DER ERWECKER

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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P R O L O G

Als Julius Latierre zusammen mit den Nachfahren Ashtarias Camille Dusoleil und Adrian Moonriver gleich zwei Töchter Lahilliotas in dauerhaften Schlaf versenkt, wissen weder er noch seine Helfer, dass sie damit einen Prozess ausgelöst haben, der die Befreiung einer sehr mächtigen wie durchtriebenen Kreatur ermöglichen soll, das Erwachen der jüngsten aller Abgrundstöchter, die vom Druck der wachen Schwestern in Dauerschlaf gebannt war, bis dieser Druck nachlässt. Itoluhila, die Tochter des schwarzen Wassers, konnte zwar mit Hilfe eines mit unerweckter Zauberkraft lebenden Mannes ihre Schwester Ullituhilia aus ihrem jahrhundertelangen Schlaf erwecken, doch das leise Raunenund Brummen der vielfach verlangsamten Gedanken ihrer jüngsten Schwester mahnt sie, dass deren Erwachen bald bevorsteht, wenn es ihr nicht gelingt, noch weitere ihrer schlafenden Schwestern aufzuwecken, um den magischen Druck auf die jüngste Schwester zu stärken. Doch so einfach geht dies nicht. Nur ein geschlechtsreifer männlicher Mensch kann, unberührt von einer der wachen Töchter Lahilliotas, eine ihrer Schwestern aufwecken. So einen Menschen zu finden und dorthin zu lotsen, wo eine von Itoluhilas Schwestern schläft, ist nicht einfach. Da erfährt sie etwas, was ihr die große Hoffnung bringt, doch noch eine oder zwei ihrer gebannten Schwestern aufwecken zu können.

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20. November 2001

Fauchend jagte die zweistrahlige Gulfstream zwischen den himmelhohen Gipfeln der Anden dahin. An Bord der Privatmaschine waren die Eheleute Alwin und Muriel Crowne. Alwin lebte einmal mehr seinen großen Kindheits- und Jugendtraum aus und jagte den Jet, der eigentlich nur für die ganz individuellen transporte reicher Leute ausgelegt war, wie einen Militärjet durch das Gebirge, dass den ganzen südamerikanischen Kontinent durchzog und weiter nördlich in die Rockie Mountains Nordamerikas überging.

Alwin war fünfzig Jahre alt, besaß goldblond gefärbtes Haar und eine gut durchtrainierte Statur. Seine Frau Muriel, die als Passagierin und Aushilfscopilotin mit an Bord war, hatte auch Dank kundiger Schönheitschirurgen und Kosmetikerinnen ihr äußeres Erscheinungsbild auf dreißig Jahre eingependelt und besaß ebenfalls blondes Haar. Alwin hatte graue, Muriel veilchenblaue Augen. Beide waren nun schon seit vierzig Jahren zusammen, davon dreißig Jahre einander angetraute Eheleute.

Wieder jagte Alwin die Maschine in eine so haarsträubende Kurve, dass seine Frau losschrie und einige Alarmsummer losgingen, weil die Fliehkräfte über das für diesen Flugzeugtyp ausgelegte Belastungsmaß schlugen.

"Was, die gute Drachenkönigin bringt's noch wie am ersten Tag!" frohlockte Alwin Crowne. Seine Frau erwiderte laut genug, um den Lärm der hochbelasteten Triebwerke zu übertönen:

"Du hättest bei der Airforce bleiben sollen, Alwin. Der Peter Pan in dir ist immer noch nicht erwachsen geworden."

"Wird er ja auch nicht, weil er ja sonst nicht Peter Pan wäre!" rief Alwin Crowne seiner Frau zu. Dann riss er die Maschine, die er "Drachenkönigin" getauft hatte, in einem so steilen Winkel nach oben, dass sie sich beinahe auf den Rücken legte.

"Mann, Alwin!" schrillte Muriel. Hätten sie beide nicht die von Alwin über gewisse Kanäle abgezweigten Kampffliegeranzüge getragen wäre ihnen sicher schon alles Blut in die Beine gesackt.

"Der Berg war nicht hoch genug für drunter durch", rechtfertigte Alwin sein haarsträubendes Manöver. "Das war Intis Aussichtsberg", fügte er noch an.

"Gut, dass du damals, wo ich mit Aldous schwanger war noch nicht diese Höllenmaschine hattest", schnaubte Muriel. Das brachte ihren Mann dazu, unvermittelt Schub wegzunehmen und den Jet gesittet um eintausend Meter über die höchsten hier anzutreffenden Berggipfel zu bringen.

"Dann hätte ich sicher nicht so sportliche Manöver geflogen. Du weißt, wie wichtig mir das war, ihn zu kriegen."

"Gekriegt habe ich ihn. Aber das wollte ich ja auch", grummelte Muriel. Mehr wollte sie zu dem Thema nicht sagen.

"Gulfstream Tango Oscar drei neun Whisky für Santa Ana Tower! Haben Sie Probleme, Señor Karaune?" klang die von Knacken und leisem Prasseln durchsetzte Stimme von Comandante Figueras aus Alwins Kopfhörern.

Alwin drückte die Sprechtaste am Steuerknüppel und sprach in das mit den Kopfhörern verbundene Mikrofon vor seinem Mund: "Meine Frau möchte die Berglandschaft jetzt in Ruhe genießen. Bei uns ist alles in Ordnung."

"Wir haben Sturmwarnung für den von Ihnen durchflogenen Sektor. Gewitterfront mit Böen bis zu Stärke elf aus nordnordost, noch ungefähr dreißig Kilometer entfernt. Ich empfehle den sofortigen Anflug des Flughafens Santa Ana. Wenn Sie wollen schicken wir Ihnen einen Leitstrahl."

"Wir haben hier noch nichts von einem Gewitter auf dem Schirm", antwortete Alwin und deutete auf den Radarschirm, der zur Extraausstattung des Privatjehts gehörte.

"Glauben Sie mir, Señor Karaune, es ist da. Wir haben hier schon erste Ausläufer. Bevor es zu stark wird sollten alle in der Nähe fliegenden Maschinen noch landen oder die Front weiträumig umfliegen und auf einem anderen Flughafen landen."

"Mist, mein Treibstoff reicht leider nur noch für eine halbe Stunde im Reiseflugbetrieb. Ich komme zurück. Machen Sie mir Landebahn sieben klar?"

"Negativ, weil gerade die Befeuerung ausgefallen ist. Sie können auf Landebahn acht runter, wegen des Windes. Da müssen Sie aber von nordwesten her anfliegen."

"Roger, bin auf dem Heimweg."

"Vale, Señor Karaune", klang Figueras' Stimme noch einmal aus den Kopfhörern.

"Das liebst du doch, mit dem Wettergott fangen spielen", feixte Muriel.

"Aber sicher. Wenn ich alleine wäre hätte ich jetzt gesagt, dass ich noch zehn Minuten in dieser Gegend bleibe. Aber ich will ja nicht, dass unser Sohn seine Eltern verliert, bevor meine neidischen Brüder und ihre Direktinjektionsbälger unter der Erde liegen."

"Dann hättest du vorher nicht so knapp an diesem Berg vorbeidüsen dürfen, der wie ein großer Kopf mit weißen Haaren aussieht.

"El gigante viejo, der alte Riese", bestätigte Alwin Crowne. Dann sagte er noch: "Ich kenne meine Grenzen und die der Drachenkönigin, Goldstückchen."

"Dann bring uns sicher wieder runter, bevor Sir Isaac Newton und Admiral Beaufort es tun", grummelte Muriel. Ihr Ehemann nickte und steuerte die Maschine auf den Kurs, der sie in einem Schlenker auf die nordwestliche Seite des kleinen Flughafens von Santa Ana bringen sollte.

Sie waren gerade zwischen weiteren hohen Bergen, die Muriel Dank ihrer Geografiekenntnisse alle zuordnen konnte, als in der Ferne der erste grelle Blitz vom Himmel niederfuhr, und Alwin mit angespanntem Gesicht gegen aufkommende Windböen und Luftlöcher ankämpfte. Fünf Sekunden später hörten sie trotz der Triebwerke das kanonenschussartige Poltern des Donners von allen Bergen widerhallen.

"Ui, sechs Sekunden später wären wir genau an der Stelle gewesen, wo es eingeschlagen hat", bemerkte Alwin mit einer gewissen Beklemmung in der Stimme.

"Ich frage besser nicht, wie schnell du das ausgerechnet hast", grummelte Muriel. Ihr Mann war ein Schnellrechner vor dem Herren und besaß ein so gutes räumliches Denkvermögen, dass er bei der Airforce den Rufnamen R2/D2 getragen hatte.

"Laufzeit des Schalls nach Sichtung des Blitzes fünf Sekunden. Bei unserer momentanen Geschwindigkeit von achthundert Stundenkilometern konnte ich das ausrechnen und ..." Brrrrommmmm! Gleißende Helligkeit wie von zehn Sonnen auf einmal und ein ohrenbetäubender Knall schnitten Alwin das Wort ab. Unmittelbar neben ihnen war ein weiterer Blitz niedergefahren.

"Wie weit noch?" fragte Muriel, die nun bange auf die noch zu überfliegenden Berge sah.

"Ungefähr zwanzig Kilometer. Ich geh auf Vollschub!" rief Alwin.

Die Windböen wurden immer heftiger. An den Berghängen gestaute Luft wich nach oben aus und warf die Gulfstream immer wieder nach oben. Weitere Blitze, doch in scheinbar sicherer Entfernung, erleuchteten die ansonsten immer finsterer werdende Umgebung. Turmhohe schwarze Wolken ragten wie ein Gegenstück zu den irdischen Giganten der Anden in den Himmel auf. Zwischen den Wolkenungetümen zuckten feurige Entladungen oder schlugen in die schneebedeckten Gipfel ein. Eisregen klatschte gegen die Cockpitscheibe und den Bug der Maschine. Alwin rief in sein Mikrofon, doch einen Leitstrahl nötig zu haben.

"Das wird ein Höllenritt", erwiderte Figueras, der immer noch selbst im Kontrollraum des Towers saß.

"Wir sind gleich auf Gleitpfad für Landebahn acht, in geschätzten zwei Minuten", meldete Alwin Crowne.

"Wir haben Sie gerade nicht auf dem Schirm, weil der Monte Ildefonso zwischen uns und Ihnen steht."

"Ich habe ihn voraus. Komm gleich über seinen Gipfel", sagte Alwin Crowne. Dann passierte es.

Gleißende Helligkeit flutete das Innere der Maschine. Zeitgleich krachte es so laut, dass Muriel augenblicklich ein Pfeifen in den Ohren hatte. Wie von der Faust eines Riesens getroffen wurde die Gulfstream aus der kontrollierten Flugbahn geschleudert.

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Zwei junge Männer spielten Basketball. Einer war zwei Meter zwanzig Groß, breitschultrig und dunkelhäutig. Der andere war einen Meter und siebzig groß, hellhäutig mit hellblonder Kurzhaarfrisur. Gerade hatte der Blonde seinen riesenhaften Gegner mit einem gekonnten Abprallball davon abgebracht, ihm den immer wieder auftitschenden Ball abzujagen. Der Ball flog vom Schwung des Abpralls auf Korbhöhe und kullerte dumpf klappernd hinein, um dem blonden Spieler fanggerecht in die Hände zu plumpsen.

"Mist, verflucht! Siebzig zu fünfzig!" schnaubte der Hüne mit tiefer Stimme.

"Gekonnt ist gekonnt", triumphierte der Blondschopf.

"Ja, und meine NBA-Karriere ist gerade um ein Lichtjahr in die Ferne gerückt. Das dürfen die Globetrotters nicht wissen, dass mich ein Milchbubi aus dem alten Europa abgezockt hat."

"Wir müssen es Ihnen nicht sagen", erwiderte der hellhäutige Spieler.

"Ich will Revanche."

"Nich heute, Porter", sagte der blonde Gewinner dieser Partie. "Muss noch für Barnards Klausur am Barbara-Tag büffeln. Wollte auch nur spielen, um mein Gehirn mal mit andren Sachen als mit Strömungsprozessen bei Strahltriebwerken zu füttern."

"Neh klar. Und ich soll dann wohl bis morgen meine Schmach ertragen?" fragte der dunkelhäutige Basketballspieler.

"Nennen wir es wichtige Lebenserfahrung. So hat mein alter Herr das auch immer genannt, wenn was nicht nach Wunsch lief", erwiderte der überragende Gewinner der Partie.

"Ja, aber morgen gibt's Revanche, Aldous Adam Crowne, oder ich werde dir einen ziemlich unangenehmen Voodoo-Zauber überbraten."

"Schwarze Magie klappt nur bei Schwarzen, Porter. Wer nicht dran glaubt dem passiert nichts", konterte der junge Mann, der gerade mit vollem Namen angeredet worden war.

"Als wenn ihr Weißbrote weiße Magie anwenden würdet", lachte der ebenholzfarbene Hüne. "Aber im Ernst, diese Niederlage packe ich nicht so weg. Morgen Revanche, und vögel dich vorher nicht noch schlapp. Das wäre dann ein ziemlich bitterer Sieg für mich."

"Das empfehle ich dir besser auch. Aber wie ich deine Freundin Louanne kenne wartet die schon für euer Privatspiel."

"Nur kein Neid, Silberlöffel, weil du mehr Geld als Verabredungen hast!"

"Der Gentleman genießt und schweigt, alte englische Sitte", erwiderte Aldous Crowne.

"Dann genieße deinen Erfolg, er wird sich nicht wiederholen", grummelte Porter und nahm den Ball.

Nachdem sie geduscht und sich straßentauglich umgezogen hatten verließen die beiden die für zwei Stunden angemietete Sporthalle. Aldous bestieg einen silbermetallikfarbenen Yaguar, das Geschenk zu seinem grandiosen Abschluss in der St.-George-Oberschule für höhere Söhne. Porter saß auf einer rassigen, schwarz-silbernen Harley Davidson auf. Autos waren dem zu eng.

Aldous fuhr zuerst zu der Verwaltung der Sporthalle und gab die Schlüssel wieder zurück. Dann fuhr er in seine luxuriöse Studentenwohnung, eine Fünf-Zimmer-Wohnung in South Kensington, die seine Mutter finanzierte. Er stellte seinen Yaguar in der mit angemieteten Tiefgarage ab und fuhr mit einem Privatlift ins zehnte Stockwerk.

Erst in seiner Wohnung fiel ihm ein, sein Mobiltelefon doch mal einzuschalten. Als es sich eingebucht hatte trällerte es auch schon los, dass Kurzmitteilungen eingegangen waren. Vier davon waren Fragen von Komilitonen, ob er Lust hatte, hier hin oder dorthin zu kommen. Die fünfte Nachricht war eine Aufforderung, seine Mailbox abzuhören, wo eine Nachricht von einer Telefonnummer abgespeichert war, die er wegen des Pluszeichens am Anfang als ausländische Nummer erkannte. Doch das waren nicht seine Eltern, die ihm die Nachricht hinterlassen hatten. Er wählte die Mailbox an und gab seine persönliche Identifikationsnummer ein. Was er dann hörte verjagte jeden Gedanken an Barnards Düsentriebwerksvorlesungen.

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Ein Konzert von Alarmsirenen und Warnglocken war das erste, was Muriel trotz eines lauten Pfeifens in beiden Ohren hörte. Als sie sich umsah meinte sie, viele schwarze Punkte vor den Augen zu sehen. Ihr Mann hing kreidebleich hinter der Steuerung. Qualm kroch aus dem Instrumentenpult. Die Maschine kippte unvermittelt nach rechts über, vollführte dabei eine wilde Drehung nach Steuerbord. Muriel schrie und sah hinaus. Gerade riss er äußere Teil der brennenden Steuerbordtragfläche ab und wirbelte in die aufgewühlte Luft davon. Das Steuerbordtriebwerk spie Flammen in alle Richtungen. Dann jagte eine bläulich flackernde Lohe über den Rest der Tragfläche und fraß sich in den Rumpf der Maschine hinein. Muriel schrie auf. Sie sah noch den zerklüfteten Hang eines Berges vor sich, dann krachte der Bug der Gulfstream auch schon mit mehr als 800 Stundenkilometern dagegen. Gleichzeitig zündete das von außen kommende Feuer die verbliebene Treibstoffmenge. Muriels letzter Gedanke war bei ihrem Sohn, den sie auf eine nicht-natürliche Weise empfangen hatte, weil sie und ihr Mann auf natürliche Weise keine Kinder haben konnten. Dann war diese letzte Zehntelsekunde ihres Lebens vorbei.

Alwins letzter Gedanke galt ebenfalls seinem Sohn Aldous, aber auch der Genugtuung, nicht als siechender Greis im Krankenbett zu verrecken. Dann rissen Aufprall und Treibstoffexplosion auch seinen Geist aus der Welt.

Für eine halbe Minute hatte der ehemalige Fliegeroberst Gabriel Figueras die Gulfstream hinter dem Gipfel des Ildefonso auftauchen sehen können. Dann musste eine gewaltige Entladung das klar identifizierte Privatflugzeug überlagert haben. Als die davon verursachte Störung verschwand konnte er gerade noch sehen, wie die Maschine wieder hinter dem Berggipfel verschwand. Er rief die Gulfstream über Funk. Doch das einzige, was er zu hören bekam waren die Knister, Knack- und Prasselgeräusche der in Aufruhr befindlichen Atmosphäre. Eine Minute lang rief er die Maschine. Doch es kam keine Antwort.

"Wenn dieser Hexentanz vorbei ist drei SUR-Hubschrauber aus zum Ildefonso! Möglicherweise verunglückte Gulfstream", befahl Figueras ganz im Stil eines langjährigen Offiziers.

"Der englische Vaquero mit seiner Herzensdame?" fragte Jorge Montealto, Figueras' Stellvertreter.

"Ja, leider", grummelte Figueras.

Zwei Stunden später war das Gewitter wieder weit genug weg, dass die Such-und-Rettungs-Hubschrauber ohne unverantwortbare Gefährdung der Besatzungen starten konnten. Eine weitere Stunde später hatten sie die traurige Bestätigung. Die Gulfstream musste mit hoher Geschwindigkeit gegen den Westhang des Berges geprallt und explodiert sein. Jedenfalls waren mehrere Quadratkilometer mit ausgeglühten Trümmern bedeckt und in der dicken Eis- und Schneedecke am Westhang klaffte ein Krater mit gezacktem Rand. Als die Mannschaften der Suchmaschinen nahe genug heranfliegen konnten entdeckten sie verkohlte Körperfragmente. Damit stand endgültig fest, dass die Crownes diesen Flug nicht überlebt hatten.

"Ich muss den Jungen anrufen", seufzte Figueras, als er die Bestätigung für den Tod der Eheleute bekommen hatte. Er wählte über Satellitentelefon die von Alwin hinterlegte Notfallnummer, die Rufnummer von Aldous Crowne.

"Junge, hier ist der Colonel. Du kennst mich ja noch von vor zehn Jahren. Ich rufe dich an, weil wir gerade erfahren haben, dass deine Eltern mit ihrer Maschine in einem Gewitter gegen einen Berg geflogen sind. Meine Leute werden alles bergen, was von ihnen zu finden ist. Ich weiß, klingt jetzt sehr brutal, und du kannst mir glauben, dass mir das sehr sehr leid tut. Aber ich halte dich nicht mehr für ein kleines Kind, dem man sowas schonend beibringen muss. Bitte ruf mich an, wenn du die Nachricht abhörst! Dann klären wir, wie wir deine Eltern nach Hause zurückbringen können."

Er legte auf, als er seine Nachricht vollendet hatte und sah sich dem verdrossenen Blick seines Mitarbeiters ausgesetzt.

"Ja, was denn, hätte ich dem Jungen ein langes Märchen erzählen sollen? Er muss und er wird damit fertig werden."

"Wie alt ist der Junge?" wollte Montealto wissen.

"Wird im Juni siebenundzwanzig Jahre alt. Kann mich noch erinnern, wie der mit seinen Eltern vor zehn Jahren hier war und da mit seinem Vater einige wilde Runden über den Bergen gedreht hat."

"Was macht der denn? Arbeitet er oder studiert er was?"

"Er hat die Luftwaffengene seines Vaters geerbt. Der studiert Flugzeugbau und Raumfahrttechnik an der technischen Hochschule London", sagte der ehemalige Luftwaffenoberst mit einem Stolz, als spreche er von seinem eigenen Sohn oder Enkel.

"Ob er sich dann noch mit Flugzeugen beschäftigen will?" wollte Montealto wissen.

"Das weiß ich auch nicht", grummelte Figueras.

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Aldous Crowne hörte die auf amerikanischem Englisch mit spanischem Akzent klingende Stimme des Towerchefs von Santa Ana. Die Nachricht kam für ihn einem weltweiten Atomkrieg gleich. Seine Eltern waren mit ihrem Flugzeug verunglückt? Der ehemalige Colonel von der peruanischen Luftwaffe machte da sicher keine Scherze. Aldous dachte an alles zurück, was er seinen Eltern verdankte. Sein Vater hatte ihn immer damit traktiert, rücksichtslos gegen sich und andere aufzutreten, weil er eines Tages das prosperierende Unternehmen für Präzisionsmechanik und Steuerelektronik erben würde, sofern seine Onkel Bryan und Collin es nicht irgendwie vereitelten. Für seine Mutter war er immer nur das Goldengelchen gewesen, etwas, dass sie um alles in der Welt haben wollte. Wo sein Vater ihm Rücksichtslosigkeit und Unerbittlichkeit beizubringen trachtete, hatte sie ihm den Respekt vor Menschen und fremden Kulturen beigebracht, sein Talent für Fremdsprachen erkannt und gefördert, so dass er dank ihr neben Englisch auch Spanisch, Deutsch, Französisch, Portugiesisch und ein wenig Arabisch sprechen konnte.

An Geld hatte es nie gefehlt. Besonders einprägsam war Aldous' neunzehnter Geburtstag, der 24. Juni 1994 gewesen. Seine Mutter hatte nie was davon erfahren, hatte sein Vater zumindest behauptet.

Tja, und jetzt waren sie beide tot, weg, nicht mehr da. Das hieß für ihn, dass sein Leben nun ganz anders weitergehen würde und vor allem, dass er sich mit seinen Onkeln Bryan und Collin und deren Söhnen Bradley und Cornelius auseinandersetzen musste. Zwar hatte sein Vater immer wieder gesagt, dass in seinem Testament klar geregelt sei, dass er, der erstgeborene Sohn, alle Firmenanteile und siebzig Prozent des Privatvermögens seines Vaters erben würde. Doch er hatte es so gesagt, als müsse er sich das selbst immer wieder vorbeten, weil er es nicht so ganz glauben konnte.

"Porter, ich habe gerade meine Mailbox abgehört. Meine Eltern sind mit ihrem Fliger in den Anden abgestürzt", schniefte er zwanzig Minuten nach Abhören der Schreckensnachricht aus Peru.

"Superausrede, um morgen nicht gegen mich spielen zu müssen!" blaffte Porter James' Stimme aus dem Lautsprecher des schnurlosen Festnetztelefons.

"Ich rufe gleich noch im Sekre wegen freier Tage an. Bin dann morgen wohl schon in den Anden."

"Ja, is' klar, und ich soll dann noch länger mit der Erinnerung im Kopf rumlaufen."

"Ich denke, Louanne und du findet sicher einen sehr guten Weg, dass du dich nachher wieder oben auf fühlst", schnaubte Aldous und legte nach: "Mann, als wenn die Welt für dich ein einziger Basketball wäre. Meine Eltern sind t-o-t!! Ich muss jetzt kucken, wie ich das alles ohne die stemmen kann. Deine Eltern leben ja noch. Also lass mich bloß mit deiner angekratzten Ehre in Ruhe!"

"Man, is' ja gut! Bleib locker, Mann!" erwiderte Porter ein wenig eingeschüchtert.

"Du kriegst deine Revanche, wenn ich weiß, wie mein weiteres Leben abläuft."

"Bis dahin hat Louanne sicher schon den zweiten Basketball von mir im Korb gehabt", brummte Porter.

"Das ist doch ein Ziel, auf das es sich hinzuarbeiten lohnt", feixte Aldous. Dann verabschiedete er sich von Porter James. Seine beiden Onkel würde er von Peru aus anrufen.

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4. Dezember 2001

Aldous hatte die direkte Auseinandersetzung lange genug hinausgezögert. Doch nun, wo die von ihm gecharterte Maschine die beiden Urnen, die die noch klar zu erkennenden Reste seiner Eltern enthielten, zurückgebracht hatte, standen sie vor ihm, Bryan alan Crowne und dessen Bruder Collin Alan Crowne. Es versetzte ihm einen Stich ins Herz, als er mal wieder erkannte, wie ähnlich sie sich und seinem verstorbenen Vater sahen. Ihre beiden einzigen Söhne Bradley und Cornelius waren noch nicht in Sicht- oder Hörweite. Aber die würden sich sicher bald schon aufdrängen.

"Wir haben eine gerichtliche Verfügung erwirkt, dass das Haus unseres Bruders bis zur vollständigen Klärung der Erbfolge nicht betreten werden darf, ohne eine Aufsichtsperson dabei zu haben."

"Ist ja nett, Onkel Bryan. Aber Mrs. Green darf da noch mal durchputzen, bevor Ihr Aasgeier eure Ansprüche anmelden könnt", knurrte Aldous Crowne.

"Die Putze?" fragte Collin in einem zu seiner Abkunft unpassenden Tonfall.

"Die Hauswirtschaftsassistentin", berichtigte Aldous seinen jüngeren Onkel.

"Dein Hochmut wird dir bald vergehen, wenn rauskommt, dass du nicht der Sohn unseres Bruders sein kannst. Wart's nur ab!" drohte Bryan Crowne.

Nicht schon wieder das Märchen, dass meine Eltern mich von irgendeinem mit dem Klapperstorch zusammenarbeitenden schrägen Vogel abgeliefert bekommen haben, als mich durch Vollzug der Ehe zu zeugen."

"Warten wir besser ab, was Doktor Norton uns am zwanzigsten vorliest", warf Collin Crowne ein. Sein Bruder nickte bekräftigend.

"Dann bei Doktor Norton. Bis dahin habt ihr für Brad und Conny sicher passende Anzüge beschafft."

"Pass mal lieber auf, dass du nach der Testamentsvollstreckung nicht nackt durch London oder Birmingham laufen musst", blaffte Bryan Crowne. Aldous wollte fast sagen, dass ihm Babsie, eine kanadische Mitarbeiterin im Kerker der dunklen Begierden schon mal gesagt hatte, dass nackt sein bester Anzug sei. Doch das mussten die beiden krächzenden Aasgeier wirklich nicht wissen.

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10. Dezember 2001

Aldous hatte sich sehr zusammengenommen, nicht bei jedem gehässigen Blick von Brad oder Conny loszupoltern. Immerhin hatte er es geschafft, dass seine Komilitonen mit Freunden und Freundinnen gekommen waren. Louanne, die wie der Hüne Porter James afroamerikanischer Herkunft war, hatte Aldous zwischen Trauerfeier und feierlichem Beisammensein zugeflüstert, dass sie wohl Porters ersten Basketball im Korb habe. Aldous grinste darüber. Dann würde Porter wohl bald auch sein Leben umplanen müssen. Gerade so fiel ihm noch ein, dass er ja der trauernde Sohn war und legte sein Gesicht wieder in die dem Anlass entsprechende ernste Miene.

Abends war er froh, mit seinen Komilitonen alleine zu sein.

"Dann haben wir ja bald einen gestandenen Satellitenbauer in unserer Mitte", meinte Mike, einer von Aldous Semesterkameraden. Aldous meinte nur, dass sicher vorgesehen sei, dass Wellington und Dawson die Firma solange kommissarisch weiterführten, bis er alle nötigen Abschlusszeugnisse hatte.

"In zehn Tagen weißt du es ja", meinte Louanne und lächelte. Er hätte fast genickt, doch die biestigen Andeutungen seiner Onkel nagten an ihm. Was wäre, wenn er nur ein Adoptivkind war. Denn, wenn er ehrlich war, hatte er seinen Eltern nie wirklich ähnlich gesehen. Womöglich hatten die beiden was herausgefunden oder gar von seinem Vater erzählt bekommen, dass sie jetzt ausspielen wollten. Bald würde er wissen, was es war.

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20. Dezember 2001

Vor dem Büro des in Birmingham zugelassenen Notars Dr. William Norton trafen sich fünf Männer, die sich am liebsten gegenseitig an die Gurgel gegangen wären, wenn sie nicht zu einer gewissen Haltung erzogen worden wären. Sie trugen alle dunkle Anzüge und weiße Hemden.

William Norton war ein rundlicher Mann mit grauer Halbglatze und hellgrauen Augen, die durch eine silbergeränderte brille sahen. Er überstrich die fünf möglichen Erben mit einem prüfenden Blick. Dann bat er die Besucher, sich zu setzen.

"'tschuldigung, bekam keinen Parkplatz mehr in der Nähe", kkeuchte ein gehetzt wirkender Mann im blauen Konfektionsanzug, als er das Büro betrat. William Norton sah ihn erst tadelnd an, nickte ihm dann zu und deutete auf einen freien Stuhl.

"Sie sind Mr. Tobias Westerly, Bruder der verschiedenen Muriel Crowne geborene Westerly?" fragte der Notar. Der Angesprochene nickte und zeigte seinen Ausweis vor. "Dann sind wir vollzählig", stellte Norton fest.

Die Verlesung des Testamentes von Muriel Crowne, dass auf ausdrücklichen Wunsch der Erblasserin vor dem Testament ihres Mannes verlesen werden sollte, falls sie und er gemeinsam versterben sollten, dauerte nur fünf Minuten. Aldous erhielt alle Barguthaben, sowie einen fünf Jahre alten Minicooper und ihre komplette Bibliothek. Das Barvermögen belief sich auf beachtenswerte 900.000 Pfund. Daneben wurde festgeschrieben, dass Aldous die Londoner Wohnung, die er während seines Studiums bewohnte, für die nächsten zehn Jahre bewohnen dürfe, ohne selbst für die Miete aufkommen zu müssen. Seine Vetter Brad und Conny grinsten hönisch. Tobias Westerly, der sich von ihnen durchaus auch Onkel nennen lassen durfte, bedachte die beiden mit einem strengen Blick.

"Zuzüglich der bereits verfügbaren Vermögenswerte erhält mein Sohn Aldous Adam Crowne zur Vollendung seines dreißigsten Lebensjahres die bei seiner Geburt angelegte Lebensversicherung, die dann wohl 1000000 in Worten eine Million britische Pfund betragen wird", las Norton weiter. Jetzt klappten bei Aldous' Vettern die Kinnladen runter. Ihre Väter nahmen diese Enthüllung mit unbewegten Minen hin.

Jetzt begann der Notar die Verlesung des Testaments mit den üblichen Beteuerungen des Erblassers, bei Niederschrift dieser Erklärung an Geist und Körper gesund zu sein. Es folgten lange Passagen über das Vermächtnis seines Großvaters Alan und dessen Vaters Adam, die aus einer Fabrik für Webstühle und den Zukauf einer Uhrenmanufaktur und einer Fabrik für elektronische Bauteile die in Satellitentechnik weit oben mitspielende Firma Crowne und Söhne Airotech erschaffen hatten. Es folgten genaue Anweisungen, wie mit dem Firmenkapital zu verfahren war und welche Reserven es noch gab. Für Aldous war der eine entscheidende Satz wichtig: "Dies alles lege ich mit meinen besten Wünschen für Erfolg und Ansehen in die Hände meines erstgeborenen Sohnes Aldous Adam Crowne, geboren am 24. Juni 1975 im St.-Grace-Krankenhaus für Frauenheilkunde und Neugeborenenbetreuung." Aldous strahlte erfreut, seine Onkel und Vettern grinsten verächtlich. Tobias Westerly blickte ernst.

Es folgten noch Passagen über das Privatvermögen, von dem Aldous siebzig Prozent erben sollte. Fünfundzwanzig Prozent erhielten seine Brüder, mussten ihren Anteil aber auf jedes ihrer anerkannten Kinder verteilen. Die restlichen fünf Prozent sollten dem Fond unverschuldet in Not geratener Mitarbeiter seiner Firma zufließen, immerhin anderthalb Millionen Pfund.

"Hiermit bekunden wir, dass wir gegen dieses Testament einspruch einlegen werden", sagte Bryan Crowne eine Minute nach Ende der Verlesung. "Wir haben nämlich berechtigte Zweifel, dass es sich bei diesem Gentleman hier", er deutete auf Aldous "um den leiblichen Sohn unseres verewigten Bruders Alwin handelt. Ob er auch der leibliche Sohn von Muriel Crowne ist wird ebenfalls zu prüfen sein, da wir aus einer hier nicht näher zu nennenden Quelle erfuhren, dass unsere Schwägerin keine fruchtbaren Eizellen ausbilden konnte. Und von unserem Bruder gehen wir aus, dass er selbst auch keine zeugungsfähigen Spermatozoiden ausbilden konnte, da sowohl mein Bruder und ich erfahren haben, dass wir selbst nicht auf natürlichem Wege zeugen können."

Brad und Conny blickten ihre Väter an. Diese nickten ihnen zu und erwähnten, dass sie zwar von ihnen seien, aber durch direkte Einspritzung von Samenzellen in entnommene Eizellen ihrer Mütter gezeugt worden seien. "Und wenn unsere Schwägerin keine fruchtbaren Eizellen ausbilden konnte und die Technik damals noch nicht verfügbar war, dann kann dieser Gentleman unmöglich unser Neffe sein."

"In gewisser weise doch, ihr Halunken", mischte sich jetzt Tobias ein. "Immerhin hat meine Schwester ihn ausgetragen und geboren, das konnte jeder, der gut mit ihr auskam mitverfolgen, bis auf Zeugung und Geburt abgesehen. Aber ich weiß genau, dass dieser Gentleman der von meiner Schwester geborene Sohn ist. Da mein Schwager, euer beider Bruder, ihn weit vor der Geburt als seinen Sohn anerkannt hat und da schon mit ihr drei Jahre verheiratet war gab es auch keine Bedenken irgendeiner Seite. Unser Recht sagt, dass die Frau die Mutter eines Kindes ist, die es geboren hat, allein schon um sowas wie Leihmutterschaft zu unterbinden. Also ist er euer und auch mein Neffe, ob euch das passt oder nicht, Bryan und Collin."

"Was zu klären ist", grinste Collin Crowne.

"Gentlemen, bitte führen Sie diese Diskussion mit von Ihnen erwählten Rechtsanwälten und / oder vor Gericht fort. Meine Sprechzeit ist kostbar und ich habe um elf Uhr den nächsten Termin", schaltete sich nun der Notar ein. Das brachte die sechs Anwesenden dazu, ihm zuzunicken und sich höflich zu verabschieden.

"Hoffentlich kannst du deinen Anwalt bezahlen, wenn das alles vorbei ist", gab Bryan Crowne Aldous noch mit auf den Weg, als sie das zwanzigstöckige Bürogebäude verließen, in dem Notar Norton seine Diensträume hatte.

"Unser Anwalt wird von mir bezahlt, Aasgeier", knurrte Tobias Westerly noch. Dann gingen sie ihrer Wege.

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15. Februar 2002

Drei Monate waren Aldous' Eltern nun tot, zumindest die beiden Menschen, die er immer als Vater und Mutter angesehen, geachtet und auch geliebt hatte. Doch als er an diesem Tag die Benachrichtigung eines weiteren Forschungsinstitutes erhielt, dass seine genetische Abstammung überprüfen sollte, wusste er, dass sie nicht seine biologischen Eltern gewesen waren. Bradley und Cornelius waren auf Betreiben von Aldous' und Onkel Tobias' Anwalt hin ebenfalls untersucht worden. Bei ihnen war eindeutig festgestellt worden, dass sie die Söhne von Bryan und Collin waren. Doch wer waren Aldous' wirkliche Eltern? Wer war er eigentlich? Er wusste nur, dass er von Muriel Crowne geboren worden war. Aber stimmte das. Es war nur sicher, dass sie am 24. Juni 1975 einen Jungen geboren hatte, und dass die Feststellung ihrer Schwangerschaft im zweiten Monat erfolgt war. Doch war er wirklich ihr Kind gewesen? Diese Zweifel meldeten Bryan und Collin an und hatten bereits in erster Instanz Recht erhalten. Mit dem Ergebnis hier stand es wohl fest, dass sie auch in jeder weiteren Instanz Recht bekommen würden.

"Aldous, was immer diese Genpfuscher da über dich herausgefunden haben, du warst das Baby, das meine Schwester getragen und geboren hat. Immerhin gibt es genug Fotos von dir vor und nach der Geburt", sagte Tobias Westerly am Telefon, als Aldous ihm die erneute Bestätigung mitgeteilt hatte, dass er weder von Alwin noch von Muriel Crowne abstammte.

"Ja, aber mein Erbe bin ich los, und wenn die Arschlöcher, zu denen ich Onkel sagen muss, das noch geschickt drehen, geht auch das Erbe von Mum flöten."

"Das garantiert nicht, weil ich dann ja der welche wäre, der ihr Testament anfechten müsste", beruhigte ihn Tobias Westerly. Doch war das wirklich eine Beruhigung?

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5. März 2002

Dr. Lyndon Morrow stand vor einem weiß bezogenen Bett, auf dem ein halbwüchsiger Junge lag und an verschiedene medizinische Geräte angeschlossen war. Auf dem Krankenblatt, das über den Kontrollgeräten an der Wand angebracht war, stand sein name: Christopher Randolph Maxwell. Gestern war er mit seinem Moped über eine Straßenkreuzung gefahren und dabei von einem vorschriftswidrig abbiegenden Sportwagen erfasst und durch die Luft geschleudert worden. In zehn Tagen stand der siebzehnte Geburtstag an. Ob er den bei dieser Häufung von Verletzungen noch erreichen würde war genauso fraglich wie, ob er nicht für sein ganzes restliches Leben ein ans Bett gefesselter Pflegefall bleiben mochte. Manchmal wünschte sich Morrow, den beruflichen Abstand zu seinen Patienten besser hinzubekommen. Wenn er Fälle wie den hier sah zweifelte er oft an seiner Kunst. Manchmal wünschte er sich, einen Zauberstab schwingen und alle Krankheiten und Verletzungen mit einer simplen Zauberformel kurieren zu können. Doch er war eben nur Arzt. Andererseits wusste er, dass es Magie und Zauberwesen gab. Ausgerechnet eine Bordellhure namens Loli hatte ihm in dieser Hinsicht nicht nur den Geldbeutel, sondern auch die Augen geöffnet.

"Doktor Morrow, sollen wir die Dosierung für das künstliche Koma beibehalten oder ändern", fragte Schwester Daisy Fitzroy den Arzt.

"haben wir die letzten Blutwerte? Hoffentlich keine Entzündungsindikatoren."

"Die Blutwerte sind in Ordnung, PO2 und PCO2 liegen für das Ausmaß der Lungenverletzungen noch im grünen Bereich." Sie überreichte dem Arzt einen Stapel Datenausdrucke. Er überflog sie und nickte. Dann ordnete er an, dass von dem Relaxanz eine um zehn Milligramm pro stunde geringere Dosis verabreicht werden sollte und stellte die entsprechenden Werte an der Infusionsvorrichtung ein. Er notierte die Verordnung noch für das Protokoll und ging dann weiter, um einen anderen Intensivpatienten zu besuchen.

Gegen neun Uhr abends - Morrow hatte nun eine sechsunddreißigstündige Bereitschaftsschicht hinter sich, kehrte er mit seinem silbermetallikfarbenen Lexus nach Hause zurück.

Als Lyndon Morrow sein 150-Quadratmeter-Luxusappartment betrat witterte er sofort das exotische Parfüm, dass er auf zwei Reisen nach Andalusien kennengelernt hatte. Doch hier sollte doch niemand sein. Maggy, seine Haushaltshilfe, war vorgestern da gewesen, und die benutzte auch kein solches Duftwasser. Lyndon schaltete das Licht im Flur ein und sah sich um. Die Türen waren so, wie er sie vor Schichtantritt belassen hatte. Auf der Anrichte in der Küche stand sogar noch das Frühstücksgeschirr vom gestrigen Morgen. Wenn Maggy wusste, dass er nicht sofort alles in die Spülmaschine einräumte würde sie wohl um ein halbes Pfund mehr nachverhandeln, dachte der Arzt. Laut gähnend schllüpfte er aus den Schuhen und zog die Hausschuhe an. Der Parfümgeruch wehte ihm immer noch in die Nase. Er glaubte, zu träumen, sich im rubinroten Bettzeug mit dieser milchkaffeebraunen Prostituierten herumverlustieren zu sehen. Der Gedanke ließ sein Herzminutenvolumen um mindestens zehn Schläge ansteigen. Ebenso fühlte er, dass er wohl wieder Lust auf sexuellen Verkehr hatte. Doch hier in London wollte und würde er sich keine käufliche Dame suchen, da er zu bekannt war und sich hier nicht von irgendwelchen Zuhältern erpressen lassen wollte. Für eine moralisch unbedenkliche Beziehung hatte es bisher an Zeit und/oder Einsatzfreude gefehlt. So nutzte er die Urlaubswochen, um sich weit weg von der Heimat, nicht gerade in Thailand wie manche Kollegen, Triebabfuhr zu verschaffen. Doch warum schnupperte er jetzt dieses dezente, nicht zu aufdringliche Parfüm?

Lyndon Morrow passierte den großen Spiegel im Flur, den er immer als letzte Prüfstelle für sein äußeres Erscheinungsbild benutzte. Er erschrak fast, als ihm ein bleiches gesicht mit dunkel geränderten Augen entgegenblickte. "Mit dem dunklen Hemd seh ich ja aus wie Dracula", grummelte Morrow. Deshalb beschloss er, zuerst eine ausgiebige Dusche zu nehmen und sich dann sofort und ohne die sonst gewohnten Spätnachrichten hinzulegen. Doch dieses dezent in der Wohnung schwebende Parfüm ließ ihn nicht in Ruhe. Er musste wissen, ob etwas hier anders war. Am Ende hatte Maggy jemandem die Tür aufgemacht, damit er oder sie etwas mitgehen lassen konnte. Wieso verdächtigte er seine Haushaltshilfe auf einmal solcher Ungehörigkeiten?

Er öffnete die Wohnzimmertür. Außer den komfortablen Möbeln, dem Plasmafernseher an der Wand und die Rundumklang-Stereoanlage waren da nur die Vitrinen mit den Wein- und Sektgläsern. Die Bücher- und CD-Schränke waren auch unberührt.

Im Badezimmer fand er nur das von ihm selbst angerichtete Halbchaos einer hektischen Morgentoilette, Bartstoppeln im Waschbecken und Zahnbürste und Zahnputzglas noch auf dem rechten Rand vom Waschbecken. Auch Badewanne und Dusche waren so, wie er sie zurückgelassen hatte. Baden, mal wieder ausgiebig baden! Jetzt hatte er anderthalb Tage frei. Da war so ein erholsames Bad mal wieder drin, oder wie sein Kollege aus der stationären Psychotherapie sagte: Regression in vorgeburtliche Erfahrungs- und Gefühlswelten." Am Ende durfte der Kollege den schwerverletzten Christopher Maxwell noch betreuen, weil der mit den Nachfolgen des Polytraumas nicht fertig werden konnte.

Am Schluss seines Rundgangs betrat er das große Schlafzimmer. Wozu er das französische Bett dort eingestellt hatte wusste er nicht so recht. Früher hatte er es getan, weil er beim Schlafen nicht aus dem Bett fallen oder sich zu beengt fühlen wollte. Doch seitdem er immer mal wieder sexuell mit käuflichen Damen verkehrte war ihm überdeutlich klar, dass so ein Doppelbett in der Hinsicht eine Verpflichtung war, es nicht alleine zu benutzen, ob zum Erholungsschlaf oder Beischlaf.

Morrow kniff sich in den Arm, als er sah, was auf dem von Maggy frisch bezogenen Bett lag, ein kompletter, wenn auch textilarmer Satz Damenunterwäsche. Am Bettpfosten hing eine wasserblaue Elastikhose und eine dito wasserblaue Bluse mit weißen Tupfen darauf. Er hatte diese Kleidung schon einmal gesehen, da, woher er auch das Parfüm kannte. Unter dem Bett sah er noch hochhackige Schuhe. Jedenfalls war der Parfümgeruch hier am stärksten. Er riss die ganz linke von vier Türen seines Kleiderschrankes auf und erstarrte. In seinem Schrank stand, lässig an die Rückwand gelehnt und die Beine in einer leichten Hockstellung, eine unbekleidete Frau mit milchkaffeefarbener Haut. Ihre wasserblauen Augen strahlten ihn an. Ihr schwarzblauer Schopf hing glatt links und rechts von ihrem Gesicht über ihre Schultern.

"Das kann nicht sein'", stieß Morrow aus. Da kniff ihm die im Schrank stehende kräftig in die Nase.

"es verdad Soy aqui Gallito", antwortete die im Schrank versteckte. Der Arzt streckte seine Hand aus und berührte sie behutsam am Arm. Da nahm sie seine Hand und legte sie knapp unter ihren Bauchnabel, fast auf ihre Scham. "Kundenpflege, Süßer. Ich wollte nicht mehr warten, dass du vor lauter Stress den Weg zu mir vergisst und nicht mehr zu mir kommst"", hauchte sie nun mit tiefer Stimme in akzentfreiem Englisch.

"Die Türen waren zu, verschlossen und ... Ich vergaß, du beherrschst ja die Teleportation", seufzte der Arzt. Hoffentlich bekamen die Nachbarn nichts mit oder hatten das leichte Mädchen beim Eintritt gesehen. Doch wenn sie, wie sie ihm schon einmal vorgeführt hatte, unvermittelt verschwinden konnte, so war sie sicher auf diese übernatürliche und damit für naturwissenschaftlich gebildete Menschen unmögliche Weise in seine Wohnung eingedrungen. Doch ihm stand jetzt nicht die Lust nach käuflicher Liebe.

"Doch, du hast Lust auf mich, sonst würde meine Chichi nicht so herrlich warm pulsieren."

"Mädchen, ich habe sechsunddreißig Stunden Dauerstress hinter mir und bin von dem, was ich erlebt habe zu sehr geschafft um ..."

Sie legte ihm die Hand auf den Mund. "Du hast morgen Geburtstag, und ich bin dein Geschenk. Wir feiern richtig schön wild rein. Außerdem erinnerst du dich doch noch daran, was wir beim letzten Mal abgesprochen haben?" säuselte sie immer noch auf Englisch.

"Habe ich was versprochen?" fragte Morrow, dem es peinlich war, an dieses der Situation geschuldete Versprechen von damals erinnert zu werden. Loli hatte damals von ihm erbeten, dass er ihr mal seine Heimatstadt zeigte und sie in eines der hier gegebenen Musicals ausführte. Damals hatte er das für künstlichen Plausch einer käuflichen und kurzfristigen Beziehung gehalten. Dann sagte er: "Das kann ich nur, wenn du ordentlich eingereist bist. Hast du einen Pass abstempeln lassen oder dich per Ausweis registriert?"

"Natürlich", erwiderte Loli und rückte ihren Unterkörper in eine regelrecht aufdringlich herausfordernde Lage. Lyndon Morrow wollte die Tür wieder zuschlagen, dieses Frauenzimmer imSchrank einsperren. Doch wenn die sich selbst im Schrank eingeschlossen hatte, kam sie auch aus einem geschlossenen Schrank wieder raus. Dann fiel ihm was ein.

"Hast du Gepäck mit?"

"Das, was über dem Bett von dir hängt. Ein schönes breites Bett übrigens. Aber es riecht nicht nach wilden Liebschaften."

"Weil es gerade vor zwei Tagen frisch bezogen wurde", konterte der Arzt.

"Das reicht nicht immer. Lass es dir von einer sagen, die sich mit sowas sehr gut auskennt, dass viele Betten verraten, wer was in ihnen tut, auch wenn die Bettwäsche ständig gewechselt wird. Dann ist das Bett ja noch jungfräulich. Wird zeit, dass sich das ändert."

"Ja, aber bitte nicht heute. Du kannst gerne in dem Bett schlafen. Ich möchte erst einmal genug Erholungsschlaf haben. Morgen können wir dann die Stadt besuchen. Ich kaufe dir auch gerne ein passendes Kleid für einen Musicalabend. Ich kann über Beziehungen noch an zwei Karten für das Phantom der Oper kommen. Obwohl, es gibt noch irgendwo My Fair Lady, habe ich gelesen."

"Nur, wenn du mit mir in diesem Bett diese Nacht anständig wild in deinen Geburtstag hineinfeierst. Sonst schreie ich laut "Vergewaltigung!"

"Womit habe ich diesen Tag verdient", stöhnte Morrow. Dass er morgen seinen zweiundvierzigsten Geburtstag feierte hatte er nicht mal seinen Kollegen erzählt. Aber woher wusste die da das dann?

"Die da weiß das von dir selbst. Immerhin hast du deinen vierzigsten vor zwei Jahren bei und mit mir gefeiert. Das er unvergesslich war weiß ich", flötete sie. Lyndon Morrow fragte sich, ob er das im Rausch von Sex und Sangria wirklich herumerzählt hatte. Dann lenkte er ein. Sie war hier und wollte ihn. Oder wollte sie nur sein Geld. Wenn es das gewesen wäre hätte sie ihn berauben können, ohne Spuren zu hinterlassen und dann wohl auch nicht dieses Parfüm aufgelegt, dass er gleich an der Wohnungstür gerochen hatte.

"Ich möchte wissen, was du wirklich von mir willst", dachte der Arzt nur für sich. Weil er wohl dabei zu lange auf Lolis makellosen Körper gestarrt hatte wertete sie das als stumme Einwilligung.

"Du bist müde, ich weiß. Aber ich kriege dich garantiert wieder in Schwung. Und wenn wir zwei dein Luxusschlafmöbel da richtig ausgewuchtet haben können wir zwei uns aneinanderkuscheln und bis morgen spät durchschlafen. Hmm, Aber du wolltest sicher vorher noch mal ins Bad, richtig."

"Du warst da noch nicht, habe ich gesehen."

"Dann wird's Zeit. Komm, ich helfe dir." Der Arzt wollte ihre Hände von sich abstreifen. Doch dann ließ er es sich gefallen, wie sie seinen dunklen Büroanzug, über den er nur noch den weißen Kittel streifen musste, von ihm herunterstreifte.

Während sich Loli in der Badewanne räkelte genoss ihr unfreiwilliger Gastgeber die Dusche. Durch den Dunst des heißen Wassers sah er, wie Loli ganz untertauchte und für Minuten unter Wasser blieb. Er wollte schon nachsehen, ob es ihr noch gut ging, als sie denKopf wieder hob. Das Wasser perlte vollständig von ihrem Haar ab. Es floss nun wieder so seidig und luftig wie vorhin im Schrank. Wie machte die das denn?

"Das ich Sachen kann, die Normalleute nicht für möglich oder richtig halten weißt du. Ich bin ein Wasserkind, will sagen, ich und das Wasser verstehen uns. Ich wollte, dass es mich saubermacht und dann sofort wieder verschwindet. Das hat es getan. Aber das mit dem Duschen ist doch auch nichts ganzes. Davon wirst du von außen sauber, aber der Seelenmüll bleibt in dir drin. Komm zu mir, es ist noch genug Platz", lockte sie und rückte so weit nach hinten, dass er noch genug Platz hatte, vor allem, weil sie ihre verboten langen Beine weit genug auseinanderbrachte, damit er dazwischen einsteigen konnte. Er dachte daran, das er vor dreißig Jahren zum letzten Mal mit einer erwachsenen Frau in einer Badewanne gesessen hatte, mit seiner eigenen Mutter.

"Na, nicht mir den Rücken zudrehen. Setz dich mir gegenüber hin!" ordnete sie an, als sei es so selbstverständlich, dass er ihre Führung nötig hatte. Ja, und er war zu müde, um sich ihr zu widersetzen.

Da die Wanne zu klein für ausgedehnte Liebesspiele war, ohne den halben Inhalt im Badezimmer zu verteilen, beließ es Loli dabei, ihren Gastgeber behutsam abzuschrubben und dabei mal hierhin und dorthin zu greifen, wobei sie ihn förmlich einlud, ihr ähnliche liebkosungen angedeihen zu lassen. Richtig wild wurde es dann später im großen Bett von Lyndon Morrow, wobei aus der Minianlage im Schlafzimmer das erste Spice-Girls-Album klang. Dass Morrow diese mittlerweile auf Solopfaden wandelnden Krawallmädchen verehrte, ja sogar in New York ein Konzert von Ihnen besucht hatte, wo London wesentlich näher gelegen hatte, wusste außer ihm auch nur sein amerikanischer Kollege Jefferson, der die Karte und den Charterflug hin und zurück klargemacht hatte. Loli fühlte sich bei den Titeln sehr gut inspiriert. Morrow wusste nicht, dass er so innig und ausdauernd sein konnte, als sie bei "2 werden 1" die ganze Liedlnge in vollständiger körperlicher Vereinigung blieben und sie bei dem Stück "Mama" anregte, dass Morrow so tat, als wäre er ihr Baby. Immer wieder drohte er wegzuschnarchen. Doch wenn sie ihn küsste kehrten seine Lebensgeister sofort zurück. Wieso die beiden nach demDurchlauf der CD noch hochintelligente Fachgespräche führen konnten, während sie mal behutsam und mal schnell die Freuden der leiblichen Liebe feierten wusste der Arzt nicht. Dann war es auch schon Mitternacht. Loli gratulierte ihm zum Geburtstag und präsentierte ihm ein Geschenk, ein silbernes Medaillon an einer Kette, in den der Buchstabe L von einer kryptisch erscheinenden Schrift umschlossen eingraviert war. Als der Arzt nach der Bedeutung der Umschrift fragte sang ihm Loli ein altertümliches Lied vor. Morrow wusste nicht, ob es an der nun restlos verbrauchten Ausdauer lag oder nicht. Als sie sang erwärmte sich das Medaillon leicht und vibrierte angenehm in seinen Händen. Fast wie in Trance legte er es sich um. Als es seinen Brustkorb gerührte sprang ein Wärmeschauer auf ihn über und durchströmte ihn von Kopf bis zu den Zehen. Loli sang weiter. Danach übersetzte sie den Text. Es war ein altbabylonisches Liebesgedicht, das eine ewige Verbundenheit von Leib und Seele besang. Lyndon Morrow fragte sich doch nun, was eine andalusische Prostituierte sich dabei dachte, einem wenige Male bei ihr vorbeischauenden Kunden so ein Geschenk zu machen. Da hörte er ihre Stimme ohne Umweg über seine Ohren direkt in seinem Kopf.

"Du bist sehr sehr wichtig für mich und ich möchte, dass du und ich weiterhin sehr gut zusammenarbeiten und uns gegenseitig geben, was du von mir und ich von dir haben möchte. Und jetzt schlaf dich aus, mein Gefährte!" Er hörte wieder jenes Lied, diesmal nicht mit den Ohren. Es drang nun noch tiefer in seinen Geist ein, sickerte in sein Unterbewusstsein und trug ihn sanft wie ein langsam dahinfließender Fluss in das Meer erholsamer Ruhe hinüber.

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12. März 2002

Richter James Maddox wartete, bis sich die dreißig Journalisten und die Prozessbeteiligten erhoben hatten. Dann verkündete er sein Urteil:

"Im Namen Ihrer Majestät, Königin Elizabeth II. ergeht folgendes Urteil:

Mr. Aldous Crowne ist wegen mehrfach erwiesener Fremdabstammung nicht berechtigt, die einem leiblichen Sohn des verstorbenen Alwin Alan Crowne zugesprochenen Vermögenswerte und Rechte zu beanspruchen, da das Testament des Verstorbenen eindeutigen Bezug auf das Testament seines Vaters und dessen Vaters nimmt, demnach nur ein leiblicher Sohn ihr Unternehmen erben und führen dürfe. Über den Anklagepunkt, auch das Erbe seiner verstorbenen Mutter zu verwirken, weil er nicht ihr leiblicher sohn ist befindet dieses Gericht, dass er durch Geburt der leibliche Sohn von Muriel Crowne ist und daher die von ihr ihm zugesprochenen Vermögenswerte beanspruchen und erhalten darf. Alle Vermögenswerte, die Alwin Crowne in seinem Leben zusammentrug, fallen dessen nächsten Verwandten Bryan Alan und Collin Alan Crowne sowie ihren leiblichen Söhnen Bradley Adam und Cornelius Adam Crowne zu. Über die Leitung des Familienbetriebes Crowne & Sohn soll ein unabhängiges Verfahren Aufklärung erbringen." Der Richter hieb mit seinem Hammer auf den Richtertisch, um das Urteil zu bekräftigen.

"Bis morgen haben wir alle Schlüssel zum Haus, die du noch in Besitz hast", zischte Bryan Crowne, der sich schon als Firmenchef und Haupterbe sah. Sein Bruder wirkte trotz des gemeinsam errungenen Sieges vor Gericht nicht mehr so überlegen. Das merkte Aldous und sagte:

"Es wird mir ein sehr großes Vergnügen sein, euch dabei zuzusehen, wie ihr alles zerrupft, was euer Vater und der Mann meiner Mutter und damit für mich immer noch als Vater angesehene aufgebaut und vermehrt haben. Ich bin morgen früh um zehn vor dem Haus wegen Übergabeprotokoll und allem. Seit ja pünktlich!"

"Sei froh, dass sie zumindest die Geschichte von deiner Geburt abgekauft haben, du Wechselbalg", grummelte Collin Crowne. "Morgen haben wir die Schlüssel. Dann kannst du alle Zeugnisse mitnehmen, die dich als Aldous Crowne bezeichnen. Leider ist es ja nicht gelungen, dich wegen fortgesetzter Personenstandsfälschung zu belangen."

"Das tut mir jetzt aber auch kein bißchen leid", erwiderte Aldous.

"Wir haben es wenigstens versucht", versuchte Aldous' Anwalt noch, seinen Mandanten zu trösten.

"Etwas zu versuchen und etwas zu erreichen sind dann doch leider zwei weit entfernte Dinge, Doktor Sanders. Da mein Onkel Tobias für Ihr Honorar aufkommt schicken Sie bitte die Rechnung an ihn, wenn die schriftliche Urteilsbegründung vorliegt."

"Ich hoffe, Sie machen trotzdem Ihren Weg, Mr. Crowne", sagte der Anwalt noch. Dann begleitete er Aldous durch die Meute der Presseleute nach draußen.

Aldous wusste, dass er jetzt nur noch einen Tag Zeit hatte, herauszubekommen, was sein Vater über seine wahre Abkunft aufbewahrt hatte. Denn Bryan und Collin wussten nichts von dem geheimen Keller, dem so genannten Giftschrank. Vielleicht fanden sich dort auch noch Unterlagen, mit denen er den beiden die Freude am Großunternehmertum so richtig verhageln konnte. Für Aldous stand fest, dass er in dieser Nacht noch einmal in das Haus musste, aber nicht durch die offiziellen Türen, sondern durch eine Hintertür, die nur seine Eltern und er kannten. Doch dazu musste er erst nach London, um dort das vor sieben Jahren gekaufte und mit einem Elektromotor versehene Motorrad zu holen. Denn im weithin bekannten Yaguar wollte er garantiert keinen Kilometer an sein Elternhaus heranfahren.

In den späten Abendstunden schnurrte etwas dunkles, gewandtes fast unhörbar über den rückwärtigen Zuweg zum Anwesen der verstorbenen Eheleute Crowne. Nur die Geländereifen und der kraftvolle Elektroantrieb im Hinterrad gaben ein fast unhörbares Geräusch ab. Auf der dunklen Maschine hockte Aldous in einer lichtschluckenden Lederkombination mit schwarzem Helm und verspiegeltem Visier, einem dunklen Ritter gleich, der in die Schlacht zog. Sich wie ein Dieb in der Nacht anschleichen zu müssen widerte ihn an. Doch welche Wahl hatte er jetzt noch, um seine wahre Herkunft zu ermitteln? Wenn er morgen die Schlüssel abgeben musste kam er nicht mehr ins Haus. Noch kannte er die Hintertür für das Alarmsystem und vor allem die Hintertür ins Haus.

Mit ausgeschalteten Scheinwerfern glitt die umgebaute Yamaha wie ein Schatten zwischen zwei Bäume. Aldous wendete so behutsam er konnte. Am Ende musste er sofort mit voller Beschleunigung von hier weg. Er stieg ab und betätigte die von ihm konstruierte Wegrollsperre. Danach schlich er sich auf das Haus zu. Seine robusten Motorradstiefel waren mit schallschluckenden Sohlen versehen. So konnte er so lautlos wie eine sich anpirschende Katze auf das Haus seiner Eltern zuschleichen.

Einmal um das Haus herum, noch schön außerhalb der Sensorenreichweite der hinter dem Zaun montierten Bewegungsmelder. Nun stand er vor der großen Kiste, aus der ihm der Geruch von verrottenden Pflanzenteilen entgegenströmte. Das war ein Trick seines Vaters, einen Kompostbehälter über der Falltür zu platzieren. Von Hand würde es schwer sein, die mehr als eine Tonne verrottender Gartenabfälle vom Ort zu bewegen. Doch Aldous hatte ja einen Zauberstab. In seiner rechten Hand lag eine bleistiftdünne, bei Licht mattschwarze Vorrichtung, die breitstreuende Infrarotimpulse versenden konnte. Er zielte damit auf den Boden des stinkenden Kompostbehälters und drückte in einer bestimten Abfolge kurz und lang auf die beiden kaum spürbaren Knöpfe in der Spezialfernbedienung. Unvermittelt begann der Kompostbehälter zu vibrieren. Ein ganz leises Summen wie von einem kleinen Transformator wehte durch die ansonsten stille Nacht zu ihm herüber. Dann hob sich der Behälter um zwei Zentimeter in die Luft und glitt behutsam zur Seite. Wie auf unsichtbaren Schinen bewegte sich der Kompostbehälter nach links, bis er drei Meter weit entfernt war. Dann sank er leicht bebend zu Boden und landete lautlos.

"Wie spricht Arthur C. Clarke: Ausreichend fortgeschrittene Technologie ist nicht von Magie zu unterscheiden", dachte Aldous nur für sich. Dann ging er zu der Stelle, wo der Behälter gerade eben noch gestanden hatte. Da war die Falltür in den brachliegenden Kohlenkeller. Wieder nahm er den besonderen Stift und zielte auf die dem Haus zugewandte Seite der Metallplatte. Er drückte erneut die Knöpfe und feuerte damit Infrarotimpulse ab. Dann rasselte es leise im Boden. Er nickte der Platte zu und klappte den darin eingelassenen Türgriff nach oben.

Mühelos konnte er nun die Falltür aufklappen und über die alte Kohlenrutsche in die gähnende Finsternis hineinrutschen. Die Tür klappte langsam und leise wieder zu. Das war auch so beabsichtigt. Denn es musste ja nicht jeder sehen, dass hier wer den Hintereingang benutzte. Als die Tür ganz verschlossen war tastete Aldous neben der Rampe die Wand ab, fand eine etwas glattere Stelle und drückte kräftig dagegen. Er schloss schnell die Augen, als er das Summen und leise Klirren sich in Neonlampen aufbauender Spannungsfelder hörte. Eine Sekunde später flutete helels Licht aus fünf im Kellerraum befestigten Röhren die Umgebung. Gleichzeitig hörte Aldous das leise Summen, mit dem eben der Kompostbehälter auf den im Boden versteckten Magnetschienen angehoben und verschoben worden war. Aldous konnte beim Verlassen den besonderen Mechanismus jederzeit wieder auslösen.

Der Weg ins Haus war nun kein Problem mehr. Er musste nur noch über die stiftförmige Fernbedienung den Einbruchsalarm ausschalten. Hierbei wählte er den 10-Minuten-Schlafmodus. Denn die Alarmanlage war mit einem Sicherheitsdienst verbunden und würde beim vollständigen Ausschalten ein Protokoll senden, dass sie ordnungsgemäß deaktiviert worden war. Den Schlafmodus hatte sein Vater deshalb einbauen lassen, um mal eben schnell etwas aus dem Haus holen zu können, ohne dass die Überwachungsfirma davon etwas erfuhr.

Der so genannte Giftschrank lag hinter einem Bücherregal mit alt aussehenden Folianten am Eingang zum Weinkeller. Mit einer zweiten Fernbedienung stellte Aldous den Öffnungscode ein und ließ das Regal zur Seite fahren. Dann betrat er die zehn Quadratmeter große Kammer. Sofort ging das normale Deckenlicht an. Aldous wusste genau, wo er suchen musste. Sein Vater war zwar ein ausgesprochener Abenteuerer gewesen, aber auch ein penibler Ordnungshalter, was wichtige Unterlagen anging. So brauchte er von den zehn ablaufenden Minuten gerade drei, um mit seinen behandschuhten Händen die richtige Mikrofilmkassette zu ergreifen, auf der stand: "Notwendige medizinische Auslagen in Familienangelegenheiten". Die Kassette war gerade so groß wie zwei nebeneinander gelegte Zigarettenschachteln. Er konnte sie mühelos in der linken Innentasche seines Anzugs verschwinden lassen. Um den Inhalt betrachten zu können reichte ein handelsübliches Lichtmikroskop oder ein entsprechendes Lesegerät. Dieses fand er in einem verschlossenen schrank, in dem noch eine CD-ROM lag, auf der ein Etikett mit der Aufschrift "Ciconia ciconia" prangte. Aldous wog die CD-ROM in seinen Händen. Was sie wohl enthalten mochte? Mit der Aufschrift konnte er im Moment nichts anfangen. Er ahnte nur, dass es ein wissenschaftlicher Name sein musste, etwas aus der Biologie oder Medizin. Das war rauszukriegen. Schnell verstaute er die CD-ROM und das Lesegerät in den anderen freien Taschen des Anzuges. Dann schloss er den Schrank. Er wollte gerade wieder durch den Zugang mit dem Regal schlüpfen, als er einen kräftigen Motor hörte. Er kannte diesen Motor. Das war der Mercedes seines Onkels Bryan. Wieso kam der jetzt zum Haus?

"Mist, wenn der mich hier erwischt bin ich nicht nur das ganze Erbe los sondern auch im Knast wegen Verstoßes gegen die gerichtlichen Auflagen", dachte Aldous und fühlte eine gewisse Unruhe in sich aufsteigen. Andererseits wusste er, dass sein Onkel keine Schlüssel zu dem Haus oder zur Steuerung der Alarmanlage hatte. Aldous' schwarze Yamaha stand auch weit genug weg an einem nicht ausgeleuchteten Platz. Doch wenn Bryan Crowne wirklich draußen vor der Tür lauerte kam er hier nicht mehr unbeobachtet weg.

Er hörte schwere Schritte auf dem plattierten Zuweg zur Haustür. Zumindest musste er das annehmen, weil der Hall im Geheimraum das Richtungshören beeinflusste. Aldous überlegte schnell. Er musste den Zugang wieder tarnen. Wenn er jetzt rauslief und versuchte, durch den Keller zu flüchten, konnte Bryan und wen er auch noch mitgebracht hatte ihn erwischen. Am Ende standen die ganzen vier Crownes draußen und wollten heimlich ins Haus. Dann würde mindestens einer von denen Schmiere stehen. Da hatte Aldous eine Idee.

Ihm war gerade soeben wieder eingefallen, was sein Vater über die Alarmanlage gesagt hatte, was er auf keinen Fall mit ihr anstellen durfte. Und hier im Giftschrank war eine Zweitsteuerung dafür verbaut, um sie im Bedarfsfall auszuschalten oder bewusst auszulösen.

Schnell ließ er das Bücherregal wieder an seinen Platz zurückfahren. Es wurde dunkel um ihn. Gerade noch rechtzeitig verbarg es den nächtlichen Eindringling, der zwar gerade jeden Fluchtweg aufgegeben, sich aber in eine für ihn günstige Stellung gebracht hatte. Jetzt hörte Aldous die schwere Haustür aufgehen. Er erinnerte sich an eine Mithöranlage in diesem Raum. Er fingerte an der der Geheimtür entgegengesetzten Wand und zog einen Satz Ohrstecker hervor. Diese stopfte er sich schnell in beide Ohren und schaltete dann die Mithöranlage ein, die alle Räume mit Außentüren überdecken konnte.

"Schnell, die Alarmanlage ist aus. Der selbstherrliche Trottel hat mir mal verraten, wie es geht. Verteilt euch im Haus und seid bloß leise. Wenn er noch irgendwas vor uns in Sicherheit bringen will muss er das heute nacht machen, weil er genau weiß, dass wir gleich alle Schlösser austauschen", hörte Aldous seinen älteren Onkel wispern. Er hätte fast durch die Zähne gepfiffen. War er echt gerade so noch rechtzeitig in sein Elternhaus eingedrungen. Doch jetzt konnte er die Idee umsetzen, die ihm gekommen war. Sein Onkel, dieser Aasgeier, dachte, die Alarmanlage ausgeschaltet zu haben. Doch weil sowieso der Schlafmodus in Betrieb war würde die nicht reagieren, bis jemand von drinnen die Anlage ausgeschaltet hatte. Aber woher hatte er den Haustürschlüssel? Konnte er vielleicht später klären. Jetzt galt es, seine geldgierige Verwandtschaft festzusetzen.

Er hantierte so leise er konnte an der Schalttafel für den Alarm und nahm dabei bewusst unzulässige Schaltungen vor. Damit erzeugte er Rückkopplungen in den Sensorschaltkreisen, worauf der kleine Computer, der die Anlage überwachte ermitteln musste, dass eine große Menschenmenge widerrechtlich in das Haus eingedrungen war. Sein Vater hatte ihm erzählt, dass dann ein Narkosegas freigesetzt würde, dass die Eindringlinge und alle außerhalb des Geheimraums betäuben würde, bis die Sicherheitsfirma und die Polizei angerückt waren.

Erst ging der Schlafmodus aus, die Anlage erwachte wieder zur vollen Einsatzbereitschaft. Dann schrillten überall im Haus Sirenen los. Sicher fluteten auch Flackerlichter die Räume mit wildem Lichtspektakel. Zwei Sekunden später leuchteten sieben rote Lichter an der Schaltanlage auf. Draußen erklang ein metallisches Klappen. Gleichzeitig fiel zwischen dem Bücherregal und Aldous eine durchsichtige Wand mit Gummirändern nider und saugte sich luftdicht am Boden fest. Dann fauchte es im ganzen Haus. Das alles lief in gerade einmal drei Sekunden ab, zu schnell, um den Eindringlingen Zeit zu lassen, das Haus noch zu verlassen.

"Du hast die scheiß Anlage nicht ausgekriegt!" rief einer von seinen Vettern. Dann rief noch wer: "Mist, Gas! Luft anhalten!" Doch dafür war es schon zu spät. Aldous hörte Körper im Haus umfallen.

"Jaja, wer anderen eine Grube gräbt", frohlockte Aldous. Dann erkannte er, dass er jetzt aber doch ein Problem hatte. Wenn die Polizei anrückte würde die jeden Winkel im Haus durchsuchen und ihn dabei auch finden. Soviel zum guten Plan. Und das schlimmste sollte noch kommen.

__________

Lyndon Morrow hatte seinen Kollegen nichts von seiner Geburtstagsfeier erzählt. Zwar guckten einige schief, weil er keine Abteilungsrunde hatte springen lassen. Doch da sie alle voll imArbeitsprozess steckten wäre Alkohol eh nicht das richtige gewesen. Lyndon fühlte das Medaillon Lolis unter seinem Unterhemd. Dass es magisch aufgeladen war hatte er schon am Morgen nach der Reinfeiernacht erkannt. Doch dass es nicht zu nahe an elektronische Geräte geraten durfte hatte er erst erfahren, als er seinen Bürorechner gestartet hatte und erst einmal ein Gewirr von über den Bildschirm schwirrenden Zahlen und Strichmustern heraufbeschworen hatte, Erst als er sich anderthalb Meter vom Gehäuse hingesetzt hatte und der Rechner noch einmal durchgestartet war atmete er auf. Er besuchte den siebzehnjährigen Polytraumapatienten Christopher Maxwell. Wieder wünschte er sich, er könne zaubern wie Loli. Dabei fragte er sich, ob Loli eine Hexe, ein Engel oder eine Dämonin war. Gut, Engel würden sich nicht für Geld verkaufen und auch nicht viel Wert auf geschlechtliche Triebabfuhr legen. Doch was immer Loli war, sie konnte was, was er nicht konnte. Da hörte er wieder ihre Stimme aus seiner Erinnerung:

"Du bist sehr sehr wichtig für mich und ich möchte, dass du und ich weiterhin sehr gut zusammenarbeiten und uns gegenseitig geben, was du von mir und ich von dir haben möchte." Er wünschte sich beim Anblick des fast erwachsenen Jungen auf dem Intensivbett, dass er ihn heilen konnte, nicht so plötzlich, damit es nicht auffiel, aber doch so, dass er wieder Freude am Leben haben konnte, so wie er, Lyndon Morrow.

Als keiner ihn beobachtete griff er mit der linken Hand unter sein Unterhemd und berührte das Medaillon. Es erwärmte sich und pulsierte im Takt seines Herzens. Er streckte die rechte Hand aus. Eigentlich durfte er keinen Patienten ohne Handschuhe anfassen, weil die Hygienevorschriften das verboten. Doch hier im Raum waren nur medizinische, aber nicht optische Überwachungssysteme installiert, wegen der Intimsphäre von Patienten und Besuchern. So legte er die rechte Hand auf den verbundenen Kopf des Jungen. Seine Hand erwärmte sich und pulsierte, glich sich dem Herzschlag des Patienten an. Als hätte er sowas schon einmal gemacht berührte er mit der Hand die am schlimmsten verletzten Stellen an den Lungenflügeln, den vielfach gebrochenen Armen und Beinen. Wie mit einem Sensor fühlte er in der Hand, wo seine Berührungen liegen mussten, um zu wirken. Dabei strömte ihm aus Lolis Medaillon immer frische Kraft zu, pure Magie. Er wiederholte die Prozedur, von der er nicht wusste, wie genau und wie schnell sie wirkte. Er hoffte nur, dass er damit keine bösartige Bezauberung verwendete, die wo sie dem einen half, dem anderen Schaden zufügte. "Im Grunde wirkt jede Form von Magie so, dass wo sie auf der einen Seite etwas gibt, sie von woanders etwas zurückbekommen muss", dachte er, wobei er meinte, Lolis flüsternde Stimme im Hintergrund zu hören.

"Erhol dich, Christopher! Hoffentlich kommst du wieder auf die Beine, kannst mit Mädchen tanzen und irgendwann mal - Das hat noch Zeit - mit ihnen auch doll Liebe machen", flüsterte er dem Jungen zu. Da ging die Tür auf, und die diensthabende Schwester trat ein.

"Wir senken die Dosierung für die Narkotika ein wenig, um ihm zu helfen, sich schneller zu erholen, Schwester Treemane", sagte der Arzt und war froh, dass die ältere Schwester nicht fünf Sekunden früher eingetreten war.

"Doktor Collins hat verordnet, dass wir den Patienten noch eine Woche auf der eingestellten Dosierung belassen. Haben Sie mit ihm darüber gesprochen?" fragte die Schwester und verkleidete so einen Vorschlag als Frage. Denn natürlich hatte Morrow noch keine Zeit gehabt, mit dem Kollegen zu sprechen, der die andere Schicht hatte.

"Ja,ich habe die Notizen gelesen. Gut, dass Sie mich daran erinnern, mit ihm noch einmal darüber zu korrespondieren, Schwester Treemane", ging Morrow auf den Vorschlag ein. Dann wünschte er ihr eine ruhige Teilschicht und ging zu seinen anderen Patienten. Dabei fragte er sich, ob er nun einen Pakt mit dem himmlischen Vater oder einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hatte.

In einer der Freistunden während des Schichtbetriebes sah Morrow die Fernsehnachrichten. Dabei bekam er mit, wie die Erbstreitigkeit im Crowne-Imperium ausgegangen war. Der Satellitenkönig hatte eigentlich seinem Sohn alles überlassen wollen. Doch dann war herausgekommen, dass Aldous Crowne nicht der leibliche Sohn und somit nicht universalerbberechtigt war. Der Richter hatte das jetzt klar bestätigt. Er sah den Mann ende zwanzig verbittert den Gerichtssaal verlassen. Natürlich war für den gerade eine ganze Welt zusammengebrochen. "Sieh ihn dir genau an!" hörte er auf einmal Lolis Stimme so, als säße sie genau unter seiner Schädeldecke. Er tat es, ohne zu hinterfragen wieso und prägte sich das Bild des blonden Mannes mit den stahlblauen Augen sorgfältig ein. Dann vernahm er Lolis Stimme wieder:

"Es ist offenbar möglich. Jetzt, wo er fast zehn Jahre älter ist als damals könnte er es wirklich sein. Danke für diese so wichtige Hilfe."

"Dafür hast du mir heute morgen geholfen", erwiderte der Arzt.

"Und ich werde dir auch weiterhelfen. Aber es kann sein, dass ich bald mehr Hilfe von dir brauche, je danach, wie sich diese Geschichte mit diesem Aldous Crowne weiterentwickelt."

"Kennst du ihn oder einen Verwandten?"

"Mag sein, dass ich mal mit einem Verwandten von ihm zusammen gewesen bin. Ist aber schon einige Zeit her. In meinem Beruf kommen und gehen die Leute, und manchmal bleiben sie ganz weg."

"Vor allem kommen sie", scherzte Lyndon Morrow.

"Darauf kannst du dich bei mir immer verlassen", hörte er Lolis säuselnde Gedankenantwort.

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Das enervierende Schrillen der Sirenen erstarb unvermittelt. Das Fauchen des unter hohem Druck in alle Räume geblasenen Gases ebbte ab. Dann erschien auf der Anzeige der Alarmsteuerung eine rote Leuchtschrift:

"Noch 00:02:00 bis zur vollständigen Selbstzerstörung. Widerruf nur durch autorisierten Telefoncode oder Direkteingabe in Alarmterminal! Warnung! Jede Fehleingabe reduziert Restzeit um zwanzig Sekunden."

"Moment mal", stieß Aldous aus. Dann begriff er. Deshalb hatte sein Vater ihm gesagt, dass es unbedingt nötig sei, dass jemand, der den Vollaalarm auslöse, in der Nähe der Steuerungsanlage sei. Aber wieso eine Selbstvernichtung. Das war doch total übertrieben. Da diese Warnung nur über die Anzeige kam und nicht per automatischer Durchsage erfolgte war es auch kein Bluff. Doch welchen Code sollte er eingeben? Sein Vater hatte ihm einige Codes verraten, aber nicht, welcher davon eine angesetzte Selbstvernichtung widerrufen konnte. "Was für ein Vollparanoiker warst du, Dad?" fragte Aldous ins Nichts. Ihm wurde klar, dass er gerade auf dem besten Weg war, sich und seine Verwandtschaft ins Jenseits zu befördern. Die auf der Anzeige ablaufenden Sekunden unterschritten gerade die Marke von 00:01:30. "Ein Fehlversuch, und ich bin tot", dachte Aldous. Er überlegte, welchen Code sein Vater für diese Wahnsinnsschaltung benutzt haben mochte. Vielleicht passte ja einer von denen, die er kannte. Doch ein Versuch mochte das Verhängnis auslösen. Er dachte angestrengt nach. Dabei sah er bewusst nicht auf die Sekundenanzeige. Erst als er sich sicher war, dass es der Code war, mit dem sein Vater sonst die Hangartür für die Drachenkönigin geöffnet hatte, blickte er wieder hin und las 00:01:10 ab. Wieso hatte sein Vater eine Stundenanzeige einbauen lassen? Egal! Er tippte den Code "Libre como el viento" in die winzige Computertastatur ein. "Fehlversuch. Zeit: 00:00:40", leuchtete ihm die Anzeige entgegen. Aldous fühlte unmittelbar das Adrenalin in seine Blutbahn einschießen. Er hatte nur noch vierzig Sekunden, nein achtunddreißig Sekunden zu leben. Der einzige Trost war, dass seine Onkel und seine Vettern mit ihm in die Luft fliegen oder in einem unbestimmten Höllenfeuer verbrennen würden. Das brachte ihn auf die Idee, den Namen Feuerfee rückwärts einzugeben, weil sein Vater mal gesagt hatte, dass damit die Feuerfeen aus seinen Phantasiegeschichten verjagt werden konnten, wenn sie ihren Namen rückwärts hörten oder lasen. e-e-f-r-e-u-e-f - Er zögerte eine wertvolle Sekunde und drückte dann die Eingabetaste. "Fehlversuch, noch 00:00:12", kündigte die Anzeige seinen nahen Tod an. Jetzt war alles aus und vorbei! Aldous hörte seinen Herzschlag rasen. Er keuchte und schnaufte. Seine Verwandten lagen sicher irgendwo im Haus und würden ihre Höllenfahrt nicht mitbekommen. Aber er würde in nur noch neun Sekunden seinen Tod spüren. Er wollte aber nicht sterben. Er wollte nicht so jung sterben, nicht bevor er nicht wusste, wer seine wirklichen Eltern gewesen waren. Er wollte einfach nur raus! Raaauuus!

In seinem Kopf pochte es los, dass es ihm durch den ganzen Körper jagte. Bunte Wirbel tanzten vor seien Augen. Dann meinte er in einen endlosen Schacht zu stürzen und gleichzeitig von einem viel zu engen Gummisack eingeschlossen zu sein. Das war bestimmt die letzte Todesangst, dachte er. Dann fühlte er, wie er gegen etwas hartes prallte, das metallisch schepperte.

Er fand sich auf Händen und Knien wieder und atmete kalte Nachtluft. Er warf den Kopf in den Nacken und sah einen teilweise bewölkten aber ansonsten freien Himmel über sich. Der Mond lugte gerade zwischen zwei dunklen Wolkenbäuchen hindurch. Jetzt erkannte er, dass er gegen einen massiven Gegenstand aus Metall geprallt war. Er tastete um sich und fühlte die Schutzbleche, Reifen und die Lenkstange eines schweren Motorrades. Er sah genauer hin und hätte fast laut aufgeschrien vor Überraschung und Erleichterung. Er war bei seiner eigenen Maschine. Er hatte den Umstand, plötzlich hier zu sein noch nicht verdaut, als ihn eine heftige, heiße Druckwelle fast von den Beinen fegte und aus einem halben Kilometer Entfernung drei kurz hintereinander folgende Donnerschläge wummerten. Er erinnerte sich, dass er nur noch wenige Sekunden Zeit gehabt hatte. Aber wie war er hierhergekommen?

Zunächst blickte er sich um. Da, wo vorher noch das Haus seiner Eltern im Dunkeln gewesen war, schlugen gerade turmhohe Flammen in den Himmel. Eine glühende Staubwolke wuchs in die Höhe, verbreiterte sich weit im Himmel zu einem Pilzhut wie nach einer Atomexplosion. Dann begannen die Flammen, langsam in sich zusammenzusacken.

"Ich muss hier weg", peitschte ein Gedanke ihn auf. Aldous betätigte den geheimen Entriegelungsmechanismus für die Wegrollsperre und schwang sich in den Sattel. Er startete den Elektromotor. Der kraftvolle Hinterradantrieb orgelte los und trieb die Maschine voran. Beinahe hätte der Vorderreifen durchgedreht. Mit dem E-Motor konnte er bis zu sechzig Stundenkilometer für weitere zwanzig Kilometer erreichen. Als er in die Nähe einer nicht so befahrenen Straße kam, zündete er den PS-Starken Benzinmotor und schaltete den Hinterradmotor auf Freilauf und Lademodus um. Er beschleunigte weiter, bis er mit knapp 150 Stundenkilometern unterwegs war. Sein Ziel war der vergessene Luftschutzbunker, den er vor sieben Jahren entdeckt und als Außengarage für seine beiden Fahrzeuge umfunktioniert hatte. Dort parkte und sicherte er die schwarze Yamaha und verstaute die Motorratkombi in eimem wetterfesten Metallschrank mit vier Schlössern. Aus dem Kofferraum des hier eingestellten Yaguars holte er Jeans und Turnschuhe und kleidete sich um. Dann stieg er in seinen rassigen, silbermetallikfarbenen Yaguar und ließ dessen Motor anspringen. Jetzt fuhr er in Richtung des Appartments, dass er nach dem Tod seiner Eltern angemietet hatte, um während der Erbstreitigkeiten nahe genug an seinem Elternhaus zu sein. Hier fragte ihn niemand, wo er gewesen war und was er angestellt hatte.

Per Fernsteuerung ließ er das massive Stahltor der Tiefgaragenzufahrt auffahren. Noch wurde hier niemand anhand von Ein- und Ausfahrtsprotokollen vermerkt. Er stellte seinen Yaguar auf den mit angemieteten Platz und fuhr per Aufzug zur Etage hinauf, auf der er wohnte. Im Fahrstuhl rieselte eine Instrumentalversion des Frank-Sinatra-Klassikers "Mein Weg" in Aldous' Ohren. Wie sinnig, dachte der auf rätselhafte Weise dem Tod entronnene.

Wieder in der Sicherheit seiner Unterkunft überlegte er, was ihn aus dem Haus gerettet hatte. Er wusste nur, dass er unbedingt wieder aus dem Haus raus wollte. Dann hatte er sich in diesem einschnürenden bunten Etwas in diesem Freifallschacht befunden. Das hatte keine Sekunde gedauert, und er war neben seinem Motorrad auf Hände und Füße gekommen. Er dachte daran, dass die einzige logische Erklärung dafür gleichzeitig eine physikalische Unmöglichkeit war: Teleportation. Aber er lebte noch und träumte das alles auch nicht. Also musste es, so ungern ernsthafte Physiker und Techniker das hören mochten, nur diese Möglichkeit gewesen sein. Er hatte aus purer Todesangst heraus einen übersinnlichen Energiestoß in sich ausgelöst, der ihn dahin gebeamt hatte, wo er die Yamaha geparkt hatte, vielleicht mit Lichtgeschwindigkeit auf seiner in Raum und Zeit hinterlassenen Spur zurückgetragen. Aber das klang doch zu phantastisch. Aber irgendwie musste er sowas bewirkt haben. Dann dachte er daran, dass Gott vielleicht doch existierte und ihn als sein Werkzeug gebraucht hatte, um die unrechtmäßige Geldgier von Bryan Crowne und den anderen zu bestrafen. Das klang für ihn ebenso abwegig, weil er keiner Religion vertraute. Welche Erklärung blieb dann noch übrig? War er vielleicht kein Mensch, sondern ein Außerirdischer, ein Klon oder ein Wesen aus dem Jenseits? Genauso abwegig wie alles andere, tat Aldous diese Möglichkeit ab. Dann dachte er daran, dass er ja keinen Schimmer davon hatte, wer seine Eltern waren und wer er also eigentlich war. Das wiederum brachte ihn auf den Gedanken, dieses Rätsel schnellstmöglich zu lösen. Er dachte daran, ob die Polizei ihn verdächtigen würde. Doch wo er an Überwachungskameras vorbeigefahren war war er als vollständig unkenntlicher Motorradjockey zu sehen gewesen. Die Kennzeichen der Maschine waren dank einem guten Schulfreund von Aldous auf einen gewissen Samuel Pepis registriert, der angeblich 32 Jahre alt war und im Norden von Birmingham wohnte. Doch Samuel Pepis war nur ein Phantom, ein Computergeist, nur in allen relevanten Datenbanken des vereinigten Königreiches existent. Nichts wies darauf hin, dass der fiktive Motorradbesitzer mit Aldous Crowne oder dessen nun wohl in der tiefsten Hölle schmorenden Verwandten zu tun hatte.

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Die überragend anziehende Frau, die sich unter Menschen gerne Dolores Teresa Herrero nannte, öffnete die Augen wieder. Wenn noch wer in ihrem Sündenzimmer in der Casa del Sol gewesen wäre hätte er eine vorfreudig strahlende Frau sehen können, die eine ganz bestimmte Hoffnung umtrieb, nicht die auf einen Wunschliebhaber. Die konnte sie zu Dutzenden haben, nicht auf ein bald zur Welt kommendes Baby. Dies war ihr nur unter sehr besonderen Umständen möglich und auch nichts, worauf sie sich wirklich freuen würde. Nein, sie hoffte, bald mindestens eine weitere ihrer Schwestern nach langer Zeit begrüßen zu dürfen. Wenn sie es richtig anstellte und der gerade in einer durch magische Geistesverbindung mit ihrem neuen Abhängigen gesehene Bursche wirklich der war, den sie vermutete, hatte der sicher genug unerweckte Zauberkraft im Körper, um als Erwecker zu dienen. Sie durfte sich ihm aber nicht direkt zeigen und schon gar nicht körperlichen oder geistigen Kontakt aufnehmen. Sie hoffte, dass sich eine Gelegenheit bot, ihn von ohne ihre Magie beeinflussten Helfershelfern entführen und an die Orte ihrer schlafenden Schwestern zu schaffen. Einen Plan dafür, wie das ging, hatte sie seit der erfolgreichen Erweckung Ullituhilias ausgearbeitet, wo ihr ja die gesamte Luftflotte des über dem Irak abgeschossenen Mondego Casillas gehörte. Irgendwann, so hoffte sie, würde sie noch den einen oder anderen Mann oder halbwüchsigen Jungen mit unweckbarer Magie aufspüren. Gelang es ihr noch, all die Schwestern aufzuwecken, die ihr helfen konnten, gegen ihre jüngste aber mächtigste Schwester zu bestehen, konnte sie sich als dreifache Siegerin feiern lassen. Dann war sie die, die den Töchtern Lahilliotas wieder zur freien Beweglichkeit verholfen hatte. Dann konnte sie über Ashtarias Nachfahren triumphieren, die zwei von ihren Schwestern in einen unaufweckbaren Schlaf gestürzt hatten. Und dann gelang es ihr wohl auch, die jüngste Schwester in ihrem Dauerschlaf zu halten. Deren Gedanken wurden von Tag zu tag schneller und lauter. War es vorher nur ein zergliedertes Knarren, Brummen und Knattern gewesen, so hörte sie nun ein gleichmäßiges Brummen und Fauchen. Doch jetzt freute sie sich über die sich bietende Gelegenheit. Sie musste sie nutzen.

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Oberinspektor Gregory Coalfield von der Kriminalpolizei Birmingham erhielt um 23:44 Uhr einen Anruf von einem gewissen Mr. Cunningham von der Firma Guarding Eye. Die Sicherheitsfirma überwachte die Immobilien reicher Leute und rief nur dann die Polizei, wenn sie ein Problem nicht selbst lösen konnte oder der Polizei festgesetzte Einbrecher übergeben wollte. Daher mochte Coalfield diese Firma nicht so recht. So sagte er mit unüberhörbarer Ironie:

"Ach, Mr. Cunningham, lange nichts mehr von Ihnen gehört. Wollten Sie doch lieber die Polizei einschalten, um nicht wieder eine Anklage wegen unnötiger Gewalthandlungen zu riskieren?"

"Ich wollte Ihnen lediglich melden, dass das von uns betreute Objekt 713, das Anwesen der Familie Crowne, vor zwanzig Minuten durch eine massive Sprengstoffexplosion mit anschließendem Brand zerstört wurde. Die von uns einsehbaren Protokolle des Alarmsystems weisen aus, dass sich innerhalb des Hauses eine Minute lang an die dreißig unbefugte Eindringlinge befunden haben sollen, bevor eine Millisekunde lang ein Hitzeanstieg von über zweihundert Grad angemessen wurde, bevor erst die im Haus geschalteten Sensoren und eine Zehntelsekunde Später auch alle an der Grundstücksgrenze aufgebauten Sensoren ausfielen. Wir haben sofort versucht, mit der gerichtlich bestellten Verwaltung des Hauses Kontakt aufzunehmen. Doch bis jetzt konnten wir keinen erreichen. Die Feuerwehr wurde informiert, nun sind Sie dran."

"Das ist aber sehr freundlich von Ihnen, uns auch anzurufen, wenn irgendwo ein Haus in die Luft fliegt", erwiderte Coalfield biestig, bevor ihm einfiel, dass er besser zum amtlich korrekten Ton zurückkehren sollte. "Öhm, danke für die Benachrichtigung. Leider haben Sie dann die falsche Abteilung kontaktiert. Meine Zuständigkeit betrifft Einbruchsdelikte. Aber ich werde meinem Kollegen vom Brandstiftungsdezernat umgehend informieren und dann in eigener Person den Tatort aufsuchen. Dazu benötige ich Jedoch die genaue Adresse der Liegenschaft."

Zehn Minuten später waren Coalfield und sein ranggleicher Kollege von der Brandstiftungsaufklärung unterwegs zum ehemaligen Crowne-Anwesen. "Dir ist wohl klar, dass das mein Fall ist, Greg", sagte Henry Sanders über Funk. "Aber wenn du diesen Privatwächtern klarmachen kannst, dass wir die Protokolle der Überwachungssysteme einsehen wollen lasse ich dir gerne das Wort."

"Ist aber nett von dir, Henry", erwiderte Gregory Coalfield.

Da, wo vor ungefähr einer halben Stunde noch ein stattliches Anwesen gelegen hatte, klaffte nun ein an die siebzig Meter durchmessender Krater, auf dessen Sohle ein qualmender und an einigen Stellen noch brennender Schuttberg lag. Die Feuerwehr hatte auf Anweisung der Brandermittlung nur dafür gesorgt, dass keine angrenzenden Gebäude oder Anpflanzungen in Brand gerieten. Erst als Sanders sich das Feuer und den Trümmerhaufen angesehen hatte, gab er die Erlaubnis, die restlichen Brandnester zu löschen.

Als unter Schaum und Wasser die letzten Feuer zischend und dampfend erloschen waren begannen bereits die ersten Untersuchungen. Fotos wurden von dem Krater und dem Schuttberg gemacht. Dann gingen die ersten Experten daran, die Trümmer abzutragen. Mittlerweile wurde gemeldet, dass in der Umgebung brennende Brocken herabgefallen waren und deshalb ein Gartenhaus in Brand geraten war.

"Wer hatte alles einen Schlüssel zu diesem Haus?" wollte Sanders wissen. Sein Kollege Coalfield räumte ein, das nicht zu wissen.

"Oh, das kann ich Ihnen sagen, Inspektor", sagte ein mürrisch dreinschauender Mann im dunklen Anzug mit lotrecht herunterhängendem Schlips. "Die Schlüssel befanden sich in Verwahrung von Mr. Aldous Crowne. Er und seine Verwandten durften aber nur dann ins Haus, wenn mindestens einer von uns dabei war. Achso, ich bin Timothy Warnes, gerichtlich bestellter Immobilienverwalter im Erbstreitfall Crowne."

"So, und warum hielt es niemand für nötig, hier aufzupassen, ob nicht wer eine Bombe ins Haus schmuggelt?" wollte Coalfield wissen und fing sich ein Räuspern und eine Geste seines Kollegen ein, er möge sich zurückhalten.

"Mein Kollege möchte wissen, wie genau die Absicherung des Hauses gewährleistet wurde, wenn den Interessenten Zutritt gewährt wurde", sagte Coalfield noch.

"Pro angekündigter Person wurde einer von uns abgestellt, um alle Handlungen zu überwachen. Es galt, keine beweglichen Güter und Schriftstücke aus dem Haus entfernen zu lassen. Das galt natürlich auch für das Einbringen unerwünschter Gegenstände. Wir können sicher sagen, dass niemand einen Sprengkörper in dieses Haus hineingetragen hat."

"Warum durfte Mr. Aldous Crowne die Schlüssel behalten?" wollte Sanders wissen. "Er hätte doch jederzeit in der Nacht herkommen und die Alarmanlage ausschalten können, um sich Dinge oder Schriftstücke anzueignen."

"Diesbezüglich besteht ein gerichtlich verordnetes Abkommen mit der Sicherheitsfirma, welche die Überwachungs- und Warnvorrichtung eingerichtet und in Betrieb genommen hat. Die Herausgabe der Schlüssel hätten wir Mr. Crowne nur abverlangen können, wenn wir Kenntnis von irgendwelchen Manipulationsversuchen erhalten hätten. Solange war und blieb er der Eigentümer des Anwesens."

"Dann möchte ich jetzt mit dem Überwachungstechniker sprechen", sagte Sanders und bedankte sich bei Warnes.

Ein schmächtiges Männchen namens Sean Flanigan erläuterte für die beiden Oberinspektoren die Einrichtungen und Überwachungsprozeduren der Alarmsysteme. Sanders erfuhr, dass es über Mobiltelefon oder direkt am Haus über Infrarotimpulse im 800-Nanometer-Bereich bedient werden konnte. Dann kam jedoch der Hammer für Sanders und Coalfield:

"Wir können jedoch nicht ausschließen, dass der Hauseigentümer die Redundanzen der Anlage ausgenutzt hat, um von uns nicht festgelegte Konfigurationen vorzunehmen, bishin zu einem von uns nicht abrufbaren Steuercomputer. Mein Chef hat ihn schon häufiger gefragt, ob er für gewisse Spannungsschwankungen verantwortlich sei, die in den letzten Jahren immer wieder angemessen wurden."

"Und?" fragte Sanders.

"Er bestritt, für Spannungsschwankungen verantwortlich zu sein. Meine Kollegen untersuchten die Anlage, weil dies bei derartigen Störungen vertraglich vorgeschrieben ist, fanden aber keinen Hinweis auf nachträgliche Veränderungen."

"Mr. Crowne war bei der Airforce als Flieger und Systemtechniker. Ich traue ihm zu, dass er in die Anlage noch ein heimliches Zusatzsystem eingepflegt hat, dass von der betreuenden Firma nicht entdeckt werden konnte", sagte Sanders darauf. Der Techniker nickte und flüsterte: "Mein Chef weiß, dass einige Hausbesitzer sich nicht ausschließlich auf uns verlassen wollen und Extraanlagen anschaffen. Aber das können wir nur vorbringen, wenn wir Beweise dafür finden."

"Henry, am Ende hat der Verstorbene selbst eine Bombe eingebaut, die beimAlarm in der Nacht automatisch zündet, wenn er und nur er nicht den Widerrufcode übermittelt", vermutete Coalfield.

"Würde zu ihm passen. Mehr in meinem Büro", sagte Sanders.

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Aldous Crowne war gerade wieder in seinem Mietappartment angekommen, als er Debbie Harrys gesungene Aufforderung hörte, sie anzurufen. Er eilte an den abschließbaren Wohnzimmerschrank, in dem er sein Mobiltelefon eingesperrt hatte, damit es durch sein Signal nicht verriet, wo er sich in dieser Nacht herumgetrieben hatte. Er wusste, dass es eine bisher nicht einem bestimmten Klingelton zugewiesene Nummer sein konnte. Auf der Anzeige stand eine andere Mobilfunknummer. Er drückte die Annehmen-Taste und gähnte leise aber doch unüberhörbar in das Mikrofon. "Mmmhmm, hier Crowne", grummelte er, scheinbar gerade aus tiefstem Schlaf gerissen. Am anderen Ende meldete sich ein Mann, der sich als Oberinspektor Sanders vorstellte. "Was, Polizei", brummelte Crowne missmutig. Er blaffte dann noch, dass jeder behaupten könne, von der Polizei zu sein, vor allem mit einem Handy. So erhielt er die Festnetznummer von Sanders' Dienststelle. Aldous rief von sich aus die Auskunft an und ließ sich mit der Birminghamer Polizeibehörde verbinden. Dort fragte er nach Sanders. Dabei wurde ihm auch gesagt, dass der Oberinspektor gerade auswärts zu tun habe. Als er seinen Namen nannte wurde ihm aber gleich eine Verbindung zum Oberinspektor geschaltet.

Wieder mit Sanders verbunden erfuhr Aldous Crowne, was mit seinem Elternhaus passiert war. Er tat nun heftig erschrocken und entsprechend aufgescheucht. Er schwieg einige Sekunden lang. Dann sagte er:

"Wie, explodiert? - Ich wollte doch heute noch hin, weil meine Onkel ja von einem Typen in Robe und mit Perücke auf dem Kopf alles zugesprochen bekommen haben." Als er dann erfuhr, dass eben diese Onkel womöglich bei der Explosion und dem darauf folgendem Feuer umgekommen waren schwieg er wieder einige Sekunden. Dann sagte er: "Haben die doch Daddys Paranoiaschaltung gefunden. Der hat mir mal erzählt, dass er was im Haus eingebaut hat, um die Aufzeichnungen seiner ganz geheimen Erfindungen zu schützen oder restlos zu zerstören." Auf die natürlich darauf folgende Frage, wie genau diese Schaltung funktioniere erwiderte Aldous Crowne:

"Das hat er mir nicht gezeigt. Er hat mich nur gewarnt, nicht zu versuchen, die Alarmanlage gegen seinen Willen auszuschalten, wenn ich mal später nach Hause kam und bei meinen Eltern klingeln musste, damit die die Anlage für mich ausmachten. Wer immer das versucht, so mein verstorbener Vater, fährt mit lautem Knall zur Hölle. wundere mich aber nicht, dass er meinen Onkeln nichts davon gesagt hat."

"Konnte er den Prozess unterbrechen?" wurde Aldous gefragt. Aldous erwiderte, dass das wohl gegangen wäre, aber sein Vater auch mal gesagt habe, dass niemand ihn umbringen und dann ins Haus einzudringen versuchen sollte, sobald rum sei, dass er tot ist."

"Wann wollten Sie die Schlüssel übergeben?" wurde Aldous gefragt. Er nannte den unfreiwillig akzeptierten Termin. Dann wurde das Gespräch beendet. Crowne schaltete das Handy nun ganz aus. Dann dachte er, welch ein Schweineglück er gehabt hatte, noch früh genug nach Hause zurückgekehrt zu sein, um den Anruf entgegenzunehmen.

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"Er war tatsächlich zu Hause", grummelte Sanders, als er sein Mobiltelefon wieder in der Innentasche seines Anzuges versenkt hatte.

"Wir prüfen noch die Überwachungskameras an den Zuwegen zum Haus", bemerkte Kriminalassistent Leroy Taffy.

"Ja, machen Sie das, Leroy", grummelte Sanders. Dann sah er noch einmal auf die gerade erst vom Feuer befreiten, aber immer noch qualmenden Reste des Crowne-Anwesens und fragte sich, wie viel Angst ein Mensch vor anderen Menschen haben musste, der sein eigenes Haus zu einer Todesfalle machte.

Zehn Stunden später traf er den nun einzigen männlichen Hinterbliebenen von Alwin Crowne in seinem Büro. Aldous war mit seinem silbernen Yaguar vorgefahren. Bei Sanders war auch Oberinspektor Clarkson vom Morddezernat. Doch Aldous beantwortete alle ihm gestellten Fragen der beiden Polizeioffiziere so souverän, auch die, warum seine Onkel wohl gemeint haben könnten, bei Nacht in das Haus eindringen zu müssen, obwohl sie doch am nächsten Tag die Schlüssel in die Hand bekommen hätten, dort ein- und ausgehen zu können, wann immer sie wollten.

"Womöglich haben die gedacht, ich wolle ihnen zuvorkommen und wichtige Dinge oder Aufzeichnungen aus dem Haus entfernen, nach denen sie nicht vor den gerichtlichen Verwaltern hätten fragen dürfen. Ich hätte ja nur noch die eine Gelegenheit gehabt."

"Sie räumen also ein, dass Sie durchaus Interesse gehabt hätten, sich noch Gegenstände oder Aufzeichnungen aus Ihrem Elternhaus zu beschaffen, die nicht eindeutig Ihnen zustehen?" hakte Clarkson nach, dessen silbergrauer Haarkranz von einem jahrzehntelangem Leben kündete.

"Sicher hätte ich die Alarmanlage ausschalten können. Doch dann wäre keine vier Minuten Später entweder ein Trupp von der Sicherheitsfirma oder Sie von der Polizei vor ort erschienen und hätten mich völlig zurecht gefragt, was ich noch in dem Haus zu suchen hätte, wo es mir rechtskräftig aberkannt worden sei."

"Verstehe", grummelte Clarkson. "Aber Ihren Onkeln zu verraten, dass diese Paranoiaschaltung, wie Sie sie nannten, vorhanden war, hielten Sie auch nicht für notwendig, wie?"

"Achso, Sie unterstellen mir, meinen Onkeln eine Falle gestellt zu haben, Herr Oberinspektor. Gut, von Berufswegen müssen Sie das ja denken, wo sie gerade im Zusammenhang mit Erbstreitigkeiten und missgestimmten Verwandten immer wieder mit Mord und Totschlag zu tun haben", erwiderte Aldous sicht- und hörbar verdrossen. Dann schüttelte er den Kopf und sagte mit fester Stimme: "Ich habe nicht mehr daran gedacht, dass diese Schaltung wirklich existieren könnte. Mir kam sie nur wieder in Erinnerung, als Sie, Oberinspektor Sanders, eine Explosion und Feuer erwähnt haben. Hätte ich daran gedacht, dass die Schaltung bei unvorschriftsmäßiger Abschaltung der Alarmanlage in Kraft tritt hätte ich meine Onkel natürlich gewarnt. Allerdings bezweifel ich, dass sie mir auch nur ein Wort davon geglaubt hätten. Dann wären sie genau deshalb umgekommen, weil sie es darauf angelegt hätten, diese brandgefährliche Schaltung auszulösen."

"Ja, und wenn sie trotz ausgeschalteten Alarms das Vernichtungssystem aktiviert hätten?" wollte Sanders wissen. Aldous erwiderte:

"Wer die Anlage korrekt ausschaltet, also die einzig dafür zugeschnittene Fernbedienung oder Telefonverbindung benutzt, schaltet auch die Vernichtungsanlage aus. Sonst hätte mein Vater sich mit Mum und mir immer wieder nackig auf dieses Pulverfass gesetzt, wenn wir zu Hause waren."

"Kann ich bedauerlicherweise nicht bestreiten", knurrte Clarkson. "Aber wozu diese Höllenmaschinerie, wenn mögliche Diebe und Räuber Sie nur hätten überfallen müssen, um Ihren Vater zur Herausgabe der geheimen Unterlagen zu zwingen?"

"Dazu sollten Sie ein Medium fragen, das mit Verstorbenen sprechen kann", tat Aldous diese Frage als für ihn nicht beantwortbar ab. Die Polizisten nickten. Sie entließen ihn aus der Vernehmung.

"Sind alle Anrufe geprüft, die Crowne über sein Festnetz und sein Mobiltelefon geführt hat?" wollte Clarkson von seinem Kollegen wissen.

"Wo glaubenSie, dass wir hier leben, in einer Bananenrepublik mit einem Juntapräsidenten?" entrüstete sich Sanders. Dann seufzte er. "Wir haben leider noch nicht alle Unterschriften, und Staatsanwalt Gragston wird auf Grund dieses souveränen Auftritts keine Pferde scheu machen wollen, dass wir die eigenen Bürger überwachen könnten."

"Dabei meinte ich, dass wir nach dem elften September in dieser Hinsicht schneller auf Daten zugreifen dürften, grummelte Clarkson.

"Jetzt wirst du Paranoid, Leroy", grummelte Sanders.

"Mir will nicht in den Schädel, dass ein Toter seine eigenen Brüder und Neffen umgebracht haben soll. Irgendwas war da mit dem Haus, was nicht mehr aufgeschoben werden durfte, und dieser Aldous weiß das auch, was das war."

"Denkst du, mir gefällt das, dass ich einen Fall von besonders schwerer Brandstiftung in Tateinheit mit der Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion am Hals habe?" erzürnte sich Sanders. Sein Kollege nickte. Dann meinte dieser:

"Immerhin könnten wir Crowne beschatten lassen."

"Warten wir ab, mit wem Crowne in den letzten Tagen und Wochen telefoniert hat! Kriegen wir dabei heraus, dass er vielleicht für die Sprengfalle im Haus verantwortlich war, können wir ihn immer noch verhaften lassen."

"Der Bursche hat jetzt wieder alles Geld zur Verfügung, was Alwin Crowne hinterlassen hat", grummelte Sanders.

"Wir hätten ihn bitten sollen, bis zum Ende der Ermittlungen nicht die Stadt zu verlassen", meinte Clarkson mürrisch.

"Ohne wirklich haltbare Verdachtsmomente?" erwiderte Sanders. Dann sagte er: "Warten wir die Brandursachenermittlungsergebnisse ab! Stellt sich dabei heraus, dass jemand von außen diese Höllenmaschine ausgelöst hat, können wir Crowne immer noch festnehmen."

"Ja, am Ende hat er über sein Mobiltelefon ein Signal erhalten, dass jemand ins Haus eindrang und hat auch über dieses den Befehl an die Vernichtungsanlage gegeben", grummelte Clarkson. "Deshalb müssen wir ja alle Telefondaten der letzten Wochen kriegen."

"Klingt schon sehr abgehoben, Leroy. Aber beim heutigen Stand der Technik ist das leider nicht unmöglich. Warten wir die Telefondatenauswertung ab!" Leroy Clarkson nickte schwerfällig. Dann musste er grinsen.

"Bleibt unter uns, aber wenn Crowne wirklich irgendwas mit der Sache zu tun hat könnte er uns unabsichtlich drauf bringen. Ich war so frei, seine silberne Luxusflunder mit drei Wanzen bekleben zu lassen."

"Unortbar für keinen, der nicht den Frequenzwechsel mitbekommt?" wollte Sanders wissen.

"Ja, unortbar. Kriegen wir raus, dass er nichts mit dem Vorfall zu tun hat kann ich die Dinger aus sicherer Entfernung wieder deaktivieren. Aber Gragston darf davon nichts wissen", flüsterte er. Sanders nickte. Er hoffte, dass es dann möglich sein würde, die wahrhaftige Unschuld oder Schuld des angeblichen Sohnes von Alwin Crowne zu enthüllen.

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Aldous Crowne argwöhnte, dass die Oberinspektoren ihn noch lange nicht vom Haken lassen würden. Für die war es ja auch zu abgehoben, dass eine Selbstvernichtungsanlage das Haus in die Luft gesprengt hatte. Deshalb tippte er einen nur ihm bekannten Geheimcode in das Navigationsgerät seines Yaguars ein. Das hatte sein Vater ihm noch besorgt, als er sicherstellen wollte, dass seinem einzigen Sohn und eigentlich zum Erben auszurufenden Nachfolger nichts schlimmes zustoßen durfte. Ein Gespinnst von unter den Blechteilen und dem Unterboden versteckten Miniaturkameras konnte bis im Umkreis von einhundert Metern alles aufnehmen, was über, um dem Yaguar und unter seinem Boden vorging. Die Aufzeichnungen wurden auf einer stoß- und temperaturgeschützten, gegen jede Form elektromagnetischer Anmessung abgeschirmten Festplatte im Polster des Beifahrersitzes aufgezeichnet und konnten über die geheime Schaltung im eingebauten Navigationsgerät wieder ausgelesen werden. Die Kunststimme des Gerätes sagte dann: "Route wird berechnet! In zweihundert Metern bitte links abbiegen!"

Als Aldous diese geheime Bestätigung für seine Eingabe hörte fuhr er bis zur nächsten Querstraße und bog links ab. Für die Software im Navigationsgerät war dies die Bestätigung, die versteckte Festplatte abzurufen. Als Aldous nun auf der kleinen Anzeige sah, wie die im Takt von vier Sekunden abgespielten Kameraperspektiven mehrere Männer zeigten, die sich dem Wagen näherten und kleine Gegenstände hinter die Radkappen und unter dem Tank anbrachten grinste Aldous feist. Hatten die ihm doch glatt drei Peilsender oder Mikrofone untergejubelt. Dann dachte er daran, dass seine weiteren Aktionen durch die drei Wanzen gefährdet würden. denn er wollte unbedingt den Verantwortlichen für seine körperliche Existenz aufsuchen, um das letzte Geheimnis seines Lebens zu erforschen, notfalls mit Nachdruck. Wenn ihm die Polizei an den Hinterreifen klebte ging das nicht. Der erste Impuls, die Wanzen einfach abzuziehen und wem anderem unterzuschieben, wich einer bedrückenden Erkenntnis. Die Wanzen standen miteinander in Verbindung. Wurde an einer manipuliert, meldeten die beiden anderen das an ihre Zentrale weiter. Sein Vater hatte über einen mit ihm befreundeten Mitarbeiter des MI5 von dieser neuen Überwachungsmethode erfahren. Triangelwanzen wurden diese drei aufeinander abgestimmten und im Sekundentakt die Sendefrequenz wechselnden Peil- und Überwachungsgeräte genannt. Aldous fragte sich, warum sie nicht sein Handy überwachten, bis ihm klar wurde, dass sie wohl gerade dabei waren, dessen letzte Verbindungen zu prüfen. "Da müsst ihr aber früher aufstehen", dachte er nur für sich, weil er davon ausging, dass jedes Wort lauter als Flüsterton von einer der Wanzen aufgeschnappt werden mochte, trotz laufenden Motors und auf der Fahrbahn rauschenden Reifen. Dann grinste er überlegen. Zwar mochte er diesen Wagen und fuhr ihn gerne immer wieder aus. Aber es war und blieb nur ein Auto, und mit dem Geld seiner Mutter war locker an ein neues dranzukommen, wenn er erst einmal wusste, was er noch wissen wollte.

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Sie nannten sich Ronny Red und Berny Blue, weil sie bei ihrer Arbeit immer einheitlich rote oder blaue Sachen trugen, von Überwürfen bei ihrer halblegalen Arbeit in einer Autowerkstatt bei London, wie auch die roten oder blauen Kapuzenpullover, Masken und Handschuhe, wenn sie neue Ersatzteile für null Pfund einkauften oder fahrtüchtige Wagen für sehr gut bezahlende Kunden aus Afrika oder Asien beschafften.

Am Abend dieses Tages bekamen sie eine Kurznachricht von Joe Brown, der, wie der Name verriet, gerne in brauner Kleidung herumlief.

Sammler aus Minsk sucht für seine Wohnung eine silberne Katze. Oma Winsloe verkauft eine. Sie wohnt Gerberstraße 35. dreimal klingeln und sagen, dass ihr von eurem Onkel Joe kommt! Viel erfolg!

Wenige Minuten später waren die beiden mit ihrem hochgezüchteten Minicooper in der Nähe der Adresse. Da sahen sie ihn, einen frisch gewaschenen silbernen Yaguar F-Typ, direkt vor der Hausnummer 35. Jetzt galt es, innerhalb von drei Minuten mit dem Wagen abzuhauen. Red sagte zu Blue:

"Ich kann so'n Flitzer besser fahren als du. Dafür kannst du besser Alarmanlagen ausknipsen."

"Geht klar", grummelte Blue. Dann blickte er suchend umher. "Wer wohnt eigentlich in dem Haus?" fragte er.

"Ein paar Matratzenturnerinnen."

"Mist, dann gehört die Rennflunder da vielleicht einem Luden von denen?" zischte Red, der diese Beute da vorne nicht für so leicht halten mochte wie sie aussah.

"Noch zweieinhalb Minuten", erwiderte Blue darauf. Dann deutete er nach oben und wies auf mehrere Fenster, die mit schweren Vorhängen verhüllt waren. Die Sonne stand noch eine Handbreit über dem Horizont.

"Der alte Bentley da gehört Jerry, dem Rosenverkäufer. Der hat hier alle Mädels laufen. Da würde sich keiner trauen, das Revier zu beackern."

"Ja, aber wenn der Yaguar einem Kunden von einer seiner Schlampen gehört ...?" wollte Red wissen.

"Sicher nicht, weil Joes Informantin sonst garantiert nicht das "Verkaufsangebot" gemacht hätte. Vielleicht ist das ein Konkurrent vom Rosenverkäufer, und der soll lernen, dass er hier nicht hingehört."

"Ich will nicht in so'ne Bandensache reingezogen werden, Berny", stellte Ronny Red klar.

"Ja, aber wenn wir das Kätzchen nicht krallen könnte Joe finden, dass wir unzuverlässig geworden sind. Willst du sicher auch nicht wirklich", erwiderte Berny Blue. Sein Kumpan nickte verdrossen.

Wie zwei harmlose Passanten schlenderten die beiden Autoorganisatoren auf den silbernen Yaguar zu. Eine halbe Minute vor der angesetzten Frist ließ Red über eine Sonderfunktion seiner Digitaluhr Funksignale abstrahlen, die er und ein anderer Autobeschaffer heimlich von rechtmäßigen Besitzern abgefischt hatten. Da machte es auf einmal Quick-quick! Die Zentralverriegelung sprang leise klickend auf.

"Okay, wir können", grinste der Ganowe in rotem Jogginganzug und öffnete die Tür. Blue, der einen blauen Geschäftsleuteanzug mit gepunkteter Krawatte trug, tauchte von rechts auf und schwang sich hinter das Steuer. Er zog die Tür zu und hantierte mit fliegenden Fingern unterhalb des Zündschlosses, bis mit einem entschlossenen Rrrummm der 12-Zylinder-Motor zum Leben erwachte. Red machte die vereinbarte Geste, dass die Luft rein war und sah seinem Kumpanen zu, wie dieser mit dem erbeuteten Wagen losfuhr. Dann ging er ganz gemütlich zum Minicooper zurück. Sie würden sich erst in Edinburgh am Hafen wieder treffen, wo Gosbodin Kirow den Wagen entgegennehmen würde.

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Es war nicht das erste mal, dass er bei ihr war. Doch es war immer wieder eine totale Erfüllung, auch wenn nicht er, sondern sie ansagte, was gemacht wurde. Ein anderer Mann hätte bei der Vorstellung, mit einer zwei Köpfe größeren, bald hundert Kilo schwereren und zwanzig Jahre älteren Frau käufliche Liebe zu erleben sicher gehofft, schnellstmöglich aus dem Albtraum wieder aufzuwachen. Doch er genoss es, nicht nur weil sie in ihrem Fach eine unerreichte Meisterin aller Grade war, sondern weil er seit je her einen Hang zu größeren und üppigeren Frauen empfand, was sein Vater schon früh herausgefunden hatte und seine Mutter nie erfahren durfte. Vor allem, dass sie ihm mehr bot als nur käuflichen Sex.

Gerade lag er so, dass er sich nicht von ihr lösen konnte. "Nicht so starr daliegen, süßer", keuchte sie. "Sonst lege ich dich in eine Schublade und schicke meinen kleinen Elektrofreund mit deinem Auto nach Hause."

"O Mann, Vicky, du ersetzt mir eine Menge Stunden in der Muckibude", ächzte er und gab sich Mühe, seiner für eine halbe Nacht erworbenen Liebespartnerin wortwörtlich entgegenzukommen. Zwischendurch hörte er trotz der schallschluckenden Fenster das Aufbrummen eines ihm bekannten Motors. Doch sie hätte ihn auch dann nicht nachsehen gelassen, ob das sein Wagen war, wenn er nicht mit ihr ausgehandelt hatte, dass sie ihn lange genug beschäftigen musste, damit er nicht mehr mitbekam, ob und wer sich an seinem Auto vergriff. Er wusste nur, dass Vickys offizieller Chef Kontakte zu Auto- und Elektronikschiebern unterhielt und das auch nur, weil sie ihren offiziellen Boss, den Rosenverkäufer, genauso gut unter Kontrolle hielt wie ihren gerade unter wohliger Anstrengung keuchenden Besuch.

Vickys flammenrotes Haar flog nur so, als sie sich immer schneller bewegte. Ihre walnussfarbenen Augen hielten den Blick ihres Freiers fest wie aneinandergekettet.

Es vergingen mehrere Stunden, bis ihr junger Kunde so müde war, dass er nur noch einschlafen konnte. Als er wieder aufwachte und wegfahren wollte stellte er fest, dass sein Wagen weg war.

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"Ui, die Adresse ist heiß, sagen die Kollegen vom Yard. Da hat ein berüchtigter Zuhälter namens der Rosenverkäufer zwanzig seiner Dirnen einquartiert, darunter Vicky die Walküre, ein Vollweib in jeder Hinsicht", sagte Leroy Taffy zu seinem Vorgesetzten, Oberinspektor Clarkson.

"Soso, der sucht offenbar Abwechslung", grummelte Clarkson. Dann erfuhr er, dass das überwachte Objekt sich erst im gesitteten und dann immer schnellerem Tempo vom letzten Standort entfernte. "Ui, der war aber schnell fertig", feixte Taffy.

"Wo fährt er hin?" wollte Clarkson wissen.

"Norden, will auf die Autobahn nach Schottland", erwiderte Taffy nach einem Blick auf einen Laptopbildschirm.

"Da hat er keine Freunde und Verwandte wohnen. Abgesehen davon ... aber lassen wir das! Weiter nur beobachten. Wissen wir erst wo er anhält können wir immer noch überlegen, was wir machen."

"Nur dass Gragston nicht wissen darf, dass wir den Yaguar verwanzt haben", zischte Taffy mitverschwörerisch.

"Was meinen Sie, wie mich das ärgert, die Daten nicht bei Gragston auf den Tisch zu legen. Aber noch hat sich der Bursche nicht verdächtig benommen."

"Der Yaguar ist gleich auf der Autobahn. Wenn der in dem Tempo weiterheizt ist der in einer halben Stunde in Schottland."

"Wenn er keine Probleme mit den ganzen Radarfallen hat, Leroy", erwiderte Clarkson.

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"Ich komme schon seit zehn Jahren regelmäßig zu euch", sagte Aldous dem muskulösen Mann im hautengen rosenroten Samtanzug, der ihn gerade so abschätzig ansah. Vicky, nun züchtig in ein blaues Blumenkleid gehüllt, stand neben ihm und machte abbittende Gesten.

"Ich liefere heiße Stunden, keine Autoversicherungen, Mann", knurrte der Typ im rosenroten Anzug.

"Ja, aber Vicky erzählte mir, dass vor dem Haus hier nicht mal ein Silvershadow geklaut wird, wenn der mit offenen Türen und laufendem Motor herumsteht. Da konnte ich mich bisher drauf verlassen."

"Ich mich auch, und glauben Sie mir, Mister, dass ich das schnell rauskriege, wer Ihren Wagen gekrallt hat. Der kriegt dann sicher Ärger, welchen wollenSie garantiert nicht wissen, wenn Sie noch ein paar Gründonnerstage lang gut schlafen können wollen."

"Aber ich kann damit auch nicht zur Polizei, weil die sicher wissen wollen, was ich hier zu suchen hatte", knurrte Aldous Crowne.

"Nein, würde Ihre Krankenkasse sicher nicht so prickelnd finden", schnarrte der Muskelmann im engen Anzug. Aldous tat so, als habe er die Drohung nicht gehört und sagte nur:

"Muss ich mir was ausdenken, wo mir der Wagen geklaut wurde. Ja, am besten habe ich den bei den Musicaltheatern in einer Seitenstraße geparkt, die sind weit genug weg von hier. Außerdem werde ich das in einer stunde erst melden, wenn ich da aus der U-Bahn komme."

"Geht klar", sagte der Rosenverkäufer und nickte. Dann wünschte er dem bestohlenen Freier seiner gewichtigsten Bediensteten einen erfolgreichen Abend. Dieser grummelte noch, dass er den gehabt habe, bis ihm der Wagen geklaut worden sei. Vicky meinte dazu nur:

"Immerhin haben wir zwei richtig heftig viel Spaß gehabt."

Als Aldous mit verärgerter Miene aus dem heimlichen Bordell heraustrat meinte Vickys offizieller Boss: "Hoffentlich hast du's ihm noch mal so richtig besorgt. Nachdem, was der alles verloren hat könnte der sich glatt vor die nächste U-Bahn schmeißen."

"Wird er garantiert nicht machen, weil der dann auf alles verzichten müsste, was ich ihm bieten kann", schnurrte Vicky und nahm eine aufreizende Pose ein, während sie ganz tief einatmete. Der Rosenverkäufer musste sich arg anstrengen, nicht von dieser Darbietung runder Weiblichkeit aus der Fassung gebracht zu werden. So sagte er schnell:

"Carlos hat's jetzt auch erwischt. Wollte unbedingt in Sevilla neue Chicas einsacken. Wurde vor einem halben Tag im Guadalquivir in einem Eisblock eingefroren treibend gefunden."

"Wieder dieser schwarze Engel?" fragte Vicky.

"Immer noch. Der Typ wird mir echt langsam unheimlich, zumal der wohl alle Bullen der Stadt auf der Lohnliste hat", grummelte der Rosenverkäufer.

"Was machst du, wenn dieser schwarze Engel expandieren will?"

"Sage ich dir, wenn es so weit ist", schnaubte Vickys Boss. Als die mehr als zwei Meter große, füllige aber dennoch sehr bewegliche Dirne das Büro des Hausverwalters, wie sich der Rosenverkäufer nannte, verlassen hatte, griff dieser zum Telefon und rief bei Joe Brown an.

"Sage den zwei Burschen, dass sie nicht so heizen müssen. Der Typ wird garantiert nicht vor neun Uhr Morgens ausposaunen, dass ihm die Silberschüssel geklaut wurde. Meine rote Rassestute hat ihn voll im Griff."

"Geht klar", erwiderte Brown nur.

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Aldous Crowne mied die öffentlichen Verkehrsmittel, um nicht von Kameras beobachtet zu werden. Das war in London schwierig, erst recht nach dem elften September. So blieb ihm nur, zu Fuß zu einer kleinen Garage zu gehen, in der er einen Zweitwagen geparkt hatte, der auf dem Namen von William Bligh angemeldet war. Mit dem kleinen Ford fuhr er auf Schleichwegen wieder nach Birmingham zurück. Alle Glieder und Muskeln schmerzten. Doch er war glücklich, nicht nur deswegen, warum sie schmerzten, sondern auch, dass er jetzt die nötige Luft hatte, um nach seiner wahren Herkunft zu suchen. Dazu würde er das Motorrad benutzen, mit dem er sein Elternhaus aufgesucht hatte. Danach würde er in ein von ihm schon vor Jahren ausbaldowertes Versteck überwechseln um endlich die von seinem Vater geerbten Aufzeichnungen zu studieren.

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14. März

Aldous hatte sein Versteck gut gewählt. Hier, im alten Landhaus bei Birmingham, dass einem alten Studienfreund seines Vaters gehört hatte, bis dieser kinder- und Geschwisterlos starb, konnte er sich in Ruhe um die Lösung des Rätsels seiner Herkunft kümmern. In einem so genannten Priesterloch, in dem damals katholische Geistliche auf der Flucht vor anglikanischen Truppen versteckt hatten, hatte er sogar Strom, weil ein kleiner Generator eingebaut war, der fast geräuschlos und abgasarm arbeitete.

Aldous hatte erst die Mikrofilme betrachtet. Diese enthielten jedoch nur die Unterlagen über alle vorgeburtlichen Untersuchungen seiner Frau, sowie Ultraschallbilder von ihm, Aldous. Die Technik war in den Siebzigern noch nicht so verbreitet gewesen wie heute. Was daran Giftschrankwürdig war erschloss sich erst beim genaueren Durchlesen. Denn da stand was von einem Honorar von 50000 Pfund für die Sicherstellung, dass Muriel Crowne einen Sohn austragen und gebären sollte. So eine Garantie konnte aber kein seriöser Arzt geben, wenn er nicht den Embryo vor dem Einpflanzen in den Mutterleib untersuchen und nach X- und Y-Chromosomen suchen konnte. Dafür, dass es ja um einen leiblichen Sohn ging war das schon sehr brisant. Als er dann geboren war und keine körperlichen oder geistigen Mängel aufwies hatte Johnson über mehrere von Aldous' Vater gut dokumentierte Stationen noch einmal ein Honorar von zweihunderttausend Pfund erhalten. Um diese offiziell abschreiben zu können war der Betrag mit einer grundlegenden Renovierung des Hauses und dafür notwendiger Entnahme aus dem Firmenkapital ausgewiesen worden. Aldous dachte, dass er also einen Startwert von einer Viertelmillion Pfund besaß. Dann hatte sein Vater noch eingetragen, dass er einen Teil des Honorars zurückgefordert habe, weil eine nachträgliche Blutuntersuchung ein unerwünschtes Ergebnis erbracht habe. Doch Johnson habe nur geantwortet, dass die ganze Sache ja vor Gericht verhandelt werden könne, falls Alwin Crowne auf der Rückzahlung beharre. Natürlich konnte Alwin Crowne nicht vor Gericht gehen, weil dann ja alles herausgekommen wäre. So hatte er noch einmal eine Viertelmillion Pfund an das Institut weitergeleitet, um die Untersuchungsergebnisse verschwinden zu lassen und die Ergebnisse sogar dahingehend zu fälschen, dass Aldous eindeutig der leibliche Sohn von Alwin und Muriel Crowne war.

"Kommen wir noch auf eine Million, Daddy?" wisperte Aldous eine ironische Frage an die Adresse seines toten Ernährers und Wegbereiters. Tatsächlich hatte sein Vater in den kommenden Jahren Ärzten und Krankenhäusern großzügige Honorarzuschläge gezahlt, um Blutuntersuchungsergebnisse in seinem Sinne zu archivieren. Alles in allem waren dafür noch einmal anderthalb Millionen Pfund geflossen. Somit kam die gesamte Vertuschungsaktion mit allen Nebenstellen auf zwei Millionen britische Pfund Kosten. Die einzige, die sich nicht bestechen lassen wollte, war die Schulkrankenschwester von Eton, wo er drei Jahre zur Schule gegangen war, bis er in ein noch exklusiveres Internat in der Nähe von Sheffield umgesiedelt war, dem sein Vater noch eine Million als Einschulungsgratifikation zukommen ließ. Die Bedingungen dafür waren in einem dreißigseitigen Vertrag zwischen ihm und dem Direktor, Professor Horatio Kindle, festgehalten worden. Darin stand ausdrücklich, dass alle medizinischen Maßnahmen nur von einem Vertrauensarzt Alwin Crownes durchgeführt werden durften und die Schulkrankenschwester bei Unfällen oder schwereren Erkrankungen diesen Arzt hinzuzuziehen hatte.

Dann las er noch davon, dass Johnson versucht hatte, die Akten über Aldous in seinen Besitz zu bringen und nur damit zurückgewiesen werden konte, dass Alwin Crowne seinerseits Einzelheiten über den Frauenarzt und Geburtshelfer angelegt habe, die erst nach dem Tod des längstlebenden Familiennmitgliedes ans Licht zurückgeholt werden würden. Alles in allem erkannte Aldous, dass er das Endprodukt zweier als angesehene Mitglieder der Gesellschaft auftretender Krimineller war, die keine ethischen Grundsätze zu haben schienen. Aldous musste erkennen, dass sein Vater nicht nur kein Heiliger war, sondern sein Leben lang mit Erpressung und Betrug hantiert hatte. Aldous war entstanden, um eine Dynastie zu verlängern, die sonst vielleicht in mehrere Nebenlinien zerfallen wäre. Als er dann noch las, dass sein Vater nach der Geburt von Aldous erfahren hatte, dass er keine beweglichen Samenzellen ausbilden konnte und die trägen Zellen zudem ausschließlich X-Chromosomen trugen, also ausschließlich Töchter hätten erzeugen können, habe er überprüfen lassen, ob auch seine Brüder diese Einschränkung hatten. Tatsächlich konnte er über weitere dunkle Kanäle, die in den Mikrofilmaufzeichnungen lückenlos dokumentiert waren, ermitteln, dass Bryan und Collin über eine Direktinjektion von Samenzellen in fruchtbare Eizellen ihrer Ehefrauen Bradley und Cornelius hinbekommen hatten. Das war aber in den Jahren nach der erfolgreichen Geburt von Louise Brown passiert, wo das so genannte IVF-Verfahren schon häufig genug durchgeführt worden war. Alldous musste sich immer wieder fragen, wie es 1975 möglich war, dass er außerhalb von Muriel Crownes Mutterleib entstanden war. Sachen wie Leihmutterschaft und IVF waren ja erst in den Achtzigern so richtig möglich geworden. Am Ende hatte dieser Johnson noch mit Klonen herumexperimentiert. Am Ende gab es von ihm, Aldous noch ein paar tiefgefrorene Mehrlingsbrüder oder echt irgendwem anderem in die Bäuche gelegte Kinder, die irgendwo auf der Welt herumliefen und nicht wussten, dass sie noch identische Mehrlingsbrüder hatten. Der Gedanke daran gruselte Aldous und machte ihn gleichzeitig wütend. Seine Wut steigerte sich noch, als er im letzten Abschnitt dieser Chronik las, dass die meisten erworbenen Dokumente in verschlüsselter Form auf eine CD übertragen worden wären, die nur Aldous auswerten könne. Für jeden anderen sei sie unbrauchbar, ja würde sich nach dreimaliger Eingabe eines falschen Passwortes selbst zerstören, wie die Tonträger in der Agentenserie "Unöglicher Auftrag", nur ohne Vorwarnung und fünf Sekunden Vorlaufzeit.

"Ciconia ciconia", grummelte Aldous. Im frei zugänglichen Internetlexikon namens Wikipedia hatte er die Herkunft dieses Begriffes schnell ermittelt. Es war der zoologische Name für den Weißstorch. Auch in Großbritannien galt der Storch als Kinderbringer, zumindest für kleine Kinder, die wissen wollten, wo sie eigentlich herkamen. Deshalb legte Aldous die CD-ROM in seinen Laptop ein.

Passwort 1 von 5: Wie nannte nur deine Mutter dich?

Aldous überlegte nur eine Sekunde. Dann tippte er "Goldengelchen" in das Eingabefeld und bestätigte mit der Eingabetaste. Die Ansicht wechselte. Er wurde nun danach gefragt, was sein erstes Modellflugzeug war. Er gab den Begriff "B-29" ein. Das dritte Passwort war der Name, den er dem Flugzeug gegeben hatte. Er gab den Namen "Summender Käfer" ein, weil das Flugzeug wie ein Schwarm Maikäfer geklungen hatte. Auch dieses Passwort wurde akzeptiert. Das vierte Passwort war die in arabischer Springschrift geschriebene Adresse seines ein Jahr jüngeren Schulfreundes aus der zweiten Schule. Aldous musste kurz überlegen, ob damit die Schule in Sheffield oder Eton gemeint war. Doch in Eton hatte er keinen Schulfreund gehabt, der ein Jahr jünger als er gewesen war. Den hatte er erst in Sheffield gehabt. Mit Springschrift war die von seinem Vater und ihm benutzte Geheimschrift gemeint, bei der erst das erste Zeichen einer Zeile hingeschrieben wurde, dann das letzte, dann das zweite, dann das vorletzte und so weiter. Was sollte daran arabisch sein? Aldous musste doch eine halbe Minute überlegen, bis ihm das klar wurde. So tippte er behutsam und bedacht erst die letzte Ziffer der Hausnummer, dann den ersten Buchstaben des Straßennamens ein, dann die zweitletzte Ziffer, dann den zweiten Buchstaben des Straßennamens. Er erinnerte sich daran, dass Leerschritte in Passwörtern selten benutzt wurden und eher durch Unterstreichungsstriche ersetzt wurden. So gab er die Zeichenfolge entsprechend ein und hoffte, nicht gleich Feuer und Rauch aus seinem Rechner schlagen zu sehen. Doch das Passwort stimmte. So wurde er noch nach dem fünften Passwort gefragt, die Entkleinerung des Namens der Frau, die ihn zum Mann gemacht hatte, zuzüglich des Datums im islamischen Kalender, wann dies geschehen war. Aldous grummelte erst. Doch dann erinnerte er sich an diese so leidenschaftliche Nacht, als er genau zu seinem neunzehnten Geburtstag, dem 24. Juni 1994, zum ersten mal alleine im Strandhaus seines Vaters an der Costa del Sol gewesen war und dort von der rothaarigen Juanita besucht wurde. Das war die besondere Überraschung, die sein Vater nur für ihn und für sonst niemanden erwähnenswert beschafft hatte. Erst hatte er sich auf Grund der in ihn eingetrichterten Moralvorstellungen geziert. Doch dann hatte er die ihm servierte Gelegenheit genutzt. Sein Vater hatte ihm dann in einem reinen Männergespräch erzählt, dass er das deshalb getan hatte, um ihn nicht für das berühmte erste Mal hinter jeder Frau herjagen zu lassen, die es ihm anbot, nur um von ihm und seiner Familie zu profitieren. "Nur die Frau soll deine Kinder kriegen, deren Kinder du auch haben willst", hatte er gesagt. Allerdings hatte dieses Zusammensein bei Aldous bewirkt, dass er sich für die Befriedigung seines Geschlechtstriebes ausschließlich hochpreisige Prostituierte genommen hatte, denen er aber nicht auf die Nasen Band, wessen Sohn er war. Ansonsten sah er Frauen eher als Notwendigkeit zur Erbgutweitergabe oder gesellschaftlicher Konventionen, wenn wer es zu was gebracht hatte.

Als er den Namen "Juana", also die nicht verkleinerte Version und das in den islamischen Kalender umgerechnete Datum ohne Leerschritt eingegeben hatte erschien das Gesicht seines Vaters auf dem Bildschirm. Aus den winzigen Lautsprechern erklang seine Stimme:

"Hallo, mein Sohn. Die CD-ROM wurde erst für dich verfügbar, wenn der Rechner im Alarmsystem eine Woche lang keine Lebenszeichen-SMS von mir empfing. Will sagen, ich bin tot und hoffentlich nicht als alter Sack an einer Krankheit im Bett verreckt. Mir wäre es lieb, wenn ich bei einem Flugzeugstunt oder durch Herzschlag oder Gehirnschlag mitten im Liebesspiel abberufen würde. Gut, letzteres würde meiner Frau, deiner Mutter, nicht so behagen. Aber einfach so langsam zu verrecken liegt mir auch nichts dran.

Gut, wie auch immer ich den Abflug gemacht habe, Al, ich muss davon ausgehen, dass du von meinen werten Brüdern ausgebootet werden könntest. Der Grund dafür ist, dass ich damals nicht schnell genug einen Sohn haben konnte und meinen Brüdern zuvorkommen musste, die schon eine Klausel im Testament meines Großvaters Alan geltend machen wollten, dass der Erbe innerhalb von zehn Jahren einen männlichen Nachkommen hervorgebracht haben müsse, weil dessen Ehe oder dessen Führungsanspruch dann wertlos sei. Deshalb habe ich mich damals einem zweifelhaften Arzt anvertraut, von dem ich über zwanzig Ecken gehört habe, dass er mit Zeugung außerhalb vom Mutterleib herumlaboriert und dazu heimlich Eizellen von anderen Frauen benutzt. ..."

Aldous erfuhr nun von seinem Vater die ganze ruchbare Geschichte seiner Entstehung und wie viel Geld es seinem Ernährer wert gewesen war, dass er überhaupt entstand. Die Schlussbemerkung, dass Aldous sich nicht weiter um seine biologischen Eltern kümmern sollte, weil Johnson das noch nicht mal gegen ein fürstliches Honorar preisgeben wollte, fügte Alwin Crowne noch an: "Auch wenn Muriel und ich nicht deine leiblichen Eltern sind, so hat Muriel dich in sich getragen, unter Schmerzen geboren und von ihrer Milch trinken lassen. Und ich habe dir alle Wege geebnet, dass du eine umfangreiche Ausbildung bekommen kannst. Wir haben dich beide immer als unseren Sohn angesehen und geliebt. Falls deine Mum Muriel noch lebt erzähle ihr bitte nicht, dass du weißt, wie du auf den Weg zur Welt gelangt bist! Sie weiß es und würde sehr traurig sein, wenn du ihr sagst, dass du es auch weißt. Lebe dein Leben, so viel meine raffgierigen Brüder und deren beiden ebenfalls mit Hilfe der Reproduktionsmedizin gezeugten Söhne es dir gestatten! Dein dich liebender Vater, Aldous Crowne."

Auf der restlichen CD-ROM waren Unterlagen, die jede für sich diesen Dr. Johnson erpressbar machten. über jedem mit dem Namen seiner ersten Bettgenossin als Passwort gesicherten Datei stand der Vermerk, nur im Verteidigungsfall davon gebrauch zu machen. Die CD selbst war unkopierbar. Versuchte wer, ihren Inhalt zu überspielen oder einen Pit-genauen Klon von ihr zu erzeugen, würde sie sich vorwarnungslos selbstvernichten. Aldous erfuhr, wie hartnäckig Johnson versucht hatte, sein Leben zu überwachen, als wenn er seine Schöpfung immer weiter studieren müsse. Daher hatte Alwin Crowne alles über Johnson zusammengetragen, was er für Geld und Beziehungen bekommen konnte. In einem heimlich aufgenommenen Gespräch konnte Aldous auch Johnsons Stimme hören. "Ich habe die Unterlagen so deponiert, dass eine Woche nach meinem Tod oder nach einem nicht-natürlichen Tod einer meiner Angehörigen oder Freunde alles veröffentlicht wird, was Sie so angestellt haben, Doktor."

"Wir haben uns beide in der Hand", sagte Johnson. "Falls Sie mir ernsthaft gefährlich werden wird unser ganzer Handel in allen führenden Ärzte- und Wirtschaftszeitungen erörtert. Ich mag dann meine Aprobation und vielleicht auch eine gewisse Geldsumme verlieren. Aber Sie würden dann alles verlieren, Ihre Existenz, ihre Firma, womöglich auch ihre Freiheit, weil Sie einen schweren Betrug begangen haben, um an viel Geld zu gelangen. Drohen Sie mir also nicht und unterlassen Sie es auch, mir Handlanger zu schicken, die mir Schwierigkeiten bereiten sollen! Sie würden am Ende alles verlieren, von der Liebe ihres Sohnes ganz zu schweigen."

"Ja, er ist mein Sohn, nicht ihr Geschöpf. Auch wenn ich erst nach seiner Geburt erfahren habe, dass Sie ihn mit eines anderen Mannes Samen erzeugt haben - zumindest ist er nicht von Ihnen - ist und bleibt Aldous mein Sohn."

"Allein schon, dass Sie ihn Aldous genannt haben ist die pure Ironie, Mr. Crowne. Aber das Thema müssen wir ja nicht auch noch auswalzen. Was immer Ihr privater Geheimdienst auf welche dubiose Weise auch immer über mich herausgefunden hat, es ist für Sie völlig wertlos. Und sollten Ihre Brüder oder sonst wer nach Ihrem Tod zu mir kommen, um mich für die Erschaffung eines Menschenlebens zu belangen, werde ich alles bestreiten und im Gegenzug alles tun, um jeden Erpressungsansatz zu vereiteln. Verstehen sie? Alles!!"

"Fahren Sie zur Hölle", knurrte Alwin Crownes Stimme.

"Gute Idee, dort können wir dann die ganze Ewigkeit weiter über die Schwere Ihrer und meiner Untaten diskutieren. Oder denken Sie, Sie würden in den Himmel kommen, wo Sie sich gegen Gottes Vorrecht, Leben zu erschaffen, vergangen haben. Ich habe damit keine Probleme, wie Sie wissen. Aber Ihnen könnte Ihr Gewissen noch Schwierigkeiten bereiten."

"Wenn ich an den Christengott geglaubt hätte hätte ich ein Subjekt wie Sie niemals kontaktiert", schnaubte Alwin Crowne.

"Gut, da Sie in meinem Privathaus sind und mich gerade beleidigt haben ist es nur recht und billig, Ihnen zu sagen, dass Sie schnellstens mein Haus verlassen sollen. Raus mit Ihnen!" Aldous hörte ein metallisches Klicken und argwöhnte, dass der Arzt eine Schusswaffe entsichert haben mochte. Dann war da nur noch die Abfolge von schnellen Schritten zu hören, bis sein Vater weit genug von dem Haus entfernt war, um unbeobachtet das winzige Aufnahmegerät auszuschalten.

"Okay, Frankensteins Urenkel. Morgen weiß ich, aus wessen Keimzellen du mich zusammengebraut hast", schwor Aldous Crowne.

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15. März 2002

Abraham Johnson, trotz seiner nun 63 Jahre gut zu Fuß, wohlgenährt und mit vollfunktionsfähigen Augen und Ohren gesegnet, hatte sich an diesem Tag freigenommen. Vier Geburten, davon eine Zwillingsgeburt per Kaiserschnitt, hatten ihm doch mehr zugesetzt, als er sich selbst eingestehen wollte. Sein eigener Hausarzt hatte ihm schon vor Monaten geraten, das Angebot anzunehmen, in den vorzeitigen Ruhestand zu gehen, zumindest nicht mehr im St.-Grace-Krankenhaus zu praktizieren. Doch er lehnte das ab. Denn nur dort konnte er seine Forschungen vollenden, weil er nur dort entsprechendes Material bekam oder selbst herstellen konnte.

Mrs. Duffy, seine Haushälterin und Köchin hatte ihm gerade das Abendessen serviert. "Möchten Sie nicht doch ein paar Tage Frei nehmen, Elizabeth?" fragte Abraham Johnson, als er das bleiche, von Schweiß glitzernde Gesicht der seit zwanzig Jahren für ihn tätigen Frau sah und sich nur sehr schwer beherrschen konnte, zufrieden zu grinsen.

"Wenn ich dreißig jahre Jünger wäre und glücklich verheiratet würde ich meinen, ich sei schwanger, Doktor Johnson. Aber das kann es sicher nicht sein. Ich bin ja schon durch die Wechseljahre."

"Wenn Sie möchten kann ich Sie gerne morgen in der Klinik untersuchen", sagte der Hausherr scheinheilig lächelnd. "Es gab schon Fälle, wo bei älteren Frauen die Hormone noch einmal starken Schwankungen unterlagen. Aber Sie haben ja sicher einen Gynäkologen Ihres Vertrauens."

"Den werde ich aufsuchen, wenn das mit der morgentlichen Übelkeit nicht bald nachlässt, Doktor. Aber schwanger sein kann ich nicht, öhm, na ja, weil ..."

"Ihr Intimleben geht mich auch nichts an, solange Sie mich nicht als Arzt konsultieren möchten", erwiderte Johnson. "Aber wenn Sie sich nicht wohlfühlen gebe ich Ihnen sehr gerne frei. Ich weiß ja aus eigener Erfahrung, wie sehr eine Unpässlichkeit jemanden bedrücken kann."

"Dann nehme ich das Angebot an, sobald Sie gegessen haben, Doktor Johnson." Der Arzt nickte.

Während des Abendessens unterhielten sie sich über die Weltlage. Die NATO-Truppen gewannen zwar Gelände in Afghanistan. Doch die Drahtzieher vom elften September hatten sie noch nicht fassen können. Elizabeth Duffy bezweifelte auch, dass Bush daran gelegen war, bin Laden oder einen anderen Terroristen lebend zu ergreifen oder gar zu töten, um ihn nicht zum Märtyrer zu machen. "Bush hat ein neues Feindbild. Darauf haben die US-Präsidenten seit Ende des kalten Krieges doch gehofft, endlich wieder gegen irgendwen reden oder Kriegführen zu können", äußerte Elizabeth Duffy eine These, die ihr Hausherr durchaus nachvollziehen konnte.

Nach dem Abendessen verließ die Haushälterin den von einem fünf Meter hohen Metallzaun umfriedeten Bungalow des Arztes. Dieser schaltete alle sicherheitssysteme auf Vollbetrieb. Er überprüfte auch noch einmal seinen geheimen Keller, vor allem den kleinen, hochmodern ausgestatteten Operationsraum und die kleine, fensterlose Wohnung mit Bett, Nasszelle mit eigenem Wassertank und eigener Stromversorgung. "Spätestens in einer Woche muss ich dich wohl hier unterbringen, Lissy", wisperte er verschmitzt grinsend. Dann ging er in einen Nebenraum, von dem aus er die Geheimräume überwachen und diverse Sachen darin fernsteuern konnte und öffnete eine passwortverschlüsselte Datei auf dem nicht ans Internet angeschlossenen PC. Er trug was in eine Datei ein, die mit "Stummer Zacharias" betitelt war. Es waren Beobachtungen, die er an seiner Haushaltshilfe gemacht hatte. Dann schloss er die Datei wieder.

Er prüfte seinen privaten Telefonanschluss. Es waren scheinbare Verkaufsangebote von Autohändlern und einem, der ihm einen Bausparvertrag anbieten wollte. Das alles waren Geheimcodes. Der mit dem Bausparvertrag war in Wirklichkeit ein Liverpoolianischer Zuhälter, der mal wieder eine unachtsame Dirne hatte, die sich hatte schwängern lassen. Die anderen boten Ei- und Samenzellen an, je nachdem, ob von Einbauküchen oder spritzigen Sportwagen die Rede war.

"Soll ich Big Hank verraten, dass sein letzter Bausparvertrag gerade in meiner Haushaltshilfe heranwächst?" dachte Johnson. Da hörte er die melodische Türglocke "Ihr geht niemals allein" spielen. Er ging sofort an die Sprechanlage und fragte an, wer da sei. Gleichzeitig sah er auf dem hochauflösenden LCD-Bildschirm, wer vor der Tür stand und erstarrte einen Moment. Erst hatte er gedacht, in das Jahr 1975 zurückversetzt worden zu sein. Doch dann wurde ihm klar, wer da vor der Tür stand.

"Guten Abend, Doktor Johnson. Ich gehe davon aus, dass Sie mich erkannt haben. Aber trotzdem. Ich bin Aldous Crowne. Offiziell haben Sie mich das letzte mal als eine Woche alten Neugeborenen zu sehen bekommen, bevor meine Eltern befanden, schnellst möglich von Ihrer Spitzenklinik wegzukommen."

"Wer bitte?" fragte Abraham Johnson unschuldsvoll tuend.

"Tun Sie jetzt ja nicht so, als würden Sie nicht wissen, wer ich bin, wo sie fast mein bisheriges Leben lang versucht haben, alles über mich in die Finger zu kriegen. Sie haben garantiert eine private Akte über mich angelegt. Aber Sie dürfen auch gerne die Polizei rufen, die vermissen mich sicher auch schon sehr dringend. Nur dann könnte es Ihnen passieren, dass wir uns eine Gefängniszelle teilen dürfen."

"Was wollen Sie von mir?" fragte der Arzt.

"Zwei Namen, den von der Eispenderin und den vom Samenspender, die ohne es zu wissen meine Eltern geworden sind."

"Ich denke, die verfahrene Geschichte möchte ich mir doch besser von Ihnen direkt anhören", sagte Johnson und ließ das Tor auffahren. Der junge Mann war zu Fuß hergekommen. Hatte der nicht einen Yaguar?

Scheinheilig begrüßte der arzt den späten Besucher in der kleinen Empfangshalle des flachen Wohnhauses. Eigentlich hätten mehrere Kameras den Besucher beim Ankommen aufzeichnen müssen. Doch Johnson hatte die Geräte kurzerhand ausgeschaltet. Das wusste der junge Mann nicht. Denn dann wäre ihm klar geworden, dass Johnson keine Aufnahmen von ihm vor seinem Haus haben wollte. Immer noch ahnungslos tuend führte der Arzt den Besucher in seinen Salon, der vor Sauberkeit strahlte und mit Schaukästen vollgestellt war, in dem große Steine und Bergkristalle ausgestellt waren. Er bat den Besucher höflich aber bestimmt, sich an den für sieben Personen geeigneten Tisch zu setzen. Dieser zückte unvermittelt eine geladene Beretta mit Schalldämpfer aus einer weiten Tasche seines Übermantels.

"So, klartext, Doc, ich weiß von einer Reihe von Aufzeichnungen meines Vaters, dass er mich vor siebenundzwanzig Jahren bei Ihnen in Auftrag gegeben hat. Kommen Sie nicht erst auf die Idee, Ihre Hände anderswo hinzustecken als auf die Tischplatte! Meine Waffe ist geladen und entsichert und ich kann damit umgehen."

"Das dies als Überfall gilt wissen Sie?" fragte der Arzt scheinbar unbeeindruckt von der vorgehaltenen Waffe.

"Ja, und ich will auch was von Ihnen, was sehr wertvoll ist, den Namen der zwei Menschen, denen Sie die Keimzellen genommen haben, um mich im Reagenzglas zu erzeugen, drei Jahre vor Louise Brown, Gratulation! Aber wir zwei wissen, dass das nicht so ganz legal abgelaufen sein kann, weil ich nämlich sonst das erste Retortenbaby der Welt gewesen wäre. Mein Vater wollte einen Sohn von sich selbst haben, weil ein altbackener Patriarch ihm das in seinem Testament aufgeladen hat. Meine Mutter konnte keine fruchtbaren Eizellen ausbilden. Ich würde also verstehen, dass meine biologische Mutter eine andere ist als Muriel Crowne, meine Gebärerin. Und dass Sie Mr. Alwin Crowne zwei Monate später vorgehalten haben, er habe eh nur noch Mädchen zeugen können, wenn es überhaupt gelungen wäre, eine seiner Spermatozoiden in eine Eizelle hineinzubekommen weiß ich auch. Aber aus wessen Ei und Samen bin ich. Ich hoffe mal nicht, dass ich die Brut von einem Luden und seiner Lieblingshure bin."

"Nun erst mal ganz ruhig und die Waffe runter. Sie würden sonst noch was tun, was Sie ..." Tschiumm! Aldous hatte ansatzlos eine Kugel dicht am künstlich schwarz gefärbten Haarkranz des Arztes vorbeigeschossen. Das Projektil schlug krachend über einer Vitrine mit Vulkansteinen ein.

"So schnell kann ich Sie stummschalten, Doktor Frankenstein. Also wessen Kind bin ich wirklich."

"Was hätten Sie davon, wenn ich es Ihnen sage?" fragte der Arzt. "Wollen Sie nachträgliche Alimente einfordern oder was?"

"Es geht mir nur darum, zu wissen, wer sie waren oder sind. Finden Sie das nicht unangenehm, wenn sie eines Tages aufwachen und zu hören kriegen, dass Ihr ganzes bisheriges Leben ein einziger Schwindel war?"

"War es das?" fragte der Arzt. Zur Antwort stanzte eine zweite Kugel ein Loch in die Edelholztäfelung auf der Anderen Seite von Johnsons Kopf.

"Sie sehen, ich kann zielen. Sicher, ich kann jetzt losziehen und das Material, was mein Erwerber und Daddy über Sie gesammelt hat ins Internet laden. Aber das brächte mir wohl nichts ein. Ihnen die Option zu lassen, von dem, dessen Leben Sie erschaffen haben ausgeknipst zu werden erscheint mir besser geeignet."

"Soso, der Verbrecher erschafft sich seinen eigenen Henker. Sie halten Sich für eine Art Golem oder was?"

"Humunculus ist wohl die treffende Bezeichnung. Aber ich will nicht zu lange mit Ihnen quatschen. Rücken Sie raus, von wem ich biologisch abstamme, dann dürfen Sie noch ein paar Frauen schwängern oder entschwängern. Ich verschwinde dann eh aus Ihrem Leben."

"Also gut", knurrte der Arzt. "Sie haben ja eh nichts mehr davon. Ihre Eltern sind beide tot bei einem Autounfall gestorben. Ihre leibliche Mutter war damals im zweiten Monat mit Ihnen schwanger. Ich habe den Embryo, also Sie, aus dem Uterus herausgeholt und ihn der Frau implantiert, die Sie als Mutter kennengelernt haben. Das war ein großer Glücksfall für mich, für Mr. Crowne und dessen Frau. Aber weil es nicht den damaligen Statuten der Klinik entsprach und ich nur wenige Minuten Zeit hatte, Sie am Leben zu erhalten und eine geeignete Surrogatmutter zu finden wegen der Blutgruppen und so, habe ich den Eingriff vorgenommen. Ja, und weil ich dafür fürstlich bezahlt wurde, das auch. Geld ist nun mal der wichtigste Rohstoff der Welt."

"Für Sie auch? Ich dachte immer, dieser Glaube sei nur bei Unternehmern und ihren Kindern präsent", ätzte Aldous Crowne. Dann sagte er: "Und das mit dem Samariter, der ein ungeborenes Kind davor rettet, im Bauch seiner toten Mutter abzusterben und es statt dessen zu einem Silberlöffelchen macht, glaube ich Ihnen keine Sekunde lang. Ich verlange, dass Sie mir die Namen der beiden Keimzellenspender verraten, oder Sie dürfen dieses Geheimnis mit ins Grab nehmen. Außer einigen Zuhältern und ihren Rassestuten wird Sie sicher niemand vermissen."

"Damit müssen Sie dann leben, nicht zu wissen, wer Ihre leiblichen Erzeuger sind und ein Mörder zu sein."

Aldous hätte fast erwidert, dass er in gewisser Weise schon ein Mörder geworden war. Doch er antwortete: "Jedenfalls haben Sie dann auch nichts mehr vom Geld meines Ernährers, genau wie ich. Also, wollen Sie leben oder sterben?"

"Haben Sie schon mal getötet. Ja, haben Sie schon einmal zugesehen, wie jemand starb?" versuchte es der nicht so ehrenwerte Arzt. Doch Aldous lachte darüber:

"Getötet: zweihundert Fliegen, gefühlte zweitausend Mücken und fünfzig Stadttauben. Denen habe ich allen beim sterben zugesehen. Parasiten auszuknipsen habe ich also keine Probleme."

"Sie, der durch mich überhaupt leben durfte, und das noch nicht mal schlecht, nennen mich, der Ihnen das ermöglicht hat, einen Parasiten?!" entrüstete sich Johnson jetzt doch. Alldous, der das Gesicht seines Gegenübers genau beobachtete, entging jedoch nicht das angedeutete Lächeln. Dieser Typ schien sich immer noch als Herr der Lage zu fühlen. Der junge Mann ohne klare Abkunft dachte an die Warnung seines Vaters, sich nicht mit Johnson anzulegen, um mehr zu erfahren, als dieser von sich aus verraten würde. Doch jetzt hatte er die Linie überschritten. Ein Zurück gab es nun nicht mehr.

"Gut, ich verstehe, dass die guten Manieren, die in diesen teuren Eliteschulen in Sie eingeflößt wurden, durch alle Ereignisse der letzten Wochen verschüttet worden sind. Da mir noch was an meinem Leben liegt zeige ich Ihnen die geheimen Unterlagen über den Unfall Ihrer Eltern. Ich muss dazu nur mein Geheimarchiv entriegeln. Das liegt gleich in einem verborgenen Raum neben dem Salon." Er machte Anstalten, aufzustehen. Doch Aldous schüttelte ganz energisch den Kopf und krümmte ein wenig den Finger um den Abzug seiner Waffe.

"Sie können Froh sein, dass ich nicht aufstehen muss. Ich wollte Ihnen nur zeigen, wo der geheime Zugang liegt. Der liegt schräg rechts hinter mir. Zu öffnen ist er durch einen nur mit meiner Stimme erteilten Sprachbefehl."

"Hoh, was hochmodernes. Dann öffnen Sie bitte die Tür und gehen voran in Ihr Geheimarchiv!" schnarrte Aldous. Doch in ihm stieg unvermittelt eine dumpfe Vorahnung auf, dass der Arzt ihn hereinlegen wollte. Er war entschlossen, dem Doktor noch eine Kugel zu verpassen, bevor dessen Trick voll griff. Da rief der Arzt auch schon mit fester Stimme:

Achtung, Schlüsselmeister!" Ein kurzes elektronisches Klingelzeichen erscholl. "Hannibal ante portas!" rief Johnson den Code. Aldous erkannte diesen Ausruf. Er war von römischen Wachsoldaten weitergegeben worden, als Hannibals Heer vor den Toren Roms ... Rums! Unvermittelt kippte der Stuhl, auf dem Aldous gesessen hatte nach hinten weg, warf ihn ab und genau auf eine nach unten schwingende Rampe, auf der ein Stück des hier verlegten Teppichs aufgeklebt war. Die Rampe wurde immer steiler, bis sie senkrecht nach unten wies. Aldous rutschte einen Meter, dann fiel er frei in die Tiefe. Er ließ seine Waffe los und versuchte, sich irgendwo festzukrallen. Doch er stürzte in ein dunkles Loch hinein, dessen Rand zu weit für seine Hände entfernt war. Er konnte gerade noch einen Aufschrei unterdrücken.

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Oberinspektor Dom Heatherley las die Mitteilung noch einmal. Dann rief er bei den Kollegen in Birmingham an.

"Hier Heatherley, Autodiebstahlsabteilung von Scotland Yard. Ich möchte Ihnen nur mitteilen, dass einer unserer V-Leute in der Gerberstraße hier bei uns in London den Diebstahl eines silbernen Yaguars gemeldet hat. Die Überprüfung des Kennzeichens ergab, dass das Fahrzeug auf Mr. Aldous Adam Crowne registriert ist. Dann erfuhr ich auch, dass Sie bereits wegen eines bei Ihnen in Birmingham stattgefundenen Falls mit ihm zu tun haben." Er lauschte, was sein Gesprächspartner Henry Sanders dazu sagte. Dann sagte Heatherley: "Wenn genau vor fragwürdigen Häusern Autos abhanden kommen zeigen die Halter dies erst an, wenn sie sicher sind, dass sie mit der Adresse nicht in Verbindung gebracht werden können, also brav von zu Hause aus. Haben wir alles schon erlebt. Soll ich Sie dann informieren, wenn wir von Mr. Crowne eine Anzeige vorliegen haben?"

"Umgehend", erwiderte Sanders sichtlich erregt. "Bin gespannt, wo der angeblich gewesen ist, als der Wagen gestohlen wurde."

"Alles klar. Wenn wir das wissen teile ich Ihnen das mit", versprach Heatherley. Dann verabschiedete er sich von Sanders in Birmingham.

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Er fiel und fiel. Wie tief ging es hinunter? Dann knallte er auf etwas nachgiebiges. Über sich hörte er ein Geräusch, als würde eine große Tür zuschlagen und für eine Zehntelsekunde ein leises Rasseln, als würden mehrere Schlösser gleichzeitig verriegelt. Dann hörte er ein Brummen und Schaben über sich. Er versuchte aufzuspringen. Doch der Boden schluckte einen Großteil seiner Kraft. Es war, als läge er auf einem großen, luftigen Sandhaufen. Sehen konnte er hier im Moment nichts. Dann, so nach einer halben Minute, erstarb auch das Brummen und Schaben über ihm. Jetzt umgab ihn auch noch totale Stille.

"Heh, du Arschloch! Was soll der Scheiß!" rief Aldous und erschrak. Seine Stimme hallte nicht nur nicht von den Wänden wider, sondern wurde regelrecht verschluckt. Er konnte absolut nicht hören, wie groß der ihn umgebende Raum war. Er versuchte noch einmal, sich aufzusetzen. Ja, wenn er nicht zu schnell machte ging es. Doch das, worauf er gelandet war gab immer noch nach. Ohne den nötigen Widerstand konnte er sich nicht beherrscht hinstellen. Dennoch versuchte er es und schaffte es, auf der unter ihm schwankenden und wegsackenden Masse zum stehen zu kommen. Er rief noch mal. Wieder war ihm, als gebe es um ihn keine festen Wände, ja als würde etwas den Schall aufsaugen. Dann wusste er, wo er gelandet war, in einem schalltoten Raum. Alle Oberflächen bestanden aus Material, dass den Schall restlos auslöschen konnte. Dann noch die totale Dunkelheit. Johnson hatte ihn von allen wichtigen Sinneseindrücken isoliert. Das Brummen eben war wohl ein unter die vertückte Falle geschobenes Deckenelement, dass den Raum komplett schalltot machte.

"Du Sohn einer dreckigen Hure! Ich mach dich fertig!" brüllte Aldous Crowne. Doch genausogut hätte er in ein dickes Federkissen rufen können. Er taumelte, weil er auf der nachgiebigen Unterlage keinen rechten Halt fand. Doch er wollte es wissen, wie groß der Raum war, in dem er versenkt worden war. Er tastete sich vor, bis er gegen eine ebenso nachgiebige, mit einem gummiartigen Stoff überzogene Wand stieß. Der Boden war nicht mit einem Gummiüberzug bedeckt, fühlte sich an wie glatter Zellstoff. Weil er im Vierfüßlerstand schneller zurecht kam und sowieso nicht an die Decke springen konnte krabbelte er wie ein Baby über den Boden herum. Überall das selbe nachgiebige Zeug unter ihm. Dann etwas hartes, metallisches. Er wollte es gerade greifen, da surrte es ganz leise, wie eine in der Ferne vorbeisummende Stubenfliege, und im nächsten Moment wurde der Harte Gegenstand nach oben weggerissen. Fast hätte Aldous ihn an den Kopf bekommen. Dann war das Etwas auch schon verschwunden. Auch fühlte er einen starken zug an seinem Hosengürtel, genauer an der Edelstahlschnalle. Es war ihm, als wolle jemand ihn am Gürtel nach vorne und nach oben zugleich zerren. Doch sein Gewicht war zu groß, um ihn vom Boden zu lösen. Da wusste er, was passierte. Der verdammte Embryonenlottospieler hatte einen Elektromagneten eingeschaltet, um die Beretta, die Aldous' beim Sturz aus der Hand gerutscht war, aus seiner Reichweite zu kriegen.

"Wohl wwahr, was Clarke schreibt! Ausreichend fortgeschrittene Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden", erklang unvermittelt Johnsons Stimme wie aus dem Nichts direkt in Aldous' Ohren.

"Drecksack!" brüllte Aldous. Dann überlegte er, woher die Stimme kommen mochte. Irgendwo musste es einen Lautsprecher geben. Dann gab es in dem schalltoten Raum sicher auch Mikrofone, vielleicht sogar Infrarotkameras.

"Danke, gleichfalls", kam die Antwort wie aus dem Nichts. Er konnte nicht orten, woher genau.

"Was soll der Mist? Wollen Sie mich hier jetzt verhungern lassen?"

"Ich habe Zeit. Ich kann und werde einfach abwarten, bis die sensorische Deprivation, der ich Sie unterziehe, Ihren Verstand endgültig verwirrt oder Sie bereit sind, alles zu tun, um wieder ans Licht und in eine hörbare Umgebung zurückzukehren."

"Sensorische ... was?" fragte Aldous, der den Fachbegriff nicht kannte.

"Sensorische Deprivation, der totale Ausschluss aller Sinneswahrnehmungen. Wurde und wird gerne von hemmungslos arbeitenden Geheimdiensten als Folter und Geistbrechungsmethode verwendet, findet aber in letzter Zeit auch regen Anklang bei Leuten, die die Empfindungen des Geborenwerdens immer wider nacherleben möchten, indem sie in einem entsprechenden Behälter mit Sauerstoff gesättigter Flüssigkeit schwimmen und etliche Zeit darin aushalten, bis sie ans Licht und die Luft zurückkehren. Der Tank erschien mir jedoch zu teuer."

"Hurenbock", war Aldous' Reaktion darauf. "Wenn du glaubst, du kriegst mich in dieser Dunkelkammer klein irrst du dich."

"Eine Frage der Zeit. Ich brauche nur meine Richtschallkommunikation auszuschalten. Dann kann nicht mal ich Sie rufen und schreien hören. Sie werden mit sich und Ihren aufkommenden Ängsten und Sinnestäuschungen alleine sein. Denn irgendwann wird Ihr Gehirn Sinneseindrücke simulieren, um sich gegen die Totalabschottung zu wehren. Das wird immer schlimmer werden, bis Sie zu einem seelischen Wrack werden, dass nur noch sabbern und quängeln kann wie ein wenige Monate alter Säugling. Ja, womöglich flüchtet ihr Verstand dann sogar in die Vorstellung, noch im warmen Mutterschoß zu ruhen und verdrängt alle bisherigen Erlebnisse. Apropos Säugling und Mutterschoß: Wenn Sie urinieren oder defäkieren müssen können Sie das beruhigt auf den Boden tun. Die Unterlage ist nichts anderes als eine Riesenwindel, allerdings für ein Baby von mehr als dreißig Metern Körpergröße. Jedenfalls enthält die Unterlage genug Absorbtionsvermögen, um Ihre Ausscheidungen aufzunehmen und durch chemophysikalische Geruchstilger jeden unangenehmen Geruch zu unterbinden. Die Sinnesabschirmung soll ja schließlich vollständig sein."

"Ich kann aber immer noch herumkriechen und gegen die Wände dreschen. So ganz abgeschottet hast du mich also nicht."

"Es reicht aus, junger Mann. Wie Sie erkundet haben ist der Raum gerade mal fünf Meter im Durchmesser. Irgendwann wird er ihnen immer enger und enger vorkommen, wie für einen Fötus kurz vor der Geburt. Dann wird es egal sein, ob der Raum Sie wie ein Tank umschließt oder so groß wie eine Halle ist."

"Was wollen sie, dass ich rede, oder das ich sterbe?"

"Das werde ich Ihnen nicht verraten, solange Sie meinen, noch Herr ihres Willens zu sein. Ich habe Zeit. Sie können mir nicht mehr gefährlich werden. Der letzte Gast in diesem Geheimraum war ein brutaler Zuhälter, das ist zwei Jahre her. Er wollte mich mit bloßen Händen erwürgen, weil ich mehr Geld von ihm haben wollte. Tja, der hat am Ende in Fötushaltung am Boden gelegen und nur noch gewimmert, wusste nicht mehr, wer und was er war. Da habe ich ihn verschwinden lassen. Wie lange er ausgehalten hat verrate ich Ihnen nicht, weil es auch egal ist. Vielleicht brechen Sie ja seinen Rekord, vielleicht muss ich sie schon früher euthanisieren. Jedenfalls werde ich den Fehler, den ich mit Ihrer Ausreifung und Geburt begangen habe korrigieren, so oder so."

"In einer Woche stehen deine ganzen Untaten im Internet öffentlich zur Verfügung. Wenn ich bis dahin durchhalte wirst du dir selbst wünschen, nie geboren worden zu sein, du Sohn einer Straßennutte!"

"Wissen Sie, wo Sie meine Abkunft auf eine nicht namentlich bekannte Prostituierte zurückzuführen wagen, ich kann Kraftausdrücke ertragen, ohne mich von ihnen beleidigt zu fühlen. Ich überlasse Sie jetzt Ihnen und ihrer instabilen Psyche. Wie erwähnt können Sie, wenn Sie Ihre Ausscheidungen bedenkenlos auf dem Boden absetzen. Falls Sie finden, Ihre Hose einnässen und einkoten zu müssen, um mir eins auszuwischen bleiben Sie eben bis zu Ihrem seelischen Totalzusammenbruch in ihren eigenen Ausscheidungen liegen. Das liegt bei Ihnen. Bis dann."

"Ich komme hier wieder raus, und dann reiße ich dir alles ab, was dir wichtig ist, du Schweinehund!" rief Aldous. Es hätte in einer gewöhnlichen Umgebung wie lautes Gebrüll geklungen. Aber nicht in diesem schalltoten Raum. Dass Johnson ihn überhaupt verstanden hatte mochte an winzigen aber leistungsstarken Richtmikrofonen liegen, die in den Schallschluckwänden verborgen waren. Und in der Decke steckte sicher die Infrarotkamera, mit der er ihn beobachten konnte. Er rief noch mal. Doch er bekam keine Antwort. Da fiel ihm ein, dass das auch Teil der Folter war, dass er nicht wusste, wann Johnson ihm zuhörte und wann nicht. Denn solange Aldous sicher war, dass ihm wer zuhörte war er nicht ganz allein. Doch wenn ihn niemand hörte war er allein. Das war ein ganz gemeiner Trick.

"Ich muss mich irgendwie beschäftigen, an was denken, was mich ruhig und stabil hält", dachte Aldous Crowne. Doch die ihn vollständig umschließende Dunkelheit und Stille drückten bereits immer stärker auf seinen Verstand, wie eine sich ganz langsam um ein rohes Ei schließende Faust. Er erkannte mit Wut, dass der Quacksalber, Engelmacher und Kinderhändler recht hatte. Irgendwann würde er unter dieser Abschottung zusammenbrechen, vor allem wo er nicht wusste, wie viel Zeit ... Er grinste. Er hatte doch noch seine Digitaluhr am Arm. Die hatte eine beleuchtbare Anzeige. So ganz ohne Licht war er also nicht. Die Leuchtanzeige blieb zwar nur für wenige Sekunden an, würde aber reichen, um seine Umgebung wahrzunehmen. Er richtete die Uhr auf eine der unhörbaren Wände aus und drückte den Knopf für die Leuchtanzeige. Diese ging an. Doch in ihrem Licht sah er nichts außer sich selbst. Boden, Wände und Decke waren vollkommen schwarz. Er kam sich vor wie in einem grenzenlosen Nichts. Wenn die weiche Unterlage nicht gewesen wäre hätte er sicher schon längst die Orientierung verloren. Deshalb schworen andere wohl auf die Tanks mit Flüssigkeiten, weil die dann auch noch die Empfindung von obenund unten ausschalteten. .

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Johnson grinste verächtlich, als er sah, wie sein Gefangener die Armbanduhr als improvisierte Taschenlampe einsetzte. Er gab einige Tastaturbefehle in den Steuerungsrechner für die Deprivationszelle ein und drückte auf Ausführung.

Er sah, wie sich Aldous unvermittelt die Ohren zuhhielt und auf den Boden fiel. Dann las er, dass die von den hochempfindlichen Richtmikros aufgefangenen Schallschwingungen des Uhrenquarzes ins Stocken gerieten und dann mit für Menschenohren unhörbarem Knacken erstarben. Der Arzt schaltete die gerichtete Resonanzbeschallung wieder aus. Er verwarf die Absicht, dem Gefangenen zu sagen, was seine Kopfschmerzen sollten. Das bekam der mit seiner Intelligenz auch so heraus.

Tatsächlich konnte Johnson beobachten, wie der Gefangene immer wütender wurde, weil seine Uhr nicht mehr leuchtete und ihm auch nicht mehr die Zeit anzeigte. Der totale Ausschluss aus dem natürlichen Zeitempfinden war nun vollendet. Ab jetzt würde er nicht mehr wissen, ob Minuten, Stunden oder Tage vergingen. Gut, er würde irgendwann dem Harndrang oder Stuhldrang nachgeben müssen. Aber wenn er nichts aß oder trank würde das wohl das einzige Mal bleiben. Ab dann gab es keinen sicheren Taktgeber mehr für den jungen Mann, eben weil er ein Mann war.

"In spätestens drei Tagen habe ich dich am Boden", knurrte er siegessicher. Weil er nun sicher war, dass der Gefangene keine weiteren Hilfsmittel mehr zur Verfügung hatte, schaltete er die Überwachungskamera aus. Wenn der da unten um sich trat, schlug oder schrie bekam er es in seinem Geheimraum im Keller nicht mit. Er konnte sogar ins Bett, ohne Angst haben zu müssen, dass der Bursche dort unten was für ihn unangenehmes anstellen konnte. Die Gummioberfläche der Wände war zu glatt und bot keinen Halt zum Hochklettern.

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Es war wie Messerklingen, die durch seine Ohren in den Kopf drangen. Er schrie auf und wand sich am Boden. Dieser Quacksalber folterte ihn mit etwas, dass starke Kopfschmerzen machte. Der Kerl wollte ihn wirklich fertigmachen. Er meinte, Blitze vor seinen Augen aufleuchten zu sehen. Sein Kopf pochte wie eine hart geschlagene Kesselpauke, dann wie ein unter dem immer wieder niedersausenden Hammer eines Schmieds dröhnender Amboss. Dann, von einem Augenblick zum anderen, hörten die Qualen auf. Stille und Dunkelheit brachen nun um so stärker über ihn herein als vorher. Aldous' Herz pochte laut und heftig. Er wusste, dass Johnson ihn hier unten quälen konnte, ihn leiden lassen konnte oder ihn schlicht weg vergessenkonnte, bis er verhungert oder verdurstet war. Er dachte daran, dass er die Unterlagen über den Arzt mit seinem Laptop und seinen persönlichen Papieren in seiner Kleidung bei sich trug. Wenn er verreckte bekam dieser Kurpfuscher alle ihn belastenden Aufzeichnungen in die Finger. Und die Androhung, alles im Internet zu veröffentlichen, war nur ein Bluff gewesen. Johnson, so abgezockt wie er war, würde es einfach darauf ankommen lassen. Jetzt ärgerte sich Aldous, dass er die Unterlagen nicht erst nach London geschafft und einem Freund übergeben hatte. Doch der hätte vielleicht die CD-ROM abzurufen versucht und damit die eingebaute Selbstvernichtung ausgelöst. Nein, das war zu riskant. Aber jetzt steckte er bis zum Anschlag im Sumpf. Der Kerl da oben konnte nun weiter Gott spielen. Er hatte ihm das Leben gegeben und würde es ihm wieder nehmen, einfach so, ohne sich noch die Hände dreckig machen zu müssen. Er verdrängte den Impuls, dem Mistkerl da oben zuzurufen, dass er bereit war, ihm die Unterlagen auszuhändigen. Denn was hatte der gesagt? Er wollte, das Aldous Crowne starb, dass der Fehler, ihn überhaupt zur Welt kommen zu lassen, behoben wurde. Aber dann hatte der Schweinepriester eine Leiche im Keller, wortwörtlich. Dann fiel Aldous ein, dass Johnson ihn ganz sicher irgendwie entsorgen konnte, notfalls als Spende an die Anatomieabteilung einer Universität, ihn vielleicht sogar in ätzender Säure oder anderem Zeug auflöste. Bei dem Gedanken an ätzende Flüssigkeiten kam ihm der Gedanke, dass dieser Mistkerl da oben womöglich Düsen für Gas oder Flüssigkeiten in die Wände oder die Decke eingebaut haben mochte. Wer hatte ihm das alles eingebaut, und lebte der dann überhaupt noch? Aldous hörte wieder die Warnungen seines toten Vaters, sich nicht mit Johnson einzulassen. Die Unterlagen verrieten, dass einige seiner mutmaßlichen Clienten in den letzten Jahren spurlos verschwanden oder tödlichen Unfällen erlegen waren. Dieser Kerl da oben war ein Psychopath, ein Irrer, der seine Intelligenz und seine Fähigkeiten skrupellos ausnutzte, um Menschen nach seinem Willen leben oder sterben zu lassen. Das hätte er, Aldous Crowne, der vorausschauendes Denken gelernt hatte, eigentlich wissen sollen, als er gelesen hatte, was sein Vater über Johnson zusammengetragen hatte. Der Gedanke, dass da oben gleich Düsen aufgingen und ihm Schwefelsäure oder konzentrierte Natronlauge auf den Kopf tropften beschleunigte seinen Herzschlag bis zur Unerträglichkeit. Es war genau wie in seinem Elternhaus, als ihm mitgeteilt wurde, dass eine Selbstvernichtungsschaltung in Gang gesetzt worden war. Die Vorstellung, jederzeit grausam umgebracht zu werden, ohne dass er das vorher angekündigt bekam, trieb ihn in eine immer stärkere Furcht. Er glaubte sogar schon, die Sprühdüsen für Gas oder Säure in der Decke aufgehen zu sehen. Sein Atem ging immer schneller. Der schalltote Raum schluckte das Schnaufen und Keuchen, dass Aldous nur sein wild hämmerndes Herz und das davon durch die Ohren gepumpte Blut rauschen hören konnte. Die Wände schienen aus der Dunkelheit auf ihn zuzuwandern. ER hörte es nicht und sah es auch nicht. Doch irgendwie meinte er, der Raum um ihn würde immer enger. Er dachte einen Moment daran, dass er sich nicht in den Wahnsinn treiben lassen wollte. Doch dann war die Furcht übermächtig. Er wollte nur noch raus. - Raus! - Raus!! - Raus!!!

Es war wie ein heftiger elektrischer Schlag, der durch seinen Körper zuckte, von den Haar- bis in die Zehenspitzen. Wieder wirbelten vor ihm bunte Schlieren und Muster. Wieder meinte er, in einen bodenlosen Abgrund zu stürzen und gleichzeitig in einen sich immer enger schließenden Gummischlauch zu stecken. Zwischen den bunten Lichtern sah er auch schwarze Schlieren. Er wusste nicht, ob das eine Wirkung der totalen Abschottung war oder was anderes. Auf jeden Fall wusste er nicht, wie lange dieser Zustand .

Urplötzlich fühlte er wieder festen Boden unter den Füßen, richtig festen Boden, nicht diese angebliche Riesenwindel, in der er die ganze Zeit herumgekrabbelt war. Seine Augen schmerzten von einem Licht, an das sie sich erst wieder gewöhnen mussten, und er hatte den Höreindruck, in einem großen Raum mit klar erkennbaren Wänden zu stehen.

Aldous blickte nach oben und sah die Deckentäfelung des Salons. Da begriff er, dass jene übersinnliche Kraft, die ihn schon einmal gerettet hatte, ihm auch ein zweites Mal aus einer aussichtslosen Lage geholfen hatte. Anders als beim ersten Mal brauchte er deshalb keine lange Zeit, sich auf die neue Lage umzustellen. Er stand im Salon des verbrecherischen Arztes. Es brannte kein Licht. Doch nach der ungewissen Zeit in totaler Dunkelheit musste er sich auch an dieses schwache Mondlicht von außen erst einmal gewöhnen. Er hörte in der Ferne vorbeifahrende Autos und das für seine auf unerträgliche Stille eingestellten Ohren überlaute Ticken einer Wanduhr. Er blickte hin und sah, dass seit dem letzten Ablesen der Zeit und jetzt eine Viertelstunde oder zwölf Stunden und eine Viertelstunde vergangen sein musste. Es sei denn, er hatte einen vollen Tag da unten zugebracht. Dann fiel ihm ein, dass einer der Schaukästen um einige Zentimeter nach links verschoben war. Er sah genauer hin und entdeckte eine bis auf einen winzigen Spalt geöffnete Geheimtür, die dasselbe Tapetenmuster trug wie die links und rechts daneben verlaufenden Wände. Die Tür war ihm vorher nicht aufgefallen. Die Falltür im Teppichboden hatte er ja auch nicht bemerkt, dachte er weiter. Also war dieser Kurpfuscher durch diese Geheimtür verschwunden. Er stellte fest, dass die Tür durch eine im Schaukasten eingebaute Haltevorrichtung offengehalten wurde.

"Da unten bist du Schweinepriester", zischte er und ging an die knauf- und Schlüssellochlose Tür. Vielleicht war das auch nur eine weitere Falle. Doch der durchgeknallte Doktor rechnete sicher nicht damit, dass sein Gefangener sich aus dem Folterkeller herausgebeamt haben konnte. Der war sicher noch hinter der Tür, um zu überlegen, was er mit seinem Gefangenen anstellen konnte. Dann wollte er dem doch glatt entgegengehen. Er dachte daran, dass Johnson seine Beretta mit einem Magnettrick an sich gebracht hatte. Doch Aldous setzte auf das Überraschungsmoment. Er ging zur Tür, lauschte und spähte durch die schmale Öffnung. Er hörte nichts verdächtiges, sah nur dunkelrotes Licht wie in einem Fotolabor. Er versuchte, die Tür von Hand weiter aufzuziehen. Doch die Vorrichtung, die sie hielt war unverrückbar. Vielleicht löste er auch einen stillen Alarm aus, wenn er mit mehr Gewalt ranging, fiel ihm noch rechtzeitig ein. Dann grinste er. Johnson war nicht so gelenkig wie er und besaß ein paar Pfund mehr auf den Rippen. Wenn der die Tür so festgestellt hatte, dass er da wieder durch konnte konnte Aldous das schon lange. Und tatsächlich konnte sich der unverhofft entwischte Gefangene von Abraham Johnson beinahe wie ein Aal durch den einladend offenen Türspalt winden und in ein geheimes, fensterloses Treppenhaus eindringen.

Eine steile Wendeltreppe führte hinunter. Es war fast wie in einem Turm, der nicht nach oben, sondern in die Erde hineingebaut worden war, dachte Aldous Crowne. Vorsichtig stieg er die Steinstufen in die Tiefe. Das dunkelrote Leuchten, dass er schon durch den Türspalt gesehen hatte, kam aus vielen winzigen Lampen, die in den Seitenwänden verbaut waren. Es war so flächendeckend, dass Aldous nicht einmal seinen Schatten sah, als er immer tiefer hinabstieg. "Nachher kommt mir dieser Kerl mit Hörnern auf dem Kopf und einem Pferdefuß entgegen", dachte Aldous. Doch dann verwarf er den Gedanken. Der Leibhaftige hätte sich sicher nicht von einer Pistole beeindrucken lassen oder andere Mittel angewendet, um eine ihm zur Beute fallende Seele sicherzustellen. Dennoch blieb der Eindruck, in die Unterwelt welcher Mythologie auch immer hinunterzusteigen, während sich die Treppe Windung um Windung in die Tiefe schraubte. Gefühlte fünfzig Meter tiefer trat er endlich auf einen breiten Treppenabsatz. Das rote Licht wich hier hellen Neonlampen. Aldous konnte seinen Schatten wieder sehen und wusste deshalb auch, dass er den abwegigen Arzt sofort warnte, wenn der hinter einer Tür saß und einen Unterschied im Licht bemerken würde.

Er hörte das leise Summen der Neonröhren und ein leises Rauschen, wohl das einer Klimaanlage. Behutsam schlich er in den auf den Fuß der Wendeltreppe folgenden Gang. Links war eine massive Stahltür, über der ein rotes Licht glühte. Die Tür besaß weder Schloss noch Drehknauf. Nur in der Wand daneben sah er eine quadratische Einbuchtung, die wohl eine Schalttafel verbarg. Am Ende des Ganges sah er eine metallbeschlagene Holztür mit Zuggriff. Er ahnte es mehr als es zu wissen, dass dahinter der kriminelle Arzt sein musste, denn sonst wäre die Geheimtür oben ja wohl zu gewesen. So duckte sich Aldous, um keinen zu großen Schatten zu werfen und gleichzeitig auch für einen Sprung nach vorne bereit zu sein. Er näherte sich der Tür auf seinen Geräusche schluckenden Sohlen. Er verhielt knapp einen Meter vor der Tür.

Plötzlich flog die Tür nach außen auf, und Johnson schnellte mit einer schallgedämpften Pistole aus dem hinteren Raum hervor. Aldous konnte gerade noch so nach links wegtauchen, als zwei leise pfeifende Geschosse an seinem Kopf vorbeischwirrten. Hätte er den Kopf nur einen Viertelmeter höhergehalten wäre er sicher von den Geschossen zwischen die Augen getroffen worden. Aldous wusste, dass er im Kampf gegen einen Pistolenschützen mit Karate wenig ausrichten konnte, zumal Johnson die Waffe in beiden Händen hielt und in sicherer Kampfstellung dastand, wieder auf Aldous zielend, um ihn zu töten.

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"So, in Schottland ist der Wagen also angekommen, und noch immer keine Diebstahlsanzeige?" wollte Clarkson wissen. Sein Assistent Taffy schüttelte den Kopf. "Immerhin haben die Kollegen in Edinburgh Dank unseres Tipps eine schwarze Werkstatt ausheben können. Die Gangster wissen immer noch nicht, wie wir denen draufgekommen sind."

"Wird nicht lange dauern, und sie werden es wissen", sagte Clarkson. "Und spätestens dann wird auch Gragston sehr ernste Fragen stellen, woher wir wussten, wo der Yaguar war und wo dessen rechtmäßiger Eigentümer jetzt steckt."

"Glauben Sie, der hat den Autoklau angeleiert, um den Wagen loszuwerden?" wollte Taffy wissen.

"Dann müsste ich glauben, dass der entweder Gedanken lesen, in die Zukunft sehen oder sonst wie spitzkriegen kann, dass wir was dran angebracht haben."

"Wir kriegen den Wagen ja zurück", grinste Taffy. "Dann können wir ja alles wieder abmachen, was nicht drangehört."

"Stimmt", erwiderte Clarkson. Da klingelte sein Bürotelefon. ER nahm den Hörer ab und hörte dem Anrufer eine Weile zu. Dann schlug er mit der Faust auf den Tisch und blaffte: "Hat der uns doch echt voll verarscht. Okay, danke! Werden diesen Westentaschen-James-Bond zur Fahndung ausschreiben. Jetzt darf er uns doch ein paar Fragen mehr beantworten."

"Was war?" wollte Taffy ohne die einem Vorgesetzten zustehende Respektsbekundung wissen.

"Die Kollegen, die den Wagen und ein paar andere Autos sicherstellen konnten, haben in dem Yaguar gut versteckte Mikrokameras gefunden, die über feine Kabel mit einem Festplatten-Videorekorder im Beifahrersitz verbunden waren. Als Bildschirm diente wohl das Navi von ihm."

"Kameras? Wie paranoid ist der denn?"

"Leider nicht grundlos", schnaubte Clarkson. "Jedenfalls hat diese Spionagevorrichtung wohl unsere Extraausstattung aufgenommen. Wenn er das sich unterwegs angesehen hat ist klar, dass er den Wagen so nicht mehr einfach weiterfahren kann."

"Ja, und warum hat er dann die Sender nicht abgebaut?" wollte Taffy wissen.

"Wer sowas wie diese Kameraausrüstung hat hat sicher schon vom Triangelsystem gehört, auch wenn's streng geheim ist", blaffte Clarkson.

"Ja, und supergut, dass unsere Kollegen jetzt auch die Wanzen haben", sagte Taffy.

"Die können wir jetzt locker als von dem gewollte Überwachungsanlage verkaufen, auf die wir uns nur aufgeschaltet haben, weil wir den nötigen Code bekamen", musste Clarkson grinsen. "Aber jetzt will ich den wieder hier haben."

"Sollen wir die Nutten fragen, die in dem Haus wohnen?"

"Das machen die vom Yard für uns", sagte Clarkson.

"Dann leiern wir die große Fahndung an", seufzte Taffy.

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Aldous blickte in den schallgedämpften Lauf der ihm entgegengehaltenen Browning. Der kriminelle Arzt und Geburtshelfer krümmte bereits den Finger zum tödlichen Schuss, als Aldous wie von einem Katapult geschnellt nach vorne sprang und mit einem einzigen gezielten Schlag an den Hals des Gegners traf. Knackend brach mindestens einer der oberen Halswirbel. Im Fallen feuerte der Arzt den letzten Schuss in seinem Leben ab. Mit einem Knall platzte eine der NeonRöhren. Sengendheiße Splitter regneten auf den Boden. Die Waffe entfiel dem schlaff niedersackenden Hausherrn. Aldous, der gerade meinte, sein Blut würde vor lauter Adrenalin gleich alle Adern sprengen, sah auf den von ihm im letzten Moment niedergestreckten Mann. Die Augen waren verdreht und stierten blicklos an die Decke. Aldous tauchte schnell nach der Waffe und zielte auf den Kopf des Mannes. Er drückte ab. Die Kugel stanzte ein Loch zwischen die Augen und trat wegen der geringen Entfernung durch den Hinterkopf wieder aus. Aldous sah auf den nun eindeutig toten und auf die rauchende Waffe, die er in der keinesfalls zitternden Hand hielt. Jetzt war er eindeutig ein Mörder. Wo er seinen Onkeln und Vettern nicht bewusst nach dem Leben getrachtet hatte, sie aber auch nicht betrauerte, hatte er diesen Mann da vor ihm vollkommen überlegt getötet. Dann erst fiel ihm auf, dass Johnson vielleicht alles mit in den Tod genommen hatte, was Aldous von ihm hatte wissen wollen. Wütend schleuderte er die erbeutete Waffe hinter sich in den Gang. Dann sah er durch die offene Tür in den Raum, aus dem Johnson ihm entgegengestürmt war. Er sah mehrere Bildschirme, mindestens zwei Rechner und Tastaturen und vom Boden bis zur Decke reichende Regale voller Bücher und Aktenordner. Er pfiff durch die Zähne, als ihm klar wurde, dass er eine geheime Bibliothek entdeckt hatte.

Aldous Crowne vergaß für einige Momente, dass er gerade einen Menschen getötet hatte. Er betrat den geheimen Raum unter Johnsons Haus. Dort sah er eine Perspektive, die das Haus von außen darstellte. Offenbar empfing der Monitor die Bilder von einer in einem Baum angebrachten Kamera. Auf dem zweiten Bildschirm sah er nur den rot blinkenden Schriftzug: "Versuchsperson verstorben! Als er den am Bildschirm hängenden Rechner untersuchte und die Eingabetaste drückte sah er in einen Raum ohne Fenster. Unten wurde der winzige Schriftzug "Infrarotbild" eingeblendet. Das war also der schalltote Dunkelkeller, in dem er vorhin noch gesteckt hatte. Auf dem dritten Schirm standen Notizen des Arztes, die er wohl kurz vor seinem Tod gemacht hatte. Sie befassten sich mit ihm, Aldous Crowne. Denn er las, dass Versuchsperson A. C., geboren am 24. Juni 1975, wohl in wenigen Tagen sterben würde und dass A. C. Daten der Gefahrenstufe Alpha Rot im Besitz hatte, die unbedingt sichergestellt werden müssten. Als er las, dass der Text in Form einer Internetseite erstellt worden war klickte er mit der Maus auf "Zurück" und fand sich in einer tabellarischen Übersicht über verschiedene Aspekte seines Lebens wieder, vor allem der Hinweis auf die Akte "Dionysos" reizte ihn, die laut Zeitstempel sieben Monate vor seiner Geburt angelegt worden war. Doch die betreffende Verbindung verwies nur auf eine Codenummer in einem grünen Rechteck. Nein, das war eine Registriernummer, womöglich von einem der Ordner oder Bücher, erkannte Aldous und prüfte weitere Verknüpfungen, die Bilder von ihm enthielten, Ultraschallaufnahmen von ihm im Mutterleib, Babyfotos, die Johnson wohl aus dem Krankenhaus hatte, in dem Aldous geboren worden war, sowie gescannte Fotos seines ersten und seines letzten Schultages mit Bemerkungen, dass sich die Versuchsperson trotz des riskanten Transplantationsvorganges körperlich und geistig überragend gut entwickelt habe. Dann sah er seine offiziellen Eltern und einen blondhaarigen Mann mit blauen Augen, der ihm zu ähnlich sah, um nicht mit ihm verwandt zu sein. Er ahnte es mehr als es zu wissen, dass dieser Mann sein leiblicher Vater gewesen sein musste. Doch der Zeitstempel unter dem Bild passte nicht so ganz: "Claude Andrews 22.06.1995" las er laut. Doch wenn dieser Claude Andrews sein Vater war, dann hätte der doch laut Johnson vor siebenundzwanzig Jahren gestorben sein sollen. Er klickte auf die Verknüpfung und las, dass Claude Andrews ein Rechtsanwalt gewesen war, mit einer Alison Andrews, geborenen Gilmore verheiratet gewesen war und seit Oktober 1999 verschollen sei und seit dem 1. Januar 2001 offiziell für tot erklärt sei. Dann fand er das Bild einer dunkelblonden Frau mit üppiger Oberweite, die Sandra Whiteplain hieß. Das Bild steckte in seinem schwarzen Rahmen. Die Bildunterschrift verriet, dass sie am 30. August 1997 bei einem Tauchunfall im roten Meer nur noch tot geborgen werden konnte. Er las über das Leben dieser Frau und wusste, dass er ihre schmale Nase und zwei Lachfalten geerbt hatte. Doch wenn die beiden erst in den neunzigern gestorben oder verschwunden waren, stimmte diese Geschichte von der Noterrettung aus dem Leib seiner sterbenden Mutter hinten und vorne nicht. Aldous nickte. Das hatte er dem Arzt doch eh nicht abgekauft. Aber dann war die Wahrheit um so abscheulicher, erkannte er. Johnson hatte Sandras und Claudes gemeinsames Kind, ihn, als gerade mal zwei oder drei Monate alten Embryo aus Sandras Gebärmutter entfernt, um ihn einer anderen Frau in den Leib zu pflanzen, als sei er eine Pflanze, die nur mal eben umgetopft werden musste. Jetzt interessierte er sich noch mehr für die nicht digitalisierte Akte.

Mit einem schnellen Blick des methodisch vorgehenden Akademikers fand er das Regal und den betreffenden Ordner. Er schlug ihn auf und las, was er schon erahnt hatte. Johnson war von Claude Andrews beauftragt worden, das ungewollte Kind, dass Sandra von ihm empfangen hatte, abzutreiben. Doch statt ihn weit vor der Geburt umzubringen, wie dieser Andrews es bestellt hatte, hatte Johnson den Embryo nach der erfolgreichen Entnahme nur dreißig Minuten später in den Körper von Mrs. Muriel Crowne eingesetzt, weil diese zum einen eine verträgliche Blutgruppe besaß, zum zweiten weil ihr Mann 50.000 Pfund für ein angeblich natürlich ausgetragenes Kind bezahlt hatte und weil eine von Johnson erfundene Blitzuntersuchungsmethode ermittelt hatte, dass Aldous' jene so wichtigen Y-Chromosomen aufwies, die ein Kind zum Jungen und den Jungen zum Mann werden ließen. Der Arzt hatte also zweifach verdient und bei der Gelegenheit weit vor der Geburt von Louise Brown ein künstlich herangereiftes Kind auf die Welt kommen lassen. Natürlich hatte er davon nichts erzählen dürfen, weil der Eingriff eben illegal gewesen war. Ihn hätte es gar nicht geben dürfen.

"Deshalb heiße ich Aldous, wie der Schreiber von der schönen neuen Welt", knurrte Aldous, als ihm klar wurde, dass er einer der ersten Menschen war, die auf künstliche Weise herangereift waren, kein Klon, kein im Reagenzglas gezeugtes Retortenbaby, sondern ein echter Wechselbalg, ein transferierter Embryo, etwas, was bei Nutztieren schon praktiziert wurde, wo Kuh A mit dem Kalb von Kuh B geschwängert wurde, weil B zwar besseres Fleisch liefern konnte, aber A den gebärfähigeren Hinterleib hatte. Das er im Grunde nur lebte, weil ein reicher Mann eine Menge Geld für ihn bezahlt hatte machte ihn auch zu einer Art Nutztier. Ja, er hätte den Betrieb seines Vaters erben sollen, um dieses dynastische Getue fortzusetzen.

Tränen liefen Aldous über die Wangen, als ihm die volle Tragweite seiner Existenz bewusst wurde. Auch dass sein Leben mit dazu beigetragen hatte, fünf Menschen sterben zu lassen regte nun sein Gewissen an. Er war wirklich ein Wechselbalg, ein Dämonen- oder Hexenkind, dazu da, um arglose Menschen auszunutzen oder gar gegeneinander auszuspielen. Dann dachte er jedoch daran, dass nicht er die Schuld an seinem Dasein trug, sondern Johnson. Ja, und Ironie des Schicksals, der Arzt auf Abwegen hatte damit seinen eigenen Henker herangezüchtet. Aldous argwöhnte, dass Johnson vielleicht schon geahnt oder gewusst hatte, dass in seinen Genen etwas steckte, was ihn, Aldous, zu einem halben Mutanten machte.

Nachdem Aldous sich voll und ganz über alle dunklen Einzelheiten seiner körperlichen Existenz informiert hatte prüfte er noch weitere Akten und Dateien, auf die er nur deshalb zugreifen konnte, weil Johnson sich nicht von seinem Benutzerkonto abgemeldet hatte. So fand er auch heraus, was Johnson mit seiner Haushälterin angestellt hatte. Er hatte ihr, als sie eingeschlafen war, in einem Geheimlabor unterhalb seiner offiziellen Arbeitsstelle den Embryo aus dem Bauch einer Straßendirne eingesetzt. Der Umstand, dass Elizabeth schon neunundsechzig Jahre alt war hatte ihn wohl gereizt, die Altersgrenze für schwangere Frauen auszuweiten. Gelang dieses Experiment, hätte Johnson hingehen und sich als Hoffnungsträger jener Frauen feiern lassen können, die nach einer anstrengenden Karriere doch noch ein eigenes Kind haben wollten. Was bedeutete dann noch die biologische Uhr? Die wesentlichen Haken dabei bestanden zum einen darin, dass seine Haushälterin nicht um eine Schwangerschaft gebeten hatte und dass Leihmutterschaft in Großbritannien nicht erlaubt war.

"Ruhe in Unfrieden, Naturverächter!" schnaubte Aldous Crowne. Dann fand er noch ein Buch von einem gewissen Alexander Fox, einem amerikanischen Kollegen, der wohl auf ähnlich dunklen Pfaden gewandelt war wie Johnson und seit August 1996 ebenfalls nie wieder gesehen worden war. Aldous graute es, sich vorzustellen, dass bereits geborene Menschen in Maschinen eingesperrt werden konnten, die ähnlich wie eine Gebärmutter arbeiteten, nur mit dem Unterschied, dass die den Körper umfließende Flüssigkeit kalt war und mit Sauerstoff angereichert war.

"Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf", zitierte Aldous einen Ausspruch des Staatsphilosophen Thomas Hobbes. Wer brauchte da den Teufel, Dämonen, Monster aus demJenseits oder aus dem Weltraum? Dann fiel Aldous ein, dass er nun, wo er wusste, wieso es ihn gab, nicht mehr so weiterleben konnte wie bisher. Er war ein Mörder und er war ein widernatürlich entstandener Mensch, auch wenn dieser Claude Andrews und diese Sandra Whiteplain wohl anständigen Sex miteinander gehabt hatten, um ihn zu zeugen. Er lebte ein verbotenes Leben und hatte deshalb verbotene Taten begangen. Sollte er sich die Waffe von draußen holen und sich selbst die Kugel geben? Nein, dafür liebte er sein Leben zu sehr. Er dachte an die schönen Zeiten mit denen, die ihn bestellt und sich seine Eltern genannt hatten, auch an das Geschenk, dass sein Vater ihm zum neunzehnten Geburtstag geschickt hatte, das rothaarige Supercallgirl Juanita. Von der wusste er über Umwege, dass sie mittlerweile in Granada in Spanien untergekommen war. Ob sie immer noch anschaffte? Irgendwie liebte er diese Frau, auch wenn er wusste, dass sie nur des Geldes wegen mit ihm geschlafen hatte. Aber wie sie das getan hatte war bei dem damals noch blutjungen Aldous so stark ins Gedächtnis eingebrannt worden, dass er für alle Zeiten verdorben war. Nur Vicky die Walküre übertraf Juanita noch bei weitem. Der Gedanke an Juanita ließ ihn nicht mehr los. Falls sein verbotenes Leben nur noch in Tagen oder Wochen gezählt wurde, so wollte er sie zumindest noch einmal sehen, vielleicht, wenn er großzügig war, noch einmal ihren warmen, kraftvollen Körper an seinem spüren, ihre Worte hören, auch wenn sie geheuchelt waren. Er dachte an Alwin Crowne, den er Daddy genannt hatte. der wollte entweder auf einer Reise oder beim Liebesakt sterben. Der hatte seinen Willen bekommen. Auch wenn Aldous nicht sein Fleisch und Blut war, so war er doch das Produkt von Alwin Crownes Erziehung und Führung. Geht nicht gab's bei ihm nicht.

Er fand hinter einem Bücherregal das geheime Labor, in dem Johnson seiner eigenen Haushälterin ein ungewolltes Kind in den Leib gepflanzt hatte. Der gekachelte Raum mit den gleißendhellen Deckenflutern und dem Operationstisch ließ den gekauften Sohn von Alwin und Muriel Crowne an Geschichten von verrückten Wissenschaftlern denken. Am Ende ging noch eine versteckte Tür auf, und ein vierarmiges Monster griff ihn an, oder ein aus einer seiner Zellen erzeugter Klon trat herein. Die Vorstellung, dass er vielleicht noch eine Klonschwester haben könnte, mit der Johnson noch weiter hätte herumpfuschen können ließ ihn daran denken, all das hier mit lautem Knall in die Luft zu jagen, wie sein so genannter Vater es mit dem eigenen Haus gemacht hatte. Ja, das war schon eine Idee. Er lief schnell durch die geheimen Kellerräume zurück in den Gang und schleifte den noch nicht in Totenstarre verfallenen Leichnam Johnsons hinter sich her in das Geheimlabor. Dort suchte und fand er einen Tank mit Sauerstoff und einen mit Äther. Er schaltete das gleißende Licht aus. Dann drehte er mit angehaltenem Atem die Ventile der beiden Tanks auf und zog sich behutsam aus dem Raum zurück. Er verschloss die Tür von außen, während es innen unheilverheißend zischte. Wenn das Gemisch lange genug freigesetzt wurde und wer das Licht anknipste würde es ihn und alles im Raum in die Luft jagen.

Aldous kopierte sich die Akte Dionysios auf eine CD-ROM und steckte auch den Aktenordner ein. Dann zog er einfach die Stromnetzanschlüsse aus den Rechnern, worauf diese mit einem leisen Klackern und auslaufenden Lüftern ihren Dienst beendeten. Danach schloss er die Tür von außen und wunderte sich nicht, dass es leise im Türschloss klickte. Er sah die Pistole, die er in den Gang geworfen hatte. Es war sicher nicht verkehrt, eine Waffe mitzunehmen. So holte er sich die Browning. Dann stieg er vorsichtig die Wendeltreppe hinauf.

Oben brauchte er nur zwei Kristalle im Schaukasten aneinanderzuhalten, die in Wirklichkeit winzige Impulsgeber waren. Die Tür glitt leise summend wieder zu und verschwand hinter dem sich davor wieder ausrichtenden Schaukasten. Anschließend zertrat er die beiden Impulsgeber. Dann verließ Aldous das Haus von Abraham Johnson und suchte die gut versteckte Yamaha auf. In der schwarzen Motorradkombi ritt er auf seiner schwarzen Maschine in die mittlerweile hereingebrochene Nacht davon, auf dem Weg in ein anderes Leben.

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18. März 2002

Seit zehn Jahren hieß er offiziell Jack Dunston. Davor hatte er fünf Jahre lang Pierre Boisnoir geheißen. Wie er davor geheißen hatte war nicht mehr so wichtig. Auf jeden Fall gehörte Dunston alias Läufer zu jenen Außeneinsatzagenten des MI6, die für die wirklich schmutzigen Jobs angestellt waren, Sachen, die die achso demokratische Öffentlichkeit niemals erfahren durfte. Vor einem Monat erst hatte er im Alleingang einen reichen Bankier an einem Herzinfarkt sterben lassen, nachdem seine Behörde herausgefunden hatte, dass der Geldmensch Staatsgelder in den mittleren Osten umleitete und damit wohl jene Terroristen unterstützte, die für die Sauerei am elften September verantwortlich waren. Dunston hatte dafür einen Sonderurlaub in Australien machen dürfen. Vielleicht wurde er bald nach Afghanistan beordert, um dort "zu putzen". Wenn er die Drahtzieher vom elften September erledigen konnte wäre das wohl die Krönung seiner dunklen Karriere.

Es war in den frühen Morgenstunden passiert. Das geheime Telefon, dass Signale an einen in Dunstons linker Schulter verbauten Minivibrator schickte, hatte ihn von Nordschottland aus in Richtung Birmingham bestellt. Der Auftrag lautete, den verschwundenen, vielleicht entführten Aldous Crowne wiederzufinden und warm abzuliefern.

"Wir haben uns in die Polizeiermittlungen eingeschaltet und sie an uns gezogen. Crowne Airotech ist heute mit Mann und Maus untergegangen. Irgendwer hat die Computer so umprogrammiert, dass sie alle Daten vernichten, die auf ihnen gespeichert waren. Das Einlegen der Sicherheitskopien in anderen Rechnern führte dazu, dass diese keine halbe Minute später selbst mit wildem Qualm und buntem Zeichensalat auf den Bildschirmen ihren Abflug ins Jenseits antraten. Offenbar hat der alte Crowne oder einer seiner Computerexperten eine logische Bombe in allen Firmenrechnern platziert und deren Daten zwischen harmlosen Dateien versteckt. Des weiteren sind alle Satelliten auf Harakirikurs Erde eingeschwänkt. Zehn von denen sind bereits verglüht. Wir müssen von einem groß angelegten Sabotage- und Spionageakt ausgehen. Suchen und finden Sie den Jungen und bringen Sie ihn höchstlebendig zurück! Achten Sie darauf, dass ihn niemand tötet oder noch schlimmer, dass er die Seiten wechselt!"

"Wenn Sie mir die Daten und eine Reisepauschale zukommen lassen kann der Junge morgen wieder auf die Schiffschaukel, Sir."

"Gut, die Daten laufen über Compdata ein." Dunston hatte es bestätigt und sich verabschiedet.

Als der Mann, der seit zehn Jahren Jack Dunston hieß seinen mehrfach gesichertenRechner gestartet hatte und das exklusive E-Mail-Aufrufprogramm durchlaufen ließ, fragte er sich, was an dem Jungen noch so wichtig war, dass sein Arbeitgeber ihn, der eigentlich als Experte für das Finden und Töten höchstgefährlicher Subjekte galt, ihn wieder nach Hause oder wohin auch immer bringen sollte. Als er dann die Daten sah, die sein Auftraggeber schickte wurden ihm alle Fragen beantwortet. Er sah auf den Bildschirm und wisperte: "Wo immer du dich jetzt gerade versteckst, ich kriege dich."

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"Ihr könnt nicht mal eine Computerfestplatte auswerten", schimpfte Taffy mit einem Kollegen von der elektronischen Datenauswertung. Dieser sah den jüngeren Kollegen sehr verärgert an und erwiderte: "Konnten wir ahnen, dass in dem Gehäuse eine Schwefelsäurepatrone eingebaut war?" knurrte er. "Haben wir auch erst was von mitbekommen, als das Gehäuse die ersten Löcher bekam und Rauch und ätzende Lösung heraustropfte."

"In die Luft fliegende Häuser, sich selbst zersetzende Computerfestplatten, drehen wir gerade einen neuen Teil von "Unmöglicher Auftrag"?" schimpfte Clarkson, der seinem Assistenten beistand. "Leute, ihr hättet doch wissen müssen, dass ein Auto, dass eigene Überwachungskameras an Bord hat sicher noch ein paar kleine Fallen mehr in Petto hat."

"Sir, wir haben das nicht wissen können", verteidigte der Computerfachmann von der Spurensicherung den Verlust der kleinen Festplatte aus Crownes Yaguar.

"Wir können zumindest froh sein, dass der Yaguar selbst nicht explodiert ist", feixte Taffy.

Das Telefon auf Sanders' Schreibtisch trällerte munter. Doch Sanders empfand diese Unterbrechung eher als Ärgernis. Er nahm den Hörer ab und lauschte dem Anrufer. Dann nickte er verdrossen, wechselte einige Worte mit dem Anrufer und legte wieder auf.

"Die Zentrale von Crowne Airotech brennt ab. Offenbar hat eine Art Zeitzünder das Gebäude in Brand gesetzt, als der Nachtwächter den letzten Außenkontrollgang antrat."

"Leute, versucht, die Außenstellen der Firma anzuzapfen", bevor uns nochmehr um die Ohren fliegt!" schnaubte Clarkson. Sanders nickte. Da trällerte wieder das Telefon. Der Oberinspektor vom Brandstiftungsdezernat nahm den Hörer wieder ab und meldete sich. Dann schüttelte er ungläubig den Kopf und bestätigte den Erhalt einer Mitteilung. Danach legte er frustriert dreinschauend wieder auf.

"Offenbar hat irgendwer eine so genannte logische Bombe gezündet, also ein Computerprogramm anlaufen lassen, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt schädliche Aktionen ausführt. Ziel und Zweck dieser Bombe war es, alle Daten über Crowne Airotech von grund auf auszulöschen, egal wo auf der Welt sie sich befanden."

"Wie bitte?" schnaubte Clarkson. Taffy wollte schon erklären, was eine logische Bombe war, wurde aber von Clarkson mit einem energischen Blick abgewürgt. "Ich weiß, was eine logische Bombe ist. Der Fall Chandler vor einem Jahr basierte auf dieser tückischen Methode." Taffy nickte. Dann sagte Clarkson: "Gentlemen, wer immer diese Sabotageakte begangen hat, er wollte die Erben Alwin Crownes ruinieren, vielleicht sogar töten."

"Sind echt alle Daten der Firma gelöscht?" wollte Taffy von Sanders wissen.

"Alle, auf die wir zugriff nehmen konnten. Offenbar waren diverse Dateien mit Viren verseucht und haben zu einem bestimmten Zeitpunkt oder auf Grund eines bestimmten Ereignisses die Löschprozedur ausgeführt. Ob davon auch die Bankdaten von Crowne Airotech betroffen sind kriegen wir nur mit richterlicher Genehmigung raus, solange es britische Geldinstitute betrifft."

"Airotech hat ein paar Satelliten in den Orbit geschossen. Da könnten vielleicht noch Aufzeichnungen drinstecken", vermutete Taffy. Doch eine Stunde später, nach anrufen bei NASA und ESA wussten die Birminghamer Detektivinspektoren, dass alle von Airotech gebauten Satteliten wie auf einen Funkbefehl ihre Steuertriebwerke gezündet und sich unter Umlaufgeschwindigkeit heruntergebremst hatten. Jeder Versuch, sie wieder auf stabile Umlaufbahnen zu bringen sheiterte. "Das wird sauteuer", konnte Taffy dazu nur sagen. Denn er wusste wie alle anderen hier, was für heikle Aufgaben die auf Selbstmord ausgehenden Satelliten zu erledigen hatten. Die Bestätigung dafür bekamen die Inspektoren, als zwei Herren in Luftwaffenuniformen, von denen einer vier Sterne auf den Schulterklappen trug, die für die Ermittlungen zuständigen Polizisten beehrten.

"Der Fall unterliegt nun strengster Geheimhaltung. Alle nicht-militärischen Ermittlungsarbeiten sind unverzüglich einzustellen und die bisher gefundenen Beweismittel an den MI5 abzugeben", sagte der hochdekorierte Luftwaffenoffizier. Nachfragen wiegelte er mit "Das hat Sie nicht mehr zu interessieren" ab. Damit war das Polizeipräsidium Birmingham aus dem Fall Crowne heraus.

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20. März 2002

"Geht es Ihnen nicht gut, Mrs. Duffy?" wollte der geschäftsmäßig gekleidete Mann mit der dunkelblondenKurzhaarfrisur von der älteren Dame wissen, die ihm nach Vorzeigen eines Ausweises von Scotland Yard die Tür zu Dr. Johnsons Haus geöffnet hatte.

"Darüber möchte ich nicht mit Ihnen reden, junger Mann. Ich möchte nur, dass Sie den Eigentümer dieses Hauses finden."

"Ihren Chef", hakte der Mann, der laut Ausweis Detektivoberinspektor Jonathan Deering hieß, nach.

"Das ist die Frage, ob ich ihn noch weiter als meinen Chef haben werde", grummelte die grauhaarige Haushälterin, deren Gesicht ungesund bleich war und die bei jeder größeren Anstrengung ins Keuchen geriet, obwohl sie gar kein Pfund zu viel auf den Hüften trug, wie der Besucher fand.

"Wann und Wo haben Sie ihn denn das letzte mal gesehen?"

"Habe ich Ihrem Kollegen Saunders schon gesagt. Es war am fünfzehnten abends. Weil es mir da schon nicht gut ging hat er mir freigegeben. Als ich dann am sechzehnten nachmittags zurückkam war er verschwunden. Nichts deutet darauf hin, dass er abgereist ist. Sein Wagen steht noch in der versenkbaren Garage und seine Wäsche ist noch vollständig vorhanden. Außerdem wäre er sicher nicht ohne sein neues Spielzeug, dieses Mehrzweckmobiltelefon, für mehr als eine Minute aus dem Haus gegangen."

"Haben Sie Spuren eines Kampfes oder dergleichen gefunden?"

"Das habe ich auch Ihrem Kollegen erzählt", fauchte Elizabeth Duffy verärgert. "Hält man im neuen Yard nichts mehr von Gemeinschaftsarbeit?"

"Ich stelle die Frage deshalb, weil uns neue Ermittlungsergebnisse vorliegen", erwiderte der Besucher. "Demnach könnte Ihr Chef zwischen dem Abend, an dem Sie ihn zuletzt sahen und dem Nachmittag, als Sie zurückkehrten, von jemandem besucht worden sein."

"Es wurden mir keine Besucher oder Patienten angekündigt, und fremden hätte Dr. Johnson nur dann die Tür geöffnet, wenn sie ihm angekündigt worden wären. Nach neun Uhr Abends pflegte er alle Türen und Fenster fest verschlossen zu halten."

"Na ja, vielleicht kannte er den Besucher. Gab es sowas wie eine Videoüberwachung. Ich hörte davon, dass er Sicherheitsvorkehrungen im Haus hat einbauen lassen."

"Ich komme nicht an die Aufzeichnungen dran. Die sind mit Codezeilen gesichert. Gibt einer mehr als dreimal innerhalb von achtundvierzig Stunden die falsche Zeile ein, werden alle Daten gelöscht. Johnson war schon fast paranoid."

"ist Ihnen sonst noch was aufgefallen?" fragte der Besucher.

"Ja, so ein komischer Geruch, ein bisschen wie Parfüm. Doch dann denke ich immer an dieses Narkosemittel im Krankenhäusern, mit denen Leute ganz schnell zum Einschlafen gebracht werden. Irgendwie scheint es aus dem Boden zu kommen. Aber zum einen haben wir kein Gas im Haus, und zum anderen gibt es hier keine Klebstoffe oder Lösungsmittel."

"Wo riechen Sie diesen Geruch am stärksten?" wollte Oberinspektor Deering wissen. Mrs. Duffy führte ihn durch das Haus. Tatsächlich nahm er den Geruch von Äther war. Er schnüffelte kurz. Noch brauchte er keine Schutzmaske. Aber der Geruch mahnte ihn, dass dies wohl bald nötig sei.

Sie haben recht, Mrs. Duffy. Hier im Haus hat jemand Äther ausströmen oder ausfließen lassen. Das Zeug ist gefährlich, nicht nur weil es einen umhauen kann, sondern weil es in der richtigen Mischung mit Luft brennbar bis hochexplosiv sein kann. Ich hole am besten die Kollegen herbei, und Sie bleiben besser außerhalb des Hauses. Ich muss nur eine Minute Telefonieren."

Dannn tun Sie das", fauchte Elizabeth Duffy.

"Womöglich müssen wir das Haus komplett umbauen, um an die Quelle zu kommen. Etwas sagt mir, dass da auch Ihr verschwundener Chef ist. Haben Sie in dem Haus noch was, was nicht verbrennen oder sonst wie beschädigt werden darf?"

"Ein Bild von meinem vor zehn Jahren am Golf gefallenen Mann und eine Sammlung von Briefen, die er mir seit seinem Abmarsch in den nahen Osten zugeschickt hat."

"Gut, bitte holen Sie diese Dinge. Öhm, versuchen Sie dabei möglichst wenig einzuatmen. Noch ist das Äther nicht in einer narkotischen Dosis. Aber solange wir nicht wissen, wo es ausströmt ..."

"Dann falle ich eben um", schnaubte Elizabeth Duffy. Dann besann sie sich aber, dass sie nicht einfach so umfallen wollte, bis sie wusste, wo Johnson war und ob er an ihrem Zustand Schuld war. Der Mann, der sich als Oberinspektor Deering ausgewiesen hatte, telefonierte offenbar mit dem Yard. Als er wieder zurückkamhalf er der Haushaltshilfe, ihr weniges Gepäck zu ihrem grauen Rover zu bringen. "Wenn meine Kollegen und ich mit dem Haus fertig sind bekommen Sie bescheid."

"Wenn sie ihn finden, ob tot oder lebendig, rufen Sie mich bitte sofort an. Wenn er nicht schon seit tagen irgendwo unter dem Haus vergraben liegt will ich gerne was von ihm wissen. Was, das geht nur ihn und mich etwas an."

"Sofern er nicht durch ein Verbrechen zu Schaden kam, Mrs. Duffy. Falls doch, geht es auch den Yard etwas an", legte Deering nach. Elizabeth grummelte nur. Doch dann winkte sie zum Abschied.

Deering, der in Wirklichkeit der Sonderagent Jack Dunston war, atmete auf, als der Rover um die nächste Ecke verschwunden war. Dann beging er noch einmal das Haus, klopfte alle Wände ab und untersuchte auch den Boden. Dabei fand er eine Stelle im Boden, die Hohl klang. "Jungs, ein Echolot wäre klar ein Vorteil", sagte er über eine hochverschlüsselte Mobilfunkverbindung zu seinen Zuarbeitern, die sich wie er als Yard-Leute ausgaben.

"Hast du Frankensteins Labor gefunden, Läufer?" hörte er die Stimme von Berny Painter, einem seiner drei "Handwerksgesellen".

"Ich fürchte ja, Berny. Außerdem sah mir die Haushälterin sehr krank oder ausgezehrt aus. Am Ende hat der mit ihr auch noch experimentiert."

"Wau, ein Witwentröster? Ich dachte, der ist nur ein Engelmacher."

"Weiß nicht, ob das die Art von Trost ist, die eine Witwe haben möchte", grummelte Dunston.

"Eh meinst du echt, Johnson hätte der was kleines zugesteckt?" wollte Bill Joiner wissen, Dunstons zweiter Gehilfe bei sowas wie Hausdurchsuchungen.

"Könnte sein, sie war auf jeden Fall sehr gereizt, als ich wissen wollte, was ihr fehlt. Aber sei es, Leute! Kommt in die Puschen! Die Schlafdunstkonzentration ist mir schon fast zu hoch. Nachher fliegt uns das Haus schon beim kleinsten Pupser um die Ohren."

"Gut, dass ich heute keine Zwiebeln gegessen habe", bemerkte Berny darauf.

Wenige Minuten später waren die drei Gehilfen Dunstons mit schwerem Atemschutzgerät und Werkzeug vor Ort. Mit einem wie eine überbreite Taschenlampe aussehenden Gerät bestrich Walther Plumber, Experte für versteckte Hohlräume, Gas- und Elektrik die Wände und die Böden. Dabei wurden die gemessenen Daten direkt in einen tragbaren Rechner übertragen, der im scheinbar altersschwachen VW Käfer vor der Haustür verstaut war.

"Wenn wir die Falltür da im Salon aufbrechen könnte es zu sehr funken. Das gleiche gilt für den Zugang hinter der zweiten Vitrine", sagte Plumber.

"Dann nicht mit roher Gewalt, sondern im Puzzelmodus", sagte Dunston.

Stunde um Stunde verging, während die Männer im Schein von Chemoluminiszenzstäben die Vitrine Stück für Stück abmontierten und dabei eine verborgene Tür freilegten. Dahinter führte eine Wendeltreppe nach unten. Von dort maßen sie eine stärkere Ätherkonzentration. "Ein Funke und wir fliegen alle zum Mond", zischte Plumber, der das Gasprüfgerät bediente.

"Wie im Haus von Alwin Crowne", bemerkte Joiner. Durch die mittlerweile getragene Sauerstoffmaske klang das richtig unheimlich, wie aus einem geschlossenen Sarg, fand Dunston.

"Die mit schwerem Atemschutzgerät gegen die hohe Ätherkonzentration geschützten Männer erkundeten behutsam alle Räume. Sie fanden ausgeschaltete Computer und eine Menge Bücher über Frauenheilkunde, interne Medizin und in Büchern zusammengefasste Veröffentlichungen über die Forschung an lebenden embryonen. Plumber, der mittlerweile noch eine Tür ausfindig gemacht hatte, maß hier die Quelle des sich verteilenden Narkosegases.

"Hinter der Tür ist das Zeug", sagte Plumber. "Aber die Tür ist verschlossen und hält eine Menge aus. Ohne Funkenschlag kriegen wir die nicht auf."

"Kann sein, dass Johnson dahinter liegt", sagte Dunston. Plumber deutete auf Joiner. "Bring mit die Eismaschine!"

"Jawoll, machen wir die Tür kalt", erwiderte Joiner.

"Die Gefriernummer?" fragte Painter ein wenig verunsichert.

"Was'n sonst", tönte Plumber. Dunston hatte inzwischen das noch eingeschaltete Echolot in der Hand und führte es behutsam über die Tür. "Kann von dem Raum dahinter nicht viel lesen, weil die Tür zu dicht und von beiden Seiten beschlagen ist. Reicht es, wenn wir das Schloss aufkriegen?"

"Werden wir gleich erleben", sagte Plumber.

Zehn Minuten später trafen noch zwei Männer ein, Turm und Freibauer genannt, die eine große Flasche mit flüssigem Stickstoff und einen tiefsttemperaturunempfindlichen Schlauch mitbrachten. Mit einigen Dutzend Litern des Inhaltes vereiste Plumber die Tür in der Nähe des Schlosses so stark, dass sie zu einem einzigen Eisblock gefror. Daraufhin reichten fünf kräftige Hammerschläge, um den gefrorenen Teil herauszuschlagen. Sofort schlug das Gasspürgerät Alarm. Die Ätherkonzentration war um den dreifachen Weert gestiegen. Schlimmer noch, auch reiner Sauerstoff strömte aus. Die Männer gingen trotz der hohen Explosionsgefahr schnell und diszipliniert in den Raum und verschlossen die Ventile der Gasbehälter. Dunston erkannte den auf dem OP-Tisch liegenden Mann sofort. Das war Johnson.

Die Männer trugen den Leichnam des Hausbesitzers aus dem Geheimlabor heraus. Dunston sicherte sich noch das Laborbuch. Die Rechner des toten Arztes wollten sie erst abtransportieren, wenn die Ätherkonzentration unter den kritischen Wert gesunken war.

"Wer immer den Mann getötet hat muss eine Nahkampfausbildung haben. Ein gezielter Schlag hat die oberen Nackenwirbel gebrochen. der Schuss durch den Kopf erfolgte erst nach Todeseintritt", erwähnte Dunstons so genannter Hausarzt, eigentlich dafür zuständig, Todesursachen so zu drehen, dass von Unfällen ausgegangen wurde, auch wenn Dunston schon darauf achtete, dass nicht zu offensichtlich wurde, warum jemand ableben musste. .

"Vielleicht ergibt die Auswertung der Computer was brauchbares."

"Bringen Sie mir lieber nur die handschriftlichen Aufzeichnungen. Computerdaten lassen sich zu leicht unbrauchbar machen", sagte der Berufskollege des Getöteten.

"Da haben Sie eine Menge zu lesen, Doc", sagte Dunston mit beklommener Tonlage. Denn er war sich nun sicher, dass für den toten Johnson ein Menschenleben genausowenig gezählt hatte wie für Dunston.

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9. April 2002

Hier, in den schneebedeckten Weiten der Sierra Nevada, fühlte er sich sicher genug, doch noch einmal sein bis jetzt ausgeschaltetes Mobiltelefon in Betrieb zu nehmen. Er hoffte, dass er noch nicht mit internationalem Haftbefehl gesucht wurde, weil er sich so unauffindbar gemacht hatte.

Aldous Crowne laushte dem virtuellen Anrufbeantworter seines Mobiltelefons. Sieben Nachrichten waren seit seinem Aufbruch zu Abraham Johnson aufgezeichnet worden, alle mit Alwin Crownes Stimme aufgesprochen. Aldous hatte erst gedacht, dass sein offizieller Vater seinen Tod nur vorgetäuscht hatte, bis ihm aufgefallen war, dass die Silben künstlich zusammengefügt worden waren. Da wusste er, dass ein Computer ihm die Nachrichten aufgespielt hatte. Eine der sieben Nachrichten lautete:

"Mein Sohn, leider hast du erfahren, dass nicht ich dich gezeugt habe. Aber glaube mir, du kannst froh sein, dass deine Mutter und ich dich auf die Welt bekommen haben. Wenn du dein Erbe doch noch haben möchtest melde dich auf der Nummer in Bravo Kilo und sprich mit deiner Stimme den Satz auf, den ich dir schon mit fünf beigebracht habe!"

Dreimal wurde diese Nachricht wiederholt. Dann erfolgte die Mitteilung, dass Aldous in großer Gefahr schwebe, alles zu verlieren. Dann Kam eine jeden Tag aufgenommene Nachricht "Mein Sohn, wachst du noch oder schläfst du schon? Jetzt rufe ich noch zweimal an, und dann nimmermehr."

Die letzte Nachricht lautete: "Mein Sohn, so muss ich bangen, dass auch du von meiner Vergeltungswut dahingerafft wurdest. Ich hoffe, du hast mir meine Schuld vergeben und hattest doch ein schönes Leben."

Aldous rief die Nummer an, die sein Vater ihm mitgeteilt hatte. Doch am anderen Ende schrillte es los wie von zehn total übersteuerten Faxgeräten. Gleichzeitig wurde sein Handy immer heißer. Er warf es sofort von sich, so weit, dass die einen Meter lange Stichflamme, die aus dem Gehäuse schnellte, unschädlich weit an ihm vorbeifauchte. Aldous wurde blass, als er die nun qualmenden und glimmenden Reste des schlagartig geschmolzenen Telefons ansah. Hätte er das Handy nur eine Sekunde später weggeworfen hätte der Flammenstoß ihn sicher voll erwischt.

"Du hinterhältiger Schweinehund", schimpfte Aldous auf den Mann, den er bis vor vier Monaten als Vater geliebt und verehrt hatte. Dann dachte er daran, dass er das nun komplett zerstörte Telefon vor drei Jahren von seinen Eltern bekommen hatte, angeblich auch, weil es über das Airotech-Nachrichtensatellitennetzwerk in jeden Winkel der Welt reichte. "Hast du Sausack dabei glatt eine Bombe einbauen lassen", grummelte Aldous Crowne.

Seit der Flucht aus Johnsons Herrenhaus hatte Aldous auf seinem Motorrad einen Weg gesucht, unbemerkt durch den Tunnel zu kommen. Erst zwei Wochen nach der Flucht aus dem Haus war es ihm gelungen, einen verschwiegenen Lastwagenfahrer zu finden, der ihn und das Motorrad zwischen Maschinenteilen für Brüssel durch den Kanaltunnel schmuggelte. Von Callais aus war Aldous ausschließlich bei Nacht mit seiner geländegängigen Maschine durch Frankreich gerattert und durch die Pyrenäen nach Spanien vorgedrungen. Die hunderttausend Pfund, die er vor der Reise zu Abraham Johnson aus dem Geheimschließfach seiner Mutter abgezweigt und an verschiedenen Stellen in Euros umgetauscht hatte, halfen ihm, seinen Magen und den Tank der Yamaha immer wieder nachzufüllen.

Nach der Vernichtung des Mobiltelefons ohne Kontakt zur restlichen Welt ritt Aldous wie ein Ritter der Dunkelheit einige hundert Meter von der Autobahn entfernt durch die Nacht. Die Infrarotbrille, die er hinter dem Visier seines Helmes trug, ermöglichte ihm, ohne verräterisches Scheinwerferlicht zu fahren. Morgen früh würde er in Granada ankommen. Dort konnte er sich ein neues Handy und eine vorbezahlte Telefonkarte besorgen. Dann wollte er sich nach Juanita erkundigen. Danach wollte er weiter nach Südamerika. Dort, so dachte er, konnte er sich mit der in einer Bank von Buenos Aires deponierten Menge Gold unbesorgt niederlassen. So dachte er.

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15. April 2002

"Sage deinem roten Rittmeister, dass er besser nicht weiter mit Julian Diego Montanero verhandeln soll. Der ist meinem Schutzherrn ein wenig zu gierig geworden. Er weiß ja, was Carlos passiert ist", sprach die im Moment rotblonde Frau Mitte dreißig zu einer anderen Frau am gut verschlüsselten Telefon.

"Der will nicht in euer Revier, Sternchen. Der wollte nur die Damen aus Bogota einladen, doch besser gleich bei uns in England zu arbeiten."

"Wir zwei beide wissen, dass das schäbig ist, Mädels so abzuzocken, Tantchen", schnaubte die Rotblonde und blickte schnell noch in den Spiegel, um ihre Gesichtsbemalung zu prüfen. "Abgesehen davon ist Julian so gut wie tot, seitdem sein Kettenhund Martillo versucht hat, Enrica aus ihrem Haus zu entführen. Was mit Martillo passiert ist weiß dein roter Recke."

"Ja, die haben den regelrecht auf Eis gelegt."

"Dann sage deinem Unterhaltungschef, dass Julian der nächste sein könnte, der in einem Eisblock landet. Gib's weiter, Tantchen!"

"Muss ich wohl, wenn ich nicht einen neuen Privatchauffeur und Finanzmanager suchen will", schnaubte die Frau am anderen Ende der Leitung.

"Hmm, was ist mit dem enterbten Kronprinzen, seitdem er bei dir reingeguckt hat, Tantchen?" wollte die rotblonde Frau wissen.

"Hat sich vom Acker gemacht. Sein Auto wurde von der Polizei gefunden, aber er selbst ist weg. Allerdings haben uns einige Yardleute angesprochen, was wir mitbekommen hätten. Da er bei mir war habe ich denen erzählt, dass er die ganze Nacht gebucht und dann wegen dem Auto geflucht hat. Seit dem isser ganz vom Erdboden verschwunden."

"Weiß er, dass du meine Tante bist?" fragte die rotblonde Frau, die noch die letzten Handgriffe ausführte, um sich sündhaft schön und anziehend herauszuputzen.

"Ja, weiß er, weil wir zwei uns zu ähnlich sehen, oben und unten herum, Sternchen."

"Gut, dann grüß ihn schön von mir, wenn er sich noch mal zu dir hintraut, nordische Himmelsreiterin."

"Kann auch sein, dass ich die letzte war, die den lebend gesehen hat."

"Dann ist der zumindest nicht als unschuldiger Jüngling gestorben", scherzte die, die von ihrer Tante Sternchen genannt wurde. Beide Frauen lachten. Da klingelte es leise, und ein LCD-Bildschirm an der Wand schaltete sich auf eine Videokamera auf, die hinter einem Spiegel in der Bar angebracht war, die zum Haus des goldenen Apfels gehörte. Gerade war wohl jemand hereingekommen, der in diesem Etablissement noch nicht bekannt war.

"Tantchen, ob du's glaubst oder nicht, Der Satellitenkronprinz ist gerade bei uns zur Tür reingekommen."

"Was?! Wie ist das denn möglich?" wollte Sternchens Tante wissen.

"Kriege ich raus. Oder hast du dem gesagt, dass ich hier den Laden schmeiße?"

"Suchst du Streit, meine kleine Nichte? Ich tische doch keinem auf, wo meine Verwandten sind und was die so machen. Wenn der echt bei euch aufgeschlagen ist muss der es wohl gerade nötig haben. Du hast den ja schließlich voll angefichst."

"Angestoßen höchstens", erwiderte Sternchen. Dann sah sie, wie der Neuankömmling, der einen dezenten Anzug ohne Krawatte trug, an die Bar ging und mit der wasserstoffblondierten Schankmaid Marisol sprach.

"Mal hören, was er will", sagte Sternchen zu ihrer Tante. Diese erwiderte nur: "Gut, sei aber vorsichtig. Sein Vater hat wohl einige gemeinen Scherze losgelassen, dass deshalb vielleicht der halbe MI6 hinter dem her ist. Mehr dann, wenn Sieben vor Zwölf bei mir fertig ist."

"Ach, der, der immer so viel Trinkgeld gibt", grinste Sternchen.

"Für das, was er trinkt auch ganz angebracht. Noch einen erfolgreichen Abend, Sternchen!"

"Dir auch, Tantchen!" erwiderte die Rotblonde. Dann zog sie ihren Lippenstift und betätigte einen verborgenen Schalter daran. Dann hielt sie sich das scheinbare Schminkutensil ans rechte Ohr und lauschte.

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Jack Dunston hatte mehrere Wochen damit zugebracht, die Spur des verschwundenen Aldous Crowne wiederzufinden. Der Bursche war wie vom Erdboden verschluckt. Mittlerweile wusste der heimliche Vollstrecker des britischen Auslandsgeheimdienstes, dass der getötete Frauenarzt und Geburtshelfer Johnson wohl mehrere illegale Abtreibungen vorgenommen aber auch mehrere genauso gesetzeswidrige Embryoverpflanzungen durchgeführt hatte. Elizabeth Duffy hatte zwei Tage nach dem Fund ihres Arbeitgebers ein Flugzeug in Richtung Niederlande genommen. Dunston konnte sich denken, weshalb. Die Akten aus dem Haus waren eine reine Fundgrube an Verwerflichkeiten, auch wenn die Computer selbst ihre Geheimnisse zunächst nicht preisgeben wollten. Um mögliche Selbstzerstörungsschaltungen zu umgehen waren den Rechnern die Festplatten entnommen worden und in gesicherte MI6-Rechner umgesiedelt worden. Passwort- und Codeknackprogramme klopften und suchten die erbeuteten Laufwerke mit unbeugsamer Beharrlichkeit und übermenschlicher Geschwindigkeit ab. Dennoch dauerte es bald zwei Tage, bis die Daten entschlüsselt und vollständig ausgelesen werden konnten. Tatsächlich hatte Johnson Selbstvernichtungsalgorithmen programmiert oder programmieren lassen, die bei einer unerlaubten Benutzung seiner Laufwerke die Rechner zur Explosion bringen sollten. Doch diese logischen Bomben fanden in den gesicherten Systemen des MI6 keinen Ansatzpunkt und verpufften zu reinen elektronischen Kaskaden im hyperschnellen Gewusel der Datenströme und Unterprogramme.

"Der Kerl muss eine Art Frankenstein-Fixierung gehabt haben oder sich für Gott persönlich gehalten haben", seufzte Janita Tanner, die Chefkryptologin der Abteilung für brisante Maßnahmen, als Dunston sie im sicheren Haus des MI6 bei Wocester traf. Dann rückte sie mit dem heraus, was Dunston von ihr wissen wollte.

"Crowne ist auch so ein Transferembryo, eine Art biomedizinischer Wechselbalg. Leider fehlen detaillierte Akten über den Eingriff als solchen. Aber die geretteten Aufzeichnungen weisen aus, dass Johnson wohl mit den leiblichen Eltern und Crownes angeblichen Eltern immer in Verbindung gestanden hatte, meistens ohne deren wissenund Willen. Er unterhielt eine Art Privatgeheimdienst, dessen Mitglieder nicht auf den Computerfestplatten gespeichert sind."

"Offenbar sind sie in den Unterlagen, die der Mörder dieses Naturpfuschers hat mitgehen lassen. Offenbar ist dabei auch die Akte über Aldous Crowne. Würde mich nicht wundern, wenn der von irgendwoher erfahren hat, wer für seine Existenz verantwortlich ist."

"Schon heftig, dass dieser Verbrecher ungeborene Kinder aus den Bäuchen ihrer natürlichen Mütter herausoperiert hat, um damit zu experimentieren oder sie andren Frauen einzupflanzen."

"Elizabeth Duffy ist heute wiedergekommen. Der Kollege in Amsterdam hat nicht rausbekommen, ob sie wirklich wegen einer unbürokratischen Abtreibung dort gewesen ist."

"Ich hätte auch nicht das Kind ausgetragen, was mir ein verrückter Arzt in den Leib gesetzt hätte", sagte Janita. Dunston grinste verschmitzt. Janita wusste und billigte, was diese Abteilung tat. Die sollte doch im Bezug auf andere Leute, die ebensowenig den Wert eines Menschenlebens achteten, zurückhaltender sein. Aber dieser Fall betraf sie als medizinisch voll funktionsfähige Frau, eine mögliche Zielperson für den Getöteten.

"Die Adressen der Hinterbliebenen von Crownes leiblichen Eltern werden überwacht, wenngleich ich mir nicht vorstellen kann, dass der sich dorthin wagt."

"Ich auch nicht", sagte Dunston. Er ärgerte sich heimlich, dass Crownes Yaguar nicht wie gehofft erzählte, welche Orte er in den letzten Tagen vor dem Diebstahl angefahren hatte. Crowne hatte irgendwie herausbekommen, wie das mit dem letzten Auffrischungsprogramm heimlich untergejubelte Mitschreibeprogramm vieler Navigationssysteme überlistet oder gar blockiert werden konnte. Eigentlich wusste kein Normalnutzer was davon, dass in den Luxusgeräten, wie Crowne eines in seinem Wagen hatte, ein solches Mitschreibeprogramm installiert war, das über der Polizei und den Nachrichtendiensten bekannte Hintertüren abgefragt werden konnte. Tja, Aldus' Vater war ja Satellitenexperte und hatte sicher mit derartigen Überwachungsmöglichkeiten gerechnet und ihnen entgegengewirkt. So blieben die letzten Fahrten von Aldous' Crowne genauso unbekannt wie sein derzeitiger Aufenthaltsort. Aldous wusste offenbar zu gut, wie viele Datenspuren ein argloser Mensch hinterließ, der mit seinem Mobiltelefon hantierte, mit seiner Kreditkarte bezahlte oder sich in irgendwelchen Hotels oder Reisezentren einbuchte. Wo immer der Kerl abgeblieben war. Die Superdirne, bei der Aldous wohl zuletzt gewesen war, hatte nur erwähnt, dass er zunächst zu Fuß aus einer Seitenstraße losgezogen war, nachdem er ordentlich wegen seines gestohlenen Autos auf den Putz gehauen und sich dabei fast mit dem Chef ihres Vergnügungsunternehmens angelegt hatte.

"Niemand kann sich im Digitalzeitalter dauerhaft unsichtbar machen. Irgendwann wird der Bursche Geld brauchen oder von einer Überwachungsanlage aufgezeichnet", grummelte Dunston. Janita nickte verhalten. Sie glaubte nicht, dass Aldous Crowne so schnell wieder auftauchte.

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Aldous Crowne hatte seine Haare schwarz gefärbt und seine Augen mit brauner Schminke umgefärbt, um nicht gleich als Nordeuropäer aufzufallen. Sein schwarzes Motorrad stand gut versteckt in einem Keller des Hauses, dass er für zweitausend Euro für vierzehn Tage angemietet hatte. Heute wollte er es wissen, ob Juanita, die Frau, die ihn zum Mann gemacht hatte, wirklich die Chefin eines Kellerbordells in der Nordstadt von Granada war. Seine Strohleute in der londoner Unterwelt hatten ermittelt, dass Vicky die Walküre Juanitas Tante mütterlicherseits war und ihre kleine Nichte wohl angelernt hatte. Weitere zehntausend Euro hatte er dafür spendiert, die goldene Gastmitgliedschaftskarte zu kriegen, die ein Vollmitglied der Sündenstätte an gute Freunde oder für irgendwas zu ködernde Leute vergeben konnte. Er hatte sich beim Eintreten als José Bosques vorgestellt. Sein Spanisch war absolut akzentfrei. Er konnte sogar den madrilenischen Stadtdialekt imitieren.

"Alfredo Alto hat mir empfohlen, hier einmal herzukommen", sagte er, als er die zierliche Blondine an der Bar begrüßt hatte. "Er sagte sogar was, dass ich nach dem Stern des Hauses fragen solle. Sind Sie das?"

"Nein, ich bin Marisol, nur für Getränke zuständig. Wenn Sie was heißeres als unseren Lumumba oder Sake haben wollen müssen Sie mit Feliciana oder Cecilia sprechen. Die sind für den besonderen Service zuständig."

"Hmm, was zu trinken ist keine schlechte Idee", brummte Aldous und bestellte eine Erdbeermargarita.

Eine wohl zum Ausloten von Wünschen und Zahlungsvermögen angestellte Dame mit schwarzen Locken schlüpfte neben Aldous auf einen Barhocker und verschränkte ihre bis zum Oberschenkel nackten Beine. Er unterhielt sich mit ihr über Belanglosigkeiten, die nicht zu viel von ihm verrieten. Einige Minuten und zwei sündhaft Teure Gläser Champagner später trat eine Dame in hautengem Glitzerkleid ein. Aldous erkannte sofort ihre Augen, auch wenn ihr Haar bei dem ersten Besuch noch einen Ton dunkler und röter geschimmert hatte. Nina, die schwarzgelockte Animiermaid, sah respektvoll auf die Frau im Glitzerkleid, die mit einem Blick alles und jeden hier unter Kontrolle zu bringen schien. Dann wich sie mit einem aufmunternden Lächeln von Aldous' Seite, um der rotblonden Dame Platz zu machen. Jetzt konnte Aldous auch den kleinen goldenen Stern im rotblonden Haar erkennen.

"Hallo reisender. Müde vom langen Wandern oder Hungrig nach einem Heißen Nachtmal?" säuselte die Rotblonde. Aldous fühlte sich auf einen Schlag wieder wie der fast ausgewachsene Bursche, der nicht wusste, wie ihm geschehen war, als dieses Wesen ihm die verbotenen Früchte des Paradieses gezeigt und ihm den Tanz der wilden Wonnen beigebracht hatte.

"Oh, sind Sie la Estrella, der Stern des Hauses?" fragte er mit belegter Stimme. Vielleicht erkannte sie seine Stimme nicht mehr, weil er ja nur einer von sehr vielen gewesen war.

"Für dich auf jeden Fall, Al", schnurrte sie. Jetzt wusste Aldous, dass sie ihn trotz der Maskerade und der verstrichenen Jahre erkannte. Er war kurz vor dem Dahinschmelzen. Dieser Körper hatte seine Jungenzeit in sich aufgenommen und für alle Zeiten verschlungen.

"Womit hat ein Mann, der nichts erreicht hat die Ehre verdient, dass du ihn nicht vergessen hast?" fragte er leise.

"Du hast doch was erreicht, Süßer, mich", erwiderte die rotblonde Dame der Nacht mit kockettem Augenaufschlag. Aldous ging zwar davon aus, dass sie heuchelte, wenn sie ihn "Süßer" nannte. Doch er wollte es einfach nur genießen, diese Frau noch einmal wiederzusehen, die letzten Wochen und Monate genauso bei ihr abzustoßen wie er es mit seiner Jungenzeit gemacht hatte. Die andere wusste sicher, dass er wohl nicht von ihr hatte lassen können, auch wenn sein Vater ihm sicher mal erzählt hatte, dass das erste Mal seines Sohnes eintausend Pfund wert gewesen war.

"Hattest du einen weiten Weg?" begann sie ein erst unverfängliches Gespräch mit dem Mann, der nur ihretwegen aus der sicheren Deckung gekommen war. Er nickte und erzählte eine Geschichte, die ohne seine toten Verwandten und ohne den von ihm getöteten Dr. Johnson auskam. er erwähnte nur, dass er sein Leben verändern müsse und deshalb in die weite Welt hinausziehen müsse. Wohin er wollte erzählte er nicht. Irgendwann erfuhr er, was ihn hier alles erwarten mochte. Doch sie wusste, dass er nur wegen ihr hier war, nicht um sie auf den Pfad der Tugend zu führen oder zu prüfen, ob es stimmte, dass sie im horizontalen Gewerbe tätig war, sondern genau deshalb, weil sie es tat. Aldous fühlte, wie die von ihr zum ersten mal gezielt erweckten Begierden und Gelüste immer wilder aufloderten. Einmal streichelte er ihr durch das dichte, rotblond gefärbte Haar. Dabei berührten seine Finger den goldenen Stern, der in ihrem Schopf steckte. Dabei war ihm, als tauche er gerade in heißes Wasser ein und schwebe darin für eine Sekunde schwerelos. Dann fühlte er sich und sein immer größer werdendes Verlangen, diese rotblonde Frau für sich allein zu haben. Als er noch ein Glas Champagner geleert hatte war es so weit. Sie strich ihm gekonnt zärtlich über Wange und Nacken und schlängelte sich um ihn herum, wobei sie bewusst ihren Oberkörper an seinem Gesicht vorbeigleiten ließ. Er sog das frühlingsfrische, wenn auch schon aufdringlich duftende Parfüm in seine Nase und stand behutsam auf. Er schämte sich nicht dafür, dass sie alle sehen konnten, wie erregt er schon war. Ihm war nur noch wichtig, die alten Zeiten nachzufeiern, die vergangenen Jahre für eine Nacht voller käuflicher Leidenschaften zu vergessen. Am nächsten Morgen würde er durch einen der diskreten Hinterhofausgänge verschwinden, ohne dass die anderen Gäste mitbekamen, wohin genau.

Sie trug nichts als den goldenen stern in ihrem Schopf. Irgendwie brachte er Aldous immer wieder dazu, neu aufzuleben, so dass sie ihren berufsmäßigen Abstand fast vergaß. Es war ihr auch so, als verbinde der goldene Stern in ihrem Haar ihn und sie, um alles aus dem Mann, der gerade mit ihr eins wurde, herauszukitzeln.

Es vergingen zwei Stunden, bis er doch so sehr erschöpft war, dass er fast auf der Stelle neben ihr einschlief. Gerade so schaffte er es noch, sich zuzudecken. Sie schmiegte sich an ihn, um ihm von ihrer Wärme abzugeben. "Du hast ihn wirklich sehr gut trainiert, Tantchen", dachte sie an die Adresse ihrer Tante Valeria, die sich in London Victoria oder Vicky nannte. Dann hörte sie eine Stimme in ihrem Kopf:

"Danke, dass du ihn für mich gefunden hast, Juanita. Ich habe die Hoffnung fast aufgegeben, noch wen zu finden, in dem genug Magie steckt, ohne sie freizusetzen."

"Das ist einer von euch?" fragte sie in Gedanken zurück. Die geistige Stimme erwiderte:

"Noch nicht. Aber eine von meinen Schwestern wird ihn sicher gut auf uns einstimmen. Leider darf ich ihn mir nicht selbst nehmen. So stark wie er ist kann er sicher zwei oder drei meiner Schwestern wachküssen. Wenn er ganz tief schläft schicke ich Armando zu dir aufs Zimmer. Sei besser weit genug von ihm weg, damit er dich nicht aus Versehen trifft.!""

"Wann treffen wir uns wieder, Loli?" fragte Juanita alias La Estrellita ihre nur in ihrem Kopf klingende Gesprächspartnerin.

"Wenn ich weiß, dass er hält, was er verspricht, meine kleine Sternenprinzessin."

"Ich freue mich schon darauf", erwiderte Juanita. Dass sie Männer glücklich machte, aber Frauen liebte war Juanitas größtes Geheimnis, das außer ihr nur die eine kannte, jene, die ihre wahre Herrin und beste Vertraute war.

Juanita horchte, bis sie wusste, das Aldous fest schlief. Dann stand sie so behutsam sie konnte auf und schlich in das an ihr Arbeitszimmer angrenzende Badezimmer. Sie zog die Tür von innen zu. Dann lauschte sie. Es vergingen keine zwei Minuten, da öffnete sich die Tür ihres Zimmers. Sie hörte nur ein kurzes Zischen. Dann raschelte die Decke ihres extrabreiten Bettes. Nun konnte sie trotz des schweren Teppiches dumpfe Schritte hören, die in Richtung Zimmertür wanderten. Dann fiel die Tür hörbar zu und wurde wieder verschlossen. Juanita wartete noch eine halbe Minute. Dann verließ sie das geräumige Bad mit der runden Doppelbadewanne und betrat das Zimmer wieder. Das Bett war leer. Aldous war fort. Die Frau, die sich heute La Estrella Dorada oder nur Estrellita oder Dori nannte, lächelte zufrieden. Sie hatte herrliche Stunden wilden Sex erlebt, für eine, die damit ihr Geld verdiente schon was beachtliches. Jetzt gehörte er den schwarzen Engel.

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16. April 2002

Lyndon Morrow hatte sowas noch nie am eigenen Leibe erlebt. Bis er Loli kennenlernte hatte er ja auchnicht geglaubt, dass sowas wie eine zeitlose Ortsversetzung über haupt möglich war. Doch als er an diesem Morgen von Lolis Stimme in seinem Kopf aus einem wohligen Schlummer aufgeweckt worden war hatte sie ihm nur gesagt, dass er sich für die Betreuung eines Patienten bereitmachen sollte, der in den nächsten Tagen dauerhaft durchschlafen musste. Er hatte keinen Moment gezögert, dieser telepathisch übertragenen Anweisung zu folgen und sich umgezogen. Als er dann noch seinen Arztkoffer für Außeneinsätze ergriff, hatte das ihm geschenkte Medaillon violett aufgeglüht. Das Leuchten war zu einer Lichtwolke angewachsen, die ihn umschlossen und dann in einen nachtschwarzen Zwischenbereich zwischen zwei weit entfernten Orten hinübergerissen hatte. Keine Sekunde verging, bis er wieder auf festem Boden in einer räumlich ausgedehnten Umgebung stand. Er befand sich im Kellerraum eines Hauses, soviel erkannte er gleich. Aber er war alleine.

"Lege das Medaillon in den Schrank, den du rechts hast. Dein Patient wird soeben fünfzig Meter weiter bereitgelegt. Du sollst nur überwachen, ob meine Leute ihn korrekt einstellen, um im künstlichen Koma zu liegen."

Lyndon Morrow fragte, was mit dem Patienten geschehen war. Darauf erhielt er zur Antwort, dass es darum ging, ihn bis zu einer noch anstehenden Entscheidung in Tiefschlaf zu halten.

"Ist er dir im Weg?" fragte er.

"Sagen wir so, ich komme ihm besser nicht in den Weg, falls ich und noch eine Person, die dich im Moment nicht betrifft, beschließen, dass er für uns einige wichtige Dienste erfüllt, sofern er das noch kann."

"Ich halte ihn also im künstlichen Koma, bis ihr das wisst?" wollte Morrow wissen. Ein klares "Ja" erklang in seinen Gedanken.

Morrow legte wie befohlen das Amulett in einen merkwürdigen Schrank, der aus Silber zu bestehen schien. Er dachte daran, dass Silber und Gold wegen ihrer Eigenschaften gerne zu den magischen Metallen gezählt wurden. Als er das Medaillon eingeschlossen hatte, verspürte er große Wehmut, als habe er gerade einen geliebten Menschen verloren. Doch die Anweisung Lolis war klar und musste befolgt werden.

Als Morrow sah, wer der Patient war erstarrte er fast. Das war der junge Mann, der wegen einer sein Leben lang geheimgehaltenen Fremdabstammung um sein imposantes Erbe gebracht worden war. Doch hieß es nicht, dass er mit seinen vier Verwandten durch eine perfide Sprengstofffalle im Haus seines Vaters ums Leben gekommen war? Wer war dann der blondhaarige junge Mann da auf dem Operationstisch?

Als der junge Mann an die Apparate angeschlossen war, die ihn bis auf weiteres handlungs- und Willenlos hielten, verließen Morrow und die vier Männer, die ihm geholfen hatten, den Behandlungsraum. Dreißig Meter weiter war ein Überwachungsraum eingerichtet worden, in dem ein zwei Meter großer Plasmabildschirm das Bett mit dem Patienten zeigte und Zweitausgaben der Überwachungsmonitore seinen körperlichen Zustand anzeigten. Dort erhielt Morrow einen Anruf über eine Haustelefonleitung.

"Wenn du weißt, wie der Junge davor bewahrt werden kann, gegen seinen Willen von einer Frau beschlafen zu werden, dann hast du jetzt drei Tage Zeit, es umzusetzen. Ich will nicht, dass eine meiner Konkurrentinnen oder eine meiner genauso grazilen Schwestern sich an ihm zu schaffen machen kann, ehe er seinen Auftrag erfüllt hat."

"Das ist kein Problem. Ich kann einen implantierbaren Elektroschocker benutzen. Damit wird bereits in der Herzchirurgie experimentiert, um bei auftretenden Herzrhythmusstörungen gerichtete Stromstöße abzugeben."

"Dann bring dieses magielose Ding dazu, nur dann zu wirken, wenn er geschlechtlich erregt oder bereits beansprucht wird, und zwar so, dass er und wer ihn gerade berührt entsprechend zurückgetrieben wird!"

"Ohne ihn gleich umzubringen?" wollte der von Loli unterworfene Arzt wissen. Sie erwiderte: "Genauso, Lyndy." Lyndon Morrow bestätigte den Auftrag. Dann wurde die Haustelefonverbindung getrennt.

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22. April 2002

Aldous' Kopf dröhnte. Doch nicht nur sein Kopf war es, der wie von hundert brummenden und von innen gegen die Schädelwände stürmenden Hornissen erfüllt war. Um ihn herum klang auch ein lautes Brummen und Rattern. Er fand erst langsam wieder zu sich. Als er vollständig erwacht war fühlte er eine vibrierende Matratze unter sich und erkannte das laute Lärmen als PS-starken Lastwagenmotor. Er fühlte das Ruckeln und hörte das leise Quietschen der beanspruchten Anhängerkupplung. Als er versuchte, sich aufzusetzen musste er feststellen, dass er mit vier breiten Rimen auf seine Unterlage festgeschnallt worden war. Jeder Versuch, die Fesseln loszuwerden misslang. Er war einfach zu schwach dazu. Er hörte über den Motorenlärm hinweg die Stimmen zweier Männer aus der Richtung, in der seine Füße lagen. Sie unterhielten sich in arabischer Sprache. Zwar hatte er die Sprache nicht so intensiv erlernt wie Spanisch, Französisch oder Deutsch, verstand aber, dass sie bald am Ziel waren. Wo genau das war verrieten sie nicht. Aldous unterdrückte den Impuls, loszuschreien, wild und wütend gegen seine Gefangenschaft zu protestieren. Doch dann erkannte er, dass es ihm zum einen nichts bringen würde und die beiden da vorne nicht wissen durften, dass er ihre Sprache konnte. Deshalb tat er weiterhin ohnmächtig und dachte darüber nach, wie er in diese Lage geraten war. Juanita musste ihm eine Falle gestellt haben. Er war bei ihr gewesen und nach mehreren Runden wilden Sex komplett kaputt eingeschlafen. Juanita hatte dann irgendwas angeleiert, dass er von ihr weggeholt und entführt wurde. Immerhin war er nicht so nackt in diesem Laster gelandet wie er bei ihr eingeschlafen war. Nein, er steckte bis zum Hals in einem sandfarbenen Leinensack. Diese Schweinehunde hatten ihn regelrecht eingesackt. Dann fragte er sich, für wen Juanita das gemacht hatte. Am Ende hatte irgendwer in Johnsons Auftrag noch eine Vergeltungsaktion angefahren. Doch das konnte nicht sein, weil er dann ja schon längst tot wäre. Sicher ging es denen, die ihn abgezockt hatten darum, von ihm noch was zu erfahren, vielleicht über die Firmengeheimnisse seines verstorbenen Nennvaters. Vielleicht schafften die sogar für den und sollten ihn irgendwo hinbringen, wo kein anderer an ihn herankam, und Juanita war der Speck in einer großen Mausefalle gewesen, mit dem sie ihn hatten ködern können.

Der Lastwagen bremste und stand still. Der Motor ging aus. Aldous erwartete, dass seine Entführer nun die Ladefläche öffnen und ihn herunterholen würden. Doch die stiegen nur aus und sprachen mit einem dritten Mann. Das Arabisch, was sie verwendeten klang ägyptisch. Aldous wusste das, weil sein Arabischlehrer aus Kairo stammte.

"Wir müssen alle aus der Gegend weg, bevor es dunkel ist. Niemand darf sich bei Nacht an der von Allah verfluchten Stelle aufhalten, damit Scheitans Tochter nicht wach wird."

"Du glaubst echt an dieses Märchen?" lachte einer der beiden LKW-Insassen. "Die Geschichte wird den ungehorsamen Jungen hier in der Gegend erzählt, damit sie spuren, und das schon seit tausend Jahren."

"Jedenfalls sollen wir vorm Dunkelwerden aus der Gegend verschwunden sein", sagte der Mann, der nicht mit im Laster gewesen war. "Also los, den Wagen volltanken und dann weiter! Ich bleib hinter euch."

"Öhm, das wir von Abdel wen hinten drauf gelegt bekommen haben, der morgen in Kartum sein soll weißt du, Faruk?"

"Wie, ihr habt wen hinten auf dem Wagen? Ich bringe diesen Sohn einer reudigen Hyäne eigenhändig um. Das hat der mir nicht gesagt."

"Er meinte, neben dem ganzen Technikzeugs sollten wir auch wen mitnehmen, der eine Menge Geld einbringt."

"Seltenst einfältig", schnaubte der Dritte. "Dann los, macht den Tank voll und fahrt weiter!"

"Kein Problem, Faruk", sagte einer der zwei.

"Bist du voll von der Sonne verbrannt, dass du meinen Namen nennst, wo der da hinten vielleicht mithören kann."

"Die haben den voll mit chemischem Zeug gepumpt. Der wacht sicher nicht vor morgen Früh auf", sagte einer der zwei Lastwageninsassen.

"Wenn du mal zu denken versuchst", schimpfte der Mann, den sie Faruk nannten.

Die Männer begutachteten die um Aldous herum gestapelten Sachen. Er tat schlafend, denn er wusste, dass er sofort umgebracht würde, wenn Faruk erfuhr, dass er dieses Treffen mitbekommen hatte. Tatsächlich fühlte er die Wärmeausstrahlung eines menschlichen Körpers und roch Schweiß und Öl. Eine sehr verächtlich klingende Stimme zischte: "Hoffentlich bist du verweichlichter Bursche das wert, dass ich mich in diese Gegend wagen musste."

Der Lastwagenmotor röhrte wieder auf, orgelte einige Sekunden im Leerlauf und brachte dann seine Kraft auf die Räder.

"Faruk ist doch ein Wüstenfloh. Der glaubt echt an das Märchen von der schlafenden Scheitanstochter, die nur von zwölf starken Magiern aus dem Osten besiegt aber nicht aus der Welt verbannt werden konnte."

"Du glaubst doch auch an Allah und den Propheten, oder?" wollte der zweite Insasse wissen.

"Nur bei meiner Familie und nur wenn ich von anderen dafür Geld kriege", hörte Aldous den ersten verächtlich antworten.

"oha, sag das bloß nicht, wenn Leute von der Bruderschaft in der Nähe sind oder von diesen Kämpfern, die den Amerikanern das nackte Grauen bereitet haben", erwiderte der zweite.

"Ich werde mich hüten", grummelte der erste. "Außerdem ..." Was außerdem noch zu sagen war blieb dem ersten im Halse stecken, weil auf einmal der Motor laut zu scheppern und zu spotzen begann. Es war, als wollten seine Kolben durch die Zylinder brechen. Dann knirschte es. Der Wagen ruckelte einmal heftig. Dann war der Motor ganz aus. Der Lastwagen rollte noch etliche Meter weiter nach vorne. Dann stand er ganz still.

"Was zum Scheitan war das?" schnaubte der zweite Insasse. Der erste blaffte: "Der Motor ist kaputt, einfach kaputt."

"Los los, sofort wieder anmachen!" zischte der zweite. Doch der Motor versagte seinen Dienst. Aldous hörte einen anderen Motor röhrend näherkommen. "Wird Faruk nicht freuen", raunte der zweite Insasse.

"ja, und Ismail auch nicht, wenn wir dem bis morgen nicht seine Sachen herangeschafft kriegen."

"Was fällt euch von tollwütigen Hyänen gebissenen Flohgehirnen ein, einfach anzuhalten, ganz in der Nähe der Pyramide des schwarzen Heidenkönigs?!" schrillte Faruks Stimme. Die beiden beteuerten, dass sie nicht weiterfahren konnten, weil der Motor ausgefallen sei. Faruk selbst versuchte, den Motor noch einmal anzulassen. Doch es kam kein Ton aus dem Motorblock. Als er ihn begutachtete schimpfte er unbändig laut los:

"Diese Schweineesser haben den Treibstoff mit Zucker versetzt. Den Motor können wir voll vergessen. Gut das meine Mühle noch genug Sprit bis zur Grenze hat. Los, umsteigen, nichts mitnehmen."

"Ähm, und der Sohn eines ungläubigen Hundes auf der Ladefläche?" fragte der zweite Insasse.

"Mal sehen, ob ich den wachkriege", knurrte Faruk. Dann hörte Aldous, wie sich jemand an der Plane zu schaffen machte und auf die mit Holzdielen ausgekleidete Ladefläche trat. Das nächste was er fühlte, waren behaarte Männerhände, die ihm an den Hals gingen und ihn rüttelten. Doch er wusste, wenn er jetzt offiziell aufwachte würden sie ihn vielleicht hier und jetzt umbringen. Dann fühlte und hörte er zwei schmerzhafte Ohrfeigen links und rechts in sein Gesicht klatschen. "Eh, Kerl, aufwachen!" brülte Faruk ihm ins linke Ohr. "Verdammt, der schläft echt", stieß er aus. "Los, die Gurte abmachen und den Sack mit dem hinten in meinen Kofferraum rein. Hier darf nach Einbruch der Dunkelheit kein lebender Mensch sein."

"Wir können den nicht mitnehmen. Abdel hat die Gurte mit Sicherheitsschlössern festgemacht. Nur er und Ismail haben die passenden Schlüssel."

"Dann niete ich den um. Spürt ja dann eh nichts davon", sagte Faruk entschlossen.

"Bist du wahnsinnig? Wenn wir Ismails Ware beschädigen oder zerstören sind wir und alle unsere Söhne übermorgen tot", entfuhr es dem zweiten Lastwageninsassen. Da klickte es metallisch. Dann krachte es unüberhörbar. Etwas schweres fiel um.

"Eh Mann, du hast Faruk umgelegt", stieß der zweite Insasse aus. Der erste erwiderte eiskalt:

"Ich will noch ein paar Kinder in die Welt setzen, bevor dein Allah mich zu meinen Vätern versammelt", sagte der Fahrer. "So, und wir nehmen uns Faruks Karre und holen bei Ismail einen neuen Laster, um den hier umzuladen!"

"Ismail wird uns in Scheibchen schneiden und den Schakalen zu fressen geben", stöhnte der zweite Insasse. "Nicht wenn wir beide sagen, dass Faruk den hier abknallen wollte. Also los, ab und weg. Am Ende ist das mit dem Motor eine Falle, damit die uns abkassieren."

"Stimmt, hast recht. Gut, in Allahs Namen lassen wir den hier. Sollen die den doch einkassieren. Aber dann sollten wir uns bei Ismail nicht blicken lassen."

"Auch wieder wahr", grummelte der Lastwagenfahrer. Dann entfernten sich die beiden. Aldous hörte, wie der Motor des anderen Wagens wieder aufröhrte, hörte das Fräsen von profilstarken Reifen durch Wüstensand und wie der andere Wagen sich entfernte. Er lag alleine auf einer Matratze, die mit einem Metallrahmen am Boden einer Ladefläche verschraubt war. Die hatten ihn einfach hier zurückgelassen! Wenn keiner mehr zu ihm hinfand verdurstete er glatt. Zumindest musste er im moment nicht zur Toilette. Was hatten die gesagt? Irgendwer hatte ihn mit Chemikalien vollgepumpt, dass er schlief. Wahrscheinlich hatte sein Körper das Hexengebräu schneller abgebaut, als die alle dachten. Aber das war für ihn noch schlimmer. So würde er alles von seinem quälend lange dauernden Ende mitbekommen, sofern die beiden Banditen nicht doch noch einmal zurückkamen, um ihn abzuholen. Ob er sich das wirklich wünschen sollte wusste er auch nicht. Ihm spukte die Gruselgeschichte durch den Kopf, die Faruk so umgetrieben haben musste. Eine Tochter Scheitans also des Teufels sollte hier schlafen? Dass immer noch viele Orientalen an die Dschinnen und Dämonen glaubten, von denen die Märchen aus Tausenduneiner Nacht berichteten wusste er. Dann hatten sie was von einer umgedrehten Pyramide eines schwarzen Heidenkönigs gesagt. Dann könnte er gerade in Ägypten sein. Das passte eben auch zum Dialekt der drei Banditen. Sollte er jetzt um Hilfe rufen? Was brächte ihm das? Am Ende kamen noch wilde Tiere auf die Idee, ihn umzubringen. Aber hier gab es keine Löwen, aber Schlangen. Tja, und wenn er tot war kamen die Geier. Tolle Aussichten!

Noch einmal versuchte er, sich gegen die vier Gurte zu stemmen. Doch die hielten fest und sicher. So blickte er noch einmal an die sich über ihm wölbende Plane. War das wirklich das letzte, was er im Leben zu sehen kriegen sollte? In Gedanken verfluchte er seinen Wunsch, noch einmal zu Juanita zu gehen und es so richtig mit ihr zu treiben. Er lag da und glitt in die Erinnerungen an sein bisheriges Leben hinüber, von den unbeschwerten Tagen seiner Kindheit, über das gestrenge Eton und das ihn in einem goldenen Käfig einsperrende Internat von Sheffield, einer Stadt, die er sich erst hatte ansehen dürfen, als er seine Oberschulabschlussprüfung bestanden hatte. Tja, und da hatte er dann mit seinen Freunden einen draufgemacht, einige Pubs unsicher gemacht und sich anstandslos betrunken. Aber das alles war nichts gegen den herrlichen Tag am Strand und die wilde, heiße Nacht mit der wie eine zufällig vorbeikommende Radlerin auftretenden Rothaarigen, die er ganz Gentleman in das Strandhaus seiner Eltern eingeladen hatte, damit sie nicht bei der hier herrschenden Dunkelheit überfallen würde. Erst wollte er auf der Couch schlafen. Doch die Unterhaltung und der im Kühlschrank verwahrte Champagner hatten seine Hemmungen gelöst. Als er merkte, dass die Fremde, die sich Juanita nannte immer näher zu ihm hinrückte und ihn mit schönen Worten und behutsamen Handreichungen in Stimmung brachte, fühlte er, dass da etwas war, das heute sein Recht auf Anwendung durchsetzen wollte. Juanita bemerkte das natürlich auch und bot ihm an, in den neuen Tag wild und leidenschaftlich hinüberzufeiern. Er wollte gerade zusagen, als etwas schmerzhaft erst durch seinen Unterleib und dann noch durch seine rechte Schulter jagte wie ein brennender Dolch. Schlagartig fand er sich auf jenem Gestell wieder, auf dem jemand ihn festgeschnallt hatte. Er fühlte gerade noch, wie etwas schweres auf seinem Körper lag und im nächsten Moment von einer weiteren Schmerzwelle regelrecht verdrängt wurde. Gleichzeitig meinte er, den wütenden Aufschrei einer Frauenstimme in seinem Kopf zu hören, der jedoch so schnell verhalllte, als habe jemand der Anderen den Mund zugehalten.

"Mist, was war das?" fragte sich Aldous und tastete sich ab. Wieso waren seine Arme wieder Frei? Überhaupt war er jetzt nicht mehr gefesselt und steckte auch nicht mehr in dem Sack. Die Gurte hingen schlaff neben ihm herunter, der Sack lag in der Mitte aufgeschnitten vor seinen Füßen, und er war splitterfasernackt. Erschrocken lauschte er, ob jemand in der Nähe war. Er fühlte sogar, dass da etwas war, das angespannt wie er in die Nacht lauschte. Er setzte sich auf und starrte in die dunkelheit. Er sah nur die Kisten, die um die festgeschraubte Liegestatt herum festgezurrt waren. Vielleicht versteckte sich jemand dahinter. Er prüfte jede Kiste nach. Niemand hockte oder kauerte dahinter, nicht mal eine Schlange hatte sich hier vor der Nachtkühle versteckt. Dann fand er den Verschluss der Ladefläche und schaffte es, ihn von innen zu öffnen. Eiskalte Luft wehte ihm von draußen entgegen. Er brauchte nur einen kurzen Blick hinaus zu tun um zu sehen, dass er in einer Wüste gelandet war. Ein kristallklarer Sternenhimmel wölbte sich über der ebenen Fläche, die von Sand und Geröll bedeckt war. Gerade so konnte er noch eine feste Straße, eher eine Piste erkennen, auf der der Lastwagen notgeparkt worden war. Doch mehr bekam er so nicht heraus. Die Kälte setzte ihm bereits so stark zu, dass er zu zittern anfing. Schnell schloss er die Plane wieder. Er lauschte und hörte etwas summen und rauschen. Erst dachte er, seine Ohren spielten ihm einen Streich. Doch dann erkannte er, dass es eine Klimaanlage war, die sicherstellte, dass die Ladung nicht zu hohen Temperaturunterschieden ausgesetzt wurde. Der Kälteeinbruch hatte die Maschine auf höhere Tour geschaltet. Warme Luft wurde nun unter die Plane geblasen, um die Kälte der Wüstennacht draußen zu halten. Aldous wusste, dass er so wie er jetzt war niemals durch eine Wüste laufen konnte, nicht bei Tag und nicht bei Nacht. Ohne Schuhe würde er gleich vom ersten Skorpion vergiftet, auf den er trat. Außerdem würde er sich die Füße am sengenden Sand verbrennen. Ohne Kleidung würde ihm die Sonne zusetzen, seine Haut verbrennen und ihm den Hitzschlag versetzen. Er schnaubte wütend. Er war frei und jetzt noch mehr gefangen als vorher. Würden sie wiederkommen, diese Verbrecher, die ihn hier zurückgelassen hatten?

Als er sich die vier Gurte ansah stellte er fest, dass die Verschlüsse ohne Gewalteinwirkung geöffnet worden waren. Doch er hatte sich so nicht befreit, oder doch? Er dachte wieder an die in ihm schlummernden Kräfte, die ihm zweimal das Leben gerettet hatten. Hatten die die Gurte aufgemacht, telekinetisch, eine Art Entfesselungszauber? Vielleicht konnte er die Teleportationskraft wieder entfesseln, die ihm schon geholfen hatte. Bei dem Gedanken hatte er das Gefühl, das irgendwer ihn belauschte. Doch hier war doch niemand. Er hatte den Wagen abgesucht. Bis auf das Führerhaus.

Er nahm seinen ganzen verbliebenen Mut zusammen und öffnete noch einmal die Plane. Ohne sich groß zu besinnen, dass er gerade total nackt war sprang er hinaus und landete auf dem noch nicht ganz erkalteten Sand. Hoffentlich trat er nicht gleich auf was giftiges oder schreckte eine Wüstenmaus auf. Doch er musste es jetzt wissen, ob er hier mutterseelenalleine war oder nicht. Er lief zum Führerhaus. Die Türen waren zu. Natürlich hatten die Gangster ihren Laster nicht unverschlossen hier geparkt, auch wenn sie hier in der Wüste waren.

Die Kälte ließ ihn immer mehr zittern. Wenn er nicht bald wieder in die Wärme kam erfror er hier noch, mitten in der Wüste, was für eine Ironie. So lief er mit immer steifer werdenden Beinen um den Lastwagen herum und machte einen anstrengenden Klimmzug, um wieder auf die Ladefläche zu kommen. Gerade wollte er die Plane von innen verschließen, um der Klimaautomatik nicht zu viel abzuverlangen, als er das klare Wummern die Luft zerteilender Rotorblätter hörte.

Aldous kniff sich in den Arm. Das konnte doch nicht sein. Da kam ein Helikopter angeflogen. Wer immer das war, er musste ihn oder sie auf sich aufmerksam machen. Doch er konnte kein Feuer machen und nichts, um den Hubschrauber anzulocken. Dann hatte er die Idee. Er nahm eine der kleineren Metallkisten. Uh, war die schwer! Er sprang damit wieder von der Ladefläche herunter auf den nun immer kälter werdenden Sand. Jetzt konnte er das wilde Schrappen der wirbelnden Rotorblätter noch lauter hören, ja auch schon das hohe Singen der Turbine, die die Luftschraube antrieb. Wenn er sich nicht beeilte flog der Heli über ihn weg und verschwand wieder in der Nacht.

Er rannte auf das Führerhaus zu. Knapp drei Meter davon entfernt holte er mit dem Metallkasten aus und schleuderte ihn aus einer schwungvollen Drehbewegung heraus zielgenau gegen die Fensterscheibe der Fahrertür. Die Kiste war zwar viermal so schwer wie ein Basketball, flog aber genauso sicher wie ein solcher ins Ziel. Laut klirrend zersprang die Scheibe. Im selben Moment begann eine schrille Alarmsirene loszuwimmern. Aldous musste sich erst die Ohren zuhalten. Doch dann erkannte er, dass er damit nicht viel erreichte. Er rannte auf das Führerhaus zu, zog sich hoch, griff so schnell wie er es bei der nötigen Vorsicht tun konnte durch das kaputte Fenster und entriegelte die Tür. Dann zog er die Hand zurück, ohne sich an den noch herausstehenden Splittern zu schneiden. Er riss die Tür auf und enterte das Führerhaus. Er fand schnell den Lichtschalter und knipste ihn an. Immerhin ging die Beleuchtung auch ohne Motorunterstützung an. Die beiden Frontscheinwerfer brannten zwei grelle Bahnen in die Dunkelheit, übergossen die vor der Kühlerschnauze herausragende Piste mit hellem Licht. Aldous lauschte. Er durfte sich nicht auf einen der Sitze setzen, weil da noch Glasscherben lagen. Mit den Füßen auf dem Trittbrett verweilend knipste er das Licht wieder aus. Dann wieder an. Dann wieder aus. Danach machte er es dreimal kurz hintereinander an, eine Pause, dann dreimal lang und nach einer weiteren Pause dreimal kurz. Wer immer in dem Hubschrauber saß musste diese Botschaft kennen und entsprechend reagieren.

Tatsächlich schwoll der Lärm der Maschine immer mehr an. Zu den im SOS-Rhythmus an- und wieder ausgehenden Scheinwerfern flutete unvermittelt helles Licht von oben den Standplatz.

Aldous sah, wie die Maschine zur Landung ansetzte. Eigentlich sollte er doch froh und erleichtert sein. Doch was er fühlte war Wut und Enttäuschung. Wie kam er denn darauf? Er verdrängte diese nicht zu seiner Lage passen wollenden Gefühle und sah, wie aus der nun gelandeten Maschine fünf Männer in Kampfanzügen herausstürmten. Sie hielten Sturmgewehre Schussbereit. Aldous sprang vom Trittbrett zurück auf den Boden, federte den Aufprall gerade noch so ab, dass er nicht einknickte und hielt die Hände über den Kopf. Jetzt mussten die anderen doch sehen, dass er wirklich nichts bei sich trug.

Drei der Männer brüllten ihn hektisch an. Sollte er weiter so tun, als verstehe er kein Arabisch? Ja, besser war es.

Er ließ es zu, wie ihn drei Männer packten. Dann kam einer mit einem großen Tuch und wickelte es ihm zwischen den Beinen und um die Taille herum. Dann zerrten sie ihn zur startbereit dastehenden Maschine, während sieben weitere Männer die Maschine verließen und den Lastwagen durchsuchten. Aldous wurde in eine angenehm vortemperierte Kabine hineingeschoben und gezogen. Jemand packte brutal seine Arme, drehte sie auf den Rücken und fesselte sie mit Handschellen. Aldous ließ sich das alles gefallen. Nur weg von diesem Ort, dachte er. Da hörte er in seinem Kopf eine sehr wütende Frauenstimme:

"Wo immer du sein wirst, mein Erwecker, du bist und bleibst mein, wenn ich richtig erwacht bin."

"Heh, Bursche, bist keiner von den Schmugglern Faruks und auch keiner von den Muslimbrüdern", sagte einer der Männer auf Französisch, das Aldous auch fließend verstehen und akzentfrei sprechen konnte. So erwiderte er im Pariser Dialekt, dass er Albert Grichaud sei und von Freischärlern auf seiner Wanderung um den Tempel von Abu Simbel überfallen und entführt worden war. Man habe ihm alle Sachen weggenommen, auch die Kleidung.

"Wir prüfen das nach", blaffte der Mann, der Französisch konnte.

"Wir haben eine unter Steinen versteckte Leiche gefunden, Hauptmann As-Sisi", meldete einer der in die Hubschrauberkabine zurückkehrenden Männer. Aldous bekam das alles fast eher wie einen Traum mit. Denn ihm spukte immer noch diese wütende Frauenstimme im Kopf herum. Halluzinierte er wegen der Kälte? Dann dachte er wieder an die Geschichten von der schlafenden Satanstochter, die bloß nicht aufgeweckt werden durfte. Womöglich hatte ihm dieses Gequatsche mehr zugesetzt als er dachte. Doch es war ja auch eigentlich unmöglich, dass er zweimal aus geschlossenen Räumen entkommen konnte, ohne einen Houdinischen Zaubertrick angewandt zu haben, noch dazu so, dass er von einer Sekunde zur anderen mehrere Dutzend bis hundert Meter übersprungen hatte. Dann sollte er sich vielleicht damit anfreunden, dass Shakespeare recht hatte und es doch mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gab, als die Schulweisheit der Naturwissenschaften sich vorstellen konnte.. Als ihm diese Erkenntnis durch den Kopf ging hörte er ein leises, überlegenes Lachen einer Frauenstimme. Dann bekam er mit, wie drei Männer mit einem schwarzen Sack in die Maschine kletterten. "Das ist Faruk Al-Fattah, der Chef der Südbande. Der Lastwagen hat jede Menge westliche Elektronik geladen."."

"Keine Spur von den Fahrern?" wollte der mit Hauptmann As-Sisi angesprochene Anführer wissen. Die Frage wurde verneint. Dann schloss sich die Tür. Aldous bekam noch mit, wie die Maschine startete und den für ihn unheimlichen Ort verließ. Die nur von ihm gehörte Warnung ging ihm aber nicht aus dem Kopf. Vielleicht war er einem gnadenlosen Schicksal geradeso entkommen.

Der Französisch sprechende Mann, wohl ein Armeesoldat, fragte ihn nun aus, wann und wo er in die arabische Republik Ägypten eingereist war und wo er logiert hatte. Aldous erwähnte, dass er in einem Zelt gewohnt hatte, weil er das Land ganz untouristisch miterleben wollte. "Dann musst du aber unsere Sprache können, Sohn einer läufigen Hündin", stieß einer der anderen Soldaten auf Arabisch aus. Die Beleidigung perlte jedoch an Aldous ab wie Regen an einer imprägnierten Fensterscheibe. Der andere tadelte den Kameraden kurz und heftig. Dann wandte er sich wieder Aldous zu und fragte ihn, wie er ohne Arabischkenntnisse durch das ägyptische Hinterland reisen konnte. Aldous erwähnte einen neuartigen Übersetzungscomputer, der half, gesprochene Worte in eine andere Sprache zu übersetzen und das fast simultan zum Sprechen. Doch wohl genau den hätten die Banditen haben wollen, behauptete er.

"Nun, außer ihrem Körper und Ihrer Aussage haben wir nichts, das beweist, dass es sie gibt", räumte der des Französischen mächtige Ägypter ein. Das konnte Aldous nicht abstreiten. Außerdem wusste er, dass seine Legende sehr dürftig war, ein totaler Schnellschuss, mit glühendheißer Nadel zusammengestrickt. Wenn er Pech hatte landete er in einem Gefängnis. Doch wenn er es selbstbewusst anstellte, schickten die Ägypter ihn auf Staatskosten nach Frankreich zurück. Mit seiner derzeitigen Maskerade, die die Banditen ihm nicht weggenommen hatten, ging er sowieso als Franzose durch. Nur wenn die seine DNS überprüften, die in England ja schon aktenkundig war, könnte das für ihn brenzlig werden.

Die Maschine flog durch die Nacht. Irgendwann glitzerte ein breites silbernes Band unter ihnen im Mondlicht. Das musste der Nil sein, bei dem sich Geographen immer noch stritten, ob er oder der Amazonas der längste Strom der Welt sei. "So lerne ich mal Kairo kennen. Hätte ich mir schon längst mal ansehen sollen", dachte Aldous, als er in der Ferne ein Lichtermeer sah.

Die Maschine passierte die ägyptische Hauptstadt jedoch weiträumig und landete mitten auf einer Insel im Nil. Kaum stand die Maschine auf ihren Landekufen wurde Aldous, dem man mittlerweile die Handschellen wieder abgenommen und ihm eine dürftige Kleidung gegeben hatte, in ein umzäuntes Gebäude in einen fensterlosen Raum geführt, der ein Bett, einen Teppich, eine Waschgelegenheit und eine Toilettenschüssel enthielt. Aldous ahnte, dass er in dem Raum wohl einige Stunden oder Tage zubringen musste. Da sagte sein Übersetzer, dass er hier bis morgen früh bleiben könne, bis man ihn zu einer weitergehenden Befragung bitten würde. Direkt danach wurde die Tür von außen geschlossen und unüberhörbar verriegelt. "Gewöhn dich schon mal an die Gitter", knurrte Aldous auf Französisch in Anspielung auf den Film "Zurück in die Zukunft", wo der in seine eigene Vergangenheit gereiste Held seinen Onkel als Kleinkind im Laufstall sah, von dem er wusste, dass der später mal im Gefängnis landen würde. Würde er je wieder den freien Himmel über sich sehen? Zumindest aber würde er nie wieder an die Stelle der Wüste zurückkehren, vor der die Schmuggler so viel Angst gehabt hatten, dass sie einen der ihren erschossen hatten, weil der ihn erschießen wollte.

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Seine Vielzweckarmbanduhr zeigte gerade 18:24 Uhr, als sie wild vibrierte. Dunston hob das kleine Vielzweckgerät vor den Mund und sagte: "Läufer auf C eins!"< Da verschwand die übliche Anzeige und machte einem winzigen Schachbrett Platz, dessen weiße Felder von innen her leuchteten. Die Position c1 wurde rot blinkend dargestellt. Dann erklang aus der Uhr die Stimme von Dunstons Einsatzleiter:

"Läufer, in siebenhundertzwanzig von c eins zu f Vier. dort nächsten Zug abwarten!" Dunston bestätigte das. Das Schachbrett verschwand wieder und machte einer Countdownanzeige Platz, die von zwölf Minuten an herunterzuzählen begann.

Dunston griff sich den für solche Fälle gepackten Koffer und warf sich die stumpfgraue Jacke mit den vielen Innentaschen über. Dort hatte er alles verstaut, was so unauffällig wie möglich transportiert werden konnte, sich im Bedarfsfall aber zu gefährlichen Waffen zusammenbauen beziehungsweise zweckentfremden ließ. Dann zog er sich die wetterfesten Stiefel an und verließ sein Appartment. Draußen schaltete er über seine Uhr, um die ihn selbst sein Fiktiver Kollege James Bond beneiden mochte, die mehrfach gestaffelte Alarmsicherung ein. Vor allem die Begasungsanlage, die innerhalb von einer Minute alle Räume mit purem Stickstoff fluten konnte, sollte seine Wohnung vor ungebetenen Besuchern schützen.

Ein schwarzes Taxi holte ihn ab. Als er sich mit dem Kennwort "Dolles Wetter für eine schachpartie", identifiziert hatte, wurde er zu einem versteckten Flughafen gebracht. Dort wartete bereits ein Learjet mit laufenden Triebwerken. Als er von drei uniformierten Männern des Bodenpersonals an Bord geführt worden war piepte seine Armbanduhr dreimal kurz. Das war das Signal, dass er den vorgesehenen Standort erreicht hatte.

Es war nicht die erste "Dienstreise", die Dunston auf diese Weise antrat. Daher kümmerte es ihn auch nicht, dass der Pilot oder die Piloten im Cockpit blieben, ohne ihn zu begrüßen. Sie sollten nicht wissen, wen sie flogen, während er nicht alle kennen musste, die ihn von A nach B beförderten. Am Ende mochte es noch sein, dass er per Fallschirm abspringen sollte. Das wäre auch nicht das erste Mal.

Als der Learjet abhob blinkte für einige Sekunden eine neue Countdownanzeige auf, die einen Flug von fünf Stunden herunterzählte. Es piepte viermal, als die Maschine schneller als 600 Stundenkilometer flog. Der winzige GPS-Empfänger hatte die Abreise mitbekommen. Da erschien wieder das Schachbrett in der Anzeige. Dunston prüfte, ob die Kabine schalldicht war. Dann erfuhr er über eine in die Uhr überspielte Tonaufzeichnung, dass er sich gemäß der Vorgehensweise Turmbauer als Mitarbeiter der französischen Botschaft ausgeben sollte, um einen angeblichen Bürger Frankreichs in die Kairoer Botschaft zu bringen, um dessen Repatriierung sicherzustellen. Sollte sich erweisen, dass es sich bei dem angeblichen Bürger um den gesuchten Mann mit dem Codenamen Wechseltaler handelte, sollte er mit dem ihm am Ziel zur Verfügung gestellten Mitarbeiter der Station Kairo einen Weg finden, ihn aus Ägypten herauszubringen. Soviel die Botschaft.

Eine Stunde später kam über den Satellitenempfänger der Maschine eine technisch verfremdete Botschaft herein, die erst in der Uhr zu einem verständlichen Wortlaut zurückverwandelt wurde.

"Verkleidung und Legende haben Sie sicher schon gefunden. gehen Sie wie instruiert vor. Melden Sie sich, wenn Zielfeld erreicht und Wechseltaler bestätigt!" Dunston bestätigte diese Nachricht.

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Tarlahilia war wütend. Fast hätte sie diesen verlockend starke Schwingungen aussendenden jungen Mann in Besitz genommen, ihm durch sein Schlafleben eingeflüstert, dass sie dessen erste Geliebte überhaupt war, da hatte eine ihr unbekannte Kraft ihn geweckt und ihr unerhörte Schmerzen in den Händen verursacht, die ihr durch alle Glieder fuhren. Weil er aufgewacht war und damit ihre noch nicht ausreichend starke Präsenz zurückdrängte, war sie unsichtbar in die Heimstatt in der Nähe der umgedrehten Pyramide zurückgesprungen. Was hatte sie dermaßen beleidigt. Zumindest wusste der Mann nichts, dessen Gedanken sie erfasst hatte, als sie, von einem starken Vibrieren der sie umfließenden Essenz, aus ihrem viel zu langen Schlaf aufgeweckt worden war. Als sie dann noch mitbekam, dass Menschen aus einem lauten, fliegenden Gerät, in dem die Kraft des Feuers in Drehbewegung umgewandelt wurde, den ihr zugeführten Mann fortbrachten und sie nicht sofort hinter ihm her konnte, weil sie noch nicht wieder richtig bei Kräften war, stieß sie ein geistiges Wutgebrüll aus, das nicht überhört wurde.

"Ich will den wiederhaben. der ist stark, der gehört mir. Schafft den wieder zu mir hin, sofort!" dröhnte ihre Gedankenstimme. Der junge Mann, den sie fast gehabt hätte, stand gerade so noch mit ihr in Verbindung. Wäre diese dem unbekannte Vorrichtung nicht gewesen, er hätte jetzt ihr und nur ihr, der Tochter der schwarzen Mittagssonne, gehört. Aber sie würde sich weniger begüterte Menschenleben einverleiben, um endgültig aus ihrer Verbannung zurückkehren zu können. Dann würde sie sich holen, was ihr zustand.

"Ich höre, Schwester Tarlahilia, das du erwacht bist", vernahm sie aus sehr großer Entfernung eine ihr bekannte Frauenstimme in ihrem Geist. Eine zweite Stimme erklang, ein wenig Näher, aber doch noch sehr weit fort:

"Ich grüße dich im Reigen der aus Itoluhilas Gnade wiedererweckten Schwestern. Hat unser gemeinsames Aufweckgeschenk deine volle Zufriedenheit gefunden?"

"Wer hat diesen Mann mit einem Bann belegt, dass er bei der Berührung einer Frau Schmerzen austeilt und wohl auch selbst empfindet? Es ist widerlich, ein derartig pulsierendes Leben derartig zu verwehren. Krieger aus der Zeit, in der ich jetzt erwacht bin haben ihn auf ein von Feuer getriebenes Luftross gehoben und sind mit ihm davongeflogen. Ich konnte ihn zwar noch rufen, aber nicht mehr zu mir zurückzwingen. Ich muss erst genug frische Kraft bekommen. Wart ihr das, die ihr diese gemeine Zauberei an ihm angebracht habt. Ich konnte den Hauch deiner Kraft an ihm spüren, als ich ihn anfasste, Itoluhila. Beinahe hätte dieser Hauch mich abgewiesen. Aber richtig zurückgedrängt hat mich dieser Schmerz, der aus seinem Unterleib kam."

"Ich möchte außer dir noch andere Schwestern aufwecken. Horche in unsere Gedankenwelt hinaus, Schwester der schwarzen Mittagssonne! Dann hörst du sie auch."

"Schwester, ich will diesen Mann wiederhaben. Ich will ihn für mich alleine haben!!" gedankenrief Tarlahilia und fühlte, wie dieser Ruf sie viel Kraft kostete. Sie bewahrte gerade noch ein einziges Leben in ihrem Kruge auf. Das war alles, was diese verdammten Blausternträger noch übriggelassen hatten, nachdem sie sie mit Feuerbällen, Blitzen und Sternenpfeilen bedrängt hatten. Den Ausschlag für ihren Sturz in den dauernden Schlaf aber hatte einer dieser widerlichen Ausgeburten ihrer Mutterschwester Ashtaria gebracht, der mit seinem silbernen Erbstück gegen sie angesprochen hatte, gerade, als sie noch einmal die Kraft von hundert in der Sonne verdorrter Leben auf einen Schlag freimachen wollte. Die Macht dieses verfemten Segensliedes hatte sie in ihren Krug zurückgeschleudert, dabei gleich die letzten drei in ihr verbliebenen Lebensessenzen vertilgt und sie somit unmittelbar in Schlaf gezwungen. Und jetzt, viele hundert Sonnenumläufe später, hatte sie einer geweckt, der bereits an der Schwelle der nnach außen wirksamen Kraft stand, aber noch nicht gelernt hatte, sie genau zu ergründen und zu lenken. Fast hätte sie dadurch nicht aus ihrem Schlaf und zu ihm hinfinden können. Und jetzt war ihr dieser Mann entrissen worden. Das würde sie denen, die das getan hatten, nicht verzeihen. Aber auch ihrer Schwester würde sie das nicht vergessen.

Als die erste Wut verraucht war und Tarlahilia fühlte, dass sie fast wieder in den tiefen Schlaf zurückgefallen wäre, besann sie sich und lauschte wie vorgeschlagen in den Raum der Gedanken. Da hörte sie es, das leise Knarren, Brummen, Fauchen und Knattern, als wenn irgendwer versuchte, etwas unnatürlich stark verlangsamt in ihren Geist zu übermitteln. Da erkannte sie, warum ihre Schwester Itoluhila und auch Ullituhilia wohl darauf ausgegangen waren, sie aufzuwecken.

"Sie erwacht wieder. Die jüngste von uns erwacht wieder", stellte sie fest und fühlte Angst in sich aufwallen. Selbst sie, die sie eine mächtige Tochter Lahilliotas war, spürte eine gewisse Angst vor jener, die sich wohl langsam aber sicher in die Wachweltzurücktastete.

"Auch wenn sie wieder aufwacht und gerade dann will ich mich stärken und einen Gefährten, der stark genug ist, für mich Dienste zu tun, Schwestern. Los, lasst ihn mir wieder zurückbringen und verratet mir, wie der Zauber geht, der ihn für mich unberührbar gemacht hat!"

"Verzeih mir, wenn ich dich gekränkt habe. Aber das Wohl unserer noch bestehenden Gemeinschaft zwingt mich, ihn dir nicht ganz und gar zu überlassen", erwiederte Itoluhila mit gewisser Abbitte.

"Ich werde mich stärken. Dann finde ich ihn, gehe zu ihm und bringe ihn zu mir. Keine andere soll ihn haben. Du kennst das Gesetz, Itoluhila. Wenn eine Tochter der großen Lahilliota sich einen Gefährten erwählt hat, so ist er für die anderen Töchter unberührbar. Deshalb wird es nicht gelingen, dass er weitere von unseren Schwestern aufweckt. Jede die sich ihm nähert wird ihren unsichtbaren Hauch an ihm zurücklassen und ihn damit für jede andere unannehmbar machen. Also verschaff mir Nahrung, die ich einverleiben kann, um ihn mir wieder zurückzuholen!"

"Das können wir nicht. Außerdem hast du ihn nicht ausreichend berührt, um ihn ganz der deine werden zu lassen", erwiderte Itouluhila. Nebenbei hörte Tarlahilia auch Ullituhilia kichern. Dann sprach diese in ihre Gedanken:

"Nimm es hin, Tarlahilia, dass es Vorrang hat, dass alle erreichbaren Schwestern erweckt werden, bevor die Jüngste aufwachen kann und nach unseren Leben und Kräften trachtet. Denn noch einmal können wir sie sicher nicht überrumpeln, weil wir nur noch zu sechst sind." Tarlahilia lachte verächtlich. Dann erfuhr sie die Geschichte, warum nur noch sechs Töchter Lahilliotas gegen die eine antreten konnten. Doch sie bestand darauf, dass sie den Erwecker für sich haben wollte, allein schon, weil sie ihn dann als Erbeuter starker Seelen, auch denen der Träger der Kraft, aussenden wollte. Als Itoluhila und Ullituhilia in seltener Einigkeit ablehnten, ihr diesen Wunsch zu erfüllen schrie sie laut auff wie ein wütender Säugling, der hungernd und dürstend in seinen eigenen Ausscheidungen liegt und endlich von all diesen Qualen erlöst werden will. Doch dieser Gedankenruf trieb sie zurück in ihren Lebenskrug. Beinahe verfiel sie wieder in einen langen Schlaf, nicht wissend, wie lange dieser dann andauern würde.

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"Wenn du diesen Westentaschen-James-Bond und den von Faruks Gaunern zurückgelassenen Burschen noch vor zwei Uhr nachmittags zu meiner Maschine schaffst kannst du eine ganze Nacht lang mit Loli zusammensein", hatte Hussein noch gut im Ohr. Er hatte schon von dieser überragenden Frau gehört, die für seinen Boss arbeitete. Eine Superhure für eine ganze Nacht ohne zahlen zu müssen war für den geschlechtlich auf dem trockenen sitzenden Handlanger Felipes eine ausreichende Begründung, den aus Europa herübergekommenen Spion und den von Faruk entführten und in der Nähe des verfluchten Grabes zurückgelassenen dahin zu befördern, wo man die beiden haben wollte.

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23. April 2002

Aldous Crowne alias Albert Grichaud wusste nicht, wie viele Stunden er verschlafen hatte. Er erinnerte sich nicht einmal an einen Traum. Ein Klopfen an der Tür weckte ihn jedoch unsanft.

"Kommen Sie herein, die Tür ist offen!" rief Aldous auf Französisch. Jemand lachte. Dann wurde er gefragt, ob er bekleidet sei. Aldous prüfte, ob er noch alles anhatte. Nach seinen letzten Erlebnissen konnte er sich da ja nie sicher sein. Er bestätigte es. da ging die Tür auf, und drei Männer traten ein, zwei Ägypter und ein Europäer im schnieken englisch geschnittenen Anzug. Der Europäer begrüßte Aldous auf Französisch und strahlte ihn erfreut an. Aldous musste einen Moment überlegen, was das sollte. Dann strahlte er zurück.

"Außenamtsbevollmächtigter Antoine Moulin mein Name", stellte sich der Europäer vor. "Monsieur Grichaud, da haben Sie noch einmal Glück gehabt, dass die Armee sie so schnell gefunden hat. Wer weiß, was diese Banditen Ihnen noch alles angetan hätten, Mein Gott", sprudelte es aus dem Mund des Mannes. Aldous fragte sich, in welchem Film er gerade mitspielen sollte. Aber er spielte mit. Schnelles Umstellen auf eine neue Lage gehörte für ihn schon zum alltäglichen Handwerkszeug. Sein Deutschlehrer hatte ihn deshalb einmal mit einem Weltraumhelden namens Perry Rhodan verglichen, der das auch meisterhaft beherrscht haben sollte.

"Ich empfinde es auch als sehr großes Glück, Monsieur Moulin. Jedenfalls bin ich froh, diesen gemeingefährlichen Banditen entrissen worden zu sein", sagte Aldous Crowne auf Französisch. Am linken Handgelenk des Mannes piepte eine Digitaluhr. Aldous fragte deshalb, wie lange er nun hier sei. Der Europäer nickte und sah auf seine Uhr. "Sie sind seit genau dreizehn Stunden auf dem Gelände der Armee. Ich erfuhr erst vor drei Stunden von Ihrer Anwesenheit, ein leider erst durch die Attentate in den USA ermöglichtes Kommunikationsabkommen zwischen der französischen Republik und Ägypten hat dies überhaupt ermöglicht, Sie so schnell wiederzufinden, nachdem sie sich von Ihrem letzten Standort abgemeldet haben."

"Sie überwachen mich, Monsieur Moulin?" tat Aldous entrüstet. Denn ihm wurde jetzt endgültig klar, dass der ihm vorgestellte Besucher ebensowenig Franzose war wie Aldous. Denn dass er sich nirgendwo an- und wieder abgemeldet hatte wusste Aldous ja besser als jeder andere hier.

"Monsieur Moulin hat den Auftrag der Botschaft Ihres Landes, die noch ausstehenden Formalitäten zu klären, zu denen auch gehört, dass Sie neue Papiere erhalten und eine Möglichkeit, Ihre Reise fortzusetzen oder unser schönes Land zu einem von Ihnen gewählten Zeitpunkt wieder zu verlassen", meldete sich nun die Stimme des Armeeangehörigen, der Französisch konnte. Aldous tat erfreut und erleichtert. Dann sah er den angeblichen Monsieur Moulin an und sagte, dass er gerne wieder nach Paris zurückkehren wolle, da er sich in Ägypten nicht länger wie Freiwild fühlen wolle.

"Natürlich", erwiderte der falsche Franzose. "Gut, falls Sie hier nichts weiteres zu erledigen haben begleiten wir den freundlichen Monsieur Al-Mahdi in sein Büro, um die nötigen Amtshandlungen zu vollziehen." Aldous war einverstanden.

Im Büro des im Range eines Oberleutnant stehenden Offiziers mit Französischkenntnissen füllten sie mehrere Dokumente aus. Grichaud alias Crowne unterschrieb einige Dokumente, wohl wissend, dass diese Unterschrift keiner Behörde bekannt war. Wer immer Moulin war, Scotland Yard, MI5 oder MI6, würde dieser sich schon früh genug zu erkennen geben.

Knapp zwei Stunden später, die Uhren zeigten 13:00 Uhr Ortszeit - wurden Aldous Crowne und der falsche Franzose mit einem Hubschrauber von der Militärinsel nach Kairo hinübergeflogen. Aldous war froh, als die Fahrt dann in einem Peugeot der Premiumklasse weiterging und er den Qualm aus tausenden von Auspufftöpfen alter Autos nicht einatmen musste. Er scherzte mit dem mit ihm auf der Rückbank sitzenden Moulin: "Jetzt wissen wir auch, warum einer der berühmtesten Pharaonen tut-Anch-Amun geheißen hat. Haben wohl damals schon wegen jedes Zentimeters Weg getutet, die Ägypter."

"Man gewöhnt sich dran", erwiderte Moulin und schaute wieder auf die Uhr. Der schwarzhaarige Fahrer grinste. Dann drückte er selbst auf den Knopf für die Hupe. Tröööt!

"Ach, und ich dachte, der Knopf sei dazu da, die Hupe kurzzeitig zu unterbrechen", trieb Aldous den vorhin gemachten Scherz weiter.

"So einen Wagen hatte ich, als ich in Rom für unsere Botschaft gearbeitet habe", erwiderte der falsche Moulin. Aldous hatte die Frage auf der Zunge, von welcher Botschaft der andere sprach. Überhaupt empfand er es als sehr bedrohlich, dass der andere neben ihm saß und ihm jederzeit was antun konnte. Doch er beherrschte sich so gut er konnte.

Zwei überlaute Motorräder knatterten blauen Dunst ausspeiend von rechts über die Fahrspur. Der Peugeot bremste scharf, so dass ihm fast ein schon sehr verbeulter grauer VW Käfer ins Heck knallte, wenn dessen Fahrer nicht noch den rettenden Schlenker nach links gemacht hätte.

"Hussein, besser nach rechts. Wir müssen uns beeilen, wenn wir die Maschine noch kriegen wollen", stieß Moulin auf Arabisch aus.

"Geht Klar, Sidi", erwiderte der Fahrer. "Sie beide kommen noch rechtzeitig da hin, wo sie hin sollen."

"Was soll denn diese Bemerkung?" fragte Moulin. Da fühlte Aldous ein ansatzloses Pieksen in der linken Gesäßbacke. Auch Moulin schien etwas beeinträchtigt zu haben. Denn er zuckte hoch und warf sich in den Sicherheitsgurt. Gleichzeitig schossen seine Hände vor, um den hinterhältigen Fahrer am Hals zu würgen.

"Mist, Himmel Arsch und ..." fluchte der falsche Franzose nun im gediegenen Londoner Arbeiterenglisch. Aldous hörte es sehr wohl und fand seine Vermutung bestätigt, dass er es wirklich mit einem Landsmann zu tun hatte. Dann rauschte es in seinen Ohren, und vor seinen Augen fiel ein tiefschwarzer Vorhang nieder, bevor er meinte, in einen endlosen Schacht hinabzustürzen.

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Hussein grinste, als er sah, wie die beiden Fahrgäste auf dem Rücksitz erst versuchten, sich aus ihren Sicherheitsgurten zu winden und dann doch innerhalb einer einzigen Sekunde schlaff in den Gurten hingen. Hussein gab Gas. Sein Ziel war weder die französische Botschaft, wie der junge Bursche auf der rechten Seite glauben sollte, noch die britische Botschaft, wie dieser im schnieken Anzug gekleidete Typ hinter ihm gedacht hatte. Der hatte doch glatt noch versucht, Hussein die Hände um den Hals zu legen. Doch der angebliche Taxifahrer hatte mit einem schnellen Schlenker am Lenkrad den verzweifelten Versuch vereitelt. Jetzt konnte er zum Flughafen hinfahren. Doch halt. Wenn der Typ im Anzug echt ein britischer Agent war, dann hatte der vielleicht Peilsender oder andere Sachen bei sich, um gefunden zu werden. Die Uhr erschien Hussein besonders gut geeignet, damit um Hilfe zu rufen oder unter Überwachung zu bleiben.

Er fuhr in die nächste kleine Gasse hinein und bremste scharf vor einer bröckelnden Fassade. Lautes Babygeschrei und Geschirrklappern drangen durch die geschlossenen Fenster. Hussein schaffte es gerade so, die Tür zu öffnen und auszusteigen. Mit gezogener Pistole, die seine Leute aus Israel bezogen hatten, öffnete er die Hintertür. Der Agent sollte nicht sterben, so seine Anweisung. Doch wenn der doch nicht weggetreten war musste Hussein sich wehren.

Mit einer Ohrfeige überprüfte Hussein, ob die Betäubung echt war. Dann zog er dem Agenten alles aus, vom schnieken Anzug über die Schuhe, die Untersachen bis zur Armbanduhr. Letztere betrachtete er genauer. Sie sah nicht aus wie eine Agentenuhr mit hunderten von Sonderfunktionen. Doch Hussein wollte es nicht darauf anlegen, dass sie noch verriet, was mit ihrem Besitzer passierte. So warf er den tragbaren Zeitmesser im hohen Bogen durch die handtuchschmale Lücke zwischen zwei von Wüstensand und Wüstenwind angefressenen Häusern hindurch. Entweder ging sie kaputt oder fiel irgendwo runter, wo sie vielleicht ein kleiner Junge auflesen und sich herzlich darüber freuen mochte. Die dem Agenten ausgezogenen Sachen warf er in einen mit stinkendem Müll überfülten Blechbehälter am Straßenrand. Niemand beobachtete ihn dabei. Er hätte auch keine Probleme gehabt, jeden Zeugen mit seiner schallgedämpften Waffe zu erschießen. Am Ende wurde der Mossad noch verdächtigt, hier jemanden ermordet zu haben, dachte Hussein grinsend. Schließlich war er fertig mit seiner Extraarbeit und kletterte in den Peugeot zurück. Er legte den Rückwärtsgang ein und trat aufs Gas. Mit sehr schnellen aber sauber abgemessenen Lenkbewegungen bugsierte er den Wagen in die nötige Richtung und beschleunigte. Dass nun keine hundert Meter entfernt ein letzter Countdown ansprang bekam er nicht mehr mit.

Einsam und ihres Besitzers beraubt landete die Uhr des Agenten Läufer zwischen zwei dösenden Straßenhunden, die knurrend das Ding aus Metall und Plastik anstierten. Dann piepte dieses Ding auch noch eine kurze Melodie. Die beiden Hunde berochen das ihnen zugeworfene Ding, befanden, dass sie es bei all ihrem Hunger nicht essen konnten und liefen los, anderswo nach fressbarem zu suchen. Indes zählte die Uhr ihre letzten zwanzig Sekunden herunter, ohne dies offen anzuzeigen. In der vorletzten Sekunde des stillenund unsichtbaren Countdowns schickte sie noch eine Botschaft über die bekannte Satellitenkette: "Schwarzer Springer schlägt weißen Läufer auf a7. - Schachmatt!!"

Als die Uhr bis auf null Sekunden heruntergezählt hatte zerplatzte sie in einem anderthalb Meter großen Feuerball. Ein weithin hallender Knall rüttelte an den Häuserwänden, sprengte dünne Fensterscheiben aus ihren Rahmen heraus und wirbelte Staub, Sand und Splitter von Straßenbelag in die Luft. Dutzende von Menschen rannten laut schreiend und fluchend aus ihren Häusern und rannten davon, weil sie glaubten, regierungsfeindliche Terroristen hätten sie überfallen. Doch niemand war verletzt worden. Und der, der die kleine Zeitbombe in diese ärmliche Gasse geworfen hatte, fuhr bereits mehr als zweihundert Meter weiter fort.

Hussein hörte den dumpfen Knall zwar noch und auch das von den Wänden widerhallende Echo. Doch er tat die Explosion als ihn nicht betreffend ab. Was wichtig war lag im Kofferraum. Denn sowohl den angeblichen Franzosen Grichaud als auch den Agenten Moulin oder wie auch immer hatte er vorsorglich gut verstaut.

Als er zwanzig Minuten vor der vereinbarten Zeit die Sektion für Privatmaschinen erreichte wurde er schon von sieben Männern in blauen Überwürfen erwartet.

"Don Felipe will die Ware. Wenn sie beschädigt oder gar kaputt ist wirst du Krokodilfutter", zischte einer der sieben den Fahrer auf Arabisch mit jordanischer Klangfärbung an.

"Ich habe die Ware wie bestellt eingepackt und unbeschädigt abgeliefert. Ihr könnt froh sein, dass ich nur die gewünschte Ware anbringe, weil ein Paket hat etwas sehr lautes enthalten, was eurem Sidi sicher die letzte Lebensstunde gekündet hätte."

"Los, rausholen und zu den Maschinen", zischte der Jordanier. Im Handumdrehen waren der Kofferraum geöffnet und die beiden bewusstlosen Männer so blank wie Allah sie hatte werden lassen aus dem Wagen gewuchtet. Hussein bekam einen Umschlag in die Hand gedrückt. "Erst morgen früh aufmachen. Sonst wird unser Sidi böse", sagte der Jordanier noch, bevor er seine sechs Helfer mit gezielten Gesten anwies, dass der von der Armeeinsel weggeholte Mann in ein großes Düsenflugzeug umgeladen wurde, dessen vier Triebwerke bereits heulend auf Touren kamen. Der britische Spion oder Todmacher wurde zu einem verbeulten Propellerflugzeug hinübergeschafft, dessen vier Motoren noch nicht anliefen. Hussein interessierte sich brennend dafür, wo die beiden nun hinkamen. Doch er hatte gut gelernt, keine unerwünschten Fragen zu stellen. So nickte er den sieben Männern zu, stieg in den für ihn hingestellten Opel Corsa und fuhr davon.

"Wenn der Wagen verwanzt ist finden die den schnell", sagte Machmut, der Anführer der kleinen Bande. "Ismail, du fährst den schnell weiter zum Hauptterminal, da wo Hussein den ursprünglich hinschaffen sollte!" Ein drahtiger Mann nickte und nahm die Autoschlüssel.

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Das erste, was Aldous wieder wahrnahm waren bohrende Kopfschmerzen und das Gefühl, in einem sich ständig drehenden Karussell herumgewirbelt zu werden. Die weiteren Eindrücke waren das typische Summen und Rauschen, wie es an Bord von Düsenflugzeugen üblich war. Dann fühlte er noch, dass er auf einer gepolsterten Unterlage lag. "Denkt euch doch mal was neues aus", grummelte er mit halblauter Stimme. Dann schaffte er es, seine Augen zu öffnen und sah, dass er in einer fensterlosen Kabine auf einer Liege lag, und - Wer hätte es gedacht? - sorgsam daran festgeschnallt war. Der Umstand, dass er offenbar in einem Flugzeug wieder zu sich gekommen war und nicht auf Wolke Sieben oder in Kessel sechshundertsechsundsechzig war nur ein schwacher Trost. Wieder hatte ihn irgendwer entführt, mit einer hundsgemeinen Betäubungsspritze im Rücksitz seine Mitreiseeinwilligung erwirkt und war nun irgendwohin unterwegs. Andererseits warf das eine neue interessante Vermutung auf, dachte der wieder richtig zur Besinnung findende trotz der immer noch pochenden Schmerzen unter seiner Schädeldecke. Wenn er jetzt schon wieder entführt worden war, dann wohl, weil er was hatte, wusste oder konnte, was irgendwem wichtig war. Er dachte zuerst an alles, was er über die Firma seines so genannten Vaters gewusst hatte. Aber da kamen die doch wohl dran, wenn sie die Rechner aus der Zentrale holten. Vielleicht ging es denen um die Ciconia-Daten. Doch die einzigen, die davon was gewusst hatten waren Alwin Crowne, vielleicht Abraham Johnson und er. Die beiden erstgenannten waren tot. Außerdem waren die Ciconia-Daten mit dem Tod von Abraham Johnson wertlos geworden. Doch er hatte ja noch einige Akten aus Johnsons Geheimarchiv mitgehen lassen. wenn die zwischendurch doch noch bei dem im Haus gewesen waren und nicht die Äther-Sprengfalle ausgelöst hatten wussten die, dass was fehlte. Dann musste er wieder an seine übernatürlichen Erfahrungen denken. Vielleicht gab es ja bei den Behörden Geheimabteilungen, die sowas untersuchten, ja selbst mit übersinnlichen Leuten besetzt waren. Dann mochten die ihn jetzt wieder nach London bringen, wo er wohl in einem Geheimlager verschwand, sofern er nicht bereit war, in einem streng geheimen Mutantenkorps, einem echten X-Men-Projekt, mitzuarbeiten. Vermutung Nummer drei war, dass andere Agenten hinter ihm her waren, weil die mitbekommen hatten, dass Crowne sich unsichtbar machen wollte und ihn deshalb diskret vom Markt nehmen konnten, um sein ganzes Wissen auszubeuten. Dann kam er doch wieder auf seine übersinnlichen Erlebnise zurück. Denn er musste wieder an die Nacht in der Wüste denken, seinen Traum von Juanita, aus dem er wie von einem Stromschlag getroffen herausgerissen worden war. Er hatte sich dann entfesselt und nackt wiedergefunden, wofür er keine Erklärung gefunden hatte, weil er ja Eindeutig alleine im Lastwagen gelegen hatte. Ja, um dann hatte er diese wütende Frauenstimme im Kopf gehört, die behauptet hatte, er sei ihr Erwecker und würde deshalb immer ihr gehören. Vielleicht gab es eine geheime Bruderschaft von Dämonenbeschwörern, die rausbekommen hatten, wie man schlafende Dämonen wieder aufwecken konnte. Aber das erschien ihm jetzt doch ziemlich unsinnig. Doch die fremde Frauenstimme hatte er sich nicht eingebildet, das wurde ihm klar, als er die Ereignisse noch einmal nacherinnerte. Dann fiel ihm noch was auf. Als er Juanitas alias Estrellitas goldenen Haarschmuck berührt hatte war er für eine Sekunde von einer inneren Wärme durchströmt worden und hatte einen Moment geglaubt, zu schweben. War das eine Wechselwirkung zwischen einem magischen Gegenstand und der in ihm schlummernden Kräfte? Dann gehörte seine letzte für Geld erhaltene Liebespartnerin irgendwie mit dazu. Okay, davon war er bei seiner ersten Entführung sowieso ausgegangen. Aber hatte die dann auch mit der zweiten Entführung zu tun, weil die Ägypter ihn so schnell gefunden hatten. Überhaupt ein Jahrtausendzufall, dass die einen Hubschrauber genau da hatten langfliegen lassen, wo er war. Ja, und die Sabotage am Lastwagen, dass der nicht weiterfahren konnte. Aldous knurrte, weil er erkannte, dass er zu irgendjemandes Spielball geworden war, der von einem zum anderen geworfen oder gekickt wurde.

"Okay, Ladies and Gentlemen, wer und wo Sie sind, ich bin wach, habe Hunger und Durst. Könnte mir mal bitte wer erklären, wohin die Reise geht und wer sie bezahlt hat?"

Die Tür zur Kabine ging auf, und ein Mann Mitte dreißig trat ein. Er sah eindeutig südländisch aus, vom Hautton her aber Europäer.

"Ah, du bist wach. Das ist gut. Das heißt, dass die Droge, die dir unser Agent in Kairo verabreicht hat langsam aus deinem Körper heraus ist. Das heißt auch, dass der übereifrige Agent vom MI6, den sie dir hinterhergeschickt haben, um dich heim ins vereinigte Königreich zu bringen, auch bald wieder frei von der Droge ist", sprudelte es überlegen klingend in bestem madrilenischen Spanisch aus dem Mund des Mannes. Nach einer kurzen Pause fuhr er dann fort: "Achso, ich bin Felipe, das reicht für dich. Du willst wissen, wo die Reise hingeht? Südasien. Wann kommen wir an, so in fünf Stunden, genug zeit, zu essen und zu trinken und das unverdauliche wieder loszuwerden. Wer die Reise bezahlt? Loli Enterprises."

"Stimmt, war auch eine seltendämliche Frage, wer die Reise bezahlt", grummelte Aldous, der kein Problem damit hatte, in der spanischen Sprache zu bleiben. Dann versuchte er was neues. "Ich dachte schon, irgendeine Schwesternschaft namens "Die Töchter Satans" hätte mich gekidnappt, weil ich denen ein paar nette Wechselbälger in die Bäuche schupsen soll. Vielleicht gehört eine gewisse Dame aus Granada ja zu denen. Aber das war nur eine abgedrehte Männerphantasie von mir. Sicher ist die Kiste ganz banal, nur eine Abzockernummer, weil irgendwer noch nicht gelesen hat, dass bei mir nichts mehr zu holen ist."

"Außer vier Millionen Euro legaler Guthaben und fünfzig Millionen Euro auf Konten in der Schweiz, Singapur und Andorra. Aber dein Geld interessiert meine Auftraggeber nicht, nur deine genetische Abstammung."

"Ah, ja klar, weil irgendeine Gaunerbande daran interessiert ist, wie ich als Kind ganz anderer Eltern als der, die mich aufgezogen haben zur Welt kommen konnte und wegen meiner Mutter nicht zur Adoption freigegeben werden musste. Bin ja selbst so ein Wechselbalg."

"Nein, wer deine Eltern sind oder besser wer dein leiblicher Vater war ist meinen Auftraggebern bekannt. Zumindest ist es das, seitdem du Kontakt zu einer meiner Kolleginnen aufgenommen hast. In der Hinsicht hast du recht, dass Estrellita mit uns zusammenarbeitet. Ist ja auch eine tolle Frau", schwärmte der Mann, der sich Felipe nannte.

"Was du nicht sagst", erwiderte Aldous unbeeindruckt tuend. Dann hatte er eine Idee, die er sofort anbrachte. Er hatte ja nichts mehr zu verlieren. "Dann hat sie dich angeworben, damit du für diese Lollypop-Firma arbeitest, Felipe?"

"Nein, das war die Chefin der Firma selbst, als ich mich nach einem neuen Betätigungsfeld umsehen wollte, als mein bisheriger Chef auf einer Dienstreise von übereifrigen Luftcowboys abgeschossen wurde. Mehr zu erzählen wären Firmeninterna, die ich nicht preisgeben darf, es sei denn, meine Chefin erlaubt mir, dich zu töten, sobald ich es dir erzählt habe. Und genau das hat sie nicht vor. Im Gegenteil, sie würde jeden töten, der dich töten will. Fühl dich also geehrt. Du stehst unter sehr mächtigem Schutz."

"Also doch die Töchter Satans oder dessen Huren? Deine Chefin heißt nicht zufällig Lilith?" lachte Aldous Crowne.

"Nein, das war ihre Mutter. Aber das gehört schon wieder in den Bereich dessen, was dir gerne wer anderes erzählen soll. Du hast gesagt, dass du Hunger und Durst hast. Dann bringe ich dir gleich was. Öhm, versuch nicht, mir die Hände abzubeißen oder mir auf die Füße zu strullen! Ich bin nicht alleine in der Maschine, und wir haben genug Möglichkeiten, dich auch ohne Drogen ruhig und gehorsam zu stimmen. Nur für den Fall, dass du meinst, heute sei ein Tag für Helden."

"Neh, ich halte es mit den Klingonen. Heute ist ein guter Tag zum Sterben", konterte Aldous.

"Jaja, und Rache ist ein Gericht, das am besten kalt serviert wird", grummelte Felipe. "Aber du hast keine Waffe. Wenn du nicht im ehrenvollen Kampf stirbst kommst du in das Reich der Entehrten. Willst du nicht wirklich. Bis dann gleich!"

"Du mich auch, Arschloch", schickte Aldous dem jungen Spanier noch hinterher, als dieser schon die Tür von außen zugezogen hatte.

Als dann Felipe und zwei muskulöse Männer eintraten meinte Aldous, in einem schlechten Film über alte Nervenheilanstalten geraten zu sein. Einer hielt eine weiße Zwangsjacke bereit. Der andere wedelte mit einem Gummiknüppel. "Och neh, nicht diese Nummer", tat Aldous gelangweilt. Felipe schob derweil einen Wagen mit einem Teller mit dampfendem Inhalt, einem Löffel und einem großen Plastikbecher mit klarer Flüssigkeit herein. Aldous' Nase registrierte sofort den Geruch von Lammcurry. Sein Magen knurrte laut und fordernd.

Der Mann, der sich Felipe nannte, löste die Gurte an der Liege per Fernsteuerung. Als sich Aldous schnell aufsetzte schüttelte er den Kopf. "Wie gesagt, benehmen Sie sich bitte wie ein Gentleman, wenn wir alle keine unannehmlichkeiten erleben sollen!" wiederholte Felipe seine Androhung von eben in einer etwas diplomatischeren Form. Wozu auch knallharte Drohungen, wenn die aus einer alten Irrenanstalt ausgemusterten Muskelmänner im Hintergrund lauerten? fragte sich Aldous. Dann griff er behutsam nach dem Löffel und begann zu essen.

Der Gedanke, eine Henkersmahlzeit zu sich zu nehmen trieb ihn immer wieder um. Doch sein Verdauungssystem forderte energisch die ihm zustehende Beschäftigung ein. So schlang er Reis, Gemüse und Lammfleisch wie ein ausgehungerter Steppenwolf in sich hinein. Aus dem einen Becher Wasser, den er in einem Zug leerte, wurden am Ende drei Becher Wasser und aus dem einen Teller Curry wurden zwei verputzte Teller Curry. Bei der eine halbe Stunde später anfallenden Sitzung in einer Kabine nicht größer als ein Besenschrank blickte Aldous in den Spiegel über dem Waschbecken und streckte seinem Spiegelbild die Zunge heraus. Er ging davon aus, dass hinter dem Spiegel eine Kamera installiert war. Doch die hatten ihn schon nackt gesehen, als sie ihn bei Juanita aus dem Zimmer geholt hatten. Dann sollten sie eben auch mitbekommen, wie er sich von unverdaulichem Zeug erleichterte.

Die restliche Zeit musste Aldous wieder angeschnallt auf der Liege zubringen. Die Alternative wäre die Zwangsjacke gewesen. Dann doch lieber noch ein paar Stunden verschlafen.

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24. April 2002

Irgendwie war es wohl doch zu einfach gewesen, waren Jack Dunstons erste Gedanken, als er mit brummendem Schädel und einem Gefühl wie auf einem wilden Karussell fahrend wieder aufwachte. Sein eigener Trick war gegen ihn selbst angewandt worden. Die Nummer mit der im Rücksitz eines Autos verbauten Betäubungsspritze, um eine Zielperson entweder transportfähig oder gleich entsorgbar zu kriegen hatte er mit seinem Vorgesetzten ausgeknobelt. in den Peugeot war eine von ihm auslösbare Injektionsvorrichtung verbaut worden, deren Mittel innerhalb von zwei Sekunden zum KO führte. Er wollte diese Vorrichtung über seine Uhr einschalten, die ihm gleich bei der Begrüßung des angeblichen Franzosen per Stimmerkennungsprogramm verraten hatte, dass er der gesuchte Aldous Crowne war. Aber dann hatte dieser arabische Taxifahrer gleich zwei von den Dingern ausgelöst, wer immer die in dem Wagen verbaut hatte.

Das KO-Mittel hatte vortrefflich gewirkt. Wenn es das Zeug war, dass er Crowne zur Erwirkung seiner Heimreiseeinwilligung verpassen wollte, dann hatte er jetzt acht Stunden am Stück geschlafen. Und wo waren sie jetzt? Oder war er hier alleine? Er stemmte seine Augenlider auf. Doch es blieb dunkel um ihn. Mehr noch, er fühlte, dass es um ihn sehr eng und heiß war. Er bewegte die erst langsam wieder auf Touren kommenden Glieder und wollte damit seine direkte Umgebung erkunden. Dabei erkannte er, dass er in einem fest verschnürten Ledersack steckte. Die zweite unangenehme Entdeckung der Minute war, dass er keinen Fetzen Kleidung mehr am Leib trug. Dieser Taxifahrer hatte ihm echt alles ausgezogen und weggenommen. Wer immer seine Uhr abgezogen hatte hatte sicher schon das Aufbruchssignal zur längsten Reise des Lebens erhalten. Dann hörte er wild durcheinanderschrillende Stimmen in gewisser Entfernung. Da er sehr gut Arabisch konnte verstand er, dass sich da mindestens zwei Männer zankten, wer von ihnen vergessen hatte, das Flugzeug voll genug zu tanken. Einer schrie den anderen an, dass er keine Tankuhr lesen könne und er wohl besser im Hurenhaus seiner Mutter geblieben wäre, um die Abtritte zu reinigen. Daraufhin entbrannte eine wilde prügelei. Dunston hörte etwas auf Metall knallen, vernahm noch wüstere Schimpfworte als jenes, das gerade den Kampf ausgelöst hatte und vermeinte, jemanden ein Messer ziehen zu hören. Da ertönte eine weit hallende, sehr tiefe Frauenstimme:

"Hört jetzt auf. Ihr seid keine kleinen Kinder mehr!" Tatsächlich verstummten die Schreie und Schläge. Offenbar fragten sich alle, wer die Fremde war, die da gerufen hatte. Jack Dunston versuchte, sich aus dem Ledersack zu befreien. Doch der lag nicht auf dem Boden, sondern hing an vier straffgespannten Schnüren wie eine Hängematte. Arm- und Beinfreiheit waren auch sehr eingeschränkt, und der Schweiß rann ihm über die Stirn und tropfte von seinem Körper. Doch Jack Dunston grinste. Zu seinem schmutzigen Job gehörte es auch, sich aus Fesseln oder verschlossenen Räumen zu befreien, wie es der große Zauberkünstler Harry Houdini vollbracht hatte. So entspannte er sich, so weit die abklingende Betäubungsdroge ihm das erlaubte. Wenn er es hinbekam, sein Verdauungssystem entsprechend anzuregen, hatte er gleich den Schlüssel zur Freiheit in den Händen. Er konzentrierte sich so sehr auf seine anstehende Befreiung, dass er nicht mitbekam, was den Männern passierte, die ihn offenbar hier angeliefert hatten und nun wie er hier festsaßen, wo immer das war.

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Diesmal verzichteten sie darauf, ihm eine Spritze zu verpassen oder sonst wie zu betäuben. Sie trieben ihn mit brachialer Körperkraft aus der auf einem kleinen Flughafen gelandeten Maschine hinaus. Aldous konnte gerade noch sehen, dass es eine Boeing 737-600 war. Es ging zu einem Kastenwagen, wo Aldous meinte, er könne doch noch seine Karatekenntnisse anbringen. Einen der Muskelmänner, den mit dem Knüppel, erwischte er sogar. Der zweite ließ die mitgeführte Zwangsjacke fallen und zog ebenfalls einen Gummiknüppel hervor. Aldous sprang ihn an, da knallte ihm von hinten etwas auf den Kopf, und er sah alle Sterne der Galaxis in einer zeitgleichen Supernovaexplosion grell aufleuchten und nur noch totale Finsternis zurücklassen.

Als er wieder zu sich kam fühlte er eine dicke Beule am Hinterkopf, die schmerzhaft pochte. Die drei anderen waren weg. Er lag in einem Zelt, auf einem breiten Bett festgebunden. Um sich hörte er die Laute von Urwaldtieren. Nachher kam noch ein Tiger hier herein und bedankte sich bei Hare Krischna und Mama Kali für das Festessen, dachte Aldous. Zwei Mücken sirrten um seinen Kopf herum, strichen mal über seine Wange und mal an der Stirn vorbei. Die hatten seine Entführer offenbar nicht rechtzeitig getötet. Er dachte daran, dass er schon wieder wie ein Opferlamm bereitgelegt worden war. Hatte er es wirklich mit einer Sekte zu tun, die irgendwelche schlafenden Monster oder Dämonen aufwecken wollte, um diese dann in ihren Dienst zu nehmen? Er wusste, dass der Glaube an etwas so stark werden konnte, dass Menschen dafür alles taten. Die Terroristen vom elften September waren da ja das schlimmste aber auch beste Beispiel.

Aldous rief nach Felipe und den anderen. Hatten die ihn hier echt alleine liegen lassen? Niemand antwortete ihm. Dann ging ihm durch den Kopf, dass sie ihn hier wohl solange liegen lassen würden, bis er auf natürliche Weise einschlief. Ja, das war es wohl. Was diese Leute wollten war, dass er träumte. Die gingen wohl davon aus, dass er über seine Träume irgendwas auslöste, eine Tür öffnete, jemanden aufweckte und so weiter. Deshalb hatte dieser Kerl Namens Felipe auch so erfreut gegrinst, weil das Betäubungsmittel nachgelassen hatte. Denn beim letzten mal, wo er auf so einer Liege festgebunden gewesen war hatte er von seiner ersten Liebesnacht mit Juanita geträumt und fast wiedererlebt, wie er mit ihr das berühmte erste Mal erlebt hatte. Also solte er besser nicht einschlafen. Eigentlich war so eine Vorstellung Mumpitz. Doch die Erlebnisse in letzter Zeit ließen ihn umdenken. Er sollte besser nicht einschlafen. Dann dachte er, dass er sich vielleicht aus seiner Lage befreien konnte, wenn er sich vorstellte, in tödlicher Gefahr zu schweben. Das hatte bei den beiden letzten Malen ja auch geklappt. So dachte er, dass gerade zwei Königstiger laut knurrend um das Zelt schlichen, ja meinte, sie schon mit seinen Ohren zu hören und ihren strengen Raubtiergeruch in die Nase zu bekommen. Ja, er fühlte, wie es in ihm kribbelte, wie sein Blut aufwallte. Er stellte sich so konkret vor, wie die beiden Tiger das Zelt belauerten, dass er wirklich schon Angst empfand, Todesangst. Das Kribbeln in seinem Körper wurde zu einem regelrechten Brodeln. Dann fühlte er, wie etwas aus ihm herausbrach, sich mit einer grellen, bunten Lichtentladung um ihn herum austobte. Sein Herz hämmerte mit zweihundert Schlägen pro Minute in seiner Brust. Um ihn herum tosten die lautlosen Entladungsblitze, die aus ihm herauszuschießen schienen. Er wusste nicht mehr, wo er war. Dann war das Spektakel vorbei. Die bunten Lichtentladungen waren verschwunden. Aldous Crowne fühlte, wie seine Adern durch die hohe Beanspruchung zum zerbersten angeschwollen waren. Sein Kopf dröhnte. Das durch seine Ohren gepumpte Blut fauchte wie eine schnell bergauf fahrende Dampflokomotive. Doch er war noch immer auf der Liege, war noch immer festgeschnallt. Wieso hatte es nicht geklappt? Lag es daran, dass er an diese Liege geschnallt war? Er wusste nur, dass ihn ein zweiter Versuch sicher umbringen würde. "Ja, und das wollen wir ja nicht", drang unvermittelt eine sanft betonende Stimme in seinen Kopf ein, die Stimme einer jungen Frau, die er bisher noch nie gehört hatte.

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Sie fühlte sich wieder stark, wieder mächtig, wieder unüberwindlich. Das verdankte Tarlahilia, die Tochter der schwarzen Mittagssonne, einem Trupp von Wüstenbanditen, die am Morgen in diese Gegend gekommen waren, um jenes ohne Esel und Kamelkraft vom Ort bewegliche Ding auf den sich drehenden und doch fest angebauten Laufrollen zu holen. aus der wütend schreienden Halbschläferin war wieder die überlegt handelnde, ihrer vollen Macht bewusste Lauerjägerin geworden. Die fremden, die sich ihrem Versteck in der südägyptischen Wüste genähert hatten, fürchteten sich, ja sie hatten Angst vor ihr. Vor allem, als sie mitbekommen hatten, dass jemand ihr Fuhrwerk ausgeplündert und den Gefangenen fortgebracht hatte, waren die sehr wild durcheinandergelaufen. Mit großer Anstrengung hatte sie sich aus ihrem Versteck zwei Tausendschritte von der umgedrehten Pyramide des dunklenPharaos entfernt hinausbegeben. Die gerade am Himmel stehende Mittagssonne verlieh ihr die nötige Kraft, unsichtbar zwischen den auf ein anderes Fuhrwerk zuhastenden aufzutauchen und sich zwei der Männer zu packen, um mit ihnen zeitlos in ihrem Versteck zu verschwinden. Mit gezielten Schlägen hatte sie sie betäubt, um dann wieder zwei zu ergreifen und dann noch die beiden letzten. Einen nach dem anderen hatte sie dann entkleidet und in ihren Lebenskrug hineingeworfen. Die jeweils mit der Auflösung eines Gefangenen einhergehende Wolllustwallung ertrug sie mit großer Genugtuung. Als sie dann auch den letzten in ihrem Lebenskrug hatte verschwinden lassen, ohne ihn behutsam zu nehmen, war sie einen Moment lang erschöpft vor so vielen Wonnen hintereinander.

Jetzt war es später Nachmittag, und da draußen waren schon wieder Männer, Männer die mit etwas angekommen waren, was durch die Luft fliegen konnte und den Lärm von hunderten von gewalttigen Hörnern gemacht hatte. Sie hatten einen Gefangenen mitgebracht, dessen unsichtbarer Lebenshauch sie sofort wie eine wohlig anregende und auffrischende Essenz in sich einströmen gefühlt hatte. Die Männer da oben stritten sich, weil sie mit ihrem eisernen Vogel nicht mehr davonfliegen konnten. Die Angst vor dem Ort hier machte sie wütend, und sie schlugen aufeinander ein. Doch das konnte und wollte Tarlahilia nicht zulassen. Gestärkt von neuen Menschenleben wechselte sie Zeitlos aus ihrem Versteck mitten auf das Dach des gestrandeten Flugzeuges. Dass es eine DC-3 war wusste sie nicht und interessierte sie auchnicht. Sie interessierten die vier gerade aufeinander einschlagenden Männer. Weil sie die alle lebendig und möglichst unversehrt wollte rief sie dazwischen. Die vier hörten sie. Dann sahen sie zu ihr hoch. Tarlahilia trug im Moment keinen Faden Kleidung an ihrem sündhaft vollkommenen Körper.

"Wer wird sich denn darum schlagen, ob ihr hier wegfliegen könnt oder nicht?" säuselte sie nun. Sie fühlte die schlagartig in den Männern aufsteigende Angst. Wenn die jetzt in alle Winde davonrannten wie verängstigte Kamele hatte sie das Nachsehen. So wechselte sie mit der Kraft ihrer innewohnenden Magie vom Dach des Flugzeugs hinunter, mitten zwischen die vier. Einer von denen griff gerade nach einem Ding, das vorne aus einem geraden Metallrohr und hinten aus einem Griff und einer Vorrichtung bestand. Weil der Kurzlebige es wie eine Waffe auf sie richtete und dabei reine Lust zum Töten verströmte fing sie seinen Blick mit ihren Augen ein. "Du musst hier niemanden töten. Du brauchst diese Waffe nicht. Lass sie fallen! Lass - sie - fallen!!" sprach sie immer eindringlicher klingend. Der Pistolenschütze wankte, zitterte und keuchte. Dann ließ er die Waffe in den Sand fallen und trat zwei Schritte zurück. Die Anderen hatten nun endgültige Gewissheit, dass sie die Dämonenprinzessin war, die ihrer Meinung nach von einem Gehörnten Herrscher eines brennenden Schreckensreiches gezeugt worden war.

"Du da bleibst auch hier. Ihr bleibt jetzt alle hier, hier bei mir! flötete sie immer gekonnter und bestrich dabei jeden der Männer mit ihrem Blick. Dass die vier Raufbolde nun handzahm vor ihr standen war ihr eine große Genugtuung. Sie zählte noch einmal durch. Dann winkte sie den vieren, ihr zu folgen. Ganz ohne Kleidung schritt Tarlahilia zwischen ihren Gefangenen dahin, die von ihrem bannenden Blick zusammengehalten wurden und auch kein Wort mehr sprachen. Wie eine Herde Lämmer dem Metzger mit den verlockenden Mohrrüben folgten die vier der unbekleideten Frau zu einer Stelle, die sich unvermittelt hob und zu einem bogenförmigen Eingang wurde. Die Tochter der schwarzen Mittagssonne wusste, dass sie dieses Versteck nicht lange würde halten können. Wenn die Anhänger dieser blauen Morgensternträger noch lebten würden sie wohl in den kommenden Tagen wieder versuchen, sie in den Schlaf oder aus ihrem Körper hinauszutreiben. Dagegen musste sie sich wappnen. Die vier hier würden ihre Kraftquellen sein. Den fünften, den sie gegen seinen Willen hergebracht hatten, würde sie sich auch noch holen. Denn der trug unerweckte Zauberkraft in sich. Doch irgendwie fühlte sie, dass sein Körper noch nicht völlig frei von einem lähmenden oder berauschenden Gift war. Anders als die vier, die sie gerade in ihr Versteck hineintrieb, die keinen Tropfen Bier oder Wein in sich hatten.

"So, meine lieben, wilden Himmelsreiter. Hier sind wir nun für uns. So legt alles ab, was euch nicht angewachsen ist!" säuselte sie, während der Höhleneingang wieder zusammenwuchs, langsam, lautlos, unaufhaltsam. Als sich die Höhle vollständig schloss, erfüllte Tarlahilias Magie sie mit aller Kraft und drang in die vier gefangenen ein, die dadurch, dass sie selbst keinen Funken Magie enthielten, die in sie fließende Zauberkraft aufsogen wie trockene Schwämme das Wasser. Tarlahilia begann nun einen der Sonne und der Leidenschaft gewidmeten Tanz und sang dazu ihr Lied der lodernden Leidenschaft. Ihre Bewegungen und ihre Stimme verstärkten den von ihr ausgeübten Zauber noch mehr. So schlüpften die vier Gefangenen aus ihrer Kleidung. Sie wiesen am ganzen Körper Blutergüsse auf, die Erinnerungen an die heftige Prügelei von vor wenigen hundert Atemzügen. Beim Tanz näherte sie sich mal dem einen, dann dem anderen, bis sie sich den stärksten der Männer als erstes Ziel auserwählte. Den anderen gebot sie, sich in der Nähe des goldenen Kruges aufzuhalten, der als starke Lichtquelle die weite Höhle erleuchtete.

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Lyndon Morrow hatte durch Loli schon einiges an unerhörten Dingen und unfassbaren Vorgängen mitbekommen. Doch was er nun in den von Aldous Crowne erbeuteten Aufzeichnungen las verschlug ihm fast die Sprache. Da hatte ein Kollege von ihm schon in den 1970er Jahren mit menschlichen Keimzellen und Embryonen experimentiert, und Aldous Crowne war einer dieser Versuche gewesen. Das Geschöpf hatte also seinen eigenen Schöpfer getötet. Loli, die in Lyndons Gedanken mitlas sagte dazu: "Und uns nennt ihr niederes Gezücht, lebensverachtende Dämonen. Soweit ist es mit den Kurzlebigen schon geraten. Sie haben Waffen ersonnen, die ganze Städte in einer Sekunde niderbrennen und über Jahrzehnte unbewohnbar machen. Sie blasen giftigen Rauch und tödliche Flüssigkeiten aus und bedrängen einander so sehr, dass jeder seines nächsten Feind werden kann. Wir sind böse? Weil meine Mutter mich und meine Schwestern ohne männliches Zutun empfangen und geboren hat wird sie als böse bezeichnet? Weil wir, ihre Töchter, euch Menschen beherrschen und führen können sind wir immer die bösen? Oh, wie schlangenzüngig ist doch diese Gesellschaft geworden!"

"Aber es stimmt, dass er von diesem Claude Andrews abstammt. Wer war das?" fragte Lyndon ohne auf Lolis Tiraden näher einzugehen. Sie erklärte ihm, dass Claude auch einmal ihr Gefährte war, bis eine ihrer Schwestern ihn ihr entrissen und in ihrem Rachedurst getötet hatte. Auch er hatte unerweckte Magie in sich getragen.

"Und der wollte diesen Jungennicht, der heute Aldous Crowne heißt. War schon sehr gewagt, einen bereits zwei Monate bestehenden Embryo in eine andere Gebärmutter umzupflanzen", sagte Morrow.

"Er wollte es wissen, ob dies gelingt. Auf diese Weise könnten meine Schwestern und ich auch schwanger werden. Aber derzeit ist an ein derartiges Vorhaben nicht zu denken. Dieser Vengor, von dem ich dir erzählt habe, dann diese selbsternannte Göttin der Blutsauger, und dann noch die Magier, die meinen, sie hätten das Recht und die Pflicht, die Menschheit vor Wesen wie mich zu beschützen, anstatt mit uns zu leben wie mit den Drachen, den Trollen und andren weitaus unterentwickelteren Geschöpfen."

"Der Mensch hat eben keine natürlichen Feinde mehr außer sich selbst", ging Morrow doch jetzt auf ihre trübseligen und anklagenden Worte ein. Sie nickte ihm zu. Dann lauschte sie. "Ah, es gelingt. auch meine nächtige Schwester erwacht. Und jene, die wir zuerst geweckt haben labt sich gerade an der Wildheit und Entschlossenheit von Räubersleuten aus der Wüste. Oh, und der, der uns den Jungen wieder wegnehmen wollte trägt ebenfalls unerweckte Zauberkraft im Körper. Das wusste ich ja gar nicht. Gut, dass ich diesem Wicht nicht begegnet bin."

"Du möchtest dann noch die Schwester aufwecken, die über irgendwelche Mondzauber herrscht, richtig, fragte der Arzt.

"Ja, das will ich. An die beiden anderen, die ich gerne noch erwecken würde, kommen wir nicht mehr heran. Die ruhen an Orten, die für Menschen schwer erreichbar sind. Hmm, Tarlahilias Lust wird unbändig. Aber sie hat Aldous noch nicht aufgegeben. Wenn Thurainilla erwacht ist wird sie versuchen, ihn sich anzueignen. Schicke diese Schlagetote los, die ihn bergen sollen, bevor sie ihn gänzlich für sich erobert und gesichert hat!"

Morrow ging an die Funkanlage, die er von den rein menschlichen Handlangern Lolis zur Verfügung gestellt bekommen hatte. Er schaltete die Frequenzverwürfelung und den Kodierer für seine über Satelliten geführten Verbindungen zu einem Cobra-Kampfhubschrauber, in dem seine Leute unterwegs in den indischen Dschungel waren.

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Jack Dunston hatte es geschafft. Durch kontrollierte Atem- und Muskelbewegungen hatte er den in seinem Magen versteckten Gegenstand nach oben gewürgt, seine Arme so verdreht, dass er beide Hände zum Mund führen konnte und dann in einem gezielten Würganfall den lippenstiftdünnen Gegenstand ausgespuckt. Er lauschte. Wieso war es so still um ihn? Wo waren die, die sich eben gezankt hatten? Er wartete mehrere Minuten. Als er dann nichts hörte atmete er leise auf. Er zog die säurebeständige Plastikumhüllung herunter und fingerte an den winzigen Erhebungen herum, bis mit leisem Sirren eine gerade einen Zentimeter durchmessende, hauchdünne Trennscheibe herausglitt. diese brachte er an das ihn umschließende Leder. Leise ratschend fraß die Mikroflex sich durch das Material wie ein heißes Messer durch Butter. Die Scheibe war fast so hart wie Diamant, eine neue Speziallegierung der MI6-Labors, ebenfalls eine Sache, die den fiktiven Kollegen James Bond sicher erfreut hätte. Behutsam schnitt er mit der leise sirrenden Spezialmaschine den Sack immer weiter auf. Auch die ihn zusammenschnürenden Haltegurte boten der Mikroflex keinen nennenswerten Widerstand. Ratschend riss Faser um Faser durch, bis erst der obere und dann der mittlere Gurt abfiel. Systematisch schnitt sich Jack Dunston seinen Weg in die Freiheit zurück, wobei er höllisch aufpassen musste, sich nicht ins eigene Fleisch zu schneiden oder gar das eine oder das andere von sich mit abzutrennen. Besonders als er den um seine Taille gespannten Gurt bearbeitete konzentrierte er sich aufs äußerste. Er schwor sich, diesen Hussein und die, die wohl hinter ihm standen mit diesem Trennschleifer zu Ragout Fin zu verarbeiten, sollte er je aus dieser Gegend wieder herauskommen.

Endlich fiel auch der letzte Gurt ab. Wie ein neuentstandener Schmetterling aus seiner Puppe schlüpfte der nackte Jack Dunston aus dem aufgetrennten Ledersack. Heißer Wind umwehte ihn, und am westlichen Himmel glühte eine heiße Sonne, die auch gerade mal zwei Hand breit über dem Horizont noch eine mörderische Hitze ausstrahlte. von Horizont zu Horizont erstreckte sich eine karge, sandige Wüstenlandschaft. Man hatte ihn bbuchstäblich in die Wüste geschickt. Entweder sollte er hier qualvoll krepieren oder von wem anderem aufgelesen und weiterverwendet werden. Doch daraus würde nichts, beschloss er.

Er wusste, dass er ohne einen Faden Kleidung am Leib in der Sonnenglut ausdörren und verbrennen würde und in den sternenklaren Nächten bitterlich frieren würde. Trotz seiner antrainierten Zähigkeit und Ausdauer war er dem nicht auf Dauer gewachsen. Die Männer hatten sich gestritten, weil ihr Flugzeug nicht mehr fliegen konnte. Wo waren die denn abgeblieben? Er erinnerte sich an diese Frau, die ihnen einhalt geboten hatte. Gehörte die zu diesen Männern? Wo waren die jetzt? Dunston erkannte, wie heftig er ausgeliefert war. Wenn er nicht schleunigst die Initiative ergriff und einen erfolgversprechenden Fluchtversuch unternahm würden sie gleich merken, dass er sich hatte befreien können. Diese Sonne glühte immer noch auf ihn herunter. Er musste zumindest zum Flugzeug. Sicher gab es da Nahrung, Trinkwasser und Waffen.

Er lief auf die DC-3 zu, gönnte sich nicht einen Moment im Schatten ihrer Steuerbordtragfläche, sondern lief zur immer noch ausgefahrenen Teleskopleiter. In alle Richtungen sichernd, nicht von irgendwoher angesprungen zu werden enterte er die Maschine.

Dunston hatte erwartet, ein Funkgerät zu finden. Doch da, wo es üblicherweise montiert sein sollte, klaffte ein großes Loch, aus dem einige lose Kabel heraushingen. Dunston nahm diese Gegebenheit mit einer gewissen Gleichgültigkeit hin, auch wenn ein Funkgerät ihm sicher gute Dienste getan hätte. Vielleicht hätte es ihm aber auch noch mehr Banditen an den Hals gerufen, fiel ihm ein. So untersuchte er den Passagier- und den Frachtraum und fand zumindest mehrere wüstentaugliche Kampfanzüge, eine AK-47 mit vier Magazinen und einen Kanister mit zwanzig Litern Frischwasser, der mit breiten Trageriemen wie ein Rucksack auf dem Rücken getragen werden konnte. Er stieg in einen der Reserveanzüge, wobei es ihn nicht störte, dass er keine Unterwäsche fand, klaubte noch einen großen Lederrucksack auf, in den er Fladenbrot und Datteln, sowie einen gefütterten Schlafsack mit Aufhängevorrichtungen für das Schlafen über dem Boden dazupackte und schnallte sich den Rucksack und den Wasserkanister um. Marschgepäck von mehr als vierzig Kilogramm zu tragen, sogar durch Wüstensand oder polaren Schnee, hatte er sowohl bei der Legion als auch beim Geheimdienst immer und immer wieder trainieren müssen, um seine Ausdauer und sein Durchhaltevermögen zu stählen. Er lauschte noch einmal, ob die Banditen, die ihn hier ausgesetzt hatten, wieder zurückkehrten. Dann lief er los, den Kopf unter einer beigen Kopfbedeckung. Um keine deutlichen Fußspuren zu hinterlassen zog er ein großes Brett hinter sich her, das er in einen der Ledersäcke eingewickelt hatte. Damit pflügte er so sacht er konnte die von ihm in den Sand gedrückten Fußspuren wieder weg. Mit dem Trick hatte er, als er noch Pierre Boisnoir geheißen hatte, seinen eigenen Sergeanten hinters Licht geführt, der meinte, dass Boisnoir sich noch im Wüstencamp aufhalten musste. Die zwei Tage Freiheitsentzug hatte er dann mit der Gewissheit abgesessen, dass er einen wirksamen Trick erfunden hatte, um zu Fuß durch eine Wüste zu flüchten, ohne zu deutliche Spuren zu hinterlassen.

Erst als er mindestens drei Kilometer im schnellen Marsch hinter sich gebracht hatte buddelte er das Brett im Sand ein und lief mit um die Füße gewickelten Lederstücken weiter. Wenn er eine Wüstenpiste erreichte hatte er es so gut wie geschafft. Doch wie weit eine weg war wusste er nicht.

Am späten Abend übermannte den geflüchteten Agenten doch die Müdigkeit. Er rammte die zeltheringsartigen Pflöcke in den Boden, an deren oberen Enden er die Halteschlaufen für den Schlafsack einhängte. Als das letzte Tageslicht restlos im Westen versickert war prüfte er den Sternenhimmel. Astronavigation war ein Sport für angehende Offiziere der Legion gewesen. Wer die Sterne zu lesen vermochte war von jeder Navigationselektronik unabhängig genug, um zumindest nicht dauernd im Kreis zu laufen. Aber jetzt war er müde. Er wollte genug Schlaf nehmen, um noch vor dem nächsten Morgen weiterzumarschieren. Er kroch in voller Montur nur ohne die Kopfbedeckung in den Schlafsack. Die Stiefel hängte er mit den Öffnungen nach unten an den Pflöcken auf, um mögliche Krabbeltiere nicht hineinkriechen zu lassen. Dann zog er den Reißverschluss des Schlafsacks bis über sein mittlerweile stoppeliges Kinn zu, schloss die Augen und gab sich dem Schlaf hin.

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Aldous lag hilflos auf der Liege und fragte sich, ob er jetzt endgültig den Verstand verloren hatte. Um ihn herum drehte sich alles. Sein Herz pochte schmerzhaft gegen seinen Brustkorb. Sein Atem ging stoßweise. In jedem Krankenhaus hätten die Ärzte jetzt schon Panik gehabt, er würde gleich den Totalausfall erleben. Dann sah er etwas, das den Glauben an seine geistige Gesundheit noch mehr erschütterte.

Als die Zeltklappe geöffnet wurde, klickte es, und eine leuchtschwache Glühbirne ergoss ihr trübes Licht auf Aldous und den Zeltboden. Vom Zelteingang her klang erst ein verächtliches Schnauben. Doch dann hörte er ein verhaltenes Kichern. durch die sich öffnende Zeltklappe schlüpfte eine Frau in einem schwarzen Gewand, das so leicht und locker ihren Körper umfloss, als sei es aus geschwärzter Luft gemacht worden. Das Gewand war nur in der Mitte mit einer nachtschwarzen Schließe verschlossen, so dass es oben wie unten ungehinderte Einblicke gestattete. Die Fremde war klein, ja schon kindlich, besaß goldgelbe Haut und große, mandelförmige Augen so schwarz wie eine sternenlose Nacht. Ebenso lichtschluckend war das bis zu ihrem ausgeprägten Gesäß fließende Haar. Aldous vermutete, dass sie aus China oder Japan stammen mochte. Er sah zu ihren Füßen hinunter. Nein, das waren nicht die schmerzhaft schmal gehaltenen Füße, wie sie im alten China zum grauenvollen Schönheitsideal für Mädchen und Frauen gehört hatten, sondern normalgewachsene, nur der geringen Größe entsprechend schmale Füße. Doch was den festgeschnallten Aldous Crowne bereits beim Eintritt der Fremden so irritierte war, dass sie nicht auf dem Boden auf ihn zulief, sondern zehn Zentimeter darüber schwebte. Auch schien sich hinter ihr die von draußen einsickernde Dunkelheit zu einer festen Form zu verdichten. Es sah für ihn so aus, als schwebe hinter ihr ein drei bis viermal so großer Riese aus undurchdringlicher Schwärze. Dieser gigantische Schatten war jedoch keine zweidimensionale Erscheinung, sondern eine exakte Nachbildung der goldhäutigen Schönheit, eben nur aus lichtundurchlässiger Form. Dann löste dieses Geschöpf, dass aus der japanisch-chinesischen Geisterwelt entstiegen zu sein schien auch noch die Schließe ihres dunklen Gewandes. Gleichzeitig hörte Aldous eine frohlockende Stimme in seinem Kopf, die er zuletzt in der Wüste von Ägypten gehört hatte: "Ja, ich bin wieder wach und stark und jetzt komme ich und hole dich zu mir, damit wir herausbekommen, was mich so gemein zurückgestoßen hat ... nein! Das ist nicht wahr! Nein! Sag ihr, du gehörst schon mir, auch wenn wir zwei noch nicht Leib und Seele vereint haben gehörst du mir!!"

"Oh, meine Schwester Tarlahilia ist auch schon erwacht. Wolltest du ihn nicht?" fragte die nun aus ihrem luftigen Gewand gleitende Fremde und schwebte auf ihn zu. Ihr Riesenschatten blieb zurück und sog das schwarze Gewand in sich auf wie ein Staubsauger den Hausstaub. Aldous fühlte das Begehren in den Augen der Fremden. Er mied es, ihr in die Augen zu sehen. "Bleib wo du bist, Tarlahilia! Hier wohne und wirke ich!" hörte er die Stimme der Geisterfrau mit den Ohren und im Kopf.

"Du Schattenbraut magst durch ihn aufgewacht sein, aber nur, weil ich seine ungeweckten Kräfte gefühlt und mich an ihnen in die Wachwelt zurückgezogen habe. Er gehört mir", drang die andere Stimme in Aldous' Kopf ein. Dem hielt die offenbar seine Gedanken mithörende Fremde mit einer schon in Gesang ausartenden Stimme entgegen:

"Es ist Mitternacht, Sonnenanbeterin. Es ist Mitternacht, meine Stunde."

"Halte dich an die Gesetze. Keine darf der anderen Schwester Eigentum an sich reißen."

"Er gehört dir aber noch nicht. Du hast ihn vielleicht beschnuppert, aber noch nicht gekostet", hörte Aldous die andere wieder mit Ohren und im Kopf nachhallen. "Und das werde ich jetzt erledigen. Wenn er mein ist ist jeder Anspruch auf ihn verwirkt." Aldous verstand die beiden so klar, als sprächen sie seine Muttersprache. Aber wenn die da vor ihm schon lange geschlafen haben sollte ging das doch nicht, oder?

"Er hat mich aufgeweckt. Die Gesetze sagen, dass die, die erweckt wurde das Recht an dem Erwecker hat.

"Er hat mich auch geweckt, und wie. Fast hätte ich mich ihm nicht nähern können, so viel Kraft hat er schon in sich. Aber er hat sie in die Dunkelheit ausgestrahlt, so dass ich sie in mich aufnehmen und mich daran stärken konnte. Mein Schattenbild ist so groß geraten, dass ich locker darin verschwinden kann. Das verdient eine große Dankbarkeit, die ich gleich abstatten werde."

"Wenn du dich an ihm vergreifst oder ihn dir unrechtmäßig aneignest hast du eine Feindin mehr auf der Welt, als du ertragen kannst, Schwester."

"Das sagt ausgerechnet die, welche sich von zwölf Sternenbrüdern derartig hat niedersingen und bezaubern lassen, dass sie nur noch in ihren Lebenskrug flüchten und einschlafen konnte", spottete die schwarzäugige Geisterfrau und schwebte noch einen halben Meter näher an Aldous heran. Dieser versuchte erneut, sich gegen die ihn fesselnden Gurte zu stemmen. Doch die hielten weiterhin. Er überlegte, ob er dieses Geschöpf da mit Bannrufen aus der Bibel oder demKoran verjagen konnte. Er sah sie, wie sie immer höher stieg, bis ihre Füße über seinen Füßen in der Luft hingen. Ihm war jetzt klar, auf welche Weise sich das goldgelbe Geschöpf an ihm zu schaffen machen wollte, um ihn für sich zu vereinnahmen. Jetzt begriff er. Sein Spott von vorhin im Flugzeug stieß ihm nun selbst auf. Er hatte es mit einer der Nachfahrinnen Liliths zu tun, die laut außerkanonischer Berichte des Judentums Adams erste Frau gewesen sein sollte. Doch die wollte nicht so wie der aus Lehm gemachte Mann und hatte sich aus dem Paradies davongemacht. Angeblich war sie dann später in Gestalt der Schlange zurückgekehrt, die Eva und damit Adam zum Essen der verbotenen Frucht verführt hatte. Alles Mythologie, hilflose Erklärungsmodelle für den Zustand des Menschen an sich, hatte er damals gedacht.

In seinem Kopf klang das Lachen von zwei Frauen. . Offenbar hatten die Kreatur hier und die in der ägyptischen Wüste seine Gedanken mitgehört. Jetzt hing die gelbhäutige Erscheinung mit dem üppigen Oberkörper über Aldous' bloßem Unterleib. Er wollte schon rufen, dass sie weichen sollte, als ihre Hand bereits in seinen Schritt glitt und anfing, sich dort zu schaffen zu machen. Er versuchte, sich durch Winden und Wälzen dagegen zu wehren. Doch ihre freie Hand packte ihn am Oberkörper und hielt ihn eisern in der für Sie so verlockenden Lage.

"Wie mutig, einen Mann zu demütigen, der sich nicht weehren kann", stieß er aus. Da durchzuckte seinen Körper von unten bis zur Schulter wieder ein elektrischer Schlag oder was auch immer. Die andere schrak mit einem wütenden Aufschrei zurück. Ihre schwarzen Augen funkelten zornig. Ein schadenfrohes Lachen klang in Aldous' Kopf auf. Dann wurde das Lachen zu einem höchst erfreuten, ja siegessicheren Lachen. "Oh, unsere wache Schwester hat mir noch ein Geschenk gesandt, und ich erspüre, dass er starke, aber bisher nicht erweckte Kräfte in sich trägt. So sei der Erwecker dein, wenn du es schaffst, ihn dir zu eigen zu machen. Denn offenbar steckt an oder in ihm etwas, was die Natur der niederschlagenden Blitze nachahmt, wenn auch längst nicht so stark, um einen Menschen zu verbrennen. Ich hätte das mal eine Nacht früher wissen sollen, dann würdest du noch weiterschlummern, jene, die nicht mal mit fünf Affen- und Elefantenanbetern fertig wird."

"Niederfahrende Blitze, Feuer aus dem Himmel, Feuer aus dunklen Wolken", säuselte die andere nun unvermittelt überlegen grinsend. "Danke für den Hinweis, werte Schwester und viel Vergnügen mit dem Geschenk unserer wachen Schwester!"

"Er schläft gerade tief und fest. Doch bald wird er in sein Schlafleben eintreten. Dann werde ich bei ihm sein", schnurrte die andere Frauenstimme.

"Mädels, zankt euch gefälligst um wen anderen", knurrte Aldous. Da sah er, wie die dreidimensionale Schattenform der kleinwüchsigen, ja schon als Kindfrau zu bezeichnenden Gestalt lautlos über den Boden schritt, vom lebenden Vorbild per Handzeichen dirigiert. Dieses gespenstische Gebilde konnte sich also in gewisser Weise selbstständig bewegen, erkannte Aldous mit einer Mischung aus Faszination und Beklemmung. Dann schwebte die Schattenform über Aldous' vom trüben Licht im Zelt erzeugten Schatten der Liege. Er fühlte eisige Kälte vom nachtschwarzen Phantom ausströmen. Dann legte sich das riesenhafte Etwas genau über den Schatten der Liege und damit über den des darauf gefesselten Mannes. Unvermittelt fühlte er, wie seine Arme und Beine steif wurden. Sein Herz schlug langsamer und nicht mehr so stark wie vorhin. Doch seine Sinne waren noch klar. Ja, er meinte, das trübe Licht immer heller zu sehen. Dann fühlte er sehr deutlich wieder die Hand der asiatisch aussehenden Frauengestalt an seiner privatesten Körperstelle und wie sie geschickt und gefühlvoll daran herumwerkelte. Er meinte, gleich wieder einen Stromschlag oder sowas abzubekommen. Statt dessen knisterte es laut, und er sah, wie aus der rechten, an die Zeltdecke greifenden Hand der lichtschluckenden Schattengestalt ein greller Blitz in das Zeltdach zuckte. Die Beleuchtung flackerte für einen Moment. "Ah, das Licht, dass die, die dich hier für mich herrichteten und die Abwehr gegen meine Berührungen sind aus derselben Quelle", säuselte die Lenkerin der Schattenform. Wieder knisterte ein Blitz aus der schwarzen, körperlich weiblich aussehenden Spukgestalt in die Decke. Wieder flackerte die Glühbirne kurz. Wieder blitzte es. Aldous fühlte jedoch keine Schmerzen mehr. Überhaupt entspannte er sich immer mehr, als glitte er gleich in einen wohltuenden Schlaf hinüber. Noch einmal blitzte es. Dann noch mal. Dann knackte etwas kaum hörbares in Aldous' rechter Schulter. Die Schattenform löste sich auf ein unhörbares Zeichen hin aus ihrer bisherigen Haltung und schwebte zurück. Mit ihrem Rückzug kehrte auch die Beweglichkeit in Aldous' Körper zurück. Die seltsame Steigerung seiner Sinne ließ ebenso nach. Das gerade eben noch taghelle Licht wurde wieder zu einem trüben Leuchten. Doch bevor seine Sinne sich wieder auf ihr früheres Maß abstumpften konnte er noch deutlich das ferne Wummern eines Hubschraubers hören. Auch die andere erkannte wohl, dass da jemand stören wollte.

"verleibe dir ein, was uns stören will!" hörte er ihre Stimme in seinem Kopf. Und genau dieselbe Stimme, nur geisterhaft verschwommen und hohl nachhallend antwortete: "Ja, Trägerin meines Daseinskerns." Dann sah Aldous, wie die Schattenform schneller als ein Wimpernschlag aus dem Zelt verschwand.

"So vollenden wir nun, was dir und mir vorbestimmt ist", säuselte die andere. Aldous wollte sich wieder wehren. Doch da warf sich die kleine, zierliche Fremde auf ihn und vereinte sich mit ihm. Er fühlte keine Kälte, sondern eher Wärme, wie er sie bei solchen Akten schon mehrmals gefühlt hatte. Sie schlang ihre Arme um ihn. Doch die Gurte hinderten sie. "Lästiges Getue", schnaubte sie und berührte die Gurtschließen mit ihren Fingern. Klickend sprangen die Schließen auf. Keine Sekunde später waren die Gurte von Aldous' fort. Dabei hatte die Unbekannte die vollzogene Vereinigung mit ihm nicht gelöst. Im Gegenteil, er fühlte nun, dass sie mit ihm verbunden war, wie er es bisher nur mit einer erlebt hatte, Vicky der Walküre. Doch die war gegen dieses zierliche, wilde, kleine Monsterflittchen wahrhaftig eine Matrone. Er fühlte, wie sein letzter Widerstand verging. Während sie ihn mit ihren Armen umschlang zog er sie nun seiner Seits mit den Armen an sich. Auch wenn sie einen kopf Kleiner als er war empfand er es als höchst anregend. Als wenn er wüßte, wie sie es von ihm wollte setzte er nun alles ein, was er kannte und konnte. Die schmale Bettstatt geriet dabei immer mehr in Schwingungen. Die Federung quietschte erst leise und dann immer protestierender.

Die Beiden ergingen sich so sehr in ihrer ersten gemeinsamen Fleischeslust, dass sie nicht mitbekamen, was draußen passierte.

__________

Er nannte sich derzeit Will Downing und war seit zehn Jahren freischaffender Söldner. Davor hatte er sich in der königlichen australischen Armee zum Hubschrauberstaffelführer im Range eines Captains hochgedient. Heute sollte er einen Auftrag ausführen, der ihn und sechs weitere Söldnerseelen in den indischen Dschungel führte. Sie sollten im Auftrag eines Mannes, der sich Doc Pike nannte, einen von einer gegnerischen Bande im Dschungel ausgesetzten Mann wiederfinden und zurückbringen. Angeblich sollte der Ausgesetzte von einer Frau gefügig gemacht werden, um ihr und damit der Gegenseite die Zugangsdaten zum Netzwerk von Doc Pike zu verraten. Zwar hatte Pike beteuert, dass seine Leute gegen jede von ihm nicht erwünschte Geschlechtshandlung abgesichert waren. Doch er hatte auch betont, dass sobald er ein bestimmtes Signal bekäme Eile geboten sei. Dieses Signal war vor genau zehn Minuten empfangen worden, hatte Pike gesagt.

"Beeilt euch. Das verdammte Weib ist härter im nehmen als ich dachte."

"Vielleicht hält er sich auch selbst in fahrt", lachte Downing über Funk zurück.

"Dann haben die den doch nicht gefesselt. Seine letzte Meldung war, dass er von unseren Gegnern regelrecht aufs Bett gefesselt worden sei. Los macht hinne!"

"Das ist nicht Airwolf hier", erwiderte der Hubschrauberpilot.

"Wie weit bis zu den Koordinaten?" wollte Pike wissen.

"Eine Minute noch."

"Verdammt, das Gerät ist überlastet worden. Wenn er noch lebt kann dieses Flittchen sich ihn nun nehmen."

"Ich kenne keine Frau, die durch einmal Drübersteigen einen Mann komplett umdrehen kann", lachte Downing.

"Sein Sie froh", erwiderte Pike. Downings Hintermann und Ortungsoffizier, der auf den Decknamen Pitt Kleinholz hörte und früher angeblich bei der nationalen Volksarmee der DDR gedient hatte, sagte: "Ich habe da was auf der Infrarotanzeige. eine Wärmequelle auf einer Lichtung wie zur Landung gemacht. Heh, noch eine Anzeige, ui, Moment mal, das muss ich zoomen. - Eueueueu! Die gehen aber ganz schön heftig in den Nahkampf, mein lieber Schieber. Heißer als die zwei sind nur Tante Trudes Goldbreuler.""

"Willst du Ostling sagen, da treiben's zwei ganz heftig?" fragte Downing.

"Ich komme aus Berlin, ich bin kein Ostling. Aber ja, da unten vögeln sich zwei die Seele aus dem Leib. Wenn ich so'ne Frau abkriegen würde wäre ich aber wohl reif für zwei Wochen Sonderurlaub."

"Rückzug! Rückzug! Rückzug! Ich bekomme gerade eine Warnung vor einer Falle. Die haben sich gegen ungebetenen Besuch abgesichert!" rief Pike.

"Hast du Flugabwehr da unten geortet, Pitt?" fragte Will.

"Total negativ. Keine SAMs, keine Abfangjäger, keine Flak, nicht mal Radar. Da unten sind nur die zwei Karnickel und der Dschungel."

"Okay, vielleicht lernst du die Dame kennen, die dir so imponiert, Pitt. Wir landen."

"Rückzug, verdammt noch mal. Ihr fliegt voll in eine Falle rein. Das war die letzte Warnung! Wer jetzt nicht umkehrt verliert sogar die Witwenausgleichszahlung", sagte Pike.

"Komm, Pike will nicht, dass wir ... Eh Moment, mir kacken gerade alle Sensoren ab", meldete Pitt in einer nicht gerade militärisch korrekten Sprechweise. Dann sahen sie das unfassbare.

Vor ihnen stieg es aus dem Dschungel auf, ein an die zwölf Meter großes, geflügeltes Etwas, schwärzer als die unter ihnen wachsenden Urwaldbäume. Downing schaltete den Suchscheinwerfer auf volle Leuchtstärke und richtete ihn aus. Der gleißende Lichtkegel traf die Baumkronen und ließ sie hellgrün widerscheinen. Dann erfasste das Licht das schattenhafte Etwas. Das Licht wurde von dem fliegenden Etwas komplett verschluckt. Dennoch konnten sie sehen, dass es ein gewaltiger Schmetterling war, vielleicht auch eine Motte, die genauen Kurs auf den Hubschrauber hielt.

Will Downing betätigte schnell einen Schalter, um die scharf geladene Bordkanone zu entsichern. Ebenso schaltete er die Luft-Luft-Raketen scharf.

"Mondieu, was für ein Ding ist das?" schnaubte der dritte für den Flug zuständige Söldner, Wils Copilot Jean Cannes. Jedenfalls raste das Ungetüm direkt auf sie zu. Will feuerte sofort die panzerbrechenden Geschosse aus der 20-Millimeter-Kanone ab. Diese jagten genau in das gegnerische Flugobjekt. Doch sie detonierten nicht, sondern schwirrten auf der gegenüberliegenden Seite wieder heraus, um in der Luft in kleinen, aber wirkungslosen Feuerbällen zu vergehen. "Das Ding ist ein Trugbild", lachte Jean, während weitere Salven durch das schmetterlingsförmige etwas zischten. "Ja, es gibt aber keinen Projektor, der total schwarze Abbilder machen kann. Der müsste dann ja auch in dem Ding irgendwo dringstecken. Den putz ich da raus", schnaubte Will und hielt weiter auf das ihnen entgegenflatternde Schattenwesen. Dann fühlten sie, wie die Temperatur in der Kabine sank. Das Außen- und das Innenthermometer fielen gleichzeitig ab, als sei die Kabine nicht isoliert. Erst waren es fünf Grad, dann fünfzehn und dann glatte vierzig Grad Unterschied. Die Außen- und die Innentemperatur lagen nun bei null Grad Celsius. Die auf Tropenhitze oder die gemäßigten Temperaturen im Cockpit eingerichteten Söldner begannen schon zu zittern. Dabei kam das schlimmste genau auf sie zu.

Unvermittelt erstarb das Turbinenheulen. Die Luftschraube hatte keinen Antrieb mehr. Will schaffte es gerade noch, den Helikopter für eine Autorotationslandung einzurichten. Dann sah er den mit meterlangen Fühlern und einem ihnen entgegenschnellenden Rüssel bewehrten Kopf des Ungeheuers. Eigentlich hätte jetzt die Frontscheibe zerbersten müssen. Doch das Schattenmonster drang völlig geräuschlos und ohne eine Beschädigung an dem Hubschrauber in die Maschine vor. Der ausrollbare Rüssel umwickelte Jean, der gerade noch ein Gebet aufsagen wollte. Dann sah Will, wie das spiralförmig zugespitzte Rüsselende Jean zwischen Brust und Bauch in den Körper drang. Die Kälte wurde in der Zeit noch grimmiger. Erste Eisblumen blühten an der Innen- und Außenseite der Fensterscheiben. Will, der das grauenvolle nicht fassen konnte, obwohl er als Söldner auch schon grauenhaftes erlebt und begangen hatte, versuchte, den nachtschwarzen Insektenrüssel zu packen und riss die Hand zurück. Es war, als habe er sich die Finger verbrannt. Gleichzeitig sah er, wie Jeans Körper immer durchsichtiger wurde. Etwas dunkles waberte in ihm, dass immer kleiner und kompakter wurde, bis es von dem pulsierenden Rüssel aufgesaugt und verschlungen wurde. Jeans Körper hatte alle Konturen verloren und war zu einer durchsichtigen, gallertartigen Masse geworden, die leise schmatzend und glucksend in sich zusammensank. Will erkannte, dass dies nicht mit ihm bekannten Sachen zu tun hatte.

Pitt hatte derweil seine schwere Armeepistole gezogen und drückte ab. Doch es klickte nur leise. Dann traf ihn die Spitze des schrecklichen Schmetterlingsrüssels, drang in ihn ein, als sei sein Körper aus Luft. Diesmal lief der unheilvolle Vernichtungsprozess noch schneller ab. Pitt schrie erst laut auf, schien dann aber wie in einem engen Schacht zu verschwinden. Sein Mund stand weit offen. Dann floss alle Undurchsichtigkeit aus seinem Körper zu einer dunklen, wabernden Masse in seinem Brust- und Bauchraum zusammen, bevor sie mit einem letzten Zucken im Rüssel des Schattenmonstrums verschwand. Wie bei Jean fiel der nun völlig durchsichtig und formlos gewordene Körper in sich zusammen. Will wusste, dass niemand von ihnen diesem dämonischen Ungeheuer entgehen würde. Da hatte sich das Ungeheuer auch schon den nächsten der Söldner als Opfer erwählt, Juan Matamiles, einen südamerikanischen Söldner und gerne als Folterknecht engagierten Burschen. Bei ihm dauerte der Vertilgungsvorgang nur zwei volle Sekunden. Will fühlte derweil, wie ihm durch die Eiseskälte die Sinne schwanden. Dann würde er es nicht mitbekommen, wie das Scheusal ihn regelrecht aufzehrte. Doch er irrte. Denn als hätte das Ungetüm seine Gedanken erfasst schnellte sein Rüssel herum und wickelte sich um seinen Hals. Er meinte, gleich im Würgegriff des behaarten Saugorgans zu ersticken. Doch die Wirklichkeit war schlimmer. Er fühlte, wie etwas zwischen Herz und Bauchraum eindrang. Unvermittelt sah er vor sich Bilder, Bilder von Aktionen, die er ausgeführt hatte, Attentate auf kleine Dschungelpräsidenten, Jagden auf gegnerische Truppen, Verstümmelungsaktionen, ja mehrere brutale Vergewaltigungen, bei denen er den frauen nicht nur die Ehre, sondern noch dieses und jenes nahm, nur um ihren von seinen Leuten in Schach gehaltenen Männern und Söhnen deren Machtlosigkeit zu demonstrieren. Dann fühlte er, wie es ihn zusammenquetschte, hörte die Schreie der von ihm gequälten und getöteten immer lauter werden, bis er meinte, in einen tiefen Schacht zu stürzen, an dessen Ende der pure Schmerz lauerte, der Schmerz der schlagartig von den eigenen dunklen Taten auseinandergesprengten Seele, sein endgültiges Verlöschen.

Der Hubschrauber geriet in die Baumkronen. Die Rotorblätter blockierten oder brachen gleich richtig ab. Die letzten zwanzig Meter sackte die Maschine ohne Auftrieb durch und schlug auf den Boden auf. Der Treibstoff floss aus entstehenden Lecks, entzündete sich aber nicht. Denn dafür war es im Moment zu kalt. Die jeder Form beraubten Körper zerflossen durch den Aufprall völlig und vermischten sich mit dem entweichenden Treibstoff. Erst als das dämonische Schatteninsekt sich auch das von dunklen Taten erfüllte Leben des letzten Insassen einverleibt hatte zog es sich zurück und flog auf. Kurzschlüsse blitzten auf. Funken flogen und entzündeten den bereits ausgeströmten Treibstoff. Ein Flammenball blähte sich laut Donnernd auf. Dann umtobte eine große Feuerwolke den explodierten Helikopter. Der Sprengstoff in den Raketen und Sprenggeschossen zündete keine Tausendstelsekunde später und zerblies den Hubschrauber zu kleinen, glühenden Trümmern, die wild heulend in alle Richtungen davonschossen.

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"Wir haben die Position markiert, wo die Uhr das Schachmattsignal gesendet hat. Entweder ist Läufer schon tot oder wird irgendwo gefangengehalten", sagte ein MI6-Techniker, der sich als Spezialist für Humantelemetrie bezeichnete und offiziell medizinischer Überwacher von bemannten Raumflügen war.

"Ist das Transceptor-Implantat in seiner linken Schulter noch ansprechbar?" fragte Läufers Führungsoffizier, der in dieser Abteilung den Codenamen Springer trug, weil der Name König nur für den obersten Chef bestimmt war.

"Soll ich Suchlauf aufrufen?" fragte der Techniker, der den Codenamen Telefonzelle trug. Springer erteilte den ausdrücklichen Befehl.

"Suchlauf aktiviert. Beginne bei letztem bestätigten Planquadrat", sagte der Techniker und deutete auf eine von grünen Rastern überdeckte Karte, auf der gerade ein winziger roter Punkt von innen nach außen kreiselte, bis er die Ecken des bestrichenen Suchgebietes erreichte und dann immer weiter nach außen kreiselte. "Habe weitere Spürkette zugeschaltet für Präzisionsortung", sagte Telefonzelle und deutete auf den Maßstab unterhalb der Billdansicht.

"Beschränken Sie sich auf Ägypten. Ich werde den Eindruck nicht los, dass Läufer noch immer dort ist", sagte Springer. Der Techniker nickte und ließ seine gelenkigen Finger über die Computertastatur fliegen.

Als der Suchpunkt über die Rasterknoten Südägyptens glitt blinkte er unvermittelt auf. Ein elektronisches Klingelzeichen und die grün eingeblendeten Koordinaten verrieten, dass der Suchlauf erfolgreich verlaufen war.

"Na, wer sagt's denn", frohlockte Springer. "Standort fixieren. Wenn sich Läufer nur einen Kilometer vom gegenwärtigen Punkt entfernt nehmen Sie ihn vom Brett! Das ist ein Befehl!"

"Ja-jaw-wohl, Sir", stammelte der Techniker. Bisher hatte er Agenten, die mit implantierten Ortungsgeräten ausgestattet waren immer nur suchen müssen, was schon riskant genug war, da die Orter auf die sie treffenden Suchsignale Antwortsignale sendeten, die durchaus vom Feind aufgefangen werden konnten. Aber einen Agenten zu töten, mit einem Knopfdruck ein Leben auszulöschen, hatte er bisher nicht tun müssen. Aber er wusste auch, dass Läufer in den falschen Händen oder gar auf der falschen Seite eine zu große Bedrohung für den Dienst und sein Heimatland sein würde. Er programmierte über die geheime Satellitenstrecke die entsprechenden Anweisungen. Das Implantat antwortete mit "Bereit für ausführung!"

"Gut, Sie dürfen dann die Einsatzgruppe Abendlied mit den Agenten Köcher und Pfeil betreuen, Telefonzelle!"

"Öhm, ja, Sir", sagte der Innendienstmitarbeiter und verließ das Büro, um in einem anderen Raum die telemetrische und telekommunikative Überwachung einer Einsatzgruppe zu handhaben, die in Südamerika einen britischen Verbindungsmann zu einem Waffenhändlerring unterhielt.

Springer saß zwei Stunden da und beobachtete immer wieder den sich nicht mehr rührenden Punkt. Er überlegte, wie er dem Agenten helfen sollte, ob es ratsam war, ihn in Gewahrsam zu nehmen, als der Punkt unvermittelt flackerte und dann erlosch. In roter Schrift blinkte nun die Meldung: "Signalverlust! Nicht mehr ansprechbar!"

"Telefonzelle sofort auf Startfeld weißer Springer!" rief Springer über eine Rundrufanlage. Doch Telefonzelle kam nicht. Der Grund war, dass gerade die beiden Feldeinsatzagenten Köcher und Pfeil in einem mit mehr als fünfhundert Stundenkilometer schnellen Land- oder Luftfahrzeug in Richtung Lima unterwegs waren und der Operationsleiter befohlen hatte, die Ortung unter allen Umständen aufrecht zu erhalten. Springer knirschte mit den Zähnen. Dann rief er seinen eigenen obersten Dienstherren an und meldete ihm den Ausfall des Überwachungsgerätes.

"Wenn wir da ein Kommando hinschicken haben wir Krach mit Kairo, und das, wo wir mit den USA gerade eine weiterführende Zusammenarbeit mit den uns gewogenen arabischen Staaten aushandeln. Schicken Sie einen ihrer Männer vor Ort an den letzten Koordinatenpunkt und lassen den die Sache abschließen!"

"Sofort, Sir", sagte Springer militärisch diensteifrig und wählte über eine andere Leitung eine Nummer, die außer ihm nur sein Vorgesetzter kannte. Doch da war besetzt. "Hurenbock", knurrte Springer. Als habe er damit ein Stichwort gerufen wechselte die Anzeige auf dem Rechner und listete alle der Spionage für den chinesischen Geheimdienst verdächtigen Prostituierten in Soho auf. Springer stierte auf den Bildschirm und dann auf den Rechner. Natürlich, das Sprechbesteck für Videokonferenzen hing noch dran, und der blöde Kasten hatte sein Schimpfwort als gültigen Aufrufbefehl akzeptiert. Als er den Suchlauf wieder aufrief startete dieser mit einer neuen Suche, ausgehend vom letzten gemeldeten Koordinatenpunkt, weil ja dort kein Signal mehr zu orten war. "Scheißtechnik!" fluchte Springer bar jeder Selbstbeherrschung. Doch diesmal reagierte der Computer nicht auf das gesagte.

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Er merkte, wie er sich an sie verlor, ja regelrecht alles von ihm in sie überfloss. Doch sie merkte es auch, denn an einem Punkt, knapp vor dem Punkt, von dem aus es kein Zurück mehr gab, verlangsamte sie die Bewegungen und sog weniger gierig an seiner Lebenskraft. Sie bugsierte seinen Kopf so, dass sie ihre auf seine Lippen drücken konnte und küsste ihn leidenschaftlich. Dabei war ihm, als hauche sie ihm das weggegebene Leben wieder ein. Er fühlte sich gerade wieder stark genug, als er das metallische Scheppern etwa sechshundert Meter entfernt hörte. Er nahm die von ihr in ihn zurückströmende Kraft in sich auf und hörte ihre Gedanken: "Warum nicht gleich so. Wir gehören zusammen. Und jetzt kann uns keiner mehr voneinander trennen, auch keine von meinen neidischenSchwestern."

"Wie viele von euch gibt es denn auf der Welt?" dachte Aldous an die Adresse seiner neuen und endgültigen Geliebten.

"Ursprünglich waren wir neun. Doch die jüngste wollte uns alle umbringen, um unsere ganze Kraft in sich einzuverleiben. Da haben wir sie zu acht in den Schlaf versenkt, wie ich ihn seit meiner unerhörten Begegnung mit diesen Elefanten- und Affenanbetern tun musste. Die sind aber jetzt sicher schon zu Staub zerfallen und von allen Winden verweht worden. Aber du, du wärest fast ein richtiger Zauberer geworden. Dein Vater trug ungeweckte Zauberkraft in sich, und deine Mutter auch. Aber weil du nicht in deiner richtigen Mutter zu Ende wachsen durftest konnte sich das Blut deiner leiblichen Mutter nicht ausreichend mit deinem verbinden. Deshalb konntest du zu unserem Erwecker werden", hörte er Thurainillas Stimme in sich, während er immer noch in körperlicher Vereinigung mit ihr zusammenlag.

"Ah, mein Schattenbild hat sich gut sattsaugen können. In dem Fluggerät, dass ihr Jetztmenschen Hubschrauber oder Drehflügler nennt saßen nur Menschen, die ihr Leben lang Tod und Angst über ihre Mitmenschen gebracht haben. Ah, sie hat die eingesaugten Leben in meiner Heimstatt eingelagert. Dann wird es Zeit, dass du meine ganze Dankbarkeit erfährst, mein Getreuer." In dem Moment, wo sie ihm dies ins Gehirn übermittelte krachte es dumpf und von den Urwaldbäumen vielhundertfach widerhallend. Offenbar war nicht all zu weit von hier etwas explodiert, dachte Aldous. Das konnte nur der Hubschrauber gewesen sein. Er dachte wieder an das, was sie ihm zugeflüstert oder in seine Gedanken eingeflößt hatte.

"Die habe ich doch schon bekommen", erwiderte Aldous Crowne.

"Nicht alles, was du verdient hast", säuselte Thurainilla, die Tochter der Dunkelheit zwischen den Sternen, die früher auch Königin der Schattengeister genannt und von selbstständigen Nachtschatten und Vampiren als ihre schlimmste Todfeindin gefürchtet worden war. Nun hatte sie einen fast zu einem richtig starken Zauberer erwachten jungen Mann an sich gebunden, von ihm Leben in sich eingesaugt und von ihrer Kraft etwas in ihn zurückgegeben. Damit konnte sie etwas tun, was sie bisher nur zweimal tun konnte, solange sie wach gewesen war. "Meine Schattenform ist gleich wieder hier. Im Moment ist sie aber zu groß, um hereinzukommen. Wir müssen also nach draußen", säuselte sie und half ihrem neuen Gefährten von dem am Boden befestigten Bett hoch.

Vor dem Zelt stand, düster und eisige Kälte verströmend, eine über fünf Meter große Erscheinung. Aldous ergriff trotz des nun auf ihn wirkenden Banns der Wiedererweckten ein gewisses Unbehagen. Als die kleine Frau mit der übergroßen Macht ihn kurz über die Wange streichelte wich sein Unbehagen einer steigenden Hingezogenheit. Er wollte zu dieser gewaltigen Schattengestalt hin, sie berühren, mit ihr verschmelzen.

"Geh zu ihr und berge dich in ihr, bis du alles in dich aufgenommen hast, was ich dir geben will!" befahl die kleine, zierliche Unheimliche ihrem neuen Abhängigen. Sie deutete auf die überlebensgroße Schattenform ihrer Selbst. Dieser Befehl verstärkte die in ihm entfachte Hingezogenheit. Ein inneres Verlangen trieb ihn, zu der eisige Kälte verströmenden Gestalt hinzugehen. Als er zwischen ihren bald zwei Meter hohen Beinen stand ergriff ihn ein Sog und zog ihn nach oben, hinein in den unstofflichen Körper des Schattenwesens. Er schrie verzückt auf. Dann umfing ihn Dunkelheit und eine nie gekannte Kälte. Er versuchte, sich zu bewegen, um nicht im ersten Moment zu erfrieren. "Nicht wehren, Aldous. wir zwei sind gleich richtig verbunden", hörte er eine dumpfe Stimme um sich herum. Die Eiseskälte lähmte bereits seine Bewegungen, seinen Atem und seinen Herzschlag. Sein Blut gefror sicher schon. Gleich war er nur noch ein Eisklumpen, dachte er mit den wie er glaubte letzten Gedanken seines Lebens. Er hörte noch Thurainillas Stimme wie dumpf in seinem Kopf schwingen. "Berge und reife ihn zu deinem Sprössling, meine Schattenschwester!"

Thurainilla fühlte, wie Aldous' Gedanken immer langsamer wurden. Hätte sie ihm nicht von ihrer Magie etwas abgegeben und hätte seine ungerichtet in alle Winde abgestrahlte Zauberkraft nicht in Thurainilla und ihre Schattenschwester übertragen, so wäre er innerhalb einer halben Sekunde zu einem Eisblock erstarrt und hätte seine Seele ausgehaucht. So schwebte er nun vor allen Augen verborgen wie ein Ungeborenes im Leib der Schattenform. "Reife ihn aus und gebäre ihn, wenn er alles in sich hat, was ein Kurzlebiger von dir aushalten kann!" befahl sie. Dann winkte sie ihr noch zu. "Wir kehren in die Heimstatt zurück. Dort bleibst du, während ich zur ersten Begegnung der wachen Schwestern nach all der langen Zeit reise. Verwahre ihn wohl!" Dann verschwand sie ganz geräuschlos, um am Berg der Lahilliota, der irgendwo weiter westlich von hier lag, auf ihre noch oder wiedererwachten Schwestern zu treffen. Die Schattenform schritt geräuschlos davon, den in eine scheintodartige Starre verfallenen Aldous Crowne in sich bergend, unerreichbar für alle körperliche Gewalt und für die meisten Zauber. Ihr Schrittempo wurde immer schneller, geleitet von ihrer Gestaltgeberin, die, obgleich nun über tausend Tausendschritt entfernt, immer noch einen ausreichend starken Gedankenfaden zu ihr hielt. Dann versank sie einfach im Boden. Aldous fühlte davon nichts, er befand sich jetzt in einer halbstofflichen Form, näher an der Natur eines Geistes als an der eines Menschen. Die Gesetze der Biologie und Physik galten im Moment nicht mehr für ihn. Würden sie es je wieder tun?

Währenddessen wuchs ein wilder Waldbrand, entfacht und genährt durch die Trümmer des abgestürzten Hubschraubers. Trotz der feuchtheißen Luft gewannen die Flammen immer mehr Raum und Größe. Es verging nur eine Stunde, da fraßen sich meterlange Flammenzungen in das verlassene Zelt hinein und vertilgten es und was noch darin gewesen war.

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"Pierre mon cher vien a moi vien a coucher!" hörte er Yvettes lockende Stimme. Er war zwar hundemüde, aber wenn seine Kameraden meinten, noch das Palais des mille plaisires besuchen zu müssen wollte er keine Spaßbremse sein. Als er dann noch mitbekommen hatte, dass Yvette frei war hatte er sich sogar gefreut.

Yvette, eine Mulattin von wohl schon dreißig Jahren, erwartete ihn mit übergeschlagenen Beinen auf ihrem Sündenlager, drei übereinanderliegenden Doppelluftmatratzen. Pierre Boisnoir, der nun schon sein drittes Jahr bei der Legion ableistete, sah der leichtbekleideten Frau tief in die walnussbraunen Augen. Ihr tiefschwarzer Schopf umspielte die blanken Schultern. Sie lächelte Einladend und klopfte auf den freien Platz rechts neben ihr. Vivienne, der gute Geist dieses Sündenhauses, hatte über die Matratzen gerade wieder ein frisches Spannbetttuch gezogen und auch die vielen Kissen frisch bezogen. Yvette war die erste Frau überhaupt gewesen, die er beschlafen hatte. Zwei Jahre war das her und hatte auch nur stattgefunden, weil er seinen Kameraden beweisen musste, dass er nicht schwul war, wo die es alle schon mal mit der einen oder anderen Dirne getrieben hatten. Seitdem wartete sie immer wieder auf "L'anglais doux", den süßen Engländer, wohl weil er sie nicht als billige Hure, sondern als Lusterfüllungspartnerin behandelte. Außerdem nahm er sich immer Zeit für ein langes Vorspiel. Das war auch jetzt so.

Nach einer Stunde erst waren beide völlig unbekleidet und legten sich nebeneinander hin, um langsam und genussvoll zum eigentlichen Grund ihres Zusammenseins zu finden. Pierre fragte Yvette, wo sie die Präser hingelegt hatte, als diese ohne Vorwarnung über ihn kam und ihn mit sanfter aber unentrinnbarer Kraft auf ihrem Luftbett fixierte. Er wollte sich freistrampeln, erst das nötige Verhütungsmittel anbringen, da war sie schon mit ihm zusammen. Er fühlte eine bisher nie empfundene Hitze aus ihrem Körperinneren, während sie ihn wohlig ächzend zu sich nahm und ihn dann in eine innige Umarmung schloss. Er wollte Yvette sagen, dass das zu gefährlich sei, doch sie schloss seinen Mund mit einem so innigen Kuss, dass ihm fast die Luft wegblieb. Dieses Flittchen hatte ihn ausgetrickst. Es wollte heute nicht von ihm genommen werden, sondern ihn nehmen. Jeder Versuch, sich freizumachen misslang, weil Yvette übermenschliche Kräfte besaß, wie eine Gottesanbeterin, die ihre Beute fest umklammert hält und sie langsam und genüsslich auffrisst. Aber war das überhaupt Yvette? Ihre Haut wurde immer dunkler, bis sie die Farbe feucht glänzenden Ebenholzes annahm. Ihr Körper fühlte sich sengendheiß an. Die bisher so seidigglatten Haare kräuselten sich und färbten sich rubinrot. Die Augen, die vorher noch walnussbraun gewesen waren, glänzten nun bernsteingelb. Yvettes zierlicher Körper wuchs an. Sie wurde an die einen Meter achtzig groß, fast so groß wie der Mann, der in ihrer Umschlingung und mit ihrem Unterleib vereint dalag und nach Atem rang. "Dich lasse ich nicht mehr aus. Den Erwecker haben sie mir weggenommen. Aber du bleibst bei mir und gehörst nur noch mir", sprach die Frau, die eben noch die Bordelldirne Yvette aus Horan gewesen war. Doch jetzt erinnerte er sich. Horan, das war vor zwölf Jahren gewesen. Er hieß schon lange nicht mehr Pierre Boisnoir. Er war jetzt Jack Dunston, der Sonderagent für schmutzige Aufträge.

"Oja, deine Seele quillt über vor dunklen Taten", keuchte die Unbekannte und presste ihm wieder ihre vollen, tiefroten Lippen auf den Mund, damit er nichts sagen konnte. Er fühlte ihre Zunge gegen seine schlagen. Eine Art elektrische Vibration durchdrang ihn. Dann hörte er ihre Stimme in seinem Kopf, als säße unter seiner Schädeldecke ein Lautsprecher. "Sei geehrt, dass du mein geworden bist, Arnold Crocker! Fühle die Wärme und das Leben der Sonne, unter welcher ich dem Schoß meiner Mutter entschlüpfte!"

"Du bist kein Mensch. Du bist ein Monster, eine Dämonin", rief der Mann, der sich bis jetzt Jack Dunston genannt hatte der anderen entgegen. Er versuchte nun mit aller Kraft, sich freizumachen. Doch alles was ihn berührte hielt ihn zu fest. Es gelang nur, sich herumzuwälzen und dabei aus knapp anderthalb Metern Höhe auf den Boden zu fallen. Doch die andere hielt ihn immer noch mit Armen, Beinen Mund und Schoß an sich . Sie kullerten über den Boden, wühlten den Sand auf. Da meinte Dunston, in ein schwarzes, beengendes Nichts zu stürzen und fand sich mit der anderen unvermittelt in einer gewaltigen Kuppelhalle wieder, die sogleich von goldenem Licht ausgeleuchtet wurde.

"Hier liegt nicht dieser fiese Sand herum, der an den unmöglichsten Stellen juckt und kratzt", sagte die andere. Dann ließ sie von ihrem Opfer ab, das nun seinerseits versuchte, der Unheimlichen mit gezielten Handgriffen Besinnung oder gleich das Leben zu nehmen. Doch sie tanzte seine Angriffe aus, wusste offenbargenau, wo er sie treffen wollte. Sie lachte und deutete einmal schnell um sich. "Du kannst mich nicht töten. Nicht so!" rief sie. "Außerdem kämst du dann hier nicht mehr heraus. Ich habe dich in meine Heimstatt getragen. Hier kommt nur herein, den ich hineinbringe und nur heraus, wen ich wieder hinausbringe. Und jetzt vollenden wir unseren Pakt in aller Innigkeit und Leidenschaft!"

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"Ich sehe es ein", schnaubte Loli und glitt von der breiten Ledercouch herunter, auf der sie bis jetzt in konzentrierter Haltung gesessen hatte. "Der Erwecker war stärker als ich dachte. Jetzt gehört er meiner kleinen Schwester, der Nachtschwärmerin. Und dieser Auftragsmörder im Geheimdienst deiner früheren Königin wäre auch ein guter Erwecker geworden, wenn ich dies früh genug gewusst und ihn entsprechend eingesetzt hätte. So sei es. Sie rufen mich und meine andere Schwester. Wir sollen uns treffen", schnarrte sie. Dann verschwand sie ansatzlos aus der luxuriösen Wohnung, die ihr und Morrow als Kommandozentrale diente. Lyndon Morrow atmete hörbar einund aus. Er hatte mitgeholfen, zwei Dämoninnen aufzuwecken, Succubi, Buhlteufelinnen, die durch den Beischlaf Lebenskraft aus ihren Partnern oder Opfern bezogen. Und er gehörte dieser Loli, die sich als freischaffende Hure ihre Nahrung nicht zu erjagen brauchte, sondern wie eine Spinne im Netz auf ihre Beute warten konnte, Beute wie ihn. Aber irgendwie kümmerte es ihn nicht, sondern bestärkte ihn. Er durfte bei etwas mitwirken, was außerhalb jeder Vorstellungskraft seiner Kollegen lag. Loli und ihre Schwestern waren unsterblich, ein Traum vieler Menschen. So wartete er auf die Rückkehr seiner neuen Königin.

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Erst hatte er sich noch zu wehren versucht. Doch als sie es erneut hinbekommen hatte, ihn mit sich körperlich zu vereinigen, war jeder Widerwille, jede Tötungsabsicht mit jeder Bewegung ihres und seines Körpers schwächer und schwächer geworden. Als sie dann zum zweiten Mal den Höhepunkt der Leidenschaft erreichten hörte Jack Dunston noch, wie seine Überwinderin und neue Schutzherrin mit jemandem in Gedanken sprach und dann verschwand. Als hätte sie damit den letzten Funken Tagesausdauer ausgepustet fiel Dunston übergangslos in einen tiefen Schlaf.

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Itoluhila fühlte den Schlag, der ihre rechte Wange treffen sollte, gerade noch knapp daran vorbeiwischen. Die dunkelhäutige Tarlahilia hatte zugeschlagen. "Du mieses Stück Fleisch hättest uns schon früher wecken können", knurrte Tarlahilia. "Hunderte von Jahren habe ich verschlafen, während du deinen Unterleib für notsüchtige und überreiche Lebemänner hingehalten hast, um dich an ihnen sattzurammeln. Und jetzt, wo die jüngste kurz vor dem Aufwachen steht, weil du es versäumt hast, Ilithula und die in ihr eingesperrte Hallitti zu warnen, dass der Sohn des Vaterbruders meines Erweckers zu einem Sohn Ashtarias wurde. Dafür hast du mehr als einen Schlag ins Gesicht verdient, Itoluhila."

"Hättest du sie geweckt, wenn du statt ihrer wachgeblieben wärest, Schwester?" fragte die zierliche Thurainilla, die gerade erst aus Südasien auf den Berg der ersten Empfängnis gekommen war. Sie wirkte so, als müsse sie aufpassen, etwas nicht so leicht auszubalancierendes nicht fallen zu lassen.

"Damals hätte ich nicht ohne direktes Eingreifen einen Erwecker zu ihr bringen können. Die Maschinen und Fernsprechgeräte der Kurzlebigen sind in dieser Sache sehr wichtige Erfindungen."

"Wusste ich's doch", schnarrte Thurainilla.

"Gib acht, dass ich dich nicht hier und jetzt mit meiner noch vorhandenen Kraft der Sonnenhitze zu Asche verwandele und dich als harmlose kleine Leibesfrucht in mich einschließe, Thurainilla", schnaubte Tarlahilia."

"Dann wird sie erst recht wach", fauchte Ullituhilia, die Tochter des schwarzen Felsens, die hier auf oder besser in diesem Berg im Leib ihrer Mutter Lahilliota entstanden war. "Du erkennst, dass es nur ging, einen Erwecker zu entsenden, wenn keine von uns ihm näher als hundert Schritte kommen musste, um ihn loszuschicken. Denkst du, mir hat das gefallen, dass ich über Jahrhunderte schlafen musste", wandte sich Ullituhilia an ihre dunkelhäutige Schwester. Diese nickte und schnaubte, dass sie immerhin wieder aufgewacht sei. "Aber diesen Aldous Crowne hätte ich behalten müssen, werte Schwestern. Der Erwecker gehört der, die er erweckt, so steht es geschrieben im Buch unserer Mutter. Gut, dann sei er eben unser halber Neffe, wenn Thurainillas Schattenzwilling ihn nicht zu früh wiedergebiert oder er in ihr zerrinnt!"

"Wie überaus großzügig, meine sonnenhitzige Schwester. Aber ich gehe davon aus, dass dieser Auftragsmörder, den du dir unterworfen hast, auch einer deiner wichtigsten Helfer sein wird", sagte Thurainilla. Tarlahilia bejahte das entschieden. "Dann sind wir uns doch noch einmal einig geworden. Ehren wir unsere erhabene Mutter und bitten sie für unsere Versäumnisse und unser Zögern um Verzeihung", sagte Thurainilla noch. Ullituhilia pflichtete ihr bei. So tanzten die vier nun wieder vereinten Töchter der großen Erzmagierin Lahilliota einen Reigen auf der Kuppe des Berges der ersten Empfängnis, bereit, die bestehenden und noch entstehenden Anfeindungen gemeinsam zu bekämpfen.

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25. April 2002

Dr. Morrow betrat das Krankenzimmer, in dem der Patient Christopher Maxwell untergebracht war. Das Zischen und Piepen der medizinischen Geräte war wie ein dauerndes Konzert der Hoffnung und Betrübnis zugleich. Doch die Anzeigen auf den Monitoren verhießen mehr Grund zur Hoffnung. Schwester Fitzroy, die neben dem Intensivbett stand, lächelte ihren direkten Vorgesetzten an. "Die Verletzungen heilen erstaunlich gut. Die Adern sind nach den Not-OPs fast wie von selbst verheilt. Bisher keine Indikation für bleibende Lähmungen. Aber das kann ja erst die nächste CT ergeben."

"Das EEG sieht auf jeden Fall gut aus. Weiß Doktor Collins das schon?"

"Er hat für heute noch mal eine Sonografie verordnet. Eine CT möchte er erst durchführen, wenn wir wissen, ob die Schädelfrakturen weit genug verheilt sind."

"In Ordnung, Schwester Fitzroy. Gehen Sie bitte zu Patient Stevenson! Doktor Finch hat mich gebeten, dass eine Schwester bei ihm ist, weil er sich Sorgen um das EKG macht."

"Aber dann ist der Patient hier doch alleine", wandte die Schwester ein.

"Ich habe alles zu prüfende geprüft und nun zwanzig Minuten Freiraum. Wenn Schwester McCutchon zum Dienst kommt kann sie bei Mr. Stevenson wachen", sagte der Arzt. Schwester Daisy Fitzroy nickte und erhob sich von ihrem Stuhl. Sie verließ das Krankenzimmer.

Morrow stellte sicher, dass er mindestens fünf Minuten für sich und den Patienten hatte, indem er in der Aufnahme anrief und jeden Besucher für den Patienten Maxwell bat, zu warten, bis die ärztliche Untersuchung für heute vorbei war. Er würde dann auch gerne Fragen zum Zustand des Patienten beantworten, sofern es amtlich bestätigte Angehörige von ihm waren.

Nun sicher, dass er zunächst keine Störung zu erwarten hatte streifte sich der Arzt die Handschuhe ab und legte seine Linke Hand unter das Hemd, wo im Takt seines eigenen Herzens ein magisches Medaillon verstaut war. Er streckte die rechte Hand aus und berührte behutsam den bandagierten Kopf des Patienten. Er fühlte, wie aus dem Medaillon ein sanftes, wohltuendes Kribbeln durch seinen Körper in den rechten Arm floss und von dort aus über die aufgelegte Hand in Christophers Kopf einströmte. Ganz vorsichtig strich er mit der Hand über den Kopf des Patienten. Dann überstrich er den Oberkörper, fühlte, wie unter der Wirkung seiner Finger noch bestehende Verletzungen langsam verschwanden und streichelte den ebenfalls betroffenen Bauchbereich des Jungen. Auch die Beine berührte der Arzt von der Leiste bis zu den Zehenspitzen, einmal, zweimal. Dann ebbte der aus dem Medaillon entspringende Energiestrom ab. Das war für den Arzt wohl das Zeichen, dass er die exotische Therapie nicht weiter ausführen musste.

"In einem halben Mondumlauf wird er nichts mehr von den Verletzungen zurückbehalten", hörte er eine sehr zuversichtlich klingende Stimme in seinem Geist. Er nickte dem Jungen zu, auch wenn der im Moment wohl nicht darauf reagieren konnte. Dann streifte sich Morrow wieder seine Handschuhe über und setzte sich auf den Stuhl, auf dem die Bereitschaftsschwester sonst saß.

Als dann Schwester Fitzroy zurückkam sah sie kurz in das Gesicht des Patienten. Irgendwie erschien es ihr so, als sei es besser durchblutet als zuvor. Dann sagte sie: "Die Schwankungen im EEG und EKG vor sieben Minuten, waren die kritisch?"

"Ich habe die Verbände geprüft und dabei wohl die Kontakte berührt", sagte der Arzt. "Nichts kritisches", fügte er noch hinzu. Er hatte nicht daran gedacht, dass jemand auch außerhalb des Zimmers die Vitalwerte des Patienten ablesen mochte. Diesen Fehler sollte er bei seinen nächsten Therapieeinheiten besser nicht noch einmal machen.

E N D E

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