann wüßtest du, daß ich das Erbe der großen Ashtaria nicht mehr erlangen muß, sobald ich eine Tochter oder eine Enkeltochter habe, die es entgegennehmen und in ihrem Sinne weiterführen kann. Wer Ashtarias Erbe trägt, darf nicht töten. Das ist richtig. Aber wer es noch nicht empfangen hat schon", erwiderte die zeitweilige Geisterfrau. "Ich werde jetzt also nach den armen Kreaturen suchen, deren Lebenskraft du rauben läßt, um in deiner kläglichen Daseinsform weiterzubestehen. Also, wo ist Afranius Nachtwurz?!"

"Ihn zu finden wird dir nichts mehr nützen. Er hat sein Wissen schon niedergeschrieben und mit seinem Blut nur für seine ihm treu nachahmende Nachkommen verstaut", lachte die Stimme des Monstergehirns. Julius dachte erst, das körperlose Ungeheuer in der Glaskugel benutze sowas wie Mentiloquismus. Doch er konnte räumlich hören, wo die Stimme herkam.

"Das glaube ich dir nicht. Du lügst, Kanoras, du erbärmlicher Ausgang eines verderblichen Selbstversuches."

"Warum sollte ich dich belügen? Afranius Nachtwurz hat sein Buch geschrieben. Das Erbe des größten Meisters ist sicher vor euch und harret der Zeit, da ein würdiger es erweckt und die alte Streitmacht der Erde in die Welt zurückruft."

"So, warum macht es Afranius nicht selbst?" wollte Ariassa wissen.

"Weil er nicht an den Stab kommt. Diese reudigen Urwaldkatzen haben ihn sicher und machen jeden anständigen Zauber unwirksam. Doch der würdige wird Mittel finden, um sich den Stab zu holen. Wenn er aus dem alten Geschlecht der Schlangensprecher stammt, so kann er die schlafenden Krieger aufwecken und sie befehligen. Ihr habt keine Möglichkeit, euch dagegen zu wehren. Dein übertriebener Alleingang hat dir also nichts gebracht, Zur verkehrten Öffnung hinausgedrückter Unrat."

"Dann kannst du mir doch ruhig sagen, wo ich Afranius finde, damit er mir das selbst ins Gesicht sagen kann", erwiderte Ariassa ungerührt von der Beleidigung des überlebensgroßen Gehirns.

"Gut, wenn du dich von ihm totfluchen lassen willst ... er war zuletzt, als er meine Schattenbestien erbat auf dem Weg in das Land der untergehenden Sonne, um dort einen der verbliebenen Steine zu finden, mit denen die mächtigen Straßen begangen werden können. Er dürfte gerade auf der südöstlichen Landzunge sein, die die goldgierigen Spanier damals Tierra Florida, das blühende Land, genannt haben. Dort soll noch einer der Steine versteckt sein. Er wird ihn finden und wird auch lernen, die alten Wege zu gehen. Du wirst ihn wohl nicht mehr davon abhalten. Denn meine Schattenbestien beschützen ihn."

"Sie konnten mich nicht zurückhalten", erwiderte Ariassa verärgert. Denn sie hatte wohl in diesem Moment erkannt, daß sie mit diesem Kanoras wertvolle Zeit vertan hatte.

"Du kannst mit deinem Friedenslicht nur einen Angreifer zur Zeit aufhalten, aber nicht die sieben, die ich Afranius gewährt habe. Dazu müßtest du diesen widerlichen Stern tragen. Aber dann könntest du Afranius wohl auch nicht aufhalten. Ich bekomme es mit, daß er bereits in der Nähe des Versteckes ist. Du wirst ihn nicht mehr aufhalten, Dirne."

"Ich bin genausowenig eine Dirne wie du ein gutaussehender Jüngling bist, Kanoras. Woher weißt du denn so genau, daß Afranius dort und kurz vor seinem Ziel ist?" fragte Ariassa.

"Weil ich ständige Verbindung zu meinen Schattenwesen halte und sie befehlige: Den Schatten des Todesadlers, den Schatten des Blutriesens, den Schatten des immerhungrigen Königs der Feuerlöwen und vier geächtete Krieger, deren Schatten ihren körper überdauerten, weil sie sich von mir die Unsterblichkeit erhofft hatten. Ich halte und lenke sie, wie es mir gefällt, genauso wie ich dich lenken und führen werde und wie eine Puppe an meinen Gedankenfäden tanzen lassen werde." Mit diesen Worten schnellte einer der grauweißen Pseudopodien gegen die Kugelschale und wurde zu einem dunklen Schatten, der aus der Kugel herausfuhr und auf die gerade feinstoffliche Gestalt Ariassas zuraste. Diese sackte jedoch in dem Moment in den Boden, als das zur dunklen Wolke gewordene Schattenfragment sie gerade einzuschließen trachtete. Julius zog Millie an der Hand hinter sich her. Sie warfen sich beide auf den Boden zu und tauchten in ihn ein wie in dichten Nebel.

"Ich bekomme dich doch, Tochter aus der verwerflichen Blutlinie Daramirias. Ich werde dich zu meiner Dienerin machen und dich zu meinem Ergötzen tanzen und handeln lassen", hallte die geschlechtslose Stimme von Kanoras nun aus allen Richtungen zugleich.

Die von dem Schattenfragment verfolgte Geisterfrau stürzte durch den Boden. Dann fiel sie durch eine Decke in einen weiteren großen Raum hinein, in dem mehrere Dutzend Glaszylinder standen, die durch pulsierende Schläuche mit der Decke verbunden waren. In den Zylindern schwammen die Körper von Menschen, Männern und Frauen. Sie wirkten wie erwachsene Ungeborene. Sie bewegten sich sehr träge, atmeten die sie umgebende Flüssigkeit ein und aus. Julius erschauderte ebenso wie Millie, als er diese Anordnung sah.

"Durch die kriegt das Monstergehirn da oben die Nahrung", stellte er erschüttert fest. Millie schluckte hörbar. Ariassa indes sprang zur Seite, weil ihr ein kugelförmiges schwarzes Etwas über den Kopf gleiten wollte. Sie näherte sich dem Boden und wurde mit einem Schlag wieder stofflich. "Katashari!" rief sie, auf das schwarze Schattengebilde zielend, das sie soeben umhüllte. Da leuchtete es silberweiß auf. Mit einem lauten Fauchen flogen silberweiße Lichtkugeln von Ariassa fort, die wohl gerade noch rechtzeitig einen tödlichen Angriff zurückgeschlagen hatte. Ein markerschütternder Klagelaut Kanoras' war die Antwort auf den Verteidigungszauber.

Ariassa zielte auf den ersten Glaszylinder. Dann sprach sie eine Formel, die den in dem Zylinder steckenden Menschen immer träger werden ließ. Am Ende sah es so aus, als habe sie den Eingeschlossenen versteinern lassen. Das Pulsieren des Schlauches ließ merklich nach. Dann zielte sie auf den zweiten Behälter und führte einen Wiederholzauber aus, der den ersten Zauber um ein vielfaches schneller wirken ließ. Damit behandelte sie auch die Zylinder drei bis acht. "Nein, bitte, hör auf damit! Wenn du mich tötest, wird mein Reich zerstört und du auch", schrillte Kanoras vor Angst und Wut.

"Wo genau ist Afranius?" wollte Ariassa wissen.

"Er ist in den Sümpfen Floridas vor einem alten Tempel des Wassers, den die armseligen Eingeborenen noch heute als Hort eines Sumpfgottes verehren", stöhnte Kanoras. Seine Stimme klang leieriger, als würde sie von einem unregelmäßig laufenden Tonband oder Schallplattenspieler abgespielt. Ariassa belegte Zylinder neun mit dem Erstarrungszauber. "Nein, hör damit auf!" brüllte Kanoras. Doch seine Stimme wirkte bereits schleppend und tief, als würde ihn jemand immer langsamer oder schwächer stellen.

"Wo genau?!" rief Ariassa. Sie erhielt Angaben, wie weit von der südlichen Küste Floridas aus und wie weit in Sonnenuntergangsrichtung sie suchen mußte. Sie bedankte sich und belegte nun die weiteren Zylinder mit dem Erstarrungszauber. Die Menschen in den Zylindern starben jedoch nicht. Offenbar wurden sie nur um ein vielfaches verlangsamt. Mit einem letzten, langgezogenen und immer tiefer klingenden Schrei verabschiedete sich Kanoras' Stimme aus dieser Erinnerung Ariassas. Diese versetzte auch den letzten Gefangenen in jene Verzögerungsstarre. Dann wurde sie wieder feinstofflich und durchstieß die Decke. Julius und Millie folgten ihr. Oben im Raum des Riesengehirns sahen sie, daß in der Glaskugel nun etwas wie ein grauweißer Kristallkörper lag, eine Kugel, die wie die stachelige Hülle einer Kastanie wirkte, weil überall aus ihr dutzende von Scheinarmen gewachsen und sich gegen die Glasschale gestemmt hatten. Die Nährlösung wurde immer undurchsichtiger. Ariassa prüfte mit einem anderen Zauber, ob das von ihr gelähmte Riesengehirn starb oder wirklich in den gleichen zeitlupenartigen Zustand versetzt worden war wie seine unten gefangengehaltenen Nahrungsspender. Sie atmete hörbar auf, als sie wohl etwas feststellte, was sie erleichterte. Dann wurde sie erneut feinstofflich und raste durch die Decke, zurück durch den sich mittlerweile auf kommodengröße zusammengezogenen Raum hinaus und durch den Tunnel, bis sie ans Tageslicht zurückkehrte. Dort nahm sie wieder feste Gestalt an und disapparierte, wobei die Latierres mitgerissen wurden.

Sie kamen zusammen in einer großen Hütte an, die voller Besen war. Ariassa nahm einen großen Leinensack von einer Wand und stopfte fünf schlanke Reisigbesen hinein. Dann ergriff sie einen der Besen, lud den Sack darauf und öffnete mit einem Zauberstabwink die Tür der Hütte. Die Latierres konnten die Gedankenbotschaft mithören, daß Ariassa Kanoras in Überdauerungsschlaf gezaubert hatte und nun nach Amerika müsse, um Afranius aufzuhalten. Dann saß sie auf dem freien Besen auf und jagte fast darauf liegend durch die offene Tür hinaus in die Luft.

In einer Art Schnellvorlauf bekamen die Latierres nun mit, wie Ariassa über das Meer flog und dann, wenn der gerade von ihr gerittene Besen immer langsamer und wackeliger flog, einen anderen Besen aus dem Sack zog und den gerade ermüdeten Besen unter sich wegfallen ließ. Im freien Fall wechselte sie auf den freigezogenen Besen über und trieb ihn an. So ging es weiter, bis der neue Besen ermüdete. Er wurde gegen einen der noch verbliebenen Besen getauscht, bis der nächste und der übernächste Besen vollkommen müdegeritten worden war.

"Wie bei einer Rakete, die ihre Einzelstufen abtrennt", bemerkte Julius und wunderte sich nicht über die Schnellvorlaufansicht dieser Erinnerung. Er hatte nämlich gelesen, daß gleichförmige Erinnerungen von ihrem Spender wie rasant ablaufende Bilder ausgelagert werden konnten. So dauerte es nur zwei Minuten, was in Wirklichkeit wohl über mehr als einen Tag gedauert haben mochte. Jedenfalls erreichte Ariassa auf dem vorletzten Besen aus dem Sack eine Stelle in den Everglades, die damals noch unberührtes, scheinbar grenzenloses Sumpfland waren. Julius hatte dieses wilde Naturgebiet besucht, wo er noch nicht in der Schule war. Ihm waren vor allem die Moskitoschwärme und die immer wieder auftauchenden Alligatoren in Erinnerung geblieben. Jetzt sah er einen Felsen mitten im Sumpf und davor ein aufgebautes Zelt und ein niedergebranntes Lagerfeuer. Dann kehrten die Erinnerungsbetrachter in den natürlichen Zeitablauf zurück. Denn nun bekamen sie mit, wie Ariassa landete und sich dem Felsen mitten im Sumpf näherte.

"Auch wenn du noch so mächtig bist, Aiondara! meinen Zaubern kannst du nicht widerstehen. Mach die Tür auf im Namen der drei großen Träger von Wasser, Feuer und Erde!" hörten die Latierres einen wütenden Mann.

"Afranius Nachtwurz. Ergib dich!" rief Ariassa aus.

"Wer ist da?! Egal! Vernichtet sie, treue Schattenbestien!" rief der Unbekannte. Ariassa lief um den Felsen herum, bereit, jeden Angreifer mit einem Zauber zu bekämpfen. Doch es kamen keine Gegner. "Verflucht, wo bleibt ihr Schattenbestien! Blutriese, trampel sie tot! Feuerlöwenkönig, brate sie und friß sie auf!" brüllte der fremde Mann. Jetzt konnten die Latierres ihn auch sehen, einen hünenhaften Mann mit wildem Blondschopf, der bis auf den Rücken wallte und einen ebenso blonden, struppigen Bart sein eigen nannte. Der Mann trug einen dunkelvioletten Umhang und besaß graublaue Augen.

"Deine zugestandenen Hilfstruppen kommen nicht. Ihr Herr und Meister schläft", sagte Ariassa.

"Das ist unmöglich", schrillte der Blondschopf und hielt einen stabförmigen Kristall in die Luft: "Herbei, ihr Schattenbestien! Tötet meine Feindin!"

"Sie kommen nicht, Afranius. Du wirst dich mit mir alleine schlagen müssen", stellte Ariassa fest. Das versuchte Afranius sogleich, indem er den Todesfluch versuchte. Ariassa entging diesem nur, weil sie beim zweiten Wort katzenschnell und ebenso wendig zu Boden fiel. Der grüne Blitz krachte in die Wand des Felsens und sprengte ein kopfgroßes Loch hinein. Ariassa ging kein Risiko ein und zielte auf Afranius, der seine Gegnerin neu anzielte. Gerade rief er noch "Avada", als ihm bereits "Katashari!" entgegengerufen wurde. Afranius erstarrte in einem silberweißen Lichtblitz. Seine Zauberstabhand zuckte, und der Zauberstab fiel zu Boden. Dabei zersprühte dieser in grünem Funkenregen.

"Dein Weg ist hier zu Ende, Afranius! Ich habe von Kanoras gehört, daß du dein Wissen über die Krieger Skyllians schon für deine verdorbenen Nachkommen versteckt hast. Ich werde dich mitnehmen, damit du meiner Mutter verrätst, wo du das Buch versteckt hast." Da wachte Afranius aus dem Todeswehrzauber auf. Also war er mächtiger als Ariassa.

"Ich habe den Ort und den Zugang zu meinem Geheimnis gemacht und mit Fidelius bezaubert. Nur meine Kinder, deren Wohnort ich ebenso geheim machte, wissen, wie sie darankommen. Freiwillig werde ich es nicht verraten, du weltfremdes Miststück. Auch wenn du meinen zauberstab zerstören konntest bin ich dir doch überlegen."

"Ich will das Buch vor schlechtem Zugriff verbergen. Du kannst die alten Krieger nicht aufwecken, und deine Kinder kommen nicht an das Zepter Skyllians heran."

"Doch, das werden sie, wenn sie einen finden, der für sie mit Schlangen sprechen kann. Stirb, Metze!" rief Afranius und zog blitzartig einen Glaszylinder mit einer Zugvorrichtung hervor. Er zog an dem Hebel und sagte: "Errumpenthorn mit Brenngebräu! Gleich sind wir beide tot! Wegapparieren geht von hier nicht." Ariassa starrte eine Sekunde auf das Ding in Afranius' Hand. Dann rief sie mit auf ihn zielendem Zauberstab ein Wort, das Julius noch nicht kannte. Die Folge war ein violetter Blitz, wie er ihn aus Verwandlungszaubern kannte. Da kroch vor Ariassa ein gewaltiger Sumpfalligator, wie er zu tausenden in denEverglades vorkommen mochte.

"Du wirst mein Erbe nicht zerstören, indem du dich selbst tötest, solange ich in deiner Nähe weile", zischte Ariassa. Da begann der verwandelte Afranius, auf sie zuzukriechen, wobei er immer schneller wurde. Ariassa saß auf ihrem Flugbesen auf und flog vor dem sie bedrängenden Alligator davon. Dieser folgte ihr aus Wut oder Jagdlust heraus in den Sumpf. Ariassa blieb absichtlich langsam genug und flog dabei gerade einen Meter über dem Wasser, um das sie folgende Reptil hinter sich herzulocken. Erst als sie fast eine Meile tief im Sumpf waren startete Ariassa durch und raste zu dem Felsen zurück. Sie betrachtete das Loch in der Wand. Dann schien ein innerer Drang sie zu treiben, den Felsen zu berühren. Da war es, als sauge das Gestein sie auf. Millie und Julius kannten es vom Wandschlüpfsystem in Beauxbatons her, daß Wände wie Durchgangstüren wirken konnten. Sie folgten Ariassa auf dem Fuß und landeten in einer gewaltigen Halle. In dieser stand ein Steinbecken, das bis zum Rand mit Wasser gefüllt war. Dann hörten sie eine räumlich nicht ortbare Frauenstimme sagen: "Du bist eine meiner Töchter, die schon selbst eine Tochter trugen. So ergreife den Lotsenstein und trage ihn in Sicherheit. Doch sei darauf bedacht, daß seine Kräfte gutes wie böses erwecken können."

"Bist du Aiondara, die Königin des Wassers?" fragte Ariassa. Doch sie erhielt keine Antwort. So blieb ihr nur, in das Becken hineinzugreifen. Das darin enthaltene Wasser brodelte. Doch Ariassa empfand weder Schmerz noch Zurückweisung. Sie berührte den kugelförmigen Körper auf dem Beckengrund und zog ihn behutsam hervor. Da schoß das Wasser aus dem Becken in einem gewaltigen Schwall bis zur Decke hinauf und breitete sich daran aus. "Tochter meines Blutes. Du hast nur einen Tausendsteltag, mein Haus zu verlassen, bevor es mit Wasser und Erde wiedervereint wird!" erscholl die körperlose Frauenstimme von eben. Ariassa wog den Stein in der Hand. Es war tatsächlich genau so ein Stein, wie die Latierres ihn in ihrem gesicherten Schrank aufbewahrten.

"Etwas mehr als eine Minute. Das müßte zu machen sein", meinte Julius. Tatsächlich aber stellte sich heraus, daß die Wand Ariassa vorher nicht einfach ins Haus geholt, sondern in einem Raum darin abgesetzt hatte. Denn Ariassa konnte durch die Wand, aus der sie herausgekommen war, nicht mehr fort. Sie saß auf dem Besen auf und flog durch ein wahres Labyrinth von Gängen, wobei sie immer weiter nach oben hielt, bis es nach oben nicht mehr weiterging. Ariassa landete in dem Gang, in den sie gerade vorgedrungen war und blickte sich hektisch um. Dann kam ihr die Idee, sich in eine Geisterfrau zu verwandeln. Sie versuchte, durch die Decke zu entkommen. Doch diesmal war das Gestein auch für Geisterwesen undurchdringlich. Wieder zur feststofflichen Frau geworden stand Ariassa einen Moment da. Sie rief per Gedankensprechen nach ihrer Mutter und wollte wissen, wie sie aus dem Haus herauskam.

"Dein eigenes, aus Schmerz geborenes Wassser, Kind. Opfere Tränen dort, wo du hinauszukommen hoffst!" kam eine unortbare Antwort Fatimas. Ihre Gedankenstimme klang jedoch sehr schwach und verzerrt. Ariassa genügte es aber wohl. Sie hielt sich den Zauberstab vor jedes ihrer Augen und löste damit eine Tränenflut aus. Dann drückte sie ihr Gesicht gegen die Wand. Die Tränen tropften über ihre Wangen und trafen die Wand. Laut knarrend und ächzend bildeten sich Risse in der Wand, die immer breiter wurden, bis ein großes Stück Wand nach außen kippte. Ariassa sah Tageslicht. Sie sprang durch die entstandene Öffnung hinaus. Immer noch strömten Tränen aus ihren Augen. Doch sie mußte nicht sehen, wo der Besen war, den sie mitgenommen hatte. Sie klemmte ihn sich zwischen die Beine und stieß sich ab. Sie stieg nach oben. Da bebte das Haus. Die umliegenden Sumpfgewässer gerieten in Aufruhr. Dann barst der Felsen in Tausende von Trümmern, die in den Sumpf hineinrollten und darin versanken. Ariassa war entkommen.

Die nächste Erinnerung zeigte Ariassa am Sterbebett ihrer Mutter, die ihr gerade den silbernen Stern übergab und dabei jene alte Formel hervorbrachte, mit der seine weißmagische Kraft entfesselt werden konnte. "Hüte dich immer vor der Versuchung zu töten und zu zerstören, mein Kind. Halte mich und deine Vormütter immer in guter Erinnerung. Mit dem Stern werde ich und alle meine Vormütter bis hin zu Ashtaria bei dir sein. Nutze den Lotsenstein, um Skyllians Brut zu besiegen und die Rückkehr des finsteren Königs zu verhindern! Lebe wohl, meine Tochter! Ich bin glücklich, dir dein Leben gegeben zu haben." Dann erschlaffte Fatimas Körper. Der durch die Auslöseformel zum hellen Strahlen gebrachte Silberstern schien größer zu werden. Da konnten die Latierres sehen, wie ein dunstiges Abbild Fatimas über dem toten Körper schwebte und sich mit dem Strahlen des Sternes vereinigte. "Finde die verschollene Tochter!" war noch eine letzte rein gedankliche Botschaft, die Fatima ihrer Tochter mitgab, bevor der Heilsstern erlosch. Ariassa weinte über den Tod ihrer Mutter. Sie stimmte sogar einen regelrechten Klagegesang an, wie er wohl in ihrem Geburtsland üblich war. Doch als sie den geerbten Stern vor ihrem Brustkorb baumeln ließ, bekam ihr Gesicht entspannte Züge. Die schlagartig aufgewallte Trauer verebbte ebenso plötzlich, wie sie entstanden war. Ariassa schloß ihrer toten Mutter die Augen und wandte sich ab. Draußen vor der Tür standen die bereits mehrere Jahrzehnte alten Zwillinge. Salome sah genauso aus wie Camille Dusoleil, erkannte Julius. Denn sie trug ein grünes Kleid.

"Ist sie gegangen, Maman?" fragte Salome.

"Ja, sie ist in das Land des Friedens hinübergegangen, in das wir alle einmal eintreten werden, wenn wir unser Leben gebührend ausgefüllt haben", erwiderte Ariassa mit ruhiger Stimme.

Die nächste Erinnerung zeigte Ariassa, wie sie vor einem unberunten Granitbecken kniete und sagte: "Ich danke meinen Kindern und Arion Eauvive, die mir beibrachten, wie dieses Gefäß gemacht und bezaubert werden mußte. Denn so kann ich und jede meiner nachfolgenden Töchter alle Erinnerungen dort einlagern, die für mich und meine Nachgeborenen wichtig sind. Um dieses Gefäß vor unseren Feinden zu verschließen spreche ich nun die mächtige Erbformel der Liebe und des Lebens darauf." Julius und Millie sahen, wie Ariassa das Granitgefäß an der Unterseite mit Spiralen und Runen versah. Genauso hatte Julius jenes Denkarium vorbehandelt, das er zusammen mit Millie gerade benutzte. Genauso sprach sie auch die mächtige Formel und ließ das noch nicht mit den üblichen Runen beschriebene Gefäß aufleuchten. Die nächste Erinnerung zeigte, wie Ariassa ein bereits vollständig beruntes Denkarium vor sich hatte. Dann bekamen sie im Schnelldurchlauf die Geburt Ariassas mit, die wohl als erste Erinnerung im Denkarium verschwand.

Die nächste Erinnerung zeigte Ariassazusammen mit einer jungen Frau, die bitterlich weinte. Sie erfuhren, daß es sich um Ariassas erstgeborene Enkeltochter handelte, die ihren Sohn vermißte. Ariassa forschte nach und erfuhr, daß ihr Urenkel entführt worden war. Ziel der Entführung war der Lotsenstein. Mittlerweile wußte Ariassa, daß es zwei Quellen gab, wie dieser Stein zu benutzen war. Eine war ein Buch, das "Desincatatio Deorum Antiquorum" hieß. Die andere war eine Sammlung von Steintafeln, ähnlich wie die mit den zehn Geboten aus der Bibel. Wer also den Lotsenstein wollte mochte eine der beiden Quellen in seinem oder ihrem Besitz haben. Ariassa ging darauf ein, den Stein zu einem Treffpunkt zu bringen, um so zu tun, als würde sie ihn übergeben. Sie hoffte darauf, den Erpresser zu stellen und zu erfahren, wie er mit dem Stein umgehen wollte.

Die Latierres bekamen mit, wie Ariassa in einem Wald eintraf, dessen Baumbestand auf Nordeuropa schließen ließ. An der Beschaffenheit des Blätterdachs und dem durch die Lücken zwischen den Baumkronen dringenden Sonnenstrahlen schätzte Julius ein, daß die gerade betrachtete Erinnerung im Sommer entstanden war. Ariassa trug den Lotsenstein in einer gläsernen Kiste, die mit mehreren Schlössern gesichert war bei sich. Sie hielt ihren Zauberstab offen sichtbar. Ihr mächtigster Gegenstand blieb jedoch unter ihrem dunkelgrünen Umhang verborgen. Minuten vergingen, in denen nur das Zwitschern der Vögel und das Windsäuseln im Blätterdach die Stille durchbrachen. Dann knackte es in einer Astgabel, und gleich drei Männer in hautengen Ledermonturen sprangen herunter. Sie hielten Krummsäbel mit merkwürdig grün schimmernden Klingen in den Händen. Ariassa blieb ruhig, als die drei sich in V-Formation vor ihr aufbauten. "Du hast den Stein mit, Morgenlanddirne?!"

"Erst einmal begrüßt Ihr mich anständig. Dann stellt ihr euch höflich vor. Dann können wir darüber sprechen, was wer für wen dabei hat", erwiderte Ariassa so entschlossen, als habe sie die Lage unter Kontrolle. Die drei Männer lachten.

"Unser Meister will nicht, daß wir lange mit dir rumreden, Weib. Ist das der Stein in der Kiste?"

"Ich wünsche, meinen Urenkel zu sehen, lebend und unversehrt", erwiderte die Wartende.

"Dann ist es der Stein. Abstellen und zurücktreten!" blaffte einer der Männer.

"Ich möchte wissen, wie es meinem Urenkel geht", zischte Ariassa. Ihre Stimme klang bedrohlich. Sicher fühlte sie eine gewisse Hilflosigkeit. "Der Bengel ist bei unserem Herren gut aufgehoben. Los, Stein abstellen!" Blökte ein anderer Säbelträger und ließ die gekrümmte Klinge dreimal kurz durch die Luft sausen.

"Der Stein befindet sich in einem unaufbrechbaren, nur mit meinen lebenden Händen zu öffnenden Kasten. Wenn Euer Meister ihn haben will, dann nur im Tausch gegen meinen unversehrten Urenkel", erwiderte Ariassa. Die drei Männer sprangen vor. Einer hieb mit dem Säbel nach der Hexe. Doch die Klinge prallte keine zehn Zentimeter vor ihr auf einen unsichtbaren Widerstand. Ein grüner Blitz zuckte durch die Klinge und prellte dem Mann die Waffe aus der Hand. Gleichzeitig wurde der Bursche von einer unsichtbaren Macht zurückgestoßen und fiel auf den Rücken.

"Denkt ihr, die Klinge von Lemnos beeindruckt mich?" wollte Ariassa wissen. "Wenn ihr mich nicht zu eurem Hernn bringt und ich meinen Urenkel dort entgegennehmen kann, nehme ich den Stein wieder mit. Ich kann meiner Enkelin auch mit einem Gedächtniszauber die Erinnerung an den Kleinen abnehmen. Also?"

"Mist, die Klinge ist stumpf geworden", knurrte der entwaffnete und wollte nach seinem Säbel langen. Doch seine Hand zuckte zurück. "Mist, wieso ist das Ding glühendheiß?" zeterte er.

"Weil seine Kraft in reine Hitze umgewandelt wurde", sagte Ariassa. Dann deutete sie nach vorne. "Wo ist mein Urenkel?" fragte sie.

"Er lebt noch. Aber nur so lange, wie wir dich und/oder den Stein mitbringen", knurrte einer der beiden noch bewaffneten.

"Wo sollt ihr den Stein hinbringen?" wollte Ariassa wissen.

"Das mußt du nicht wissen. Gib ihn einfach her."

"Solange ich nicht mit eigenen Augen sehe, daß ihr wirklich meinen Urenkel in eurer Gewalt habt gebe ich ihn nicht aus den Händen", erwiderte Ariassa.

"Dann soll sie den Braten auch sehen und hören. Der ist sowieso wieder vollgeschissen", knurrte eine Männerstimme aus einem Gebüsch heraus. Jetzt konnten sie alle einen hageren Mann sehen, der in einem dunkelblauen Umhang steckte. Er besaß rostrotes Haar und einen gleichfarbigen Vollbart. In der rechten Hand hielt er einen Zauberstab. "Blinky! Bring den Balg her!" brüllte der Fremde. Auf diesen Ruf erschien aus dem Nichts heraus ein Hauself in einem von Fett- und Rußflecken übersäten Geschirrtuch. In den kurzen Armen trug das kleine Zauberwesen einen gerade zwei Monate alten Säugling, der lautstark schrie.

"Da ist dein Urenkel, Weib. Und wenn ich den magischen Stein nicht in zwanzig Sekunden in meinen Händen halte dreht Blinky ihm für mich den Hals um, damit die Schreierei aufhört", stieß der hagere Zauberer aus.

"Ohne die Schlüsselformeln ist der Stein für euch wertlos", entgegnete Ariassa.

"Eben, und die Tafeln von Antiochia sind in meinem Besitz. Also habe ich auch das Recht auf den Stein. Los, her damit!"

"Damit ihr ohne es zu wollen einem, der noch böser ist als Ihr es seid den Weg zurück auf die Welt ebnet, Vulpiculus Eisenhut?" erwiderte Ariassa. Sie sah den Hauselfen an, der ihren Urenkel in den Armen hielt.

"Ich will die alte Stadt betreten, in der das Wissen von Äonen bewahrt wird, Khalakatan. Doch dazu brauche ich den Stein. Hergeben!"

"Wie ihr wollt", tat Ariassa nachgebend. Sie setzte den Glaskasten auf den Boden. Jetzt hatte sie beide Hände frei. Die drei Säbelträger liefen auf den Kasten zu. Doch der hagere Zauberer scheuchte sie zurück. "Sie soll den Stein rausnehmen und mir zuwerfen. Noch fünfzehn Sekunden!" Ariassa nickte und legte ihre Hände an die Schlösser des Glaskastens. Diese gingen auf. Sie klappte den Deckel um und fischte in den Glaskasten hinein. Sie hob den Stein heraus und warf ihn so, daß Eisenhut ihn wohl an den Kopf bekommen hätte, wenn er die Hände nicht reflexartig hochgerissen hätte. Ariassa nutzte den winzigen Augenblick, wo alle dem Flug des Steines zusahen und riß den Zauberstab hoch. Sie stieß drei schnelle Worte aus der alten Sprache Altaxarrois aus, die Julius als "Mein blut zu mir!" verstand. Da umfloß den laut schreienden Säugling ein rotes Licht. Mit einem lauten Knall verschwand Brian aus den Armen des Hauselfen. Keinen Augenblick später hielt sie das Baby in den Armen. Die Säbelfechter sprangen auf sie zu und hieben mit ihren Klingen nach der Hexe. Doch wie bei ihrem Kameraden zuvor prallten die grünen Klingen auf unerbittlichen Widerstand und entfielen ihren Trägern. In dem Moment hielt Eisenhut den Stein in den Händen. Er war so sehr darauf versessen, daß er nicht darauf einging, daß seine Gefolgsleute gerade unterlagen. Der Hauself erholte sich von seiner Überrumpelung. Sein Befehl lautete wohl, das Baby zu halten. Deshalb versuchte es das kleine Wesen wohl mit den eigenen Zauberkräften, Ariassa aus dem Tritt zu bringen. Doch außer einer Kaskade von silbernen Blitzen um die Hexe aus dem Morgenland geschah nichts. Dann versuchte es Blinky mit einer direkten Apparation. Doch dabei flammte ein goldener Lichtblitz auf, und der Hauself reapparierte laut schreiend dort, wo er disappariert war.

"Ashmirin!" rief der hagere Zauberer indes. Er hielt den Lotsenstein hoch. Er fühlte wohl und sah, daß das Artefakt reagierte. Doch als er gerade seinen Zauberstab erheben wollte, fiel ein silbernes Netz über ihn herunter.

"Der Stein ist der echte. Danke, Piculinus, daß du den für uns erheischen konntest", lachte eine Frauenstimme.

"Verdammt, du alte Sabberhexe Trude Steinbeißer! Ich bring dich um!" brüllte Eisenhut.

"Im nächsten Leben vielleicht", rief die Frauenstimme. Dann zog das Netz den Gefangenen nach oben. Ariassa sprang vor, wollte den ihr zu entschwinden drohenden Stein wieder zurückholen. Da schossen Hexen auf fliegenden Besen auf sie zu und griffen sie und die noch stehenden Gehilfen Eisenhuts mit Zauberflüchen an. Jetzt zeigte der Heilsstern, daß er die meisten nichttödlichen Flüche mühelos abwettern konnte. Blinky versuchte, eine der Angreiferinnen vom Besen zu telekinieren. Doch diese wehrte sich mit dem Todesfluch. Damit löschte sie das Leben des dienstbaren Zauberwesens aus. Eisenhut wurde indes immer höher gehoben. Jetzt war zu sehen, daß das Netz von einem Besen herabbaumelte, auf dem eine Hexe mit goldblonder Mähne und heidelbeerfarbenen Augen saß, die sehr überlegen lächelte. Dazu hatte sie wohl nun auch alles recht, denn sie hatte Vulpiculus Eisenhut und den Lotsenstein. Ariassa indes erkannte, daß sie, wenn sie ihren Urenkel retten wollte, aus der Gefahrenzone zu verschwinden hatte. Sie schickte noch ein paar Todeswehrzauber gegen die angreifenden Hexen aus. Doch die Übermacht war zu groß. Offenbar hatte Trude Steinbeißer ein ganzes Geschwader ihr treu ergebener Hexen herbeigerufen. Als zwei Todesflüche zugleich auf Ariassa geschleudert wurden, konnte sie sich nur noch in Deckung werfen. Trude flog derweil mit ihrem Gefangenen und dessen wertvoller Dreingabe davon. Die nicht unter dem Bann der Todeswehr stehenden Hexen griffen noch einmal mit dem Todesfluch an. Ariassa sah keine andere Wahl, als zu disapparieren. Wieder riß sie Julius und Millie dabei mit. Sie legte ihren Urenkel auf einen Wickeltisch und zischte ihrer Enkelin zu, daß sie sich um ihn kümmern müsse, weil sie schnellstmöglich in den Wald zurück müsse. Doch als Ariassa die stelle erreicht hatte, wo vor wenigen Augenblicken noch gekämpft worden war, erkannte sie nur die toten Gefolgsleute Eisenhuts und drei mit dem Todesfluch gefällte Bäume. Von den Hexen war keine mehr zu sehen. Ariassa verwünschte die Unaufmerksamkeit. Wie hatte sie auch denken können, alleine gegen eine ihr auflauernde Übermacht antreten zu können. Da verschwammen die Konturen des Waldes und Ariassas. Die Ausgelagerte Erinnerung endete hier.

Die nächste Erinnerung zeigte eine Zauberschlacht vor dem Haus der Eisenhut-Sippe. Ariassa hoffte, den Steinbeißers zumindest den Zugang zu den Steintafeln oder dem Buch verwehren zu können. Dies gelang auch. Allerdings war das nicht das Verdienst Ariassas. Als drei Hexen gleichzeitig versuchten, die schwere Kiste aus Holz und Gold anzuheben, explodierte diese in einem grünen Feuerball. Ariassas Heilsstern schuf um seine Trägerin eine weißgoldene Schutzblase, in der sie vor den Flammen und herumfliegenden Trümmern sicher war. Als sich das grüne Feuer restlos aufgebraucht hatte konnte Ariassa winzige Steinscherben sehen, zu klein, um noch eine ganze Tafel zu bilden. Sie zielte mit dem Zauberstab darauf und ließ sie alle einfach verschwinden. Drei tote und zur Unkenntlichkeit verbrannte Hexen und nun in Flammen aufgehende Möbelstücke waren die einzigen Überbleibsel dieser Explosion. Ariassa konnte nur noch disapparieren.

Die nächste Erinnerung zeigte die nun kurz vor ihrem Tod stehende Ariassa. Sie übergab ihrer ersten Tochter den Heilsstern und sprach dabei die mächtige Formel, um ihn auf seine neue Trägerin zu prägen. Als sie dann ihren letzten Atemzug tat hörten Millie und Julius noch: "Sucht das Buch und holt den Stein zurück!"

Das sie wohl nun im neunzehnten Jahrhundert waren erkannten Millie und Julius an der Kleidung und daran, daß die Kinder und Kindeskinder Salomes alle französische Namen trugen. Brian, der aus Eisenhuts Gewalt befreit worden war, heiratete gerade eine blondhaarige Hexe. Die Erinnerungsspenderin Salome freute sich für ihren Enkelsohn. Sie wünschte ihm alles gute. Doch er wirkte irgendwie verdrossen, als er seine Mutter ansah:

"Ich weiß, unsere Familie legt mehr Wert auf die Töchter als auf die Söhne. Aber wenn ich dir nur Jungs als Urenkel hinkriege wirst du wohl auch kein Problem haben, oder?"

"Du weißt, was deine vorausgegangene Urgroßmutter auf sich nahm, um dich zu retten. Das ging nur, weil unsere Linie von einer mächtigen Urmutter abstammt, die wollte, daß wir das Erbe einer ihrer Töchter weiterführen", sagte Salome.

"Tja, nur Pech, daß ich der älteste von nur drei Söhnen bin und deine Tochter keine weiteren Kinder mehr haben wollte. Aber vielleicht kriege ich ja doch eine Urenkeltochter für dich hin, Oma Salome."

"Sicher wirst du das", erwiderte Salome.

Die Erinnerung wechselte nach der Hochzeitsfeier. Offenbar war bereits ein Jahr übersprungen worden. Denn sie feierten gerade die Ankunft von Brians erstem Kind, einer Tochter namens Belisama. Salome freute sich über den weiblichen Urenkel.

Die nächste Erinnerung zeigte Salome, wie sie den Heilsstern an ihre Tochter weitergab. Diese versprach ihr, weiterhin nach dem Buch und der verschollenen Familie zu suchen. Denn mittlerweile wußten die Nachfahren Fatimas, daß Trude Steinbeißer mit Hilfe des Fidelius-Zaubers ihr geheimes Haus verborgen hatte, wo sie für ihre Enkeltochter Gundula alle erbeuteten Artefakte aufbewahrte. Die Steinbeißers suchten auch nach den Schlüsselformeln für die Benutzung des Lotsensteines.

Die nächste Erinnerung zeigte Belisama Moulin, wie sie hieß, wie sie gerade hochschwanger war. Da wurde sie von ihrer Großmutter gerufen, um den Heilsstern zu übernehmen. Belisamas Großmutter war im Kampf mit einem Basilisken von dessen Zähnen vergiftet worden. Dagegen hatte sie auch der Heilsstern nicht schützen können. "Ich gebe ihn an meine Tochter Claire weiter", gelobte Belisama. Ihre Großmutter bedankte sich dafür und tat ihren letzten Atemzug.

"Irgendwie muß es noch mal wichtig werden, Monju. Sicher, Da läuft jetzt Tante Camilles Urgroßmutter herum, die gerade den Grund dafür heranträgt, daß wir gerade in diesen Erinnerungen herumstrolchen."

"Wir wissen, daß die Steinbeißers den zweiten Stein haben. Jetzt wird es wohl nur noch wichtig, wer das Buch hatte", sagte Julius. Millie nickte.

Die nächste Erinnerung fand wieder in einer Schlacht statt. Julius dachte erst, die gerade erst schwangere Belisama zu sehen. Doch es war ihre Tochter Claire, die bereits den Heilsstern trug. Sie kämpfte seite an Seite mit einem jungen Zauberer im blauen Umhang, Lucian Binoche. Ihre Gegner waren schattenhafte Kreaturen, die auf acht langen Beinen herumliefen und aus purer Dunkelheit zu bestehen schienen. Von diesem Kampf hatte Julius gehört. Das war jene Schlacht gegen die Vierschatten, Geschöpfe aus dunkler Magie, die aus den Schatten lebender Menschen zusammengefügt worden waren. Er bekam wichtige Zauberformeln zu hören, sah, daß der Heilsstern nicht nur auf eine Art aktiviert werden konnte, sondern auch mit anderen Worten mal grünes, mal hellblaues Licht versprühen konnte und sogar eine silberne Einhornstute ausstoßen konnte, einen eingelagerten Patronus. Am Ende zerfielen die Vierschatten unter den alten Sonnenzaubern von Lucian und den weißmagischen Beschwörungen Claires. Julius mußte Millie gestehen, daß er sich die ihnen beiden bekannte Claire genauso als erwachsene Frau vorgestellt hatte.

"Schon faszinierend, wie sich Erbanlagen durchsetzen", meinte Millie dazu.

Nach der gewonnenen Endschlacht verfolgten sie einen Disput mit einem blonden Zauberer mit grasgrünen Augen, der Julius bekannt vorkam. Er überlegte, wo er ihn schon gesehen hatte. Dann fiel dessen Name: "Adamas, Ihr habt den Spiegelknecht besiegt und habt das Versteck des Auges der Finsternis gefunden. Konntet ihr es nicht an einen anderen Ort bringen, wo niemand nach ihm suchen kann?" zeterte Claire. Julius erkannte, daß sie wohl gerade schwanger ging.

"Madame Binoche, auch wenn Sie und ihr Angetrauter die halbe Vierschattentruppe des Spiegelknechtes ausradiert haben muß ich mich nicht so tadeln lassen", schnarrte der Zauberer. "Ich habe mein Wissen um das Versteck der verfluchten Spiegelkugel aus meinem Gedächtnis ausgelagert und unauffindbar gemacht. Da kommt jetzt keiner mehr dran, auch ich nicht. Klären wir besser auf, wieso Iaxathan einen neuen Knecht gewinnen konnte, wo er doch schon diesen immer wieder neu geborenen Bodenbereiter hat!"

"Das würde ich gerne, wenn ich sicher sein könnte, daß von Iaxathans Spiegel keine Bedrohung mehr ausgeht. Aber das geht nur, wenn dieser unerreichbar für ihm gefällige Hexen und Zauberer ist."

"Die beste Unerreichbarkeit ist die Unwissenheit, wo er zu suchen ist", bellte der Zauberer wie ein wütender Kampfhund. "Ich habe genau überlegt, ob ich mit anderen zusammen den Spiegel fortschaffen kann. Er ist jedoch unbeweglich. Und ohne mein Erbstück hätte mich Iaxathan ganz sicher zu seinem neuen Sklaven gemacht. War schon eine heimtückische Falle des Spiegelknechtes."

"Ich trage das gleiche Erbe als Nachfahrin Daramirias, Mister Adamas Silverbolt. Wir zwei zusammen hätten es schaffen können. Meine Urururgroßmutter Ariassa, möge sie im Land des ewigen Friedens Glück und Freude erleben, konnte damals mit Gratus Weidenstock gegen die Wertiger in Indien kämpfen, weil sie die Kraft ihrer Heilssterne vereint haben. Focus Amoris, falls Ihnen das was sagt."

"Ich habe meine ererbten Kenntnisse auch wohl studiert, Gnädigste", bellte Silverbolt. "glück für den draufgängerischen Knaben, daß sein Sohn weit genug von dessen Schwestern fortgezogen war, um diese nicht in sein Leben dreinreden zu lassen. Nix gegen Hexen. Doch die Weidenstocksippschaft hat sich von der weiblichen Seite her sehr von unserer großen Urmutter wegentwickelt."

"Nicht alle. Margarete hat doch bei Ihnen in England einen angesehenen Ministeriumszauberer geheiratet."

"Ja, Hector Meadows ist schon sehr anständig und auch sehr gelehrt. Aber das holt uns das Erbe von Goorsirian, seinem Urvater nach Ashtaria, nicht zurück auf meine Insel. Ich hörte von Muggeln, die meinen, mit Magie herumexperimentieren zu können. Die haben einen Orden gegründet, irgendwas mit goldener Morgenröte. Da könnten locker echte Dunkelhexer rein, um sich mit diesen harmlosen Spinnern zu tarnen, um echtes Unheil über die Welt zu bringen. Das alte Erbe ist eben noch nicht aus der Welt."

"Und genau deshalb wäre es sehr beruhigend gewesen, das schlimmste Artefakt der dunklen Künste von seinem bisherigen Platz zu holen und anderswo, am besten tief im Meer, verschwinden zu lassen", erwiderte Claire und zuckte zusammen.

"Na, beschwert sich wer, weil Ihr mich so ankeift, Madame Binoche?"

"Nichts, was Euch betrifft. Immerhin habt ihr doch auch schon Söhne und Töchter auf den Weg gebracht."

"Und darauf bin ich sehr stolz. Und ich fühle mich auch sehr viel wohler, daß ich die letzten Aufzeichnungen um das Versteck von Iaxathans Spiegel vernichtet habe. So kann dieses verfluchte Ding die nächsten zehn Jahrtausende in seinem Versteck bleiben. Ich kann und werde nicht verraten, wo das ist."

"Gut, ich sehe ein, daß ein umgekippter Kessel nicht mehr mit seinem bisherigen Inhalt gefüllt werden kann. So bleibt mir nur noch, euch weiterhin viel Glück zu wünschen."

"Schreibt mir, wenn das Kleine selbst atmen kann, Madame Binoche!" grummelte Silverbolt.

"Aus reiner Höflichkeit", zischte Claire Binoche und verließ das Haus von Adamas Silverbolt durch das Flohnetz. Sie reiste zum tropfenden Kessel. Den Pub gab es also damals schon, staunte Julius. Von dort aus reiste sie auf einem fliegenden Teppich ab.

Die Erinnerung verschwamm und wechselte in eine andere Szene. Claire saß, gerade hochschwanger, in einer Bibliothek und werkelte mit Pergamentstreifen herum. "Ist gut, Aurélie, ich höre gleich auf. Aber das hier muß ich noch prüfen", sprach Claire Binoche zu jemanden, der nicht zu sehen war. Sie nickte ihrem Mann zu, der gerade ein großes Buch vor sich aufgeschlagen liegen hatte. "Damit haben wir den Schlüssel der zwei Hände, Lucian. Damit können die Ausgangsorte der alten Straßen nun entziffert werden."

"Ja, aber an den ominösen runden Stein kommst du trotzdem nicht heran, wo die Steinbeißer-Töchter ihr geheimes Häuschen weiterhin nicht verraten wollen", grummelte Lucian. "Langsam glaube ich nicht mehr daran, daß es diese alten Straßen wirklich gibt."

"Sie gibt es genauso wie Vampire, Wertiger und meinen Heilsstern, Lucian. Auch Iaxathans Erbe streitest du nicht ab."

"Ja, das auf keinen Fall", grummelte Lucian. "War schon geschickt von deiner Maman, uns zwei zusammenzubringen, weil sie wohl rausbekommen hat, daß wir dieses Buch über die alten Götter haben. Ich hatte es außer mit den Zaubersprüchen nie so mit Latein."

"Es ist der Schlüssel zu den alten Straßen, Lucian. Also höre mir bitte zu, damit wir den Schlüssel der zwei Hände gleich richtig anwenden!" Julius lauschte aufmerksam. Es ging um eine Weise, Buchstaben in einer Zeile scheinbar wild zusammengeschriebener Buchstaben zu verständlichen Wörtern zu machen. Dabei galt es zum einen, wie bei den Arabern einmal von rechts nach links zu buchstabieren und eine Zeile weiter unten wie bei den Bewohnern des Abendlandes von links nach rechts zu ordnen. Der Schlüssel selbst war eine Reihe, wieviele Buchstaben ausgelassen werden sollten, erst einer, dann zwei, dann drei, dann vier und schließlich fünf. Bei der Anordnung von rechts nach Links war es dann der fünfte Buchstabe vom Zeilenanfang, der einem wichtigen Wort zugehörte, dann der viertnächste, dann der drittnächste, dann der übernächste und dann der nächste. So mußte der Text aus irrwitzigen Buchstabenreihen Zeile für Zeile abgearbeitet werden, wobei die ungeraden Zeilen von rechts nach links und die geraden Zeilen von links nach rechts zu entschlüsseln waren. Julius kannte zwar schon alle Ausgänge der alten Straßen. Doch was er noch nicht wußte war die Geschichte der Artefakte, die von den mächtigen Magiern Altaxarrois hinterlassen worden war. Auch dieser Text war zwischen den scheinbar legendenhaften Schilderungen über die sogenannten alten Götter im Text versteckt.

"Oha, das wird eine schöne Buchstabenschieberei", sagte Julius zu seiner Frau.

"Die haben da sicher schon genug herausgelesen. Ich hoffe, diese Erinnerung hat Aurélie, die da gerade noch in ihrer Maman herumstrampelt, auch mitgeliefert."

"Vielleicht", sagte Julius.

Die nächsten Erinnerungen handelten aber nicht von dem Buch über die alten Götter, sondern von Aurélies Geburt aus der Warte Claire Binoches, Aurélies Einschulung in Beauxbatons und die Heirat mit Tiberius Odin, der von fünf verwegenen Jungen seiner Klasse beglückwünscht wurde. Dann bekamen sie noch mit, wie Claire Binoche ihrer Tochter den Heilsstern überließ. Das hatte schlußendlich dazu geführt, daß Julius und Millie überhaupt noch zusammen in Beauxbatons lernen konnten. "Sage deinem Vater, er soll das Buch so weglegen, daß erst du nach seinem Tod darankommst. Wir müssen es nur für unsere Linie sichern, Aurélie", seufzte Claire Binoche. Aurélie Odin sicherte es ihrer sterbenden Mutter zu.

Die nächste Erinnerung zeigte, wie Aurélie mit ihrem Vater das Buch versteckte und Monsieur Binoche sagte, daß es erst auftauchen würde, wenn er selbst nicht mehr atmete. Dann erwähnte er noch einen Namen, den Julius und Millie in dieser Reise durch die Erinnerungen von Verstorbenen schon gehört hatte: "Kanoras schläft noch. Deine Vorfahrin hat ihn ja nur in Tiefschlaf versenken können. Ich hörte, daß Grindelwald ihn sucht, weil er denkt, er könne ihm bei seinem Kampf gegen die menschenfreundlichen Zauberer beistehen. Kanoras ist ein Zwitterwesen, eine verunglückte, androgynomorphe Fusion. Meine Vorfahren, die wie deine schon die dunklen Künste verachtet haben, beschrieben ihn am Ende als eine einzige Gehirnmasse, die es schaffte, lebenden Zaubertieren die Schatten zu rauben und die Tiere in blauem Feuer zu verbrennen. Die Schattenbestien gingen dann in die Gedanken Kanoras' ein, aus denen heraus sie losgeschickt werden konnten. Wißt ihr noch, wo dieser Unhold schläft?"

"Meine Vorfahrin Ariassa hat es keiner und keinem von uns erzählt. Sie erwähnte nur, daß er in einer Halle mit fünf blauen Feuern gehaust hat und sich von der Lebenskraft gefangener Männer und Frauen ernährt hat", sagte Aurélie.

"tja, Grindelwald sucht nach ihm. Hoffentlich findet er ihn nicht. Sonst wird das, was ich mit deiner Mutter erlebt habe, nur ein lachhafter Gruselscherz gewesen sein."

"Ich werde aufpassen, daß wir weder von Kanoras' Schattenbestien noch von neuen Vierschatten überrannt werden", versprach Aurélie Odin.

"Ja, das glaube ich dir sehr gerne", sagte Lucian Binoche.

Es folgte eine Erinnerung an eine Schlacht gegen Grindelwalds Zauberer und von diesem unterworfene Oger und Inferi auf jene Villa mit den vier Türmen. Selbst die starken Schutzzauber drohten zu versagen. So blieb Lucian Binoche nur noch ein Weg: Er rief seine Tochter zu Hilfe. Diese verstärkte die Abwehrzauber mit der Macht des Heilssterns. Doch dann kam Grindelwald in begleitung von zweihundert Zauberern. "Ich will eure Bibliothek, Binoche. Rück alle deine Bücher raus, wenn dir deine Hütte lieb ist, bei Merlins Bart!"

"Du wagst es, dich auf den größten und weisesten Zauberer unseres Erdteils zu berufen und trägst Mord und Zerstörung vor mein Haus, du homophiler Halunke? Meine Bücher sind nicht für dich. Die sogenannten Heiligtümer des Todes existieren nur als Märchen. Es gibt sie nicht wirklich!"

"Du Narr. Sieh mal, was ich in der Hand halte, Binoche. Das ist der Elderstab", schnarrte Grindelwald und winkte mit seinem Zauberstab. Julius und Millie drückten einander die Hände. Ja, das war genau der Stab, den Voldemort in seinem letzten Duell mit Harry Potter als unbesiegbaren Zauberstab angepriesen hatte. Am Ende hatte sich dieser Stab aber nicht für Voldemort, sondern für Harry Potter entschieden.

"In einer Minute werde ich dich und dieses halbarabische Flittchen, daß du gezeugt hast niederfluchen und mir holen, was mir zusteht, Binoche. Gib lieber freiwillig den Weg frei!"

"Mein Haus bleibt dir und deinen Halunken auf ewig verschlossen", schnarrte Lucian Binoche. Dann warf er das schwere Tor zu. Die Gefolgsleute Grindelwalds versuchten, gegen die unsichtbaren Barrieren anzuhexen. Doch noch hielten sie.

"Wenn es wirklich der unbesiegbare Zauberstab ist, meine Tochter, dann kann er die Schilde und Mauern damit niederreißen. Es könnte Elderholz sein. Unsere Zauber halten sowieso nicht mehr lange vor. Es bleibt nur der Fidelius-Zauber."

"Ja, Papa, nur der Fidelius-Zauber" wiederholte Aurélie Odin. Julius und Millie bekamen mit, wie Lucian Aurélie zur Geheimnisträgerin machte. Dafür brauchten sie fast die Minute, die Grindelwald ihnen geben wollte. Als der Zauber in Kraft trat, erbebte die Erde. Julius wunderte sich, daß er den Zauber und das Geheimnis mitbekam, daß die Villa Binoche zwanzig Kilometer südwestlich von Bordeaux auf einem Tannenwaldhügel lag. War Fidelius nicht dazu da, solche Geheimnisse zu verschleiern. Da erkannte Julius, daß Aurélie ihm und Millie wohl genau deshalb diese Erinnerung überlassen hatte. Jedenfalls hörten sie von draußen Unruhe. Denn für die Grindelwaldianer war das Haus verschwunden. Aurélie Odin wollte ihrem Vater gerade erzählen, wo sein Haus stand. Doch dieser sagte schnell: "Ich will das nicht wissen. Kehre in euer Haus mit den vielen Fröschen zurück, Aurélie! Ich werde mich Grindelwald stellen. Sollte ich dabei sterben, so wird mein Todesglöckchen es dir sagen. Hole dir dann das Buch aus dem Versteck und bewahre es für dich und deine Nachkommen gut auf!"

"Das Denkarium meiner Vormütter?" fragte Aurélie.

"Lass es hier. Solange du Geheimniswahrerin bist kommt keiner außer dir dran. Wenn ich eure Geschichte richtig kenne wird deine erste Tochter dann wohl einmal das alles Erben. Leb wohl!" Mit diesen Worten disapparierte Lucian Binoche vor Aurélie. Er hatte einen Flugbesen mitgenommen. Die Grindelwaldianer wußten nicht mehr, warum sie hier waren. Auch Grindelwald wußte es wohl nicht mehr. Er suchte immer noch nach der Villa Binoche. Aurélie selbst ging in ihr früheres Schlafzimmer und holte ein Modell des Hauses vom leicht angestaubten Regal, wo noch alte Puppen und Stoffeinhörner an ihre schon verflossenen Kindertage erinnerten. Dann disapparierte sie ebenfalls, nachdem sie sichergestellt hatte, daß die Grindelwaldianer abgerückt waren.

Die nächste Erinnerung war die vorausgesagte Todesglocke Lucians. Aurélie weinte erst bitterlich. Doch dann nahm sie es hin. Sie verkündete, daß Lucian die Villa mit dem Fidelius-Zauber versteckt hatte, verschwieg jedoch, daß sie die Geheimniswahrerin war. Sie holte sich das Buch in ihr eigenes Haus und legte es in einen ähnlich präparierten Schrank, wie der, in dem es jetzt auch lag.

Dann erlebten Julius und Millie noch mit, wie Emil und Camille geboren und eingeschult wurden. Sie bekamen auch mit, wie Aurélie sich mit Mehdi Issfahani anfreundete und über diesen Zutritt zu den Morgensternbrüdern erhielt. Sie gab auch nicht auf, nach der verschollenen Linie Ashtarias zu suchen. Dabei stieß sie jedoch eher auf die Nachfahren von Gratus Weidenstock, zu denen neun lebende Kinder gehörten, darunter - und hier wurde Julius hellhörig - auch Grace Craft geborene Meadows. Aurélie diktierte einmal ganz ins Blaue hinein:

"Wir wissen, daß es sieben Linien Ashtarias gab. Sechs von ihnen können bis heute durch magische Erben bestätigt werden. So muß die siebte Linie, deren Spur sich in Kleinasien verliert, ausschließlich aus Muggeln oder Squibs bestehen. Zumindest gehe ich davon aus, daß das dieser Linie zugeteilte Artefakt noch existiert. Vielleicht hat es sich verändert, eine der umgebenden Kultur und Weltanschauung genehmere Form angenommen. Doch wo eine noch lebende Tochter Ashtarias zu finden ist konnte bis heute nicht geklärt werden."

In dem Stil ging das Erinnerungstagebuch Aurélies weiter. Dabei ging es auch noch mal um jenes Feuerschwert, daß Voldemort kurzzeitig besessen hatte. Die letzte Erinnerung mußte am Morgen des Tages gemacht worden sein, als Julius Gregorians Bild betreten hatte. Es gruselte ihn, daß er hier und jetzt die letzten Minuten im körperlichen Leben Aurélie Odins miterleben würde. Tatsächlich bekam er noch einmal alles mit, was in der Morgensternfestung passiert war. Auch seine Rettung aus der Gewalt iben Sinas kam vor. Danach hörten sie beide, wie Aurélie noch einmal ins leere, wohl nur für das Denkarium sprach:

"Julius, eigentlich wollte ich diese Erinnerungen in ein Denkarium in der Villa Binoche einlagern. Sie befindet sich auf dem Tannenwaldhügel zwanzig Kilometer südwestlich von Bordeaux. Dort steht das Denkarium sicher. Du kannst dieses Wissen nicht ungewollt weitergeben. Also nutze es wohl. Ich weiß, daß die ganzen Erinnerungen eigentlich Camille zustanden. Doch ich muß erkennen, daß du sie dringender benötigst als ich. Ich lege es mit dieser Kristallflasche in deine Hände, wenn du groß und ausgebildet genug bist, damit umzugehen. Nutze dein Wissen! Finde Freunde und vertraue dich meiner Enkeltochter an! Genieße jeden glücklichen Moment! Denn jeder Glücksmoment ist ein Heiligtum des Lebens. Doch trachte nie danach, dein Glück und deinen Ruhm auf Kosten anderer zu erwerben. Denn nur so kannst du meiner Tochter Camille beistehen, wenn sie mein Erbe antritt. Lebe wohl!" Damit verschwamm die letzte neu dazugeschüttete Erinnerung in silberweißen Wirbeln und Strömen. Julius hob seinen Kopf an. Millie tat es auch. Der erste Blick außerhalb des Denkariums galt der Armbanduhr. "Ui, ganze zwei Stunden für mehr als fünf gelebte Leben", scherzte Julius. Natürlich wußte er, daß unendlich mehr Erinnerungen im großen Denkarium in der Villa Binoche lagerten, zusammen mit einer interessanten Bibliothek, von der sie gerade wohl das wertvollste Buch hier hatten.

"Schon heftig, was ich nicht alles wußte. Zumindest das Kapitel Schlangenmenschen und alte Straßen ist schon abgehandelt", sagte Julius. Da vibrierte Millies Babyschreimeldebrosche.

"Unser Leben ruft nach Zuwendung", sagte Millie.

"Ja, und wir müssen gut darauf aufpassen", sagte Julius.

Nachdem Millie die kleine Aurore neu gewickelt und gestillt hatte beschlossen sie, auch früher ins Bett zu gehen, nicht um eine lange Liebesnacht zu beginnen. Es ging nur darum, hinter schallschluckenden Vorhängen weiterzusprechen.

"Glaubst du daran, daß noch wer von der verschollenen Ahnenlinie lebt, der mal Zaubern konnte oder noch kann?" wollte Millie wissen.

"Ich bin mir irgendwie sicher, daß da wer lebt oder mal gelebt hat. Ja, eine Maria Montes, FBI-Agentin. Angeblich ist sie bei einem Autounfall umgekommen. Aber das Artefakt, angeblich ein Silberkreuz, ist nicht mehr gefunden worden."

"Aha. Dann ist die Familienlinie ganz erloschen?" fragte Millie.

"Das weiß ich nicht, Mamille. Was mich eher irritiert hat war, daß Grace Craft, Glorias noch frei herumlaufende Oma, eine Nachfahrin von Gratus Weidenstockk, einem Sohn aus einer der Ashtaria-Linien ist. Da frage ich mich, ob sie das weiß, Professor Craft meine ich."

"Willst du sie fragen?" erwiderte Millie herausfordernd.

"Besser nicht. Aber ich könnte mir vorstellen, daß Madame Araña Blanca das weiß und vielleicht sogar angeleiert hat, daß ihr Sohn Plinius in diese Linie einheiratet. Immerhin wäre Gloria erbberechtigt."

"Ja, aber nicht, was diesen Silberstern angeht. Die Dinger sind ja nur zu gleichgeschlechtlichen Nachkommen gewandert, wie wir mitbekommen durften", erwiderte Millie darauf. Julius mußte dem zustimmen. Dann erwähnte er noch Adamas Silverbolt. Er war in Auroras letztem Schuljahr Lehrer in Hogwarts gewesen und da mit einem heftigen Fluch belegt worden, den sie wohl nur durch Infanticorpore ausbügeln konnten. Seitdem war er wieder neu aufgewachsen und hieß jetzt Adrian Moonriver.

"Moonriver, wie diese Patience, von der du mir erzählt hast?"

"Die war seine neue Still- und Ziehmutter", sagte er. Millie grinste.

"Wird ihm wohl nicht gepaßt haben, ganz bewußt noch mal aus den windeln herauswachsen zu müssen und allen vorspielen, ein harmloser kleiner Junge zu sein."

"Also, was für Schlüsse muß ich aus Aurélies letztem Erbe ziehen: Es gibt einen zweiten Lotsenstein. Der wurde wohl bei den Steinbeißers aufbewahrt. Wo die wohnen bekamen wir nicht mit. Dann hätte Voldemort vielleicht ... nein, der Stein ist ja in einem geheimen Häuschen von Gundula Steinbeißer versteckt worden. Die Frage ist, wie geheim ist das Haus und wie gut ist es gesichert, daß der Stein da noch weiter bleiben kann? Was ist mit Iaxathans Spiegel? Kann er vernichtet werden? Was sind die noch nicht aufgetauchten Artefakte? Ich fürchte, die gute Antoinette kriegt eine wohlbegründete Absage von mir."

"Dann willst du weiter nach diesen ganzen Altlasten suchen?" fragte Millie etwas ungehalten.

"Millie, für Aurore und dich und wer da noch alles in dir darauf wartet, zu uns kommen zu dürfen muß ich Aurélies Erbe wohl annehmen. Sicher kann ich die ganzen Erinnerungen noch mal auslagern und Camille mit netten Grüßen zuschicken, damit die sich damit herumschlägt. Aber die weiß schon, daß ich in dieser Nummer tiefer drinhänge. Das mit dem Pokal der Verbundenheit war ja auch wohl wegen Goldschweif und allen ihren Nachkommen, die ich dann auch hätte verstehen können. Daß ich mal eine große Latierre-Kuh kriegen würde, in die dann noch Darxandrias Seele einfährt, hat sie damals auch nicht vorausahnen können. Ich kann mir vorstellen, daß das zu den amüsanteren Sachen für Ammayamiria gehört."

"Ja, und daß du schon früher als dir lieb war mit diesen Schlangenmenschen zu tun bekommen hast", entgegnete Millie darauf. Julius stimmte ihr zu. Dann sagte er, daß er sich bei der Abteilung für magische Geschöpfe und bei der Truppe gegen verunglückte Zauberei bewerben würde. Millie wünschte ihm dafür viel glück. Sie wollte zusehen, bei Gilbert bei der Temps de Liberté anzufangen. Sicher brauchte der eine Lokalreporterin in Millemerveilles. Nachdem sie diese Ziele für ihr weiteres Leben bekundet hatten, sprachen sie noch über den morgigen Tag. "Ob Ammayamiria wieder zu sehen ist?" fragte Millie.

"Sie würde mich wohl angrinsen, daß sie das damals schon gewußt hatte, daß ich das ganze Zeug von Aurélie aufgeladen bekommen würde. Diese Art von Tresor fasziniert mich. Du tust etwas weg und läßt es so verschwinden, daß es erst nach einer bestimmten Zeit wieder auftaucht. Einen besseren Schutz vor Langfingern gibt es nicht."

"Wann fragst du Temmie, ob sie dir Milch für eine vollständige Verständigung mit ihr und Orion und ihren Geschwistern und ihrer Mutter abgibt?" fragte Millie.

"Nach dem Sommerball, Mamille. Ich möchte Tante Babs nicht mit der Nase darauf stoßen, daß ich was bekommen habe, was mich mit allen ihren Kühen reden lassen kann, auch ohne Cogison."

"Auf jeden Fall kann sie es wohl, weil sie auch aus so einem netten Becherchen getrunken hat."

"Ist wohl so, Mamille. Aber wenn sie mir das nicht aufs Brot schmieren wollte, muß ich es ihr auch nicht stecken, daß ich das jetzt auch könnte." Dem konnte Millie sich nur anschließen.

Als beide nebeneinander lagen und auf den Schlaf warteten, fiel Julius siedendheiß ein, daß er jetzt wußte, warum er an Aurores Geburtstag die Denkmalsenthüllung in Hogwarts mitgeträumt hatte. Er hatte sich ja gewundert, daß er dies sozusagen als sinnlicher Untermieter von Professor Craft getan hatte. Jetzt war ihm klar, daß Grace Craft als eine Nachfahrin eines Sternträgers über Ashtaria mit ihm verbunden sein mochte, ohne das beide das vorher geahnt hätten. Bisher hatte er nichts davon mitbekommen, ob Professor Craft irgendwas mitbekommen hatte, daß sie zeitweilig nicht alleine gewesen war. Sie aber darauf ansprechen wollte er dann aber doch nicht. So schlief er ruhig ein.

__________

Ammayamiria erschien nicht noch einmal an Claires Grabhügel, als Julius zusammen mit Millie und Aurore dort einige Minuten zubrachte und Claire seine UTZs vorlas, während Millie Claire über Aurores Ankunft vorschwärmte. Der Apfelbaum, den Camille vor fast vier Jahren gepflanzt hatte, war bereits stattlich geworden. Er beherrschte die Annpflanzungen auf dem Grabhügel. Am Ende sagte Millie Claire zugewandt: "Ich weiß, du hättest die Kleine am liebsten für Julius getragen und geboren. Ich danke dir noch einmal, daß du mir nicht böse bist, daß ich bei Julius bin und mit ihm dieses kleine, quirlige Wesen hinbekommen habe."

Am Nachmittag feierten sie bei den Dusoleils Claires Leben. Julius hatte sich mit Millie darauf geeinigt, nicht vor allen Familienangehörigen über Aurélies Erbschaft zu sprechen. Tiberius hatte es wohl auch nicht weitergemeldet. Doch irgendwann in den nächsten Tagen würde er Camille einweihen müssen. Denn ob er jetzt als Haupttragender des alten Erbes galt oder nicht, Camille war und blieb Aurélies Tochter und Trägerin des Heilssterns Ashtarias. Wie wichtig dieses Artefakt war wußte er ja noch von der Reise über die alten Straßen, als Voldemort gerade das britische Zaubereiministerium in seine Gewalt gebracht hatte. Mochte es sein, daß er dieses mächtige Artefakt noch einmal benötigte. Eigentlich wünschte er es sich nicht. Denn das hieße ja, daß er erneut in eine höchstgefährliche Lage geraten würde.

__________

Ursuline Latierre und ihre Töchter Béatrice und Patricia brachten richtig Leben in das Apfelhaus. Daß Ursuline ihre vier jüngsten Kinder mitgebracht hatte empfand Millie als große Herausforderung.

Für Julius war das Turnier die größere Herausforderung. Denn die großen Favoriten Delamontagne, Faucon und Pierre setzten sich wieder einmal durch. Im Halbfinale standen am Ende Martha Eauvive, Ursuline Latierre, Madame Faucon und Julius Latierre. Patricia war an Madame Faucon gescheitert, während Julius Madame Pierre aus dem Turnier geworfen hatte.

Als er am Ende einer langen, anstrengenden Partie Madame Faucon besiegte, wußte er, daß er morgen gegen seine Schwiegergroßmutter anzutreten hatte. Denn diesmal hatte diese sich nicht auf ein langwieriges Figurenverschiebespiel eingelassen.

"Wag bloß nicht, mich gewinnen zu lassen, Jungchen. Das ist das erste Turnier nach meiner Superniederkunft, Julius. Ich will wissen, ob ich noch was kann, und das geht nur, wenn ich gefordert werde."

"Ja, aber ich würde gerne noch vor ein Uhr Morgens zurück in mein Haus", erwiderte Julius.

"Wie gesagt, Jungchen, keine falsche Bescheidenheit und keine Geschenke."

Tatsächlich schenkten sich die beiden nichts. Das führte dann gegen zwölf Uhr dazu, daß die Partie remis ausging, weil am Ende nicht mehr genug Figuren verblieben waren, um ein Schachmatt zu erreichen.

"Ich habe nicht gegen dich verloren, Oma Line", meinte Julius zu seiner Schwiegeroma, als der übliche Gratulationsreigen um war. Die beiden Finalteilnehmer hatten zwei goldene Zaubererhüte bekommen. Ein Widerholungsspiel fand nicht statt.

"Gewonnen habe ich aber auch nicht. Du hast wirklich viel gelernt, Julius. Dann wollen wir mal unsere kleinen in den Schlaf singen, bevor wir neben ihnen niedersinken und uns ausschlafen."

"Monsieur Pierre war ja nicht so begeistert, weil Jeanne, Eleonore und du so heftig auf die Still- und Wickelpausen bestanden habt."

"Kinder sind unsere Zukunft. Die Zukunft muß immer so gut gesichert werden, wie wir es aus der Gegenwart heraus hinkriegen", sagte Ursuline Latierre.

"Tante Trice meinte, wenn du fünf fast gleichalte Krähbündel im selben Haus aushältst kannst du auch fünf eigene Kinder nacheinander ertragen."

"Oh, soll das ein Antrag von ihr werden?" fragte Julius.

"Das wird die nicht wagen", knurrte Millie. "Deine Babys kriege ich, solange ich lebe", knurrte Millie noch. Dann küßte sie ihren Mann und wünschte ihm eine Gute Nacht. Er gähnte noch einmal laut und drehte sich in seine bevorzugte Einschlafstellung.

ENDE

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