DIE GRÜNE GURGHA (1 von 2)

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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P R O L O G

In den Zaubereiministerien der Welt herrscht Alarmstimmung. Zum einen gilt es, die wahre Identität und die Absichten jenes bösartigen Zauberers zu klären, der sich hinter einer grünen Schlangenkopfmaske und dem Kampfnamen Lord Vengor verbirgt. Der von den geistig weiterexistierenden Altmeistern des alten Reiches eingeweihte Julius Latierre erwähnt, dass Vengor mit Hilfe des durch den tausendfachen Tod von Menschen erzeugten Kristalls schier unüberwindlich stark ist und wohl im Auftrag, vielleicht auch schon im Banne des in einem magischen Artefakt irgendwo auf der Welt weiterexistierenden Geist des dunklen Erzmagiers Iaxathan handelt. Außerdem bedrohen immer noch mit der bisherigen Gesellschaftsordnung unzufriedene Werwölfe die Menschheit. Zu allem Überfluss befindet sich auch die nichtmagische Menschheit in Aufruhr wegen der Terroranschläge vom 11. September 2001. Damit steht fest, dass das junge Jahrhundert weit davon entfernt ist, friedlich und ruhig zu verlaufen. Was dann jedoch ans Licht der magischen Welt drängt, stammt jedoch aus dem 19. Jahrhundert.

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In den weiten Wäldern im südwestlichen Finnland


7. August 1877, kurz nach Mittag

Salanna hörte das Knarren und Krachen, Knacken und Bersten. Dazu kamen diese regelmäßigen Erdstöße, die die Wipfel der Bäume erzittern ließen. Salanna hatte bisher nur von diesen Ungetümen gehört, die das alles machen konnten. Doch ihre Verwandten hatten nur erzählt, dass solche Übergroßen in einsamen Bergen mit wenigen Bäumen herumliefen. Was wollte dieses Ungetüm in ihrem Wald?

Salanna kehrte die sie niederhaltende Kraft für ihren Körper um und stieg aus dem Wipfel ihres Wohnbaumes auf. Sie hörte genau, wo das Ungetüm entlangstampfte. Doch sie wollte es sehen, um sicher zu sein, dass es nicht einer der geflügelten Feuerspucker war, die ab und zu in den Wäldern weiter in Mittagssonnenrichtung lebten. Mit so einem wollte sie sich besser nicht anlegen, auch wenn so ein Ungeheuer ihre Wälder niedertrampeln oder noch schlimmer , restlos niederbrennen konnte.

Salanna fühlte, dass ihre Kraft, sich der Anziehung entgegenzustemmen nicht mehr so groß war wie vor hundert Sommern noch. Sie flog deshalb nur mit der Hälfte der üblichen Geschwindigkeit voran, gerade zweimal so schnell wie einer der rosahäutigen großen Bodenmenschen, wie sie einen Viertel Flugtag zwischen Mittags- und Abendsonnenrichtung ihre Bauten aus dem Holz getöteter Bäume hingebaut hatten. Sie stieg über die Wipfel der Bäume und sog ihre Kraft ein, um genug Ausdauer zu haben. Dann sah sie die Schneise der Vernichtung. In halber Morgensonnen-Mittagssonnenrichtung lagen über fünfzig Bäume umgestürzt. Einige waren in der Mitte abgebrochen und hatten links und rechts kleinere Bäume mit sich umgerissen. Die Wipfel erzitterten wild unter den stampfenden Schritten. Doch das Ungetüm, welches diese Schneise durch ihren Wald brach war noch nicht zu sehen, weil die größeren Bäume es mit ihren Blättern überdeckten. Erst als ein weiterer halbgroßer Baum mit lautem Knarzen und Krachen umfiel konnte sie ihn sehen, den übergroßen Mann. Der war sicher fünf mal so hoch wie sie, gemessen an den Bäumen, die seinen Weg umstanden. Wieder knackte es, weil ein junger Baum dem Ungeheuer weichen musste. Salanna fühlte, wie das gesammelte Leben im Wald schwächer wurde. Dieser Unhold brachte die Bäume um, die sie zum leben brauchte. Sie musste ihn aufhalten.

Utgardir hasste Wälder. Überall standen Bäume rum. Nicht alle ließen sich so einfach umstoßen. Manchmal musste er seinen Körper durch verdammt enge Zwischenräume zwengen. Was niedriger war als seine stämmigen, mit dicker, gelber Hornhaut bedeckten Waden, wurde von ihm einfach niedergetrampelt. Doch er musste durch diesen Wald, wenn er in das Land der Verheißung wollte. Seit fünf Jahren war seine Gefährtin Arrmaggu tot, erschlagen von einem Blitz. Die einzige Gefährtin, die er hätte nehmen können war seine eigene Tochter Harranuu. Doch die hatte ihn mit selbstgebauten Speeren mit Feuer vorne dran sehr heftig zurückgeschlagen. "Du Vater von mir. Du mir nicht machen Guiguis!" hatte sie ihm noch zugebrüllt. So war ihm nichts anderes geblieben, als sich eine neue Gefährtin zu suchen. Doch die Kleinlingsweibchen versteckten sich vor ihm. Die von denen vorgeschickten Väter, Söhne und Brüder hatte er zwar locker totschlagen und zerreißen können. Doch die Weibchen ließen sich nicht kriegen, weil die in ganz kleinen Höhlen versteckt waren, in die er nicht mal mit seiner ganzen Kraft reingehen konnte. Die Gier nach dem Zusammenkommen mit einer Frau war widerlich. Er wollte das nicht, weil sowas ihn schwach machte. Doch dieser verhasste Drang trieb ihn weiter und weiter.

Wieder stieß er einen noch kurzen Baum um. Der knackte herrlich laut, als er in der Mitte abbrach. Utgardir setzte seinen rechten Fuß über den gefallenen Stamm hinweg und ging weiter. Hinter ihm zog sich ein seine ganze Körperbreite abmessender Pfad. Nur die Bäume, die mindestens zweimal so hoch waren wie er, konnte er so nicht einfach wegdrücken oder aus dem Boden herausreißen. Dann sah er eine Lichtung. Knarrz! Krach! Krach! Drei halbhohe Bäume bog er zur Seite weg, um sich den Weg freizumachen. Dann stand er auf der Lichtung. Er holte laut schnaufend Luft durch die breite, unförmige Nase. Dann blickte er sich um. Wo war dieser Weg zum Land der letzten Stämme? Was hatte seine Gefährtin ihm erzählt, wo ihre Schwester mit ihrem Gefährten hingelaufen war. Jetzt konnte er endlich die Sonne sehen und abschätzen, in welche Richtung er weitergehen musste.

Ein lautes Schnattern und Schnarren klang aus dem Wald in Sonnenrichtung. Er verstand es nicht. Dann klang dieselbe Stimme winzig aber stark noch einmal, diesmal verstand er was sie rief:

Salanna war dem Übergroßen, der fünfmal so hoch wie sie selbst war entgegengeflogen. Sie hatte dabei den Tod weiterer zwölf Bäume mitgefühlt. Jetzt stand das Ungetüm auf der Lichtung der Neuankunft, wo sie und ihre Schwestern und Töchter ihre Kinder bekommen hatten. Das war zu schützender Boden. Hier durfte niemand einen Baum umwerfen oder gar Feuer machen. Und jetzt stand dieses Trockenlaubgelbe, breite und sehr unförmig gewachsene Ungeheuer in seinem Unterkörperverhüllungsteil aus Tierhaut da und sah nach oben zur Sonne. Der suchte bestimmt einen Weg durch den Wald. Doch dann würde der weitere Bäume umwerfen und die kleineren Pflanzen einfach zertreten wie die Bodenläufer das Gras und kleine Blumen zertraten. Sie rief ihm in ihrer Muttersprache zu, dass er den Weg zurückgehen und ihren Wald verlassen sollte. Doch das Ungeheuer verstand sie nicht und glotzte sie nur mit seinen nachthimmeldunklen Augen an. "Zurück mit dir, wo du herkamst, du Ungeheuer!" schrillte sie und flog so schnell sie konnte auf das unförmige Wesen zu. Dieses riss den rechten Arm hoch, um sie mit seiner Faust dreimal so groß wie ihr Kopf zu hauen. Sie wich aus und stieg weiter nach oben. Jetzt flog sie knapp unter den Wipfeln der höchsten Bäume und zielte mit ihren Händen auf das Ungetüm. Sie konzentrierte sich, aus den Bäumen die von diesen eingefangene Kraft der Sonne durch ihren Körper fließen zu lassen und sie als zielgenauen Feuerstrahl auf das Ungeheuer zu schleudern.

Utgardir hörte den Befehl, wieder zurückzugehen. Doch als er sah, wer ihm das zu sagen wagte hätte er fast gelacht. Da vor ihm flog ein kleines, grünes Geschöpf mit ganz dünnen Armen und Beinen und mittagssonnenfarbenen Augen. Das grüne Geschöpf hatte erdbraunes Haar, genauso wie seine vom Blitz erschlagene Gefährtin. Auch die Augen sahen fast so wie die von Arrmaggu aus, nur etwas heller. Er sah, dass dieses Geschöpf ein Weibchen war, ein fliegendes Weibchen? Er hatte mal davon gehört, dass in ganz dichten Wäldern solche Grünweibchen wohnten, die wie Vögel fliegen konnten, obwohl sie keine Flügel hatten. Die waren stark und konnten sogar Zauber machen. Magie! Wenn Utgardir noch mehr verabscheute als den in seinen Geschlechtsteilen wirkenden Drang nach einer Frau, dann war das Magie. Dieses Biest da konnte Magie. Er riss den Arm hoch, um das kleine Biest mit seiner Faust herunterzuhauen. Da wich ihm das Ding doch glatt aus und stieg so hoch, dass selbst er nicht mehr zu ihm hochlangen konnte. Dann fing das grüne Biest tatsächlich an, fiese Zauber zu machen.

Fauchend stieß ein Sonnenuntergangsfarbener Feuerstrahl zwischen den Händen der fliegenden Gestalt hervor und jagte fast senkrecht nach unten auf Utgardirs Kopf zu. Der riss beide Arme vor den Kopf und konnte den Flammenstoß damit auffangen. Doch das tat weh! Utgardir brüllte vor Schmerz und Wut auf. Die wollte kämpfen? Dann sollte sie sterben.

Salanna sah, wie ihr Flammenstoß von dem Ungeheuer mit bloßen Armen aufgefangen wurde. Fast hätte sie sein linkes Auge erwischt. Von den Feuerspuckern wusste sie, dass sie an den Augen besonders leicht zu verletzen waren. Das unförmige Ungetüm brüllte los. Sie hörte Schmerz und Wut daraus. Ihre Ohren taten weh, so laut war dieses urwelthafte Gebrüll. Das machte Salanna erst recht wütend. Sie bündelte noch einmal Feuer zwischen ihren Händen und schoss es auf den Fleischberg vor ihr ab. Diesmal erwischte sie dessen Nase. Das Ungetüm brüllte noch einmal auf, weil die Nase ganz rot geworden war. Dann ließ sich das Ungeheuer einfach auf seine baumstammdicken knie fallen. Die Bäume um die Lichtung herum erzitterten. Dann Griff sich das Ungeheuer einen Stein und warf diesen nach Salanna. Die Kraft war so groß, dass die Waldfrau fast davon getroffen worden wäre. Gerade so konnte sie noch ausweichen. Doch das kostete sie Kraft. Sie sank in die Tiefe. Da meinte das Ungeheuer wohl, sie packen zu können und sprang vom Boden hoch. Sie sah gerade noch die gewaltige Hand links an ihr vorbeigrabschen.

Salanna stieg wieder nach oben, um außer Griffweite zu kommen. Der Übergroße stieß sich ab und flog dreimal so hoch wie sie selbst lang war nach oben. Beinahe erwischte er sie so. Der Griff ging nur um Armeslänge an ihrem rechten Bein vorbei. Dann fiel das Ungeheuer wieder zu boden. Ein gewaltiger Erdstoß erschütterte die Bäume und brachte sie zum schwanken. Sie fühlte, wie der sonst so klare Kraftstrom aus den lebenden Bäumen für eine kurze Zeit nachließ, als wäre schon wieder Winter. Gerade so konnte sie ihren eigenen Absturz verhindern.

"Winzweib, du kämpfen richtig oder wegfliegen!!" gröhlte Utgardir die ihn bekämpfende grüne Gestalt an. Fast wäre das kleine grüne Ding aus der Luft gefallen, als er nach seinem verfehlten Fangsprung wieder auf den Boden kam. Er trat aus der Erdmulde heraus, die er beim Aufkommen in den Boden gedrückt hatte. Da warf dieses Winzweibchen ihm noch einmal Feuer entgegen. Er bekam den glutheißen Flammenstrahl gegen seine rechte Schulter. Das brannte und stach ihm tief ins Fleisch. Wieder brüllte er vor Wut und Schmerz. Hätte er eine Schleuder, hätte er dieses Biest schon längst totgemacht. Dann kam ihm ein für seine Art selten geistreicher Einfall. Wenn die Feuer machen wollte, sollte die Feuer haben. Er riss mit der linken hand hinter dem Rücken an einem mit vielen Zweigen bewachsenen Baumast. Laut knackend brach der menschenarmdicke Ast ab. Das schien die grüne Fliegerin wohl zu erschrecken. Sie fiel wieder eine halbe Körperlänge von ihm nach unten, bevor sie wieder frei fliegen konnte. Dann stieß sie wie ein angreifender Adler auf seinen Kopf zu. Er lachte laut. Adler hatte er in seiner erhabenen Heimat schon viele bekämpft, wenn er an deren Eier oder die flugunfähigen Jungen gewollt hatte. Doch bevor sie auf seine Armreichweite heran war stieß sie ihre Hände vor und machte wieder den magischen Feuerstrahl. Darauf aber hatte Utgardir gewartet und schwang den abgerissenen Ast vor. Der Flammenstrahl traf darauf und setzte ihn sofort bis zur Hälfte in Brand.

Salanna sah es und erschrak. Ihr Feuerstrahl traf nicht den Unhold, sondern den von einem gesunden Baum abgebrochenen Ast. Der brannte sofort. Reines Feuer war für sie genauso gefährlich wie für die Bäume, deren Kraft sie benötigte. Sie schaffte es gerade noch, nach oben auszuweichen, als das Ungeheuer ihr den brennenden Ast wie eine Schlagwaffe entgegenschwang. Sie hörte es laut fauchen und knistern.

"Du jetzt wegfliegen oder ich feuer an Bäume mache!" brüllte Utgardir, als er sah, wie erschrocken das grüne Flugweibchen auf seine hell lodernde Fackel starrte. "Los, weg mit dir!" brüllte er noch einmal.

Er dachte schon, dass das grüne Weibchen nun vor lauter Angst vor ihm wegfliegen würde wie ein aufgescheuchter Vogel. Doch dieses Biest machte jetzt andere Magie. Es fing an, laute, weit hörbare, klare Töne auszustoßen, die Utgardir wie in die Ohren hineintastende Finger vorkamen und dann durch seinen Kopf in seinen Körper hineinfühlten. Er erstarrte einen Moment, weil diese Töne ihn von innen befingerten, als hätte jemand ihm einen mit Federn besetzten Stab in den Hals geschoben. Dann überkam ihn Übelkeit. Sein Magen verkrampfte sich. Laut röchelnd und bölkend spie er die Reste der sieben gestern gefangenen Wildschweine aus, die er mit Haut und Knochen in sich hineingestopft hatte. Aber jetzt konnte er sich wieder bewegen. Diese gemeinen Festhaltetöne taten ihm zwar im Magen weh. Aber er konnte jetzt wieder kämpfen. Doch das Biest da mit einem Sprung anzugreifen würde nicht klappen, weil es schon wieder so hoch wie die Bäume flog. Deshalb hielt Utgardir den immer noch brennenden Ast an die Äste der umstehenden Bäume. Wenn es nicht gerade Zauberfeuer war konnte er mit seiner Dicken Haut durch eine Flammenwand hindurchlaufen. Nur auf die Augen musste er aufpassen.

Salanna erkannte, dass ihr Gesang der Lähmung auf diesen Unhold eine ganz andere Wirkung hatte. Statt davon festgehalten zu werden wurde dem so übel, dass er das wieder ausspucken musste, was er gefressen hatte. Salanna ekelte es an, wie viel dieses Ungeheuer in seinen gierigen Wanst hineingestopft hatte. Dann zündete das Scheusal auch noch die heiligen Bäume an, die die Lichtung umstanden. Salanna schrie vor Angst und Wut auf. Sie hatte mit ihrem eigenen Feuerzauber die heilige Lichtung in Gefahr gebracht. Das machte sie so wütend, dass sie das Ungeheuer nun nicht mehr mit einem Feuerstrahl oder den Tönen der Fesselung angriff, sondern zwischen ihren Händen einen knisternden, immer helleren Lichtbogen erzeugte, bis dieser mit einem lauten Knall als blassblauer Blitz auf den Übergroßen zujagte und ihn voll am Oberkörper traf.

Utgardir hörte den schrillen Schrei. Gleich darauf musste er schreien, weil ein blendendheller Blitz von ihr zu ihm übergesprungen war. Das tat scheußlich weh in der Brust. Das grelle Licht tat seinen Augen weh. Dieses Biest! Jetzt sank es tiefer durch, während weitere Bäume zu brennen anfingen. Utgardir versuchte, es mit der niederbrennenden Fackel zu treffen. Doch es wich immer wieder aus. Dann brannten endlich alle kleineren Bäume. Mit großer Wut schleuderte Utgardir die Fackel in den ihm nächsten Wipfel eines ganz hohen Baumes hinauf. Die Äste waren so trocken, dass sie sofort zu brennen anfingen. Keine zwei Atemzüge später brannte der ganze Wipfel. Das Feuer sprang auf die nächsten Äste der nebendran stehenden Bäume über und wurde dadurch größer und wilder.

Rums! Wieder krachte ein greller Blitz von der grünen Winzfrau her zu Utgardir hinüber und traf ihn am Brustkorb. Dann flog sie wild nach oben und unten schwingend von der Lichtung herunter. Die Bäume standen nun alle in Flammen. Utgardir brach sich noch einen brennenden Ast ab und lief hinter der davonfliegenden grünen Winzfrau her. Jetzt würde er sie fertigmachen.

Mit roher Kraft und dem Feuer seiner Fackel rückte er den Bäumen zu Leibe, die ihm im Weg standen. Er lief so schnell, dass er es manchmal gar nicht merkte, wenn ein noch ganz junger Baum von ihm niedergebrochen wurde. Er preschte mit gnadenloser Mordlust im Herzen voran, wollte dieses fliegende Zauberweibchen mit Feuer oder seinen Fäusten totmachen. Es flog weiter voran und stieg so hoch wie die höchsten Bäume. Utgardir versuchte es zwischendurch, sie anzuspringen. Doch er kam nicht hoch genug vom Boden weg, um sie wie einen Adler aus der Luft zu pflücken. Sie flog immer wieder nach oben und unten pendelnd weiter. Wenn Utgardir Äste in Reichweite sah hielt er die lodernde Fackel daran.

Salanna fühlte, wie ihr Wald in Brand geriet. Sie wusste, dass sie alleine nicht mit diesem Unhold fertig werden würde. Sie musste ihre Töchter und Schwestern holen und mit diesen zusammen die gebündelten Blitze machen oder zusammen das Lied der Gedankenschwäche oder der Lähmung singen. Vielleicht konnten sie den Unhold damit doch besiegen.

Sie hörte, wie er hinter ihr herlief. Sie verwünschte ihr hohes Alter, dass sie nicht mehr so schnell fliegen konnte wie noch vor zweihundert Sommern. Das Ungeheuer konnte schnell laufen. Jeder seiner Schritte war bald siebenmal so lang wie der eines rosahäutigen Bodenmenschen. Auch die ihm im Weg stehenden Bäume bremsten ihn nicht stark genug ab. Er warf sie um, brach sie ab oder bog sie zur Seite. Schlimm war, dass er die auch noch anzündete, was die gesamte Lebenskraft des Waldes immer schwächer werden ließ. Ohne die ihr zufließende Kraft aus den Bäumen konnte sie aber auch nicht lange fliegen. Wenn das Feuer oder der Unhold sie einholte war sie erledigt. Nur der Wille zu überleben trieb sie weiter voran. Gerade so schaffte sie es, auf der Höhe der höchsten Baumwipfel zu bleiben, so dass sie nicht mit Ästen oder Stämmen zusammenstieß. Doch sie fühlte, wie sie immer müder wurde. Die Flucht vor einem gefräßigen Feuer zehrte sie immer mehr aus.

Krachend und polternd walzte das sie jagende Ungeheuer hinter ihr her. Sie roch und hörte das von ihm gemachte Feuer. Sie wusste, dass sie sofort sterben würde, wenn sie hier und jetzt landete. Dann fühlte sie etwas, was ihr genausoviel Angst machte wie das ihr folgende Feuer: Keine zweihundert Längen vor ihr floss ein Fluss. Das war die Grenze ihres Reiches. Sie konnte nicht über fließendes Wasser hinwegfliegen, weil es ihr Körperkraft wegnahm. Sie fühlte die unbändige Angst in sich hochsteigen. Hinter ihr Feuer und ein wütendes Ungeheuer. Vor ihr unüberwindlich erscheinendes Flusswasser.

Der Fluss war fünfzig Ihrer Längen breit. Vielleicht war er zu tief für das Scheusal hinter ihr, wenn es nicht schwimmen konnte. Sie konnte aber auch nicht aus eigener Kraft über den Fluss hinweg. Sie rief lautstark um Hilfe. Dabei legte sie mit ihrer Angst eine große Kraft auf die magische Wirkung ihrer Stimme. Wenn ihre Töchter sie hörten, konnten sie ihr vielleicht helfen.

Utgardir hörte die Schreie und dachte, dass es Angstlaute sein mussten. Er sah, wie das grüne Weibchen immer langsamer wurde. Noch war es zwanzig Schritte von ihm weg. Dann waren es nur noch neunzehn Schritte. Er holte auf. Diese Erkenntnis trieb ihn noch einmal zu schnellerem Lauf an. Jetzt waren es nur noch vierzehn, nun noch zwölf seiner Schrittlängen. Krachend brach vor ihm ein junger Baum um. Knarzend bogen sich zwei von ihm zur Seite gedrückte Bäume um, so dass er zwischen ihnen durchspringen konnte. Das gab der Flüchtenden zwar wieder drei Schritte Vorsprung. Doch jetzt war der Weg breit genug. Er stürmte voran, brüllte siegessicher los, lauter als ihre hohen, schrillen Schreie. Dann sah er es durch die Bäume glitzern. Vor ihm lag ein Bach oder Fluss.

Es fehlten nur noch zwei Schritte. Da erzitterten die noch nicht brennenden Bäume so stark, als würden noch mehr von Utgardirs Artgenossen an ihnen rütteln. Dann flog das grüne Weibchen wie von einer großen Schleuder weg über den Fluss. Dabei schrie es laut auf, als würde ihr etwas ganz stark weh tun. Utgardir sah, wie sie über das Wasser hinwegschwirrte und dabei immer tiefer sank. Er bremste seinen Lauf ab. Dabei wirbelte er Erdkrumen zu einer Staubwolke auf. Er glotzte überrascht auf die über den Fluss hinwegfliegende grüne Winzfrau. Der Flug wurde immer langsamer. Noch war sie ein wenig schneller als er laufen konnte. Noch flog sie mehr als seine Körperlänge über den Fluss hinweg. Er fragte sich, ob sie ins Wasser fallen und ersaufen würde. Sie schrie nicht mehr. Er konnte sehen, wie sie nun durchsackte und gerade so auf der anderen Seite vom Fluss auf den Boden aufschlug.

Utgardir wartete einige Augenblicke. Dann erkannte er, dass das von ihm gemachte Feuer ja immer noch hinter ihm war. Wenn er da zu lange drinstand konnte es ihn auch verbrennen. Der giftige Rauch machte ihm nichts. Sein Körper konnte die giftigsten Sachen vertragen, weshalb er auch Früchte von Bäumen essen konnte, an denen die Kleinlinge krepierten. Er prüfte mit seinen Augen, wie breit der Fluss war. Vielleicht konnte er hindurchwaten. Wenn es sein musste, würde er schwimmen.

Er lief wieder los, trampelte dabei noch das Buschwerk am Uferhang nieder und platschte mit den Füßen ins Wasser. Die Strömung war stark, doch nicht stark genug, um ihm den Boden unter den Füßen wegzureißen und ihn dann fortzutragen. Er stemmte sich gegen das fließende Wasser und watete tiefer und tiefer in den Fluss hinaus. Schon wirbelten die ersten Funkenwolken des von ihm gemachten Feuers hinter ihm herum. Er watete noch tiefer in den Fluss hinein. Wie kalt das Wasser war fühlte er durch seine dicke Hornhaut nicht. Er merkte nur, dass der Fluss immer tiefer wurde. Bald überspülte das Wasser seinen Unterleib. Dann überspülte es seinen gewaltigen Bauch. Dann erreichte es seinen Brustkorb. Doch immer noch hatte er den schlammigen Boden unter den Füßen. Als das Wasser sein Kinn umspülte hatte er die Mitte erreicht. Mit aller Gewalt stemmte er sich gegen das Wasser an, dass ihn umreißen wollte. Nun war jeder Schritt ein Kampf für sich. Langsam aber entschlossen ging er einen Schritt nach dem anderen weiter. Endlich stieg der Grund wieder an. Mit jedem weiteren Schritt stieg wieder mehr von seinem Körper aus den rauschenden, schäumenden Fluten heraus. Er kämpfte sich nun weniger mühsam auf das andere Ufer zu. Jetzt umfloss das Wasser nur noch seine Beine. Er hob jedes von ihnen weit aus dem Wasser, um einen Schritt nach dem anderen zu tun. Dann hatte er es geschafft. Unter den mit dicken Hornhautsohlen geschützten Füßen lag das Ufer. Er setzte noch einen Schritt nach vorne und oben und kam ganz aus dem Fluss heraus.

Jetzt drehte er sich um und sah, wie das Feuer sich weiter hinter ihm ausbreitete. Doch den Fluss würde es nicht überspringen können. Dafür blies der Wind nicht stark genug. Er war also in Sicherheit. Jetzt blickte er sich um. Wo war die grüne Waldfrau abgeblieben. War die tot? Er sah sie in einem niedrigen Busch hängen, keine fünf seiner Schritte vom Ufer weg. Er wandte sich ihr zu und stapfte auf sie zu. Dabei rann ihm das Wasser aus dem Fluss vom Körper herunter. Jetzt stand er vor ihr und beugte sich hinunter. Mit seinem Oberkörper warf er einen Schatten über sie. Er sah, dass sie schwach atmete. Der Busch, in dem sie lag, erzitterte sanft und wiegte sie. Dabei sah er, wie ihre zerbrechlich dünnen Beine immer weiter auseinanderglitten. Jetzt erst fiel ihm auf, dass dieses grüne Weibchen keine Körperverhüllungen getragen hatte. Dieses winzige Biest, das ihm einen so ungleichen Kampf geboten hatte war komplett nackt. Dann sah er wieder ihre Augen, die halb geschlossen waren. Das waren fast die Augen seiner Arrmaggu, die zwei Guiguis von ihm bekommen hatte. das regte ihn wieder so sehr an, dass er alle Unterschiede zwischen ihr und sich vergaß. Sicher würde sie sterben, wenn er sie nahm. Doch dann hatte er erst einmal ruhe und konnte ganz frei von diesem lästigen Trieb nach einer neuen Heimat suchen.

Es war wie ein Gewitter aus Blitzen, die in Salannas Kopf tobten, als sie über den Fluss flog. Die Kraft der letzten Todesangst hatte ihr zwar die dreifache Kraft aus den Bäumen gebracht. Doch diese Kraft wurde vom fließenden Wasser wieder weggenommen. Sie wusste nicht, ob der ganze Schwung, den sie noch aufgeboten hatte, sie weit genug über den Fluss tragen konnte. Es war für sie wie ein Flug gegen eine Mauer aus unsichtbaren Blitzen, die ihr einer nach dem anderen Kraft entrissen. Dann wurde es still und dunkel um sie herum.

Das erste, was sie fühlte, als sie wieder aufwachte waren unbändige Schmerzen im Unterleib. Es war, als müsse sie drei Kinder gleichzeitig gebären. Sie wimmerte erst und schrie dann ihre Pein hinaus. Zwar fühlte sie auch, wie viele gesunde Pflanzen ihr neue Kraft gaben. Doch dieser Schmerz in ihrem Schoß war unerträglich. Vor lauter Schmerz und Schreien bekam sie nicht mit, dass sich keine fünfzig Schritte von ihr fort ein wilder Kampf abspielte.

Utgardir hatte gefürchtet, dass das von ihm genommene grüne Weibchen nicht von ihm loskommen würde. Das hatte seine Erregung beschleunigt und ihn früher in höchste Wallung versetzt. Er fühlte, wie es ihn regelrecht erleichterte. Dann warf er die immer noch bewusstlose Winzfrau von sich herunter. Dann stand er auf und sah an sich herunter. Seine brutale Handlung hatte nicht nur die von ihm gewaltsam genommene Waldfrau sondern auch ihn blutig gemacht. Doch er fühlte nur die große Erleichterung. Die gleichzeitige Müdigkeit, die ihn befiel verabscheute er jedoch. Er wusste aber, dass das immer so war, wenn er es mit einem Weibchen tat. Er sah noch einmal auf die grüne Waldfrau auf dem Boden. Die sah zziemlich übel zugerichtet aus. Die würde sicher verbluten. Das sollte ihn nicht kümmern.

"Du Ungeheuer!!" schrillten fünf Stimmen aus allen Richtungen. Er sah sich um. Am anderen Flussufer brannte immer noch der Wald. Einige Schritte von ihm entfernt landeten zehn kleine grühne Weibchen auf dem Boden. Er hob überlegen die Arme. Doch als die sich zu einem Halbkreis hinstellten und einen großen Lichtbogen aufbauten ahnte er, dass die gleich einen fiesen Zauber machen würden. Der Drang, brüllend in sie hineinzurennen wurde von der seltenen Erkenntnis verdrängt, dass er das nicht überleben würde. Da flog auch schon ein dreifach verästelter Blitz auf ihn zu und traf ihn voll an Bauch und Unterleib. Er fühlte es wie einen heftigen Stoß durch seinen Körper hindurchgehen. Er schrie auf. Dann trieb sein eiserner Überlebenswille ihn an, wegzulaufen.

Zwar war ihm nach der schnellen, wilden Vereinigung mit der ohnmächtigen Waldfrau noch schwindelig. Doch er musste laufen. Er hörte die wild schrillenden Weibchen hinter ihm. Wenn die noch einen Blitz machten konnten sie ihn umwerfen. Und dann?

"Du gemeiner Fleischberg! Verreck!" rief eines von den Weibchen ihm nach. Doch er wollte nicht verrecken. Er sah zwei nur ein Viertel seiner Länge hohe Bäume vor sich und rupfte sie aus. Wenn die jetzt kamen würde er sie damit erschlagen.

Sie umschwirrten ihn von links, rechts, vorne und oben. Dann waren drei von denen auch hinter ihm. Jetzt fingen die Biester an, ihre Zauberfeuerstrahlen zu machen. Utgardir fühlte es auf seiner Haut brennen und stechen. Seine Gegenschläge mit den ausgerissenen Bäumen gingen alle fehl. Diese Biester waren bedeutend schneller als er, ja schneller als ein kämpfender Adler. Das lag wohl daran, dass sie keine Flügel hatten und deshalb keine so großen Wendekreise brauchten wie ein Adler. Fauchend fuhren weitere Feuerstöße gegen ihn. Beinahe hätte einer davon sein rechtes Auge getroffen. Dann fingen diese Weibchen auf einmal zu singen an. Er fühlte, wie ihre Töne ihn festhielten und schwach machten. Er keuchte, weil er nicht schwach sein wollte. Wut stieg in ihm auf. Diese riss ihn aus der magischen Starre. Er warf sich herum und teilte dabei einen Rundschlag mit den beiden Baumstämmen aus. Fast hätte er damit drei von diesen grünen Biestern aus der Luft gehauen. Dabei sah er das glitzernde Wasser des Flusses. Als die Töne ihn wieder zu lähmen drohten setzte er mit seiner letzten Entschlossenheit zum Sprung an. Er kullerte über die Uferböschung und zerdrückte die darauf wachsenden Büsche. Dann klatschte er in voller Länge ins Wasser. Die grünen Weibchen schrien vor Wut. Doch sie jagten ihn nicht weiter. Die hatten also Angst vor dem Fluss. Utgardir schwamm vorwärts, bis er die Flussmitte erreicht hatte. Dann sah er sich um. Mit lautem Donnerschlag ging ein Blitz neben ihm ins Wasser. Er fühlte den schmerzhaften Stoß durch den Körper. Doch es war diesmal nicht so stark wie gerade eben. "Du wirst ersaufen, ersaufen!" riefen ihm die grünen Biester nach und machten noch einmal einen Blitz. Das war deutlich. Sie würden ihn nicht mehr auf ihrer Seite aus dem Fluss herausklettern lassen. Auf der anderen Seite brannte der Wald. Auch wenn er sich am Körper so nass wie möglich machte würde er wohl keine tausend Schritte durch das Feuer schaffen, bevor seine Hitze ihm die Luft nahm und er langsam vom Feuer gekocht wurde, bis seine Haut zerreißen und verbrennen würde. So wollte er nicht sterben. Dann lieber schwimmen und hoffen, dass die grünen Waldbiester ihn nicht lange verfolgten. Er legte sich in die Strömung hinein und begann mit ruhigen Arm- und Beinschlägen zu schwimmen. Die kleinen Biester wussten das nicht, dass er schon einen halben Tag lang in einem kalten Fluss geschwommen war, nur weil er ein Ruderboot mit Kleinlingen verfolgt hatte, das vor ihm geflüchtet war. Er hatte das Boot noch eingeholt und versenkt. Das war für die, die drin gesessen hatten das Ende gewesen.

Gatasha war Salannas jüngste Tochter, gerade hundert Sommer alt. Doch sie hatte viel über die heilende Kraft der Waldpflanzen gelernt und sich einen majestätischen Tannenbaum als Kraftspender gesichert. Sie versenkte ihre geschändete Mutter in eine Trance der Erholung, damit sie die unbändigen Schmerzen nicht mehr spürte, die ihr die Gewalttat dieses Ungeheuers bereiteten. Die Blutung hatte sie mit mit ihrem eigenen Speichel benetzten Blättern stillen können. Doch womöglich würde ihre Mutter sich nicht mehr von dieser Untat erholen. Sie hasste den Riesen, der das getan hatte, wobei sie sich fragte, wie der das angestellt hatte, ohne ihre Mutter dabei zu erdrücken.

Behutsam trug Gatasha ihre Mutter vom Flussufer weg. Je weiter sie fortkamen desto mehr neue Kraft strömte in Gatashas Körper ein. Sie sang das Lied der gnädigen Pflanzen, dass sie selbst erfunden hatte, um von den Bäumen und Sträuchern in Hörweite das dreifache der Kraft zu bekommen, ohne die Kraft der letzten Todesangst entfesseln zu müssen. So konnte sie ihre verletzte und in heilsamen Tifschlaf gesungene Mutter zu ihrer Lichtung tragen, dort wo eine zehn ihrer Körperlängen hohe Tanne stand, die über ihre eigenen Wurzeln mit den Wurzeln anderer Bäume verbunden war. Dort begann Gatasha mit den Heilbeschwörungen, um ihre Mutter doch noch zu retten. Sie hoffte nur, dass das Ungetüm mit seiner Saat keinen weiteren Keim des Übels in ihre Mutter hineingelegt hatte.

Utgardir schwamm und schwamm den Fluss weiter hinunter. Immer noch brannte das Feuer auf der einen Seite. Immer noch begleiteten ihn die grünen Waldfrauen auf der anderen Seite. Zwischendurch machten sie wieder Blitze, die ihm weh taten. Sie wollten ihn ersaufen lassen, einfach so, nur weil er sein Recht eingefordert und die grüne Waldfrau genommen hatte, die versucht hatte, ihn umzubringen.

Wie lange er schon schwamm wusste Utgardir nicht. Erst als er den Schein des Feuers nicht mehr sah erkannte er, dass der Brand sich wohl ausgetobt hatte. Er blickte sich noch einmal um. Tatsächlich konnte er nur noch verkohlte Baumstämme und schwarze und graue Asche auf dem Boden sehen. Er steuerte sofort das Ufer an, von dem aus er zuerst in den Fluss gestiegen war. Die grünen Weibchen erkannten, dass er doch noch an Land kommen konnte und schrien ihre Wut heraus. Drei grelle Blitze krachten um ihn herum ins Wasser und ließen ihn heftig zusammenzucken. Doch er kämpfte sich ans Ufer und richtete sich auf. Als noch ein Blitz ihn im Rücken traf wäre er fast wie ein umgestürzter Baum umgefallen. Gerade so konnte er sich noch abfangen und losrennen. Wenn die Waldbiester nicht über den Fluss konten hatte er sie gleich abgeschüttelt.

"Er entwischt!" brüllte Harmanna, die älteste Nichte Salannas. "Der geht jetzt durch den verbrannten Wald, wo wir ihn nicht mehr jagen können, zum unendlich tiefen Strom!"

"Wenn da nichts mehr ist kann der nicht essen. So groß wie der ist muss er dann verhungern", sagte Harmannas Tochter Arkandra beschwichtigend. Das beruhigte die zehn Verwandten Salannas und brachte sie dazu, zu dieser zurückzukehren.

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Im Land der letzten Riesen


11. Oktober 1877

Utgardir sah sehr ausgezehrt aus. Über einen Mond lang hatte er sich durch den verbrannten Wald und die kargen Täler eines immer höheren Gebirges gequält. Er hatte sich von kleinen Vögeln und toten Hasen ernährt, nichts, was richtig satt gemacht hatte. Einmal hatte er ein Wolfsrudel aufgestöbert, dass erst vor ihm weglief und sich dann zum Kampf stellte. Vor lauter Hunger hatte er die von ihm erschlagenen Tiere in sich hineingestopft. Das hatte ihn vor dem Hungertod gerettet.

Jetzt stand der bis auf einen Lendenschurz aus Steinbockleder nackte Riese vor einem Taleingang. Vor ihm erhoben sich gleich drei seiner Artgenossen, jeder sehr gut genährt, kräftig und einen halben Kopf größer als er selbst.

"Eh, Knochensack. Unser Futter nix für dich!" brüllte ihn der eine an und schwenkte einen gewaltigen Speer aus Holz mit einer Spitze aus geschmiedetem Eisen. Der zweite hob eine beindicke und anderthalb Arme lange Keule. Der dritte hielt in jeder Hand ein Messer, das bei den Kleinlingen glatt als Langschwert durchgehen würde.

"Bitte um Brüderlichkeit, Brüder!" rief Utgardir. Er fiel dabei auf alle viere. Das war ihm zwar zuwider, sich zu unterwerfen. Doch zu einem erfolgreichen Kampf war er zu schwach. Wenn sie ihn töten wollten sollten sie es tun.

"Hier nur Orlogath sagt wer lebt oder stirbt. Wenn du näherkommst stirbst du!" brüllte der mit dem Speer. Utgardir nickte. "Orlogath ist Gurg?" fragte er. Zwar war es schon viele Sommer her, dass er über die Lebensweise seines Volkes was gelernt hatte. Doch wenn es hier einen Gurg gab, dann musste er sich dem erst einmal unterwerfen. Wenn er irgendwann wieder stark genug war konnte er ja herausfinden, ob der dann weiter Gurg bleiben würde.

"Der da für mich! Weg da!" dröhnte die Stimme eines Weibchens mit schwarzen Augen. Utgardir sah die Artgenossin mit der fahlgelben Haut. Sie war auf jeden Fall schon ausgewachsen und hatte bis zum Hinterteil langes, schwarzes Haar. Ihr Oberkörper war nackt. Ihr Unterleib wurde von zusammengebundenen Fellen umhüllt.

"Dein Bruder sagen ob Hungerknochen weiterleben darf und ..." setzte der mit dem Speer an, als ihm das schwarzäugige Weib mit großer Wucht die Faust unters Kinn schlug. Wie ein fallender Baum stürzte der Speerträger um.

"Eh, Moragaha, wenn du Guigui willst ich stärker als der da", sagte der mit der Keule. Dafür bekam er als zweiter einen Schlag ab, der ihn umwarf. Der mit den Messern hob seine Waffen an. Doch die Riesenfrau griff sich den Speer des ersten Wächters und hob ihn mit einer Hand locker an. "Deine Dolche weg, Urrgoth oder ich dich totstoßen!"

"Dein Bruder dich wegjagen und deine Guiguis über Feuer braten!" röhrte der mit den Messern. Da walzte ein weiterer Riese so breit wie hoch heran. Sein Körper steckte in einer Rüstung, die aus zusammengesteckten und zurechtgeschliffenen Tierknochen bestand.

"Den willst du. Zu mickerig für Guiguis, Moragaha."

"Neuer Geruch, neues Blut, gute Guiguis, Orlogath", erwiderte die Riesenfrau. Der überschwere Riese in der Knochenrüstung wiegte seinen klobigen Kopf mit den schwarzen Zottelhaaren.

"Gut, bevor du wieder wen umbringst der da für dich wenn genug gefüttert!" dröhnte der in der Knochenrüstung.

"Heh du, Hungerleider! Aufstehen und mitkommen!" sagte die Riesenfrau. Utgardir starrte erst sie und dann den von Fett und Muskelmasse überquellenden Artgenossen an. Dieser sagte dann: "Ich Orlogath. Ich Gurg! Was ich sage gemacht wird."

"Ich sehe, du stärker als ich. Du Gurg!" sagte Utgardir. Dann erhob er sich und folgte den beiden Geschwistern. Die bewusstlosen Wächter ließen sie hier liegen.

Als Utgardir in der wortarmen Sprache der Riesen berichtet hatte, woher er kam und warum er geflohen war sagte der Gurg ihm, dass er bleiben könne, solange seine Schwester ihn wolle. Wenn sie ihn nicht mehr wolle solle er entweder für seinen Verbleib kämpfen oder weglaufen oder sterben. Utgardir nahm diese Bedingungen an. Dann bekam er zu Essen. Moragaha achtete schon darauf, dass er nicht zu viel auf einmal aber genug zum Sattwerden bekam. Als die Dunkelheit kam machte ihm Moragaha Zeichen, ihm zu folgen. Er wollte nicht. Er fühlte sich noch zu schwach. Doch sie wurde immer fordernder. Wenn sie ihn nicht mehr wollte, weil er nicht zu ihr ging würden die anderen ihn totschlagen. Also stand er auf und folgte Moragaha in ihre eigene Wohnhöhle abseits der großen Höhle der anderen Frauen.

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In den weiten Wäldern Finnlands


10. Dezember 1877, nach einbruch der Dunkelheit

Gatasha hasste diesen Riesen genauso wie ihre Mutter ihn hasste. Wegen dem würde Salanna heute sterben, weil er ihr ohne ihre Erlaubnis sein Kind in den Bauch getrieben hatte. Schlimm war daran, dass diese Brut dreimal so schnell wuchs wie das Kind von einem normalgroßen Bodenmenschen.

In einem kniehohen Steinkreis brannte ein helles, warmes Feuer ohne Rauch. Gatasha war die einzige, die Salanna noch bei sich haben wollte. Die letzten Wochen hatte sie nur noch halb liegend zugebracht und sich von ihrer Tochter mit Früchten und kleinen Tieren füttern lassen. Außer ihrem Bauch war alles an ihr dünner geworden. Normalerweise wären ihre Brüste angeschwollen. Doch das Ungeborene sog ihr jedes Bisschen Kraft aus dem Körper. Gatasha sah, wie sich die Brut des Riesens im Leib ihrer Mutter noch einmal rührte.

"Mir dieses Balg in den Leib gestoßen zu haben wird ihn selbst umbringen", knurrte Salanna. Der Hass glomm in ihren Augen, die im Feuerschein noch unheilvoller flackerten.

"Ihr werdet beide sterben. Dieses Kind hat schon fast keinen Platz mehr. Es wird dich umbringen und in deinem Bauch ersticken."

"Es wird hinauskommen. Ich werde es rausdrücken und dabei aus meinem in seinen Körper hinübergehen, Tochter. Ich habe ihm immer das Lied des Übergangs vorgesungen, während du für es und mich nach Kräutern gesucht hast. Ich werde in seinen Körper hinübergehen, wenn es zum ersten Mal atmet und ich zum letzten Mal."

"Mutter, der Übergang ist eine erfundene Geschichte von Waldfrauen, die vor lauter Hass oder Angst nicht an den Tod denken wollen. Nimm deinen Tod hin. Ich werde zusehen, ihn dir zu erleichtern, so gut ich kann."

"Du wirst das Kleine mit deiner Milch füttern. Es ist eine Tochter, das spüre ich. In ihr werde ich neu aufwachsen."

"Es ist nur eine Geschichte, ein Glaube an etwas, das uns hilft, den eigenen Tod zu überstehen", wiederholte Gatasha.

"Du wirst erkennen, dass ich in ihr weiterlebe. Auch wenn sie zur Hälfte ein Ungeheuer ist will ich, dass sie weiterlebt, weil ich in ihrem Körper stark genug werden kann, um diesen Riesen zu töten. Wie heißt der noch einmal?"

"Ulanggaura hat ihn als Utgardir bezeichnet. Aber der wird jetzt von seinen Artgenossen beschützt und wohnt in baumarmen Bergen."

"Wenn ich wieder groß genug bin und das wohl in mehrfacher Hinsicht, kriege ich ihn doch", schnaubte Salanna. Dann schrie sie auf. "Es ist soweit. Es muss jetzt raus!" keuchte sie und schrie erneut. Dann verfiel sie auf einmal in eine ganz entspannte Haltung. Während Gatasha sah, wie sich das ungeborene immer tiefer ins Becken der Mutter hinuntersenkte begann Salanna zu singen. Gatasha lief es kalt den grünen Rücken hinunter. Das war wahrhaftig das Lied des Überganges. Ihre Mutter hockte nun mit weit gespreizten Beinen auf dem hohen Kissen aus Moos und Blättern. Sie sang rhythmisch, während sich unter starken zuckungen ihr Unterleib bewegte. Dann begann die Geburt des unerwünschten, ungeheuerlichen Kindes.

Gatasha hatte schon viele Geburten betreut, auch die von zwei eigenen Schwestern und einem Bruder. Doch was sie jetzt miterlebte würde sie ihr ganzes wohl noch zweihundert Jahre langes Leben nicht mehr vergessen. Salannas Leib klaffte regelrecht auf. Doch sie fühlte den Schmerz offenbar nicht. Sie hatte sich in eine Trance versetzt, die Gatasha imponierte. Dann drängte der noch bleichhäutige Kopf des ankommenden Kindes nach außen. Gatasha kniete neben ihrer Mutter und stützte das auf die Welt drängende neue Leben. Sie achtete nicht darauf, dass dieses Kind dabei den Leib seiner Mutter regelrecht zerriss. Dann wurde es mit einem gewaltigen Ruck herausgestoßen. Gatasha fing das völlig nasse Bündel Leben mit ihren Händen auf und erkannte, wie schwer es war. Dann sah sie, dass der nährende Mutterkuchen am Bauch des Kindes festklebte. Salanna zuckte unter letzten Krämpfen. Sie sang immer noch. Dann waren die sie peinigenden Schmerzen wohl doch zu groß, oder ihre Zauberkraft war verbraucht. Sie schrie laut auf. Gatasha fühlte, wie es in ihrem Brustkorb pochte und sich die Haut ihrer Brüste immer stärker anspannte. Wenn eine Waldfrau einer Artgenossin zusah, wie sie ein Kind bekam und die Gebärende dabei starb veränderte sich ihr Körper rasch, dass sie als Amme einspringen konnte. Gatasha zitterte vor Ekel und Verzweiflung. Doch wie ein Uhrwerk nahm sie die nötigen Verrichtungen vor, um das Neugeborene von der Nabelschnur zu lösen. Dann hustete das gerade erst geborene Kind und schrie los, zusammen mit seiner Mutter. Beide schrien gleichlaut und auf derselben Tonhöhe. Der Schrei dauerte eine halbe Minute. Dann erstarb er. Dabei fühlte Salannas erwachsene Tochter, wie etwas von ihrer Mutter in das unselige Geschwisterkind überfloss. Es war, als husche ein durchsichtiger Schatten aus dem Leib der Gebärenden in den des Neugeborenen hinüber. Sofort fühlte Gatasha, wie die letzte Kraft aus ihrer Mutter schwand. Gleichzeitig meinte sie, dass das Neugeborene von einem Schauer großer Kraft erfüllt wurde.

Gatasha sah das Neugeborene und die unrettbar verletzte Mutter an. Salanna war nun wieder ganz entspannt. Ein flüchtiges Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Gatasha rief ihre Mutter. Doch sie antwortete nicht mehr. Dafür schrie das Neugeborene nun laut, und Gatasha vermeinte ein "Jaaa" aus ihrem Schrei herauszuhören. Dann stieß das mehr als doppelt so groß geratene Kind die üblichen Schreie eines gerade erst einige Atemzüge alten Menschenwesens aus.

Gatasha wusch das kleine Mädchen ab. Der Widerwille über dieses Mischlingskind, das ihre Mutter getötet hatte, trieb sie fast dazu, das Kind in den kleinen Teich zu werfen, der gleich neben der Lichtung lag. Doch das hilflose Schreien des kleinen Geschöpfes hielt sie davon ab. Zudem kam noch, dass ihre Brüste nun auf den doppelten Umfang angeschwollen waren. Gatasha hatte selbst drei Töchter geboren und großgezogen. Daher gab sie dem hilflosen Flehen und dem Druck in ihrem Oberkörper nach. Sie nahm das Kind an, dass fast so groß wie ein einjähriges Kind ihrer Art war.

"Deine Mutter hat mir nicht gesagt, wie du heißen sollst", sagte Gatasha mit gewissem Bedauern, während sie ihre unheimliche Halbschwester stillte. "Nenn mich Nal, wie die Königin des Riesenlandes", hörte sie eine Stimme, die fast wie die Stimme ihrer Mutter klang, nur ohne die Rauheit der erlebten Jahrhunderte.

"Du kannst das Geistsprechen?" fragte Gatasha.

"Nur weil wir Schwestern sind und dann, wenn du mir deine Milch gibst", erwiderte die in ihrem Kopf klingende Stimme. Jetzt klang sie noch jünger als beim ersten Mal. Wahrscheinlich fügte sich der in die Schwester übergewechselte Geist dem körperlichen Alter, dachte Gatasha.

"Ist wohl so", bekam sie die rein geistige Antwort. Jetzt klang die Stimme wie die eines kleinen Mädchens.

"Gut, Nal, ich werde dich großziehen. Hoffentlich kommst du nicht darauf, deine Amme und Schwester totzuhauen, wenn das Erbe deines Riesenvaters durchkommt."

"Nöh, will ganz lieb zu dir sein", kam die Antwort zurück. Das reichte Gatasha als Bestätigung. Sie war die Zieh- und Stillmutter eines besonderen Mädchens. Doch neben der Erhabenheit schwang auch ein wenig Furcht mit. Dieses Mädchen war bereits durch ihre Geburt mit Mordgedanken beseelt. Sie würde den eigenen Vater jagen und töten. Ob sie das konnte würde sich wohl erst zeigen, wenn sie ausgewachsen war. Wie groß würde sie dann sein?

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Im Land der letzten Riesen


14. Juni 1899, kurz nach Sonnenuntergang

Meglamora und ihre Onkeltochter Harrgatta hörten das Grunzen und Quieken. Vor ihnen lag die Mulde mit den gerade erst wenige Monde alten Wildschweinen. Die Mutter war gerade unterwegs, um was zu fressen zu holen. Günstiger lief es nicht.

Die beiden Mädchen waren bereits größer als die in Grün herumlaufenden Kleinlinge mit den Donner und Rauch ausstoßenden Totmacherrohren. Diese Donnerrohre brauchten die aber nicht. Sie würden die kleinen Wildschweine mit bloßen Händen fangen.

Jetzt waren sie nahe genug heran. Sie schlichen sich gegen den Wind an. Die zehn kleinen Schweinchen rochen sie nicht. Auf einen Wink von Hargatta, die drei Sommer älter als Meglamora war, sprangen beide vor und stürmten in die Mulde. Sofort setzte ein angstvolles und ohrenbetäubendes Quieken und Schreien ein. Die am weitesten entfernten Jungschweine sprangen davon und liefen laut quiekend in den Wald. Zwei Jungschweine schafften es fast bis zum Rand der Mulde. Da erwischte Meglamora eines mit einem Sprung und hieb ihm den großen Stein über den Kopf. Ihre Onkeltochter Hargatta musste dem zweiten Schweinchen nachjagen. Fast hatte sie es eingeholt, als mit wildem Geschrei die Muttersau angerast kam. Ihr folgten drei weitere Sauen, die mit lautem Gequieke und Geschrei auf die beiden Mädchen losgingen. Hargatta konnte gerade noch zur Seite springen. Meglamora ließ das tote Jungschwein fallen und nahm den Stein in beide Hände. Da stürmte die Mutter des getöteten Frischlings auf sie los. Mit einem unbändigen Schrei schleuderte Meglamora der Bache den Stein an den Kopf. Uuuuuuoiiink! machte das Tier noch, bevor es mit blutendem Schädel umfiel. Da war die zweite Bache schon heran. Hargatta zog aus ihrer Lederschürze ein mächtiges Messer, dass ihr Vater Utgardir ihr zur Jahgd geschenkt hatte. Einen Moment später hatte sie die sie bestürmende Bache damit aufgespießt. Doch nun war die dritte Wildsau in Angriffsweite. Beinahe hätte Hargatta ihre Finger im Maul der wütenden Bache verloren. Doch Meglamora hieb ihren Stein so kräftig über die runde Nase der Bache, dass diese benommen zu Boden fiel. Hargatta zog ihr Messer aus dem toten Wildschwein und machte auch der dritten Bache ein Ende.

"Wollten nur Guigui-Grunzer und jetzt haben drei Mutter-Grunzer!" lachte Meglamora. Hargatta grinste und nickte. Dann luden sie sich je eines von den Muttertieren und den toten Frischling in den großen Säcken auf die Schultern.

"Heute deine mammam kriegt neues Guigui", sagte Hargatta. Meglamora grummelte nur, dass das so sein sollte.

Alle Großen hatten sich weit genug von Orlogaths Wohnhöhle zurückgezogen. Meglamoras Babu, also Vater, hatte seinen neuen Jagdgefährten Utgardir zu seiner eifrigen und geschickten Tochter Hargatta gratuliert.

"Wenn deine Schwester noch eins will ich bin da", sagte Utgardir zu dem Gurg. Dann hörten sie das lange Schreien eines neuen Guiguis. Orlogath ging in die Höhle, um zu sehen, ob ein neuer Gurg oder die Gefährtin eines neuen Gurgs aus seiner Frau herausgekrochen war. Als er mit freudestrahlendem Gesicht zurückkam wussten alle, dass er noch eine Tochter bekommen hatte. Töchter und Frauen waren keine Gefahr für einen Gurg. Denn Frauen vermieden es, um diesen Rang zu kämpfen, weil es ja immer wieder passieren konnte, dass einer stärker als sie war und sie schon am nächsten Tag töten würde.

"Ramante heißt sie. Weil laut Raaaaa schreien kann." Keiner gratulierte ihm. Guiguis waren immer welche, die vom Essen aller mithaben wollten. Sie totmachen ging nicht, weil deren Mutter sie solange beschützte, solange sie denen Milch abgab. Und Mädchen wurden nicht getötet, weil es ein Gesetz gab, das galt, seitdem es nur noch wenige von ihrer Art gab und sie sich hier alle im Land der letzten zusammengefunden hatten. Wenn wer Gurg sein wollte wurde gekämpft. Oder wenn wer meinte, die Gefährtin eines anderen haben zu wollen auch. Aber Frauen suchten sich ihre Gefährten aus, nicht nur einen im Leben. Dafür hielten sie das Volk am Leben. Hargatta wusste, dass auch sie mal eine Frau sein würde und Guiguis kriegen würde. Meglamora wusste nur, dass sie auch mal wie eine der großen Frauen aussehen würde. Wie sie ein Guigui kriegen konnte wusste sie in ihrem Alter noch nicht.

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In Nals Wäldern


10. Dezember 1917, kurz nach Sonnenaufgang.

"Ich weiß, dass ich dich nicht aufhalten kann, Nal", seufzte Gatasha und sah an ihrer jüngsten Schwester hoch wie ein Kleinkind an einem Erwachsenen. Nal war so grün wie die Nadeln einer Tanne. Sie war auch so hoch wie eine. Gatasha hatte sie mal im liegen gemessen, vor einem Sommer. Sie maß das vierfache von Gatashas Länge, war aber ansonsten zu einer schlanken, wohlgestalteten Frau geworden. Jetzt war ihre Geburt schon zwanzig Sommer her. Schon unheimlich, wie schnell aus dem bleichen, mit dem Blut der eigenen Mutter besudelten Geschöpf dieses tannengroße, kraftvolle Wesen geworden war.

"Du hast mich großgezogen, und das in jeder Hinsicht, meine Schwester und Nährmutter. Doch jetzt ist die Zeit, wo du den Wald von mir wieder verlassen musst. Denn unsere Gesetze sagen, dass der stärkeren der Wald gehört, in dem sie wohnen will,und ich will hier wohnen."

"Bis du weißt, wo dein Vater steckt", knurrte Gatasha.

"Ja, bis ich weiß, wo der steckt, der meinen ersten Körper umgebracht und meinen neuen Körper gemacht hat. Die Schmerzen, diese Last und diese Enge werde ich ihm heimzahlen", dröhnte Nals Stimme.

"Die anderen Waldfrauen werden dir nichts sagen. Du bist für die ein Ungeheuer wie der, der dich gemacht hat", sagte Gatasha.

"Ich weiß das, Gatasha. Ich wusste es schon, als ich in diesem Körper wieder aufgewacht bin. Aber ich werde ihn trotzdem finden. Ein Teil von seinem Blut fließt in mir und weil ich meine eigene Tochter bin weiß ich, dass Waldfrauen über das Blut ihrer Eltern fühlen können, wo sie sind und ob sie Hilfe brauchen."

"Dann werde ich dich nicht weiter aufhalten, Nal. Lebe das Leben, das du für wichtig und richtig hältst! Da ich nur deine Schwester und Nährmutter bin kann ich dir nicht den Segen des langen Lebens geben, weil du auch viel größer als ich bist."

"Dieser Leib wird so lange leben, wie ich es für wichtig halte. Ich habe bereits mehrere hundert Sommer erlebt. Da kommt es nicht mehr darauf an, ob ich in diesem Körper noch ein Jahr oder zwei weitere Jahrhunderte erlebe. Hauptsache, ich vergelte diesem Utgardir, dass dieser Leib entstanden ist."

"So lebe denn wohl. Ich werde mich nicht auf einen Entscheidungskampf mit dir einlassen und erkenne deine körperliche und zauberische Überlegenheit an, auch wenn du nie zu fliegen gelernt hast."

"Dafür kann ich mich so leicht machen, dass ich keine Spuren in die Erde drücke", lachte Nal. "Und außer den Bäumen und Sträuchern gehorchen mir alle Tiere, die Knochen im Körper haben. Da brauche ich nicht zu fliegen, wenn ich Vögel fliegen lassen kann. Und das fließende Wasser kann mir auch nichts an Kraft wegnehmen, weil in mir Fleisch und Blut eines Übergroßen sind. Da brauche ich auch nicht zu fliegen."

"Dann alles Glück und immer grüne Bäume um dich herum, Nal, meine jüngste Schwester." Gatasha hob ab und flog leichter als eine Feder davon zurück in ihren eigenen Teil der weiten Wälder Finnlands.

Nal sah ihr nach. Sie fühlte die Lebensschwingungen ihrer winzigen Schwester. Sie wusste immer noch alles, was Salanna erlebt und erlernt hatte. Sie hatte jedoch drei Jahre gebraucht, um das alles wieder verstehen zu können. Mit sechs Jahren war sie dreimal so groß wie Gatasha gewesen. Dann hatte es noch einmal zwölf Jahre gedauert, bis sie ganz ausgewachsen war. In der Zeit aber hatte sich ihre Magische Kraft erheblich weiterentwickelt. Wie sehr, das würde sie diesem Utgardir schon zeigen. Doch sie wusste, dass sie ihn nur wiederfinden würde, wenn er das tat, was sie in die Welt gebracht hatte. Das wusste sie, weil sie es einmal gespürt hatte, vor neun Jahren, als sie anfing, jeden zweiten Monat aus dem Unterleib zu bluten. Seitdem wusste sie, dass sie es spüren würde, wo ihr verfluchter Vater steckte, wenn er sich wieder mit jemandem zusammenlegte. Bis dahin wollte sie in diesen Wäldern bleiben und jagen und ihre Zauberkräfte weiterüben, um Utgardir endgültig zu töten, Utgardir und alle, die von ihm abstammten. Doch was, wenn sie selbst die Begierde fühlte, sich mit einem Mann zusammenzulegen? Die würde sie ausleben, ob der Mann dabei starb oder überlebte. Und wenn sie Kinder von denen kriegen sollte, würde sie alle töten, sobald sie aus ihr herausgedrückt waren. Denn ihr war klar, dass sie selbst zur gejagten würde, wenn sie für die anderen, nun für sie winzigen Menschen eine unbeherrschbare Gefahr wurde.

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Finnisches Zaubereiministerium


19. Juli 1947, 16:30 Uhr Ortszeit

Maximilian Arcadi wusste, dass er eine unangenehme Aufgabe hatte. Er war von seinem Vorgesetzten, dem russischen Zaubereiminister, losgeschickt worden, um mit dem finnischen Zaubereiminister Helmi Goskinnen zu klären, wer für die magischen Wesen in den Grenzgebieten zwischen Finnland und Russland zuständig war. Denn die Wesen selbst hielten sich nicht an Staatsgrenzen. Zwar galt im russischen Zaubereiministerium immer noch die gleiche Hierarchie wie zu Zeiten des Zaren. Doch die Muggel hatten diesen Herrscher nicht mehr haben wollen und an seine Stelle einen nicht minder autokratischen und gnadenlosen Herrscher gesetzt, der sich selbst Stalin, der Stählerne, nennen ließ und eigentlich kein Russe sondern Georgier war. Jetzt hatten die Muggel einen blutigen Krieg gegeneinander geführt, bei dem auch viele Zauberwesen wie Baba Yagas, Veelas und Pogrebins über die Grenze nach Finnland geflüchtet waren. Es galt also, diese wieder einzufangen oder klarzustellen, wer für sie zuständig war.

"Sie sind der junge Maximilian Arcadi", begrüßte ihn Minister Goskinnen in astreinem Russisch mit Petersburger oder auch Leningrader Färbung.

"Ja, ich bin Maximilian Arcadi, Untersekretär von Zaubereiminister Borodin", erwiderte der junge Ministerialbeamte. Ich bin erleichtert, dass Sie meine Muttersprache sprechen."

"Gute Nachbarn sollten miteinander sprechen können", sagte Goskinnen. Dann bot er dem jungen Beamten einen freien Stuhl an.

Bei Wotka und Zigarren sprachen die beiden über die Zauberwesen. Dabei erfuhr Arcadi auch, dass es in den südwestlichen Wäldern seit zwanzig Jahren immer wieder zum Verschwinden von Muggeln kam. Arcadi vermutete, dass dies ein Werk Grindelwalds gewesen sei.

"Hatten wir auch immer gedacht. Doch die Verschwundenen tauchten nie wieder auf. Grindelwald pflegte die, die er umzubringen meinte immer dorthin zu legen, wo ihre Angehörigen waren, wenn es Zauberer waren oder verteilte sie über die Stadt, wo sie herkamen, wenn es Muggel waren. Damit wollte er zeigen, dass er keine Gnade kannte."

"Ja, und jetzt sitzt er selbst in seinem Folterturm fest", grummelte Arcadi. "Aber wer wenn nicht er hat dann die Leute verschwinden lassen? Sabberhexen oder Riesen?"

"Riesen? Da bringen Sie mich auf was", sagte Goskinnen. "Kennen und dürfen Sie mir sagen, ob es zutrifft, dass die letzten lebenden Riesen wahrhaftig in ihrem Hoheitsgebiet Zuflucht gefunden haben?"

"Hmm, darüber habe ich keine Kenntnis", erwiderte Arcadi mit Bedauern in der Stimme. "Wer sind denn die gewesen, die verschwunden sind?" wollte er noch wissen.

"Hauptsächlich Holzfäller. Die sind losgezogen und haben sich dann nicht mehr gemeldet. Deshalb wäre es gut zu wissen, ob noch welche von den Riesen herumlaufen."

"Ich werde Ihre Frage weitergeben. Sollte Minister Borodin befinden, dass wir auch in dieser Hinsicht zusammenarbeiten sollen komme ich gerne wieder. Ihr Wodka ist ein Gaumenschmaus und ein Durchwärmer, Gosbodin Goskinnen."

"Das Kompliment gebe ich gerne zurück an Ihre Landsleute. Ich beziehe den Stoff aus Petersburg, öhm, Leningrad."

"Ich kann und werde mich auch nicht dran gewöhnen, dass die Muggel die alte Residenzstadt nach diesem Rebellenführer benannt haben, dessen Nachfolger auch nicht viel friedvoller sind", lachte Arcadi. "Aber leider gilt ja seit Einführung der internationalen Geheimhaltungsstatuten, dass Zaubereiministerien sich aus den Muggelbelangen rauszuhalten haben, solange es keine magischen Vorkommnisse gibt, in die die jeweiligen Regierungen eingeweiht werden müssen."

"Also, die Veelas aus Ihrem Land unterstehen weiter Ihnen, wenn wir wissen, dass sie bei Ihnen geboren wurden. Die drei Baba Yagas, die in diesem Wahnsinn von einem Krieg zu uns gekommen sind schicken wir Ihnen wieder zurück. Wir haben genug Trolle und Waldfrauen und Flussgeister."

"Aber sagenSie denen, die eine Baba Yaga fangen wollen, dass die sich auch als kleines, unschuldig aussehendes Mädchen zeigen können und dass sie gemeine Zauberlieder können. Also immer mit Ohrenschützern an eine Baba Yaga rangehen, bitte!"

"Unsere Zauberwesen können auch gemeine Sachen machen. Wenn sich rausstellt, dass die ganzen Holzfäller von Riesen oder Vampiren verschleppt wurden ..."

"Ach ja, dem osteuropäischen Bündnis zur Aufsicht und Überwachung von Vampiren wollen Sie auch beitreten", erinnerte sich Arcadi. "Wird Gosbodin Pawlow sicher freuen."

"Ich lasse den Unterhändler meiner Zauberwesenabteilung und den Leiter der Vampirjagdgesellschaft zu ihnen kommen, wenn wir die Bedingungen besprochen haben", sagte Goskinnen. Arcadi nickte. Dann verabschiedete er sich von Minister Goskinnen.

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Im Land der letzten Riesen


22. Juli 1990

Utgardir kam gerade mit der Schwestertochter seiner vor einem Jahr von einem Berg gestürzten Gefährtin zurück. Meglamora horchte. Siegesbrüllen klang aus der Höhle ihres Vaters. Dann sahen sie beide Karkus, den Sohn des von Utgardir vor fünfzig Sommern wegen Mohagara erschlagenen Grombnurgh. Er trug die Knochenrüstung Orlogaths. Die Rüstung war voller Blut. In der rechten Hand hielt er seine Axt Baumbeißer. In der Linken hand hielt er einen abgetrennten Kopf am Schopf, den Kopf von Orlogath, dem Gurg. "Die Zeit des Fressers ist um! Ich nun der neue Gurg! Karkus Baumstürzer!!"

Meglamora errötete vor Wut. "Nicht hinlaufen. Der dich gleich totschlagen, weil du Guigui von Orlogath", zischte Utgardir.

"Wildschweine her. Eh du, Nordländer, deine Wildschweine zu mir!" brüllte Karkus.

"Du dran ersticken!" stieß Meglamora aus. Da sah Karkus sie:

"Ah, Orlogaths erste Tochter. Du Guiguis von meinem Sohn kriegen."

"Grawp? Niemals!" rief Meglamora.

"Nein, nicht dem Mickerling. Der soll froh sein, dass der zu klein ist, um Gurg zu werden", lachte Karkus.

"Dein anderes Guigui. Wenn mir zu nahe kommt stirbt er. Auch wenn ich dabei tot geschlagen werde", stieß Meglamora aus. Karkus lachte laut. Da traten vier weitere Frauen auf den Platz und trugen ganze, gehäutete Wildschweine herbei. Eine von denen war Karkus Gefährtin.

"Die von Orlogath nicht Guigui von unserem Sohn", knurrte sie den neuen Gurg an. "Da, Essen!" sagte sie noch und begann, ein getötetes Wildschwein auszuweiden, um es am Spieß braten zu können.

"Du, Nordländer, mir auch bringen Wildschwein, sonst du von mir totgeschlagen!"

"Du bist Gurg", sagte Utgardir missmutig. Denn ein Blick auf den in Orlogaths Rüstung steckenden hatte ihm klargemacht, dass er im direkten Zweikampf unterliegen würde. Aber wenn Karkus durch einen hinterhältigen Überfall Gurg werden konnte, dann vielleicht auch Utgardir.

Der neue Gurg schlug sich als erster den Bauch voll. Erst als er vernehmlich rülpste und sich in seine Wohnhöhle zurückzog und diese vorsorglich mit einem schweren Stein und starken Keilen verschloss durften die anderen essen.

"Du weißt wo deine Schwester ist, Meglamora?" fragte Utgardir die wütend auf die Höhle des neuen Gurg starrende Meglamora.

"Wenn Ramante hier wäre die den sofort totschlagen und alle seine Söhne auch, auch wenn sie Frau ist."

"Du also nicht weißt wo sie ist?" fragte Utgardir. Seine Nichte schüttelte den Kopf. Ramante war seit mehr als vierzig Sommern unauffindbar. Sie wohnte irgendwo weiter in Sonnenuntergangsrichtung. Weil sie eher auf Kleinlinge als Triebbefriedigungspartner festgelegt war wussten die anderen auch nicht, ob sie eigene Guiguis hatte oder nicht.

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Im land der letzten Riesen


August 1995

Utgardir lachte genauso wie alle anderen auch, als er die beiden Halblinge sah, die da auf dem großen Platz standen. Doch als der Gurg den Mund auftat hörten alle zu lachen auf. Der männliche Halbling, der richtig stark und wild aussah sprach ihn in einer seltsamen Sprache an, die Utgardir noch nie gehört hatte. Der Gurg hörte und verstand es. Seine Augen wurden immer größer. Dann nickte er. Er deutete auf den Weg, wo die beiden hergekommen waren. Da hob der zweite Halbling, eine Frau in nachtdunklem, ganz flüchtigem Zeug einen Zauberstab. Einen Zauberstab? Verdammt, die gehörte zu den Zauberstabschwingern? Tatsächlich! Denn auf ein geheimes Rufwort hin flog ein glitzernder Gegenstand heran, der von weitem wie ein Kochtopf aussah, beim Näherkommen aber wie ein Helm aussah. Der Gurg nahm den Helm und wog ihn. Dann schmetterte er ihn mit lautem Scheppern auf den Boden. Er betrachtete ihn. Dann nahm er seine Axt Baumbeißer und hieb damit auf den Helm. Funken und Splitter flogen in alle Richtungen, und der Axtstiel brach durch. Karkus stieß erst einen Wutschnaufer aus. Dann nahm er das von Orlogath erbeutete Schwert Durchschläger in beide Hände, holte aus. Klirr!! Klapper! Die zweifach geschmiedete Stahlklinge, die mit einem Hieb Arme oder Hälse durchtrennen konnte, zersprang in mehr als zwölf Einzelteile. Karkus hielt nur noch den Griff in den Händen. Jetzt sprach der Gurg in der Sprache der Halblinge. Weil Utgardir die Sprache nicht verstand sah er lieber das Weibchen an. Irgendwie erinnerten deren schwarze Augen ihn an Ramante,Orlogaths zweite Tochter. Warum eigentlich nicht? wo Ramante sich nur Kleinlinge griff? Also hatte die glatt eine Zauberstabschwingerin ausgebrütet. Kein Wunder, dass die sich seit Jahren nicht mehr im Land der letzten großen Leute blicken ließ, dachte Utgardir.

"Leute, mit diesem Helm bin ich unbesiegbar. Damit werde ich leben solange wie der Fresser, dessen Tochtertochter uns das Ding gebracht hat."

Der Halblingsmann mit dem wilden Haar und Bart sprach noch einmal sehr unterwürfig klingend mit dem Gurg. Dieser zeigte auf den Helm und deutete dann an den beiden vorbei. Er sagte noch was in der Sprache der Fremden. Dann sollten sie gehen.

In der Nacht hörte Utgardir, dessen Wohnhöhle in der Nähe von Karkus' Höhle lag, wie zwei andere zu dem Gurg hineingingen und ihn töteten. Einer von denen war Golgomath, ein Vetter von Orlogath. Als Golgomath mit dem Helm auf dem Kopf und dem abgetrennten Kopf von Karkus wieder herauskam versuchte sein Helfer, ihn hinterrücks mit einem langen Messer zu erstechen. Doch Golgomath warf sich herum und senkte den Kopf. Das Messer zerbrach laut klirrend am unzerstörbaren Helm. Dann sah Utgardir zwei Kleinlinge in nachtdunklen Umhängen. Er hörte einen von denen in der Sprache der Halblinge etwas sagen. Golgomath grinste und erwiderte was. Dann verschwanden die beiden Kleinlinge mit lautem Plopp im Nichts. Das waren also auch Zauberstabschwinger.

Als die Halblinge wiederkamen und der Mann ein brennendes Stück Holz in der Hand hielt wurden er und die, die wie Ramantes Tochter aussah von Golgomaths Helfern gepackt und hochgerissen. Jetzt zeigte sich wieder, warum Utgardir diese Zauberstabschwinger hasste. Denn das Weibchen machte einen fiesen Augenschmerzzauber gegen Golgomaths Halbbruder. Noch einer bekam diesen Zauber ab. Dann ließen sie die beiden los. Golgomath sprach zu den beiden und deutete auf das brennende aber dabei nicht kleiner werdende Holzstück. Der Halblingsmann nickte unterwürfig und legte es hin. Die anderen starrten auf das brennende Stück Holz, auch Utgardir. Das Ding brannte, ohne zu Asche zu werden. Als Golgomath es am nicht brennenden Ende anfasste und damit einen Holzstoß berührte loderte dieser auf. Er lachte. Utgardir verabscheute Feuerzauber, seitdem er sich mit dieser kleinen grünen Waldfrau eingelassen und gegen ihre Freundinnen oder Abkömmlinge gekämpft hatte, wobei es eher eine Flucht als ein Kampf gewesen war. Wenn Golgomath jetzt sowas wie immer brennendes Feuer hatte war er noch unbesiegbarer als mit dem unzerschlagbaren Helm. Als dann Golgomaths Getreue sich erneut zu einem Ring um die Halblinge zusammenrotteten blieb den beiden nichts anderes als das laut krachende Verschwinden.

"Gurg Golgomath auch bald sterben!" zischte Hargatta.

"Ganz sicher", flüsterte Utgardir.

Doch in den nächsten Nächten starben andere, Darunter Karkus' größerer Sohn. Die wollten sich gegenseitig umbringen, um an die magischen Sachen dranzukommen. Utgardir und seine Tochter flüchteten weit in die Berge hinauf. Meglamora und ihr Gefährte Gracklor hatten sich mit einer kleinen Gruppe besonders geschickter Artgenossen in ein Tal zurückgezogen, dass von innen gut abgeriegelt werden konnte. Wer dort hineinwollte konnte leicht von Felsbrocken aus großen Schleudern erschlagen werden.

"Die bringen sich alle noch um", dachte Utgardir. Sie hatten ihn gefragt, ob er dem Herren der dunkel gekleideten Kleinlinge folgen und dadurch viel Beute machen konnte. Doch sein Hass auf die Zauberstabschwinger war zu groß. Sich dann noch von einem herumkommandieren zu lassen hatte er nicht vor.

Als dann noch einer der Kleinlinge, der McNair mit Namen hieß, Hargattas Aufforderung, mit ihr ein Guigui zu machen ablehnte und ihr statt dessen einen grünen Todesblitz in den zum wilden Gebrüll geöffneten Mund schleuderte, hätte Utgardir den Kleinling zu gerne erschlagen. Doch der verschwand sofort im Nichts. Von da an war Utgardir klar, dass Golgomath in dem Moment von ihm persönlich umgebracht werden würde, wenn der allen befahl, diesem Voldemort und seinen Kleinlingen zu folgen.

Die Sache mit Hargatta tat der Gurg mit den Worten ab: "Schade, Orlogaths Sippe war stark. Kann jetzt keine Guiguis mehr von seinen Verwandten kriegen lassen."

"Du bist der Gurg", sagte Utgardir. Doch seine Worte klangen nicht unterwürfig, sondern eher als eine Drohung.

"Ja, und ich bleibe Gurg. Kriege noch mehr Waffen vom Herren der Todesser, wenn weitere Kämpfer für ihn sein wollen."

"Dann wird er Gurg", sagte Goromork, Golgomaths erster Sohn.

"Noch mal sowas und du tot!!" brüllte Golgomath. Doch offenbar kam das, was sein Sohn gesagt hatte irgendwo bei ihm an. Er wiegte den schweren Kopf mit dem unzerschlagbaren Helm und sagte dann:

"Werde fragen, wer gehen will!"

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In Nals Wäldern


5. Juli 2001, kurz nach Sonnenuntergang

Nal horchte in sich hinein. Ihr Blut begann zu wallen. Ja, sie fühlte es. Endlich hatte dieser kerl es gewagt, sich wieder eine Gefährtin zu nehmen. Auf diesen Augenblick hatte sie seit ihrem zwanzigsten Geburtstag gewartet. Sie hockte sich mit bloßem Unterkörper hin und strengte ihren Ortserkennungssinn an, um die Richtung zu erspüren, wo Utgardir war. Das was früher Salanna gewesen war nahm die Wellen der Lust auf, die für sie damals Pein waren, während der Körper, der Utgardirs Fleisch und Blut war erfühlte, wo das wallende Blut genau war.

Seitdem sie Gatasha fortgeschickt hatte hatte sie auf diesen Augenblick gewartet und ihre eigenen Begierden mit arglosen Baumfällern der magielosen Welt befriedigt. Dabei hatte sie sechs mal ein Kind ausgetragen. Zwei davon hatte sie nach der Geburt erwürgt, obwohl alles in ihr danach schrie, die Kleinen großzufüttern. Dann hatte sie sich darauf festgelegt, an Gatashas hoher Lebenstanne lehnend auf einer Felsplatte zu stehen. Da die Kleinlingsabkömmlinge so winzig waren, dass sie ihr bei der Geburt nur einige Bauchkrämpfe und ein Ziepen im Unterleib bereiteten, konnte sie relativ leise bleiben. Die Kleinen waren dann regelrecht aus ihr herausgefallen und auf dem Boden aufgeschlagen. Die meisten überlebten das nicht. Doch diese ganze lange Reihe von unerwünschten Geburten hatte sie dazu gebracht, nach der Sache mit Utgardir einen wahren Gefährten für sich zu finden, dessen Kinder egal ob Söhne oder Töchter, sie auch großfüttern wollte. Und jetzt war es soweit. Sie fühlte, wo Utgardir war. Mehr zum Sonnenaufgang hin, aber südlich. Sie lauschte und fühlte, wie er immer stärker erregt wurde. Dann wusste sie, in welche Richtung und wie weit sie gehen musste. Dabei galt es jedoch, wie in den letzten Jahrzehnten den Giftqualm und elektrisches Kribbeln verbreitenden Siedlungen der Magielosen auszuweichen, um nicht von denen gesehen zu werden.

Nal konzentrierte sich und röhrte wie ein brünftiger Hirsch. Sofort spürte sie, dasss zehn Hirsche in Hörweite waren. Diese kamen, als sie weiterröhrte. Jetzt waren sie nahe genug. Sie wünschte sich, dass die zehn Hirsche sich gegenseitig umbrachten, weil sie ein besonders begehrenswertes Weibchen war. Keine halbe Minute später gingen die zehn Hirsche mit den Geweihen voran aufeinander los. Es klapperte, stampfte und brüllte, als die Hirsche sich gegenseitig niederstießen, aufspießten oder mit Zähnen und Hufen verwundeten. Nal nahm diesen Kampf gelassen hin. Erst als von zehn Hirschen nur noch einer stand, der mit klaffenden Wunden und vor Erschöpfung zitternd auf sie zutrottete, hob sie die rechte Hand und ließ einen rot-blauen Blitz daraus auf den Hirsch niederfahren. Das sowieso schon schwer angeschlagene Tier brach mit einem letzten Aufbrüllen tot zusammen. Nal grinste von einem runden Ohr zum anderen. Die in ihr vereinten Kräfte einer Waldfrau und eines Übergroßen hatten sich zu neuen und stärkeren Zaubern verbunden, die sie in den letzten Jahren immer weiter ausgefeilt hatte. Dagegen würden Utgardir und alle anderen Übergroßen nichts ausrichten können. Achtnehmen musste sie sich nur vor denen mit den Zauberstäben. Denn ob diese jener von ihr ausstrahlbaren Kraft erlagen hatte sie nie ausprobiert. Bisher hatte sie nur magielose Baumfäller damit überwältigt und sie in den Glauben versetzt, die schönste Frau ihrer Art vor sich zu haben, die noch dazu hemmungslos und willig war.

Nal häutete die zehn Hirsche und weidete sie aus. Ob sie sie roh verschlang oder briet machte ihren Verdauungsorganen nichts aus. Doch wenn sie Reisevorräte für mehrere Tage oder Monde brauchte sollte sie die Tiere besser haltbar machen. So schnitt sie große Stücke aus dem Fleisch jedes Tieres heraus und kochte es durch, um es dann in einem luftdicht verschließbaren Tonkrug zu verstauen. Wenn das Fleisch abkühlte würde sich die erhitzte Luft zusammenziehen und durch diese Luftverdünnung eine gewisse Haltbarkeit herstellen. So hatte sie auch schon halbe Obstplantagen an Früchten eingekocht und für harte Winter in einer tiefen Felsenhöhle gelagert.

Sie lud sich die Fleischvorräte und mehrere Krüge mit eingekochten Früchten in einem von ihr genähten Ledersack auf den Rücken. Dann marschierte sie los, dorthin, wo Utgardir gerade mit einer neuen Gefährtin die Körper vereinigt hatte.

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Im Land der letzten Riesn


25. November 2001, 13:10 Uhr Ortszeit

Georges Rocher konnte das unsichtbare Zelt nur finden, weil er eine darauf abgestimmte Brille trug. Das Zelt musste unsichtbar und auch mit Geruchstilgungsimprägnierung versehen sein, denn es lag keine zwei Kilometer vom großen Versammlungsplatz der letzten lebenden Riesen entfernt. Georges fragte sich, ob es mittlerweile nur noch Riesenfrauen geben mochte, weil sich alle Männlichen gegenseitig umgebracht hatten. Vielleicht gab es auch nur noch einen Gurg, der im Stil eines orientalischen Herrschers einen Harem von mehr als zwanzig Frauen um sich scharte. Er verwünschte den Umstand, dass er wegen seines Raports aus dieser Gegend abgezogen war.

Georges Rocher umrundete das getarnte Zelt. Dann sah er seinen deutschen Kollegen Eggebrecht Felsgruber, eine ausgehungerte Bohnenstange mit hellblonder Halbglatze im dunkelgrünen Umhang und nachtschwarzen Stiefeln. . Georges holte aus seiner Tasche einen Satz Transfrequenzaurikulare und die dazu passenden Assimivox-Halsbänder. Da sie festgestellt hatten, dass Riesen nur Töne bis knapp zwanzigtausend Schwingungen in der Sekunde hören konnten hatten sich die Mitglieder der internationalen Beobachtergruppe Ostland darauf eingerichtet, mit diesen Hilfsmitteln im Ultraschall über dieser Hörempfindlichkeit der Riesenohren miteinander zu reden.

"Na, Froschfresser, mal wieder frische Luft auf dem Eiffelturm genossen?" fragte Eggebrecht Felsgruber ihn. Er benutzte die englische Sprache, wie sie es bei der ersten Zusammenkunft vereinbart hatten, weil das die Sprache war, die sie alle gut genug konnten.

"Hat meine Mutter nicht zugelassen, dass ich da rauf bin. Außerdem gibt's da nur Thüringer Rostbratwurst und Sauerkraut, wie bei dir im Jodelstadl."

"Unsere Freunde aus Moskau und London sind noch nicht zurück. Offenbar wollen die die nicht noch mal hier hinlassen, wo die großen Raufbrüder sich fast gegenseitig ausgerottet hätten", sagte Felsgruber.

"Was ist mit diesen Mitsehaugen, die uns Fisch und Fritten von seiner Heimatinsel mitbringen will?"

"Sind genehmigt, soviel weiß ich. Der muss die sich aber wohl noch von deren Erfinder erklären lassen."

"Und, im Osten was neues?" fragte Georges.

"Utgardir sitzt fest im Sattel. Der hat sich all die Sachen genommen, die seine Vorgänger hatten, den von Hagrid und eurer ganz großen Steißtrommlerin gebrachten Helm, das Stück Holz, das immer noch brennt, die Knochenrüstung von diesem legendären Langzeitgurgh Orlogath und den vier Meter langen und zwei Zentner schweren Streitflegel, den Utgardirs direkter Vorgänger Rugnorgan geschmiedet hat. Seine Höhlengenossin, Ehefrau oder Bettwärmerin hat ihre eigene Wohnhöhle bekommen, weil sie Utgardirs Guigui im Bauchhat."

"Und Utgardir ist noch nicht angegriffen worden?" fragte Georges.

"Doch, Golgomaths Enkelsohn hat versucht, den im Schlaf zu ermorden, ist dabei aber über ein gespanntes Seil mit lauten Klappersachen dran gestolpert. Ich hörte das mit dem Langziehohr und auch, wie Golgomaths Enkel seinem Großvater keine zwei Minuten Später ins Totenreich für Riesen hinterhergeschickt wurde. Utgardir hat Glück, dass Gracklor nicht mehr hier ist. Der hätte es auch intelligenter angestellt, den neuen Gurg zu erledigen."

"Wenn den wer offen zum Kampf herausfordert muss er annehmen, um nicht als Feigling dazustehen", wusste Georges. Dann deutete er auf ein Paket, dass er mitgebracht hatte. "Da du unsere gute Küche ja doch irgendwie zu schätzen gelernt hast darf ich dir und den zwei anderen eine Geflügelpastete von meiner Frau Mutter persönlich gebacken anbieten. Sie meinte, die würde zwar die Reise wohl nicht überstehen - sie kennt mich eben. Aber ich habe dann doch unterwegs die Lokale besucht, auch das, das Madame Maxime und Hagrid umgebaut haben."

"Ist die Maxime immer noch bei Meglamora und passt auf sie auf?"

"Das glaubst du aber, Kartoffelstampfer. Außerdem habe ich Julius Latierre getroffen, der mit Halbriesenblut vor dem Schlangenmenschengift gerettet wurde."

"Von dem deine Leute meinten, der müsste das trimagische Turnier gewinnen? Ist bei meinen Leuten immer noch nicht ganz aus der Welt, dass die irgendwie wie Pausenfüller dagestanden haben. Aber mich betrifft das nicht. Meine zwei Filii sind ja schon längst aus Greifennest raus."

"Dafür sind meine zwei Nichten in Beaux langsam auf Bräutigamschau. Aber das erzähle ich dir besser, wenn wir die Lage erkundet haben."

"Im Moment alles ruhig", sagte Felsgruber.

Ein leises Schwirren erklang. Das war Ethan Oakshade. Der britische Kollege sah wieder mal aus wie für ein Modemagazin gehobener Zauberer. Er trug einen dunkelblauen Samtumhang mit Stehkragen und einen besonders schlanken, spitz zulaufenden schwarzen Zaubererhut. Seine Füße steckten in dunklen Drachenhautstiefeln.

"Hier kommt Santa Claus mit netten Sachen", sprach er, als er die Transfrequenzaurikulare und das Assimivox-Halsband eingestimmt und angelegt hatte.

"Wunderschön, dann hat der Weihnachtsschreiber das doch nicht mitbekommen, wie ich im Sommer die große Festtagstorte im Alleingang niedergemacht habe", scherzte Georges.

"Oh, dann müssen wir doch noch mal auf die Unartigliste gucken, was wir dem guten bösen Georges dafür auferlegen", sagte Ethan leicht verdrossen tuend. Dann teilte er die Mitbringsel aus.

"Noch ist ja kein Weihnachten", knurrte Georges. Dann blickte er sich um, ob er einen der verbliebenen Riesen auf einem Erkundungsgang sehen konnte. Doch da war keiner.

Oakshade öffnete seinen Rucksack und entnahm diesem einen großen Vogelkäfig, zwei an Lederbändern hängende Kristallkörper, die wie künstliche Augen aussahen und ein Paar armlanger, dicker Drachenhauthandschuhe. In dem Käfig hockte ein ausgewachsener Wanderfalke. Erst dachte Georges, das Tier sei ausgestopft. Dann sah er, dass es atmete. Offenbar war es nur betäubt. Um die Flügel war ein breiter, weicher ledergurt geschnallt, um die Flügel am Körper angelegt zu halten.

"Neh, du hast das arme Tier echt im Rucksack mitgenommen?" schnaubte Eggebrecht Felsgruber.

"Anders ging's nicht, da dies der einzige Falke aus Hugo Dawns Falknerei ist, der mich als Halter akzeptiert hat und das Abrichten anderer Vögel zu lange dauern würde. Die Mitsehaugen können nämlich so gut sehen wie die Vögel, denen sie umgebunden werden", sagte Oakshade.

"Dann könntest du es auch einer Eule umbinden?" wollte Georges wissen.

"Natürlich, Georges. Ist denn deine Contesse schon wieder hier?"

"Ich habe sie nicht mitgenommen", sagte Georges. Er nahm eine kleine Pfeife aus seinem Umhang und blies hinein. Ein kurzer trillernder Ton klang heraus, gerade hoch genug, dass die mit den Transfrequenzaurikularen versehenen Ohren der Männer es als angenehm empfanden, aber zu hoch für die Ohren von Riesen.

Keine Minute nach dem Pfiff segelte ein stattlicher Uhu heran. Das war Contesse, Georges' größte und ausdauerndste Posteule, die Enkeltochter seiner allerersten Posteule überhaupt.

Trotz der auf Ultrahoch gestellten Stimmen für die Riesen nicht mithörbar sprachen die drei Männer leise miteinander, wie genau die Mitsehaugen funktionnierten. Ethan erklärte, dass die Kristallaugen aus echtem Mondgestein bestanden, dass US-amerikanische Zauberer klammheimlich aus den mitgebrachten Proben des Apollo-Mondflugprogramms der Mugggel abgezweigt hatten. Damit war es gelungen, durch die Augen fliegender Vögel zu sehen, ja das, was sie gesehen hatten, noch einmal nachzubetrachten. Auf der ganzen Welt gab es nur fünfzig Stück dieser Augen, die über ein auf sie abgestimmtes Monokel benutzt werden konnten.

"Vielleicht sollten wir selbst Maschinen bauen, die uns Steine vom Mond holen", grummelte Eggebrecht, als er das Mitsehauge an dem aus seiner tiefen Betäubung aufgeweckten Falken ausprobiert hatte. Georges hätte fast verraten, dass Florymont Dusoleil eine Maschine gebaut und bezaubert hatte, mit denen er winzige Mengen von außerirdischer Materie einsammeln konnte, was allerdings langwierige Berechnungen voraussetzte, um das Gerät auf den betreffenden Himmelskörper auszurichten. Aber dieses Wissen war Stufe C5 und damit nur für Leute bestimmt, denen er unmittelbar vertrauen konnte.

"Zwei Männchen halb östlich, marschieren auf eine Höhle zu", meldete Eggebrecht, der gerade mitbetrachtete, was Blitzmaid, das von Ethan mitgebrachte Falkenweibchen, aus ihrer hohen Warte sehen konnte.

"Wer ist es?" fragte Ethan Oakshade.

"Rugmurgh und Orkonar", sagte Eggebrecht. Dann berichtete er laufend, was die beiden Riesen anstellten. Sie wollten Utgardir wohl zu zweit packen, um ihn umzubringen. Doch der wehrte sich mit dem Streitflegel und dem immer brennenden und dabei nicht kleiner werdenden Holzscheit. Am Ende lag Orkonar mit zerschmettertem Schädel auf dem Boden, während Utgardir dem zweiten ein Messer groß wie ein Muggelschwert an den Hals hielt. Doch Rugmurgh dachte nicht daran, aufzugeben. Er versuchte, Utgardir zwischen die Beine zu treten, prallte aber mit seinem Fuß vom Unterleibsschutz Orlogaths Rüstung ab. Im nächsten Moment hatte Utgardir dem Gegner die Kehle aufgeschlitzt.

"Dieses Mitsehding ist mindestens zweitausend Galleonen wert", stellte Georges fest. "Wir brauchen damit nicht mehr auf Fernrohrreichweite an die Riesen heranzugehen."

"Weihnachten kriegen wir noch eins mehr. Minister Shacklebolt hat eingesehen, dass unsere Arbeit wichtig genug ist", erwähnte Ethan Oakshade.

"Und wir dürfen unseren Vorgesetzten wieder zwei tote Riesenmänner mitteilen", grummelte Georges. Wenn das so weiterging würde am Ende doch nur ein männlicher Riese übrigbleiben. Dann würden die Riesenfrauen sich um den streiten, wenn sie es wieder nötig hatten und/oder Kinder bekommen wollten. Auch wenn die Riesen für Menschen ungemein brutal und furchterregend waren, so hatte Georges doch ein gewisses Interesse daran, dass diese Zauberwesenart nicht komplett ausstarb. Doch das sagte er nicht laut, weil seine Kollegen aus anderen Ländern da anderer Meinung waren. Denen missfiel es, hier auf Posten zu sein und sozusagen Feuermelder spielen zu müssen, wenn Riesen mal wieder in die Menschenwelt vorzudringen versuchen wollten. Aber das Mitsehauge war wirklich eine geniale Erfindung, um gefährliche Wesen aus sicherer Entfernung zu beobachten.

Am Abend ploppte es vernehmlich in der Nähe des Zeltes. Das musste der russische Kollege Wladimir Anatolowitsch Borodin sein, dachten alle. Doch als dann eine kleine, ziemlich rundlich aussehende Hexe mit schulterlanger roten Lockenmähne im bauchseitig gut ausgewölbten grünen Lederkleid vor dem Zelt stand guckten alle verdutzt. Dann hielt sie eine kurze Stange mit einem rechteckigen Schild hoch, dessen Schrift unvermittelt in warmem Rotton zu leuchten begann. Auf ihm stand in englischer Sprache:

Nadja Gregorewna Tupulewa, neu zugeteilte Beobachterin Abteilung Ostland
Gez. Anatol Borodin, Leiter der Abteilung zur Überwachung und Führung magisch begabter Lebewesen

"Hat Wladimir beim Rapport in der falschen Tonart gesungen?" fragte Eggebrecht halblaut. Dann deutete er auf Georges. "Teste aus, ob sie genug Englisch spricht oder deine Muttersprache, Pummelchen!"

"Nur kein Neid, Zaunlatte!" grummelte Georges und nahm seine transfrequenzaurikulare und das darauf eingestimmte Halsband ab, damit er die fremde Hexe für ihre Ohren hörbar begrüßen konnte.

"Der Kollege Borodin wurde von unserem gemeinsamen Vorgesetzten für einen Sonderauftrag Stufe S10 abkommandiert. Ich soll für ihn als russische Vertretung der Ostlandgruppe einspringen", sagte die rothaarige Hexe mit einer von mehreren Jahrzehnten Lebenszeit angerauhten Stimme. Georges war erleichtert, dass sie fließend Englisch sprach. Dann grinste sie. "Zumindest wer, der auch nicht so verhungert aussieht", fügte sie noch hinzu. Das brachte Georges zum schmunzeln. Doch dann wurde er wieder ernst.

"Aha, Sie wissen, dass unsere Unterbringungsvorschriften eine strickte Geschlechtertrennung vorsehen?" fragte er. Zur Antwort holte die Hexe aus ihrem großen Rucksack ein großes, silbernes Stück Stoff, das leicht und luftig floss, sowie ein von drei Lederriemen zusammengehaltenes Bündel Zeltstangen.

"Ich wurde mit einer vollen Eine-Frau-Feldeinsatzausrüstung und Gebrauchsgütern für sechs Monate ausgerüstet", erwiderte Nadja Tupulewa und setzte eine Brille auf, um das getarnte Zelt zu sehen. Dann gab sie drei weitere Brillen an ihre Kollegen aus. Diese ermöglichten denen, ihr Zelt von außen zu sehen, wenn es erst einmal aufgestellt war.

Den restlichen Abend bestritten die nun wieder vier aus verschiedenen Ländern zusammengestellten Beobachter damit, die neu hinzugekommene mit den bereits beobachteten Dingen vertraut zu machen. Über Wladimirs Sondereinsatz verloren sie kein Wort. S10 hieß, dass außer dem Minister nur noch der Abteilungsleiter und die an der Aufgabe selbst beteiligten Beamten davon wissen durften.

Südlich der finnisch-russischen Grenze


8. Dezember 2001, kurz vor Sonnenuntergang

Pjotter Bulgakow führte einen Trupp Holzfäller durch die dichten Nadelwälder der nordwestlichen Wälder. Er war gerade ziemlich wütend auf den Chef, der ihm und seiner zehn Mann starken Truppe, früher Holzfällerbrigade sieben genannt, die Aussicht auf Weihnachten bei den Familien verdorben hatte. Selbst das sonst so verlässlich helfende Lebenswasser hatte seine Wut nicht wegspülen können. Es hatte ihn nur sturzbetrunken gemacht, so dass er bei der aus dem allgemeinen Ärger entstandenen Schlägerei zwischen Gregori und Boris zwei deftige Kinnhaken eingefangen und eine volle Minute komplett weggetreten auf dem kalten Waldboden gelegen hatte. Die zwei Streithähne hatten sich erst nach zehn Minuten beruhigt. Jedenfalls wollte Pjotter bis zum morgen nichts mehr von den beiden hören oder sehen. Dem war es sogar egal, ob die zwei sich in der Nacht noch gegenseitig die Kehlen durchschnitten. Und das alles nur, weil Gregoris Frau angeblich mit einem andren Mann rumgemacht haben sollte, woher Boris das auch immer haben wollte. Wenn sie jetzt über Weihnachten noch die abverlangte Menge Tannenholz zusammenkriegen sollten würde das heute nicht das letzte Mal bleiben, dass Gregori ausrastete.

Pjotter durchwanderte den dichten Wald aus kahlen Laubbäumen und haushohen Tannen, Fichten und Kiefern, die dem kalten Winter mit grüner Pracht widerstanden. Weiter nördlich begann die Taiga, wusste Pjotter. Dort wohnte seine neue Freundin Malenka. Wegen ihr wollte er auch unbedingt Weihnachtsferien haben, weil sie ihm geschrieben hatte, dass es nun sicher sei, dass sie im nächsten Juli ein Kind von ihm bekommen würde. Da Malenkas Familie sehr religiös war sollten die beiden zusehen, bald zu heiraten, damit dieses Kind nicht unehelich geboren wurde. Doch Pjotters Chef hatte den seit Ende der Sowjetunion ins Land gefluteten Kapitalismus in vollen Zügen in sich eingesogen und wollte nun zusehen, mit anderen Holzlieferanten der Welt mitzuhalten. Ob dabei Familien kaputtgingen oder neue entstehen konnten war dem doch total egal. Pjotter verwünschte einmal mehr den ehemaligen Genossen Gorbatschov, dass der den Niedergang der Sowjetunion ausgelöst hatte. Früher war das einfacher. Da hatten die Brigaden ihr Fünf-Jahres-Soll zu bringen und fertig.

Ein lautes Knacken riss Pjotter aus seinen vom Wodka umnebelten Gedanken und Verwünschungen. Das klang so, als sei irgendwo ein ganz dicker Ast durchgebrochen. Doch im Moment ging kein Wind, der stark genug war, um so einen Ast zu knacken. Pjotter schob das gehörte auf den in seinem Hirn werkelnden Wodka. Vielleicht sollte er doch besser zurück zum Hüttendorf der Baumfäller und sich hinlegen. Da knackte es wieder. Jetzt konnte er auch ein leises Rascheln hören, als würde etwas sich zwischen den Tannenzweigen hindurchzwengen. Das war da, wo die Sonne gerade orangerot zwischen den Wipfeln hing. Pjotter atmete tief durch, um genug Luft in seinen Kopf zu kriegen. Wenn da was war musste er zumindest klar genug sein, es zu erkennen. Am Ende war es ein Bär oder ein Elch, der sich auf das Hüttendorf zubewegte. Ein kalter Windstoß durchzauste Pjotters tiefschwarzen Vollbart und kühlte seine Wangen wie mit eisigen Fingern. Das ließ den Brigadeführer erschaudern. Dann sah er über sich die vier dahinfliegenden Vögel. Vielleicht waren es aber auch nur zwei, und er sah schon doppelt. Da segelte einer herunter und kreiste für einige Sekunden über ihm, bevor er wieder nach oben stieg und seinen drei gefiderten Begleitern folgte. Was sollte das denn jetzt? fragte sich Pjotter Bulgakow.

Wieder raschelte und knackte es. Und jetzt konnte Pjotter etwas erkennen. Doch er traute seinen Augen nicht. Denn was er sah konnte nur vom Wodka kommen und nicht wirklich so passieren. Dort, wo die Sonne gerade zwischen den Bäumen versank, schritt eine Gestalt über den Boden, eine Gestalt, die so hoch wie die mittleren Tannen aufragte. Sie trug bis auf einen ärmellosen Fellumhang mit breiten Schließen nichts anderes am Leib, als eine glatte, tannengrün schimmernde Haut. Aus dem schlanken Gesicht mit dem leicht vorspringenden spitzen Kinn blickten bernsteingelbe Augen herunter. Nachtschwarzes Haar umwehte Hals und Schultern der unheimlich großen Erscheinung. Pjotter begann nun an seinem Verstand zu zweifeln. Denn jetzt sah er durch den nun flüchtig verschlossenen Umhang die enormen Rundungen. Da kam eine riesengroße grüne Frau auf ihn zu! "Ich trinke nichts mehr", schwor sich Pjotter zum ungezählten Mal. Doch diesmal meinte er es tatsächlich ernst. Denn was da auf ihn zukam konnte es nicht geben.

Pjotter drehte sich um. Sein Gleichgewichtssinn wollte nicht mehr so recht. Doch er musste ins Waldarbeiterlager zurück, um wieder klar zu werden. Dieser lange Spaziergang im Wald hatte ihn neben dem getrunkenen Wodka durcheinandergebracht. Er schwankte mit langen Schritten vorwärts. Jetzt fühlte er neben dem schwankenden Boden auch noch ein rhythmisches Zittern, als wenn gerade eine große Waldmaschine durch eine Schneise in den Wald pflügte. Das leichte Beben wurde stärker. Jetzt hörte er auch ein deutliches Knirschen im Schnee, wie von sehr großen Füßen. Dann fiel ein großer Schatten auf ihn. Er erschrak und stolperte. Er fiel der Länge nach auf den Boden und drückte sein Gesicht in den eiskalten Schnee. Er blaffte ein sehr unfeines Wort, dessen Lautstärke zum großen Teil vom Schnee geschluckt wurde. Als er versuchte, sich wieder aufzurichten wurde ihm schwindelig. Der Wodka hatte seinen Gleichgewichtssinn ziemlich übel erwischt. Doch er musste auf die Füße. Er musste ins Lager zurück und ... Er schrie auf, als etwas ihn um Bauch und Brustkorb griff und ihn innerhalb einer Sekunde um mehr als zwei Meter in die Luft riss. Dann erkannte er, dass er von zwei grünen Händen doppelt so groß wie sein Kopf aber mit langen, schlanken Fingern, festgehalten wurde. Er wollte schreien, als ihn unvermittelt ein Gefühl vollkommener Glückseligkeit überkam. Er vergaß die völlig fremdartige Lage, seine Wut auf den Chef und seine Betrunkenheit. Im Moment fühlte er sich einfach nur überglücklich und geborgen. So nahm er es nur am Rande wahr, wie er weiter durch den Wald getragen wurde. Er sah unter ihm nackte, grüne Füße auf den Boden treten. Eigentlich hätten diese gigantischen Füße mehr als zehn Zentimeter tiefe Fußabdrücke in den Schnee pressen müssen. Doch die grünen Füße drangen nicht einmal um einen halben Zentimeter in den halbfesten Schnee ein. Es knirschte eben nur so, als würde jemand mit übergroßen Stiefeln durch den Wald stapfen. Zwischendurch ließ eine der zwei Hände von ihm ab, um im Weg hängende Zweige zur Seite zu biegen. Dann ging es weiter, bis sie das Lager erreicht hatten.

"Mist! Was ist das?" hörte Pjotter Gregori aufschreien. Natürlich sahen die Kollegen nun auch, wer da auf ihr Lager zustampfte. Doch eine halbe Minute später sah er auch, wie alle seine Leute jubelnd auf ihn und die grüne Riesenfrau zuliefen und sie mit wild wedelnden Armen begrüßten. Er hörte Komplimente, als sei gerade das schönste Mädchen der Welt zu ihnen gekommen, um ihr hartes Dasein aufzulockern. Da Pjotter diese Empfindung teilte, dachte er sich auch nichts dabei. Eher empfand er es als großes Glück, dass er die grüne Frau zuerst gesehen hatte. Wenn sie es mit ihm tun wollte würde er sie nicht zurückweisen. Ja, er fühlte trotz des Alkohols im Blut, wie er Lust auf eine wilde Runde Liebe bekam. Dass er eine schwangere Freundin zu Hause warten hatte interessierte ihn nicht. Die war ja auch so weit von ihm weg.

Als sie vor einer Hütte stand und ihn anhob dachte er, sie wolle ihn jetzt für sich haben. Doch dann legte sie ihn auf das flache Dach der Hütte ab und drehte sich den jubelnden Männern zu, die nun um ihre langen, kräftigen Beine herumwuselten. Pjotter fühlte sich enttäuscht und zugleich noch stärker angeregt, es mit dieser grünen Riesenfrau zu treiben. Offenbar ging es den anderen da unten auch so. Denn unvermittelt gerieten die erst so jubelnden in wilden Streit, wer zuerst mit der Fremden Liebe machen sollte. Aus dem erst worthaften Streit wurde eine handfeste Schlägerei. Pjotter fühlte die Wut, dass die Riesin ihn auf dieser Hütte hingelegt hatte, als sei er gerade nicht wichtig. Er war aber nicht wütend auf die Riesin, sondern darauf, dass seine Männer sie jetzt haben konnten, wenn sie wollten und er dabei zusehen sollte. Verdammter Wodka! Er konnte sich nicht gescheit aus dem auf dem Dach liegenden Schnee herauswühlen. Doch er musste da runter, musste seinen Burschen zeigen, wo es lang ging. Diese droschen, traten und fluchten aufeinander ein, als hätten die vollkommen vergessen, wo sie waren und dass sie eigentlich Kollegen waren, die sich zu hundert Prozent aufeinander zu verlassen hatten. Es ging nur darum, wer zuerst mit der grünen Riesin Liebe machen sollte. Das Objekt dieser unvermittelt losgebrochenen Entscheidungsschlacht stand in einem ansehnlichen Spagat da wie eine Weltklasseballerina und ließ ihr Becken kreisen, in dem jeder der da unten prügelnden locker hätte verschwinden können. Dabei ließ sie ihren Umhang sachte über die Schultern gleiten. Ganz fallen ließ sie ihn nicht. Doch die Burschen da unten konnten nun sehen, was sie dem zu bieten hatte, der den Kampf gewann. Pjotter wälzte sich wütend herum und schob sich zum Dachrand. Er wollte runterspringen und mitmischen. Da zeigte die Riesenfrau mit dem rechten Zeigefinger auf ihn. Er sah noch einen blauen Blitz. Dann jagte es durch seinen Körper und blies ihm bis auf weiteres alle Lichter aus.

Nal stand da und genoss ihre Macht. Sie hatte ihre Kraft der Gefühlsveränderung so heftig ausgebreitet und auf das eine Ziel ausgerichtet, den Mann zu nehmen, der den Kampf überstand, dass sie erst nicht mitbekam, dass der von ihr im Wald aufgelesene Mann fast von der Hütte gerutscht wäre. Doch den wollte sie sich aufheben, bis er wieder nüchtern genug war, ihr auch ein wenig Befriedigung zu bieten, wo das bei diesen Winzmännchen nicht so leicht war.

Endlich hatte Gregori seine Konkurrenten allesamt bewusstlos geboxt. Er wankte zwar. Doch er sah an der grünen Riesenfrau hinauf, sah, wie sie sich ihm einladend zuwandte und ihm mit einer beiläufigen Streichelbewegung vom Hals bis zwischen die Schenkel zeigte, was sie ihm nun bieten würde. Dass Pjotter auf dem Hüttendach lag, betäubt von einem wie beiläufig aus einem Finger geschossenen Blitz, hatte Gregori vor lauter Kampfeslust nicht mitbekommen.

Die grüne Riesin stapfte an Gregori heran, ließ ihn zwischen ihren mehr als zwei Meter langen Beinen hindurchgleiten und trat auf die Gerätehütte zu, in der zwei große Dieselgeneratoren liefen, die alle Hütten mit Heiz- und Leuchtstrom versorgten. Mit vier kräftigen Hieben brachte sie eine Seitenwand zum Einsturz. Die Hütte verzog sich und brach dann zusammen. Die laufenden Generatoren bekamen dabei Teile vom Dach ab und erstarben scheppernd und spotzend. Das war der Riesin aber jetzt sowas von egal. Sie würde die Männer eh mitnehmen, um für die weitere Strecke sowohl Triebabfuhr wie lebenden Reiseproviant zu haben. Jetzt ging es ihr erst einmal nur darum, es warm genug zu haben, um sich die ersten drei Männer zu nehmen. Hoffentlich half es ihr, ihren angestauten Trieb zu befriedigen. Denn wenn sie bei Utgardir ankommen würde wollte sie einen klaren Kopf haben und nicht dieses fordernde Glühen im Unterleib.

Mit einer Kaskade aus blauen und roten Blitzen aus beiden Händen zündete sie die Hütte an. Der ausgelaufene Dieseltreibstoff qualmte schwarz und stinkend. Doch dann waren die Gase heiß genug, um mit einem Wuff zu hellen Flammen zu werden. Große Hitze breitete sich über das Lager aus und verscheuchte die grimmige Winterkälte. Dann griff sich die Riesin den wie ein Schoßhund hinter ihr hertrottenden Gregori und schälte ihn ruppig und schnell aus seinen winterfesten Sachen. Dann warf sie sich auf den Rücken und legte den Ergriffenen auf ihren Bauch. "Komm, hol's dir!" lockte sie, wobei sie fast flüsterte, um den Gefangenen nicht mit ihrer ganzen Stimmgewalt zu irritieren.

Fünf lange Stunden vergingen. Zwischendurch zertrümmerte Nal zwei weitere Hütten, um das Feuer in Gang zu halten. Der stinkende Qualm störte sie nun nicht weiter. Sie genoss die von ihr gefangenen Männer. Zweimal erreichte sie dabei tatsächlich den Höhepunkt, weil die ihr Unterworfenen ihre Winzigkeit durch Kraft und Fantasie ausglichen. Am Ende hatte sie von zehn Waldarbeitern neun mit sich zusammengebracht. Die alle schliefen nun fest vor Erschöpfung und weil Nal ihnen mit ihrer besonderen Ausstrahlung großes Schlafbedürfnis auferlegt hatte.

Jetzt erweckte sie Pjotter aus seiner Betäubung und ließ sich von ihm erzählen, wer er und seine Leute waren und für wen sie arbeiteten. Nal entschied, dass sie schneller vorankommen würde, wenn sie einen der großen Baumlastwagen an sich brachte und dessen Fahrer dazu brachte, sie dahin zu fahren, wo sie hinwollte.

Nal versetzte Pjotter erneut in Schlaf und holte aus gut drei Meilen Entfernung den festzeltgroßen Ledersack, den sie vor zwei Jahren genäht hatte. In diesen steckte sie die von ihr überwältigten hinein. Dann sammelte sie noch alle Lebensmittelvorräte ein. Danach erzeugte sie mehrere Meter lange Stichflammen zwischen ihren Händen, um die sie jeder mittelgroße Drache beneidet hätte. Jede Flamme ließ eine der verbliebenen Hütten wie einen Scheiterhaufen entflammen. Dann hob sie die vordere Hälfte ihres Tragesacks an und schulterte diesen. Mit weit ausgreifenden Schritten stapfte sie nun davon. Ihre von der mütterlichen Seite her vererbte Fähigkeit, ihr eigenes Gewicht zu verringern, half ihr, die Last ohne erkennbare Spur davonzuschleppen.

Erst mitten in der Nacht legte sie sich selbst zum schlafen hin. Ihre Haut war so dick, dass sie die Kälte nicht spürte, die der Boden ausstrahlte.

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200 Kilometer westlich der Ausläufer des Urals


12. Dezember 2001, 17:30 Uhr Ortszeit

Hauptmann Boreschenko traute seinen Augen nicht, als er durch sein Nachtsichtglas eine fremde Frau sah, die unbeirrt einen bald doppelt so groß wie sie selbst wirkenden Sack hinter sich herschleppte. Von der Entfernung her war die Fremde noch mehr als einen Kilometer entfernt. Aber dann hätte er sie nicht als so groß sehen dürfen. Ja, im Vergleich zu den Bäumen, an denen sie vorbeiging, wirkte sie ein Drittel so groß wie die höchsten Bäume. Der Armeeoffizier, der mit seiner Gruppe Kampfpanzer eine Geländeübung abhielt prüfte noch einmal die Einstellungen seines Nachtsichtgerätes. Dann schaltete er das kleine Radarmessgerät zur exakten Entfernungsbestimmung ein. Doch irgendwie schienen die unsichtbaren Funkmessstrahlen restlos geschluckt zu werden. Nicht ein Echo war auf dem winzigen Anzeigebildschirm. Die Entfernungsmessung zeigte außerhalb der Reichweite. Da diese jedoch bei drei Kilometern lag und die fremde Erscheinung wesentlich näher war, konnte die Angabe nicht stimmen. Die Unbekannte schluckte Radarstrahlen? Borroschenko griff zum Mikrofon des Kommandofunkgerätes. Gleichzeitig betätigte er den Knopf für den Alarm.

Jetzt war die Unbekannte noch näher heran. Über Boroschenko sammelte sich ein Schwarm von Eulen, der nun über der Gruppe der Panzer kreiste wie ein Schwarm Aasgeier in Wartestellung. Jetzt ließ die Unbekannte den Sack fallen und beschleunigte ihre Schritte. Boroschenko peilte mit den Augen, wie weit sie weg war und wie schnell sie sein musste. Sie lief mit mehr als vierzig Stundenkilometern auf die zehn parkenden Panzer zu.

"Das kann nicht stimmen, Hauptmann. So große Frauen gibt's nicht", sagte Leutnant Luganow, als er wie sein Befehlshaber erkannte, was da auf sie zukam. "Gehört vielleicht zur Übung. Geschütze klarmachen und Ziel auffassen!" befahl der Hauptmann. Was immer es war, es bot auf jeden Fall ein gutes Ziel für die Panzer.

Eine Minute später erfolgte die Klarmeldung aus allen Geschütztürmen der abgestellten Panzer. Boroschenko gab Befehl, zunächst mit den schweren MGs auf das unbekannte Ziel zu halten, wenn es näher als zweihundert Meter heran war. Als dieser Abstand unterschritten wurde gaben die Richtshützen Feuer. Laut ratterten die Maschinengewehre los und spien Leucht- und Sprenggeschosse aus. Sofort wurde die Riesenfrau in ein Gewitter winziger Explosionsglutbälle gehüllt. Doch wie nun mit einem Kleid aus kleinen Feuerbällen verhüllt lief die Riesin weiter. Sie legte sogar noch an Tempo zu, so dass sie für die letzten hundert Meter nur fünf Sekunden brauchte. Gerade gab Boroschenko den Befehl an den nächsten Panzer, eine Granate abzufeuern, da war die Riesenfrau auch schon zu nahe, um für die Truppe ungefährlich zu feuern. Von einem auf den anderen Augenblick erfasste Boroschenko eine gnadenlose Angriffslust. Er wollte jeden umbringen, der sich in seiner Nähe aufhielt. Dass diese Wut auch seine Männer erfasste bekam er erst mit, als die ersten Panzer anfingen, mit ihren Geschützen aufeinander zu feuern. Dumpfe Detonationen und grelle Flammenkugeln überreizten die Sinne des Hauptmanns, der gerade seine Pistole herausriss, um Leutnant Luganow zu töten. Doch dazu kam es nicht, weil der Leutnant bereits seine Dienstpistole freigezogen und abgefeuert hatte. Boroschenko hörte den Schuss nicht einmal, der seinen Kopf traf. Der Leutnant überlebte seine Tat jedoch nur eine weitere Sekunde. Dann erwischte ihn eine MG-Garbe aus einem Panzer und zersiebte ihn und den toten Hauptmann im Kommandostand.

Die zehn Panzer feuerten wild aufeinander. In den ersten zehn Sekunden fielen drei der Kriegsmaschinen unter dem Beschuss zusammen. Fünf Sekunden später gab es nur noch fünf Panzer. Irrläufer explodierten kilometer weit in den Hügeln. Keine der Granaten kam in die Nähe der grünen Riesin. Diese heizte durch ihre Willenskraft und ihre Ausstrahlung die Mannschaften noch mehr an, jeden Gegner in unmittelbarer Nähe zu töten. Eine Minute später stand nur noch ein bereits schwer angeschlagener Panzer da. Doch dessen Mannschaft war bereits im direkten Tötungsrausch dabei, sich selbst auszuradieren. Als sie fühlte, dass niemand mehr lebte, grinste Nal über ihr glattes, schlankes Gesicht. Sie freute sich, dass sie sogar den leichteren Feuerwaffen der Magielosen widerstehen konnte. Allerdings, so wurde ihr klar, sollte sie es vermeiden, von diesen großen, lauten Sprenggeschossen getroffen zu werden, die aus den größeren Kanonen abgefeuert worden waren. Mit dieser Erkenntnis lief sie zu ihrem großen Sack zurück und nahm ihn auf. Dann setzte sie ihren Weg fort. Sie wusste nun ganz genau, wo ihr endgültiges Ziel lag. Niemand würde sie davon abhalten können, es zu erreichen.

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Im Land der letzten Riesen


26. Dezember 2001, 15:21 Uhr Ortszeit

Nadja Tupulewa hatte sich daran gewöhnt, durch die Augen von Blitzmaid zu sehen, als wenn sie selbst das fliegende Falkenweibchen wäre. Im Dunkeln der Nacht würde Georges Rocher die Beobachtung übernehmen. Dazu würde er seine eigene Posteule einsetzen.

Utgardir südlich von Versammlungsplatz bei der Zerlegung seiner letzten Jagdbeute. Kein anderer Riese in seiner Sichtweite", vermeldete die russische Tierwesenexpertin, die aus ihr selbst unbekannten Gründen auf den Posten ihres Kollegen Wladimir Borodin versetzt worden war.

"Nach dem letzten Kampf haben die anderen ihn endgültig als Gurg anerkannt", wagte Ethan Oakshade eine Vermutung.

"Moment, da ist was merkwürdiges zwischen den Bäumen. Könnte eine der jagenden Riesenfrauen sein", sagte Nadja.

"Was soll daran merkwürdig sein, Mütterchen?" fragte der zaunlattendürre deutsche Zauberer Felsgruber. Sie unterdrückte ihren Ärger über die Anrede Mütterchen. Sicher waren die drei da nur halb so alt wie sie selbst. Aber dann sollten sie sie auch respektvoller ansprechen und nicht so von oben herab, als sei sie für diesen Posten schon zu alt.

"Die Riesin sieht so aus, als hätte sie sich tannengrün angemalt. Wusste nicht, dass die sich auch tarnen können."

"Dann müssten die ja vorausdenken können. Neh, die setzen voll darauf, dass sie sich nur zu verstecken brauchen oder voll auf ihre Beute losrennen müssen", sagte der gutgenährte Franzose Rocher.

"Dann seht euch bitte selbst mal die Gestalt an. Moment, die tritt keine tiefen Fußabdrücke in den Boden. Das kann bei der Größe nicht sein."

"Wie?!" fragte Rocher und deutete auf Nadja, die das Monokel für das Mitsehauge trug. Doch sie sah es nicht, weil ihr Sehsinn gerade auf den fliegenden Falken eingestimmt war.

"Darf ich sehen, Nadja?" fragte er nun. Nadja kniff beidde Augen zu und gab dem Kollegen das Monokel. Er drückte es sich vor sein rechtes Auge und wartete ab, was ihm der Falkenblick offenbaren würde.

Indes hatte Utgardir den Hirsch in mundgerechte Stücke zerlegt. Nur wenn sie es länger haltbar machen wollten brieten die Riesen das Fleisch ihrer Beute. Doch Utgardir hatte nach der anstrengenden Arbeit großen Hunger bekommen. So stopfte er den ersten Fleischbrocken in seinen Mund und begann, darauf herumzukauen. Dann meinte er, jemand beobachte ihn. Sofort griff er nach den beiden Messern und wirbelte so heftig herum, dass um ihn ein wilder Luftwirbel entstand, der eine meterhohe Staubspirale aufsteigen ließ. Er suchte mit seinen Augen die Umgebung ab, bereit, jeden ihm geltenden Angriff unverzüglich abzuwehren. Bald hätte er losgebrüllt, dass wer auch immer sich offen zeigen solle. Doch das wäre eine offene Kampfansage gewesen, und wer auch immer hätte dann allen Grund gehabt, ihn anzugreifen. Dann sah er es in der Ferne, jenes fremde Wesen, das mit weit ausgreifenden Schritten genau auf ihn zueilte. Er verzog das Gesicht und hätte sich fast an dem Fleischbrocken verschluckt, den er noch im Mund hatte. Schnell schlang er das rohe Stück Hirschfleisch hinunter. Er musste frei atmen können, sollte er kämpfen müssen. Dann erkannte er richtig, dass da eine Frau seines Volkes auf ihn zurannte. Doch diese Frau sah völlig fremd aus. Die hatte grüne Haut, so grün wie die vielen Nadeln an den wintergrünen Bäumen. Das war keine aus der Sippe hier.

Die andere hielt unbeirrt auf ihn zu und sah ihn mit ihren mittagssonnenfarbenen Augen an. Da war ihm, als träume er. Die Augen, dieses grüne Gesicht, die langen Beine, das alles war ihm irgendwie vertraut. Dann wusste er, wo er dieses Gesicht zuletzt gesehen hatte. Doch das konnte nicht sein. Das war schon mehr als hundert Sommer her, und die Frau war kleiner als ein Kleinlingsweibchen gewesen. Er hatte sie dazu benutzt, seinen aufgestauten Trieb zu befriedigen. Das konnte unmöglich dieselbe Frau sein. Die konnte in der Zeit doch nicht so heftig groß geworden sein.

"Was für ein Glück!" hörte er eine laute, mittelhohe Stimme, die weit von den umgebenden Bergen widerhallte. "Hab' ich dich doch gleich gefunden, Vater."

Dass die grüne Riesin etwas rief hörten die Beobachter der Ostland-Gruppe. Doch was sie rief war für ihre gerade auf Ultraschall eingestimmten Ohren zu tief. Sie empfingen nur ein unheimlich tiefes, von allen Seiten nachhallendes Gedröhn. Schnell legten sie Halsbänder und Aurikulare ab um zu lauschen. gerade rechtzeitig, um Utgardirs aus weiter Ferne und mehrfach widerhallend gerufene Antwort zu hören.

"Wer bist du, zum Blitzschlag?! Warum nennst du mich Vater?!" Georges und Eggebrecht konnten als einzige außer Nadja ein wenig Finnisch. Deshalb konnten sie Utgardirs Fragen verstehen. Dann hörten sie die aus weiter Ferne hallende Antwort der grünen Riesin:

"Weil ich deine Tochter bin, du Untier. Du hast damals meine Mutter mit deinem viel zu großen Prengel fast umgebracht. Doch die hat überlebt und mich bekommen. Aber das hat sie dann doch umgebracht."

Dröhnendes Lachen, das selbst der dem Finnischen unvertraute Brite Oakshade verstand, war die Antwort Utgardirs.

"Du niemals von mir. Du das gar nicht sein. Die kleine grüne Waldfrau nicht lange genug gelebt, um dich auszubrüten."

"Das ist wahr. Sie hat mich auch nur drei Monate in sich drin gehabt, wo sie sonst zehn Monde gebraucht hat, wen neues auszubrüten", hörten Nadja, Georges und Eggebrecht die Antwort der Riesin. Dann fühlten sie den Boden beben. Georges setzte schnell wieder das Monokel ein und stimmte sich damit auf Blitzmaids Blickwinkel ein. Jetzt konnte er die beiden Riesen von oben beobachten und auch erkennen, wie aus allen Richtungen die weiteren Riesen der Siedlung herankamen.

"Du keine Tochter von mir sein. Dich keiner so groß füttern konnte, eh!" brüllte Utgardir höchst verärgert.

"Meine Schwester hat mich lange genug am Leben gehalten, bis ich meine ersten Zähne hatte. Dann habe ich alleine gejagt und mir damit genug zu essen besorgt", erwiderte die grüne Riesin. Dann sagte sie: "Und weil meine Mutter von dir umgebracht wurde werde ich dich heute töten und alle, die von dir abstammen hinterher!"

"Du mich totmachen?! Du zu schwach für Gurg Utgardir. Du nicht Guigui von mir!" donnerte Utgardir und hob die beiden Messer. Da sah er seine Mitbewohner, die einen weiten Ring um ihn und die nur drei Schritte vor ihm stehende grüne Riesin gebildet hatten.

"Ich zeig's dir jetzt. Ich werde den Gurg von euch erledigen. Wer mich daran hindert stirbt auch."

"Du fremde Du hier nichts zu essen kriegen", begehrte einer der jüngeren Riesen auf. Nal sog laut fauchend Luft in ihre Nase. Dann deutete sie auf den Sprecher:

"Noch mal so laut, und ich fresse dich." Das ließ lautes Lachen ertönen. Dann sagte eine der Frauen: "Du Frau. Nur Mann können Gurg werden."

"Wenn Frau aber Gurg totmacht dann Gurgha?" fragte Nal mit unüberhörbarer Verachtung.

"Du mich nicht totmachst", röhrte Utgardir. "Ich dich totmachen und Milchknubbel von dir essen. Dann alle wissen, Frau nicht hat zu kämpfen!!"

"Bring mich nicht auf nette Ideen, was ich von dir essen könnte", dröhnte Nals Antwort lange widerhallend. Darauf erfolgte vielstimmiges Lachen. Utgardir sah seine Leute an. Diese bekamen auf einmal einen ganz entrückten Gesichtsausdruck. Er fühlte auch, dass dieses Weib da vor ihm stärker wurde. Nein, die war zu stark für ihn. Das konnte nicht sein. Er musste sie hier und jetzt umbringen.

"Du jetzt totgehst!!" brüllte er. Dann rannte er mit beiden Messern in den Händen vorwärts. Die anderen Frauen und Männer standen wie erstarrt herum. Nal winkte ihm zu.

"Dann sollst du wissen, dass ich Nal bin, deine Tochter und Henkerin!" rief sie lauter als ein Donnerschlag. Sie warf ihren Umhang ab und stand nun völlig nackt vor Utgardir.

Der amtierende Gurg stieß die beiden Messer vor. Er wollte sie der grünen Riesin in den Bauch stoßen, bloß nicht die straffen Brüste verletzen. Klirrend trafen die Klingen auf festen Widerstand. Mit hässlichem Geräusch und zwei Funkenwolken brachen die Messerspitzen ab. Das konnte nicht angehen. Die Fremde trug eine unsichtbare Rüstung. Das war Magie. Böse, gemeine Magie!!

"Du gleich tot bist!" brüllte Utgardir. Er dachte daran, dass er Magie nur durch andere Magie bekämpfen konnte. Er wirbelte herum und lief mit den Boden erschütternden Schritten zu seiner Höhle hin. Die grüne Riesin brüllte ihm "Komm zurück, du Feigling!" hinterher. Die anderen Riesen und Riesinnen regten sich, wollten auf die grüne Fremde zulaufen. Doch wie am Boden fest angewachsen blieben sie nach zwei Schritten stehen. Dann zitterten sie, um schließlich einer energischen Handbewegung Nals folgend auf ihre Knie zu fallen, was einen mittelschweren Erdstoß auslöste.

Utgardir fühlte, wie seine Gegnerin wieder stärker wurde. Doch da er sie gerade nicht sah wirkte ihre überwältigende Macht nicht mit voller Stärke auf ihn. Er fühlte nur Wut und Abscheu. Sie kämpfte in einer unsichtbaren Rüstung. Bestimmt hatten ihr diese Zauberstabschwinger die gemacht, damit sie ihn dumm aussehen lassen konnte. Doch gegen das unlöschbare Feuer würde auch diese Rüstung nicht helfen. Er tauchte in seine Wohnhöhle ein und griff seine eigene Rüstung aus Knochenteilen. Es dauerte nur zwei Minuten, bis er sie angelegt hatte. Dann griff er nach dem unzerstörbaren Helm und dem Streitflegel. Als er den Helm aufhatte griff er noch nach dem immer brennenden Holzscheit. Seitdem diese zwei Halblinge das Scheit für Karkus mitgebracht hatten war das Ding nicht um einen Fingerbreit kürzer oder schmaler geworden. Trotzdem brannte es auf zwei Dritteln so hell und heiß wie in einem Lagerfeuer.

Bewaffnet und gerüstet verließ er nun wieder seine Höhle und marschierte auf die grüne Riesenfrau zu. Als er sah, dass seine Untertanen im großen Abstand um die Grüne knieten loderte seine Wut erst recht auf. Wie hatte die das gemacht? Er kannte keinen Zauber, mit dem das so einfach ging.

"Na, hast du dich angezogen und dir ein paar nette Spielsachen aus deiner Schlummerhöhle geholt", spottete Nal. Sie blickte zwar ein wenig unsicher auf das lodernde Holzscheit in der linken Hand ihres Gegners. Dann schmunzelte sie überlegen.

"Ich jetzt heiß machen dein Guiguiloch", brüllte Utgardir und senkte das lodernde Holzscheit. Nal wusste, dass dieses Feuer magisch war und dass ihre Körperschutzkraft magieloses Feuer und Schläge zurückprellte. Aber magisches Feuer konnte ihr vielleicht gefährlich werden. Dennoch grinste sie nun.

"Wie schwach du bist, dazu Feuer nötig zu haben, um mich drinnen heiß zu machen", forderte sie seine Wut heraus. Er brüllte los und stürmte vor.

In mehr als tausend Metern Höhe kreiste Blitzmaid. Was ihre Augen sahen sah im Moment auch Georges Rocher. Das was beide sahen war ein wütender Riese in einer Rüstung aus Knochenstücken, der gerade ein brennendes Holzstück nach vorne stieß, um es der grünen Riesin in den Unterleib zu rammen. Doch diese wippte nur einmal mit ihrem Becken zur Seite, um im nächsten Moment ihren rechten Fuß nach oben zu reißen. Wie ein grüner Blitz traf ihr Tritt die linke Faust Utgardirs und fegte sie nach links und oben. Utgardir stieß noch einmal nach. Da traf der zweite Tritt den nicht brennenden Teil des Holzstücks, das aus Utgardirs Hand herausragte. Knackend brach es ab. In dem Moment explodierte das lodernde Feuer zu einer orangeroten Wolke, die beide Gegner einhüllte. Rocher glaubte, die Augen des Falkenweibchens würden irritiert, als er sah, dass die grüne Riesin in eine ihre Konturen haargenau nachzeichnende hellgrüne Aura gehüllt war. Er erkannte sogar weiße und blaue Blitze, die wie Elmsfeuer zwischen den Beinen der Riesin in den Boden zuckten. Dann waren Feuer und grüne Aura ebensoschnell erloschen, wie sie erstrahlt waren.

"Na, deinen Kienspan verloren?!" feixte die Riesin mit donnerwetterlauter Stimme, so dass auch die Ostland-Agenten in weiter Ferne es hörten, selbst wenn der Schall mehr als drei Sekunden brauchte, um ihre Ohren zu erreichen.

"Ich dich totmachen!" brüllte Utgardir. Sein Helm glühte dunkelrot. Seine Knochenrüstung war pechschwarz verfärbt, und wo freie Haut und Haare hervorgelugt hatten rieselte Asche zu boden. Schmerz und Wut ließen den Riesen nun blindwütig dreinschlagen. Immer wieder riss er den hellrot glühenden Streitflegel hoch und schlug zu. Doch Nal tanzte die mörderischen Schläge locker aus. Ihr Gegner, der auch ihr leiblicher Vater war, holte zu einem weiteren Schlag aus. Da spreizte Nal ihre Arme. Zwischen ihren Fingern entstanden bläuliche und rötliche Funken, die zu kleinen aber hellen Blitzen wurden. Dann führte sie die Arme auf Kopfhöhe zusammen. In dem Moment, wo die mit tödlichen Stacheln gespickte Kugel des Streitflegels in Richtung ihres Kopfes hinabsauste flammte ein greller weißer Blitz auf. Blitzmaid, die diese Entladung auch sah schrie erschrocken auf und flog in wilder Panik davon.

"Mist, Blitzmaid flüchtet!" rief Rocher. Da krachte es wie eine hundert Meter lange Peitsche. Zehn Sekunden lang kamen Echos aus den Bergen zurück.

"Was war das denn? Kann diese grüne Riesin Blitze machen?"

"Ja, kann sie", stieß Rocher aus. Kalter Schweiß rann ihm über die rundliche Stirn und über seinen Nacken den Rücken hinunter.

"Näher ran zur Direktbeobachtung!" zischte Nadja, hob ihren Zauberstab und verschwand mit leisem Plopp.

"Ich dachte, die sei noch zu jung zum sterben", stieß Eggebrecht Felsgruber aus. Doch dann kapierte er, dass sie unbedingt sehen mussten, wie der Kampf ausging. Auch er verschwand sehr leise.

"Ich geh auch näher ran", sagte Rocher. "Du wartest, wo Blitzmaid runterkommt. Sollte ich in einer halben Stunde nichts von mir hören lassen schicke meine Eule mit der Nachricht "Grüne Mutation einer Riesin, angeblich Tochter von Gurg gewinnt Entmachtungskampf gegen Utgardir. Beobachter Rocher bei Direktbeobachtung gefallen. Danke!" Mit diesen Worten wirbelte er herum und verschwand mit lautem Knall. Oakshade sog zischend Luft zwischen den zusammengebissenen Zähnen hindurch. Wenn der so laut am Ziel ankam hatte der kleine dicke Franzose gleich alle Riesen der Umgebung auf dem Hals.

Utgardir starrte auf den brennenden Holzstiel. Sein Streitflegel war auf einmal viel leichter geworden. Noch leicht vom Donnerschlag des grellen Blitzes betäubt hatte er nicht mitbekommen, wie die Kette mit der Kugel als gelbglühender Schemen weit über Nals Kopf hinausgeflogen war und nun mehr als dreißig Schritte hinter ihr auf den Boden schlug.

"Na, Tothaukugel auch weg?!" heizte Nal Utgardirs Wut noch weiter an. Er brüllte auf und stürzte sich in seiner ganzen Breite und Länge auf die im verhältnis zu ihm schlanke, wohlgestaltete Gegnerin. Er wollte ihr seinen Kopf mit dem unzerhaubaren Helm drauf in den Bauch rammen. Doch er stieß laut brüllend ins leere. Dabei fiel er über Nals gestrecktes Bein und schlug laut krachend hin.

"So, jetzt bist du dran!" brüllte Nal nun in mörderischer Wut. "Für das, was du mit meiner Mutter gemacht hast und dafür, dass ich die Letzte deines Blutes bin.

"Richtig kämpfen. Feind ansehen!" brüllte einer der anderen Riesen, der wohl meinte, den Kampfrichter machen zu müssen. Nal lachte laut und schrill darüber. Doch Utgardir fand die Zeit, sich wieder aufzurichten. Er wirbelte herum. Auch wenn er wusste, dass er mit seinen Fäusten noch weniger gegen dieses mit böser Magie gepanzerte grüne Weib ausrichten konnte trieb ihn die reine Wut und Mordlust, es zu versuchen. Tatsächlich landete er einen Schlag in Nals Gesicht. Doch es war, als habe er gegen einen gewaltigen Amboss gehauen. Er fühlte die Wucht seines Schlages durch den Arm bis ins Schlüsselbein rasen.

Utgardir versuchte, die andere am Hals zu packen und zu erwürgen. Diese ließ es geschehen, dass er seine Hände um den Hals schloss, stieß dann aber ihre Arme zwischen seinen Armen Durch und machte eine schnelle Drehung. Das löste den Würgegriff. Im nächsten Moment schoss eine helle, blaue Stichflamme aus Nals rechter Hand hervor und traf den Brustteil der Knochenrüstung. Bereits vom vorherigen Feuerausbruch stark beschädigt zerbarst die Rüstung an der getroffenen Stelle.

Utgardir drosch nun wie wild auf seine Gegnerin ein. Diese nahm die Schläge und Tritte jedoch mit leichten Wippbewegungen hin. Dann zielte sie mit der rechten Hand auf Utgardirs vor Brüllen weit geöffneten Mund. Laut fauchend jagte eine weitere Stichflamme genau dort hinein. Utgardirs Wutgeschrei wurde zum schrillen Schmerzensschrei. Nal wich zwei Schritte zurück und spreizte wieder die Arme. Utgardir sprang auf seinen Füßen wild herum. Aus seinem Mund drang weißer Qualm. Der Gurg merkte, dass er sich nicht mehr so schnell bewegen konnte wie vor Jahren noch. Er wollte es aber nun wissen und senkte den Kopf. Er rannte los, den behelmten Schädel wie eine Ramme auf die Gegnerin ausgerichtet. Diese führte nun wieder ihre Hände zusammen. Wieder blitzte es grell auf. Gleichzeitig krachte ein heller, lauter Donnerschlag über die Riesensiedlung hinweg. Utgardirs Helm glühte auf einmal weiß auf. Zwei Sekunden später wurde er gelbglühend. Der auf Nal zustürmende Riese zuckte zusammen, geriet aus dem Lauf und schlug erneut der Länge nach hin. Er zitterte heftig und keuchte. Nal rannte scheinbar leichtfüßig auf ihn zu und warf ihn auf den Rücken. Mit drei festen Griffen löste sie den Rest der Knochenrüstung vom Körper. Dann fiel sie auf die Knie. Es schien, als wolle sie sich für diesen Kampf entschuldigen. Doch dem war absolut nicht so.

Eggebrecht Felsgruber starrte mit entsetzt weit aufgerissenen Augen auf das sich ihm bietende Drama. Die grüne Riesin hatte sich grausam an Utgardir zu schaffen gemacht. Der gestürzte Gurg blutete aus der unteren Körperhälfte. Er schrie noch laut auf. Doch da feuerte die grüne Riesin ihm noch einen etwas schwächeren Blitz genau in den Mund. Der gefallene Gurg erstarrte. Unter dem unzerstörbaren Helm wölkte ein Wenig Dampf hervor. Wie von zehn Schockern oder mehr zugleich getroffen lag der Riese auf dem Boden. Nal richtete sich auf, in den Händen ihre blutige Trophäen, die sie mit bloßen Händen erbeutet hatte. Eggebrecht sah, dass der pulsierende Blutstrom versiegte. Utgardirs altes Herz hatte aufgehört zu schlagen. Der bislang letzte Gurg der letzten Riesen war tot.

"Das muss sofort nach Berlin", dachte Eggebrecht. "Die grüne Riesin ist brandgefährlich."

Auch Georges Rocher, der knapp fünfhundert Meter weiter hinter Eggebrecht appariert war und den grausamen Kampf beobachtet hatte, dachte in diesem Moment nur daran, seine Dienststelle zu alarmieren. Er hatte sich bereits einen neuen Text für seine Botschaft überlegt. Denn so wie die Riesin aussah und mit welchen Elementarzaubern sie kämpfte konnte es, so unmöglich es klingen mochte, nur eine Mischung zwischen einer grünen Waldfrau und einem reinrassigen Riesen sein. Doch warum war sie dann so groß wie eine reinrassige Riesenfrau? Das sollten dann andere klären. Er musste die Nachricht sofort weitergeben. Er disapparierte. Dass ihn dabei fünf auf den Bäumen hockende Raben hörten interessierte ihn nicht weiter.

"Mann, Pummel, du machst einen Lärm wie zehn Knallfrösche auf einen Schlag", zischte Ethan Oakshade. Dann deutete er auf die Transfrequenzaurikulare. "Los, schnell, anlegen und bitte berichten!" zischte er noch.

Da knallte es ein wenig leiser, und Nadja Tupulewa erschien vor dem Tarnzelt der Kollegen.

"Di hat den mit bloßen Händen kastriert", bibberte sie. "Mein Herz. Das halte ich nicht aus", keuchte sie.

"Nimm Herztrosttrank, Nadja", sagte Rocher. Er war der einzige hier verfügbare magische Ersthelfer. Er zog schnell eine kleine Phiole aus seiner kleinen Umhängetasche und reichte sie der immer wilder keuchenden und bebenden Kollegin. Diese zog den Korken aus der Phiole und kippte die Hälfte ihres Inhalts in ihren Mund hinein.

"Wo ist Felsgruber?" fragte Oakshade.

"Habe ihn nicht gesehen, weil ich gerade auf Fernrohrweite heran bin um die nicht aufzuschrecken", sagte Rocher und nahm seinen Zauberstab. Er untersuchte mit mehreren Diagnosezaubern die Kollegin, die sich bereits sichtlich beruhigte. "Oha, ich muss gegenhalten, sonst kommt es zur Bradykardie", seufzte er.

"Zu was?" knurrte Oakshade.

"Zu langsamem Herzschlag, Ethan. Ich dachte, ihr lernt bei euch auch Körperkunde humanoider Wesen."

"Das ja, aber kein Heilerländisch", knurrte Oakshade, der hier und jetzt nicht damit konfrontiert werden wollte, hilflos neben der schockierten Kollegin stehen zu müssen. Außerdem fehlte immer noch Felsgruber. Wo blieb denn der?

Nal fühlte, wie alle sie direkt sehenden Riesen ihre Angriffslust verloren und in einen teilnahmslosen Zustand verfielen. Das kam von ihrer magischen Ausstrahlung. Dann sang sie auch noch. Das Lied hatte die in ihr steckende Salanna immer dann benutzt, wenn sie wen unter ihren Willen zwingen wollte. Das gelang ihr jetzt auch wieder. Um sich endgültig abzusichern, dass ihr keiner der Riesen mehr in den Rücken fallen würde spuckte sie jedem in den halboffenen Mund. Dann beroch sie jede der Frauen hier. Als sie bei einer ankam, die ein wenig gerundeter aussah sagte sie verächtlich: "In dir steckt seine Brut. Du musst sterben!" Utgardirs Gefährtin fühlte, dass sie in Gefahr war. Doch das in ihrem Mund prickelnde Zeug und die Töne, die die grüne Riesin von sich gegeben hatte betäubten ihren Willen. So konnte sie nur hilflos zusehen, wie Nal ihr die Hände um den Hals legte und unbarmherzig zudrückte. Zwei Minuten später erlosch das letzte Lebenszeichen der reinrassigen Riesin. Als ihr Herz aussetzte versiegte auch die Versorgung ihres ungeborenen Kindes. Noch war es zu klein um von außen sichtbare Bewegungen zu äußern. Doch Nal fühlte, wie das mit ihr verwandte Fleisch und Blut sich im Todeskampf wand. Einen winzigen Moment empfand sie Mitleid mit dem wehrlosen Wesen. Doch dieses Mitleid verging sofort wieder. Das war Utgardirs letzte unwürdige Brut gewesen. Dann empfand Nal keine Regung mehr von dem ungeborenen Kind, dass seine Mutter gerade vier Minuten lang überlebt hatte. Sie richtete sich wieder zur vollen Größe auf.

"Ich habe den Gurg besiegt und getötet. Ich nehme jetzt seinen Platz ein!" rief sie triumphierend. "Ich bin Nal, die Gurgha. Ich bin Nal, die Gurgha!"

"Du bist Nal, die Gurgha!" riefen alle noch lebenden männlichen und weiblichen Riesen zur Antwort.

Eggebrecht hatte diese unheimliche Szene beobachtet. Nur sein Eifer, alles zu erfahren, um es weiterzumelden, hatte ihn das entsetzliche überstehen lassen. Jetzt sah er, wie die grüne Gurgha sich von ihren neuen Untergebenen umringen ließ. Was sie den Unterworfenen sagte hörte er nicht. Er wusste auch so, dass sie von jetzt an ein anderes Regime führen würde. Die war so mächtig, dass es ihr zuzutrauen war, dass sie gegen jeden Feind bestehen konnte, selbst gegen diesen Lord Vengor. Doch dafür mussten sie diese unheimliche Fremde weiter beobachten. Eggebrecht lief zweihundert Meter in Richtung seines Lagers. Dass ihm dabei mehrere den Winter überdauernde Vögel sahen störte ihn nicht.

Oakshade hatte inzwischen Blitzmaid zurückrufen können. Hugo Dawn hatte an das Mitsehauge eine winzige Schallverpflanzungsvorrichtung gebunden, die die Stimme des Halters und seine Befehle übermitteln konnte, ohne dass er laut rufen musste.

"Deine Contesse kennt den Weg", sagte Ethan zu Georges, der sich um die ruhiggestellte Nadja Tupulewa kümmerte. Rein äußerlich sah es so aus, als würde sie schlafen. Dass sie jedoch bereits ihre Beobachtungen weitergemeldet hatte bekam nur die Empfängerin dieser Botschaft mit, Nadja Markowa.

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Im Land der letzten Riesen


26. Dezember 2001, 21:00 Uhr Ortszeit

Nal lauschte, was ihr die in den Bergen umherfliegenden Vögel zu sagen hatten. Hatte sie also vorher doch richtig gehört. Da waren Knallgeräusche gewesen, die nicht von ihren Blitzen gewesen waren. Als sie von zwei Raben auf rein bildhaftem Weg erfuhr, dass ein ziemlich runder Mann aus der Rasse der Bodenläufer schnell im Nichts verschwunden war fühlte sie eine gewisse Wut. Dann erfuhr sie, dass einige Vögel immer wieder fremde Gesänge gehört hatten, fast schon so wie die Rufe der Nachtjäger. Nal horchte und erkannte, was los war. Die Riesen wurden von den Zauberstabschwingern beobachtet. Ja, nur so konnte es sein. Dann wussten diese zerbrechlichen Burschen jetzt auch, dass sie die neue Gurgha war. Die würden das sicher sofort weitersagen. Wenn sie das noch verhindern konnte musste sie es tun. Denn von hunderten von Zauberstabschwingern gleichzeitig angegriffen werden wollte sie dann doch nicht.

Als die Nacht hereingebrochen war und alle Riesen wie in tiefer Trance in ihre Wohnhöhlen gegangen waren schlich sich Nal mit Hilfe ihrer Gewichtserleichterungskraft aus der Siedlung der Riesen hinaus. Wenn die anderen sich nicht unmittelbar nach dem Kampf gegen Utgardir aus dieser Gegend abgesetzt hatten musste sie einen oder alle von denen noch erwischen. Sie wusste aus den Erfahrungen als Salanna, dass die Zauberstabschwinger entweder plötzlich auftauchen und wieder verschwinden konnten, aber auch auf fliegenden Stangen mit Reisigbündeln fliegen konnten. Wenn sie aber nicht wegfliegen oder das Verschwinden machten schickten sie die gefiderten Nachtjäger aus, ihre Nachrichten zu überbringen. Nal hatte auf ihrem Weg zu Utgardir zwanzig Eulen unter ihren Willen gebracht. Sie fühlte, wie diese alle erwachten. Sie dachte: "Findet fliegenden Vogel mit Blatt aus toter Haut am Bein!" Diesen Befehl dachte sie immer wieder.

Als sie sich weiter von ihrer neuen Wirkungsstätte entfernte hörte sie es, das leise zirpen, gerade noch für ihre Ohren vernehmbar. Sie erkannte aber, dass es keine Tierlaute waren. Offenbar hatten die Zauberstabschwinger eine neue Sache erfunden, um für ihresgleichen und für Riesen unhörbar zu bleiben. Sie ging dem Zirpen nach, so leise sie konnte. Nicht ein Ast knackte unter ihren nackten Füßen. Dann sah sie die zwei Menschen, einen ganz dünnen und einen runden, der wohl der war, den die Raben gesehen hatten. Die Laute, die die beiden von sich gaben taten ihr in den Ohren weh. Sie hätte fast losgeknurrt. Doch sie hatte eine bessere Idee.

"Dein Heinrich Güldenberg wird es sofort genehmigen, dass wir uns zurückziehen mussten, Eggebrecht. Wenn das wirklich eine Sabberhexen-Riesen-Hybridin ist, dann ist das die erste, die bekannt wurde. Was die gemacht hat muss direkt berichtet werden. Womöglich müssen unsere Minister dann eine geballte Angriffstruppe losschicken, um sie zu fangen oder zu töten", sagte Georges Rocher. Er war sich sicher, dass die auf Ultraschall angehobenen Laute nicht von den Riesen mitgehört werden konnten. Eggebrecht rümpfte die Nase.

"Deine Eule ist gerade los. In drei Tagen wissen wir, ob wir uns komplett zurückziehen. Mein Auftrag lautet: Stellung halten und weiterbeobachten."

"Klar, und einem gegebenen Befehl muss ohne Widerspruch gehorcht werden", knurrte Rocher.

"Damit ist mein Volk sehr groß geworden, ähnlich wie das von Ethan."

"Groß vielleicht, aber auch brutal und unglücklich", erwiderte Georges. "Abgesehen davon bringen es gemachte Beobachtungen nur, wenn sie unverzüglich weitergemeldet werden."

"Habe ich gemacht, Georges. Meine Eule ist ja noch vor deiner los mit ein paar Galleonen für das Flohnetz, dass sie durchgereicht wird. Bis mir ein anderslautender Befehl erteilt wird halte ich die Stellung. Du kannst ja nach Hause und hoffen, dass die Riesin in der Zeit, die du zu Hause bist nichts anstellt."

"Ich bleibe bei Nadja, bis sie wieder aufwacht", sagte Rocher.

"Ach neh, die alten Lehren aus Beauxbatons, wie?" fragte Felsgruber.

"Ja, was dagegen? Immerhin bin ich im Moment der einzige, der eine gewisse magische Heilausbildung hat. Deshalb hat unsere Vorgesetzte mich ja auch alleine losgeschickt."

"Dann komm du mir ja nicht noch mal damit, dass wir Deutschen so befehlshörig sind und ..." Was Eggebrecht Felsgruber noch sagen wollte hörte Georges Rocher nicht. Denn unvermittelt überkam ihn eine so große Müdigkeit, dass er sich gerade so noch hinlegen konnte wo er saß. Auch Eggebrecht Felsgruber wurde von einer plötzlichen Schläfrigkeit überwältigt. Sie bekamen nicht mehr mit, wie sich aus der Dunkelheit ein gewaltiger Schatten löste, mit sehr leisen Schritten auf sie zukam und dann zwei starke Arme die beiden Zauberer auflasen und davontrugen.

Ethan Oakshade lauschte, wo Felsgruber und Rocher abgeblieben waren. Warum hatten die zwei sich auch noch mal aus dem Zelt abgesetzt? Im Zelt nebenan schlief Nadja unter der Einwirkung eines Erholungstrankes. Warum hatte der russische Zaubereiminister die eigentlich geschickt? Sicher, was diese Riesin, die sich selbst Nal genannt hatte, mit Utgardir, ihrem angeblichen Vater angestellt hatte, das war nichts für schwache Nerven. Aber Riesen waren nun einmal brutal. Er hatte es immerhin schon einmal erlebt, wie zwei Riesen sich gegenseitig mit bloßen Händen die Köpfe vom Hals gerissen hatten.

"Ich mach selbst Meldung bei Diggory", dachte Oakshade. Er wollte nicht auf seine Posteule warten, die mit weiteren Mitsehaugen unterwegs ins Riesenland war. Wenn sie fühlte, dass er nicht mehr da war, würde sie ihn suchen kommen. Er stand auf und zog seinen Reiseumhang über. Er sah auf die schlafende Blitzmaid. Hierlassen wollte er sie nicht. Noch einmal das Schlafelixier und den Flügelgurt.

Gerade als er nach dem Schlafelixier greifen wollte fielen ihm selbst die Augen zu. Er taumelte. Dann fiel er auf sein Feldbett zurück.

Als die drei Zauberer wieder zu sich kamen fanden sie sich an drei Bäume gebunden und von einem Rudel kniender Riesen beiderlei Geschlechts umringt. Nal kniete ganz in der Nähe der drei Zauberer und bedachte einen nach dem anderen mit einem durchdringenden Blick aus ihren hellen Augen, die im Schein des Mondes gerade selbst wie kleine Monde wirkten.

Georges Rocher wandte seinen Kopf und suchte die Umgebung ab. Er konnte seine zwei männlichen Kollegen erkennen. Doch wo war Nadja Tupulewa? Dann sah er etwas, was ihm für einen winzigen Moment den Atem stocken ließ. Die bei Tag tannengrüne Riesenfrau hielt vier längliche Gegenstände in ihren Händen. Es waren die Zauberstäbe der vier Beobachter. Als sie sah, dass die an die Bäume gebundenen sahen, was sie erbeutet hatte, grinste sie. Dann sprach sie mit ihrer weit hallenden Stimme, wobei sie erst die finnische Sprache benutzte.


"Erkennt ihr das hier? Vermisst ihr das?" Georges und auch die beiden anderen Zauberer taten so, als könnten sie die Riesin nicht verstehen. Sie wartete zwanzig bange Sekunden auf eine Antwort. Dann fragte sie in akzentfreiem Englisch: "Erkennt ihr das hier wieder?" Ethan Oakshade grummelte, während Eggebrecht Felsgruber und Georges weiterhin so taten, als verstünden sie nicht. Darauf meinte die Riesin: "Offenbar vermisst ihr die Dinger hier nicht. Dann sind sie nutzlos." Sie packte alle vier Zauberstäbe als ein Bündel und zerbrach sie mit einer lockeren Handbewegung in zwei Teile. Keine Sekunde Später zerbrach sie die zwei Hälften zu vier Vierteln, bis sie nach nur fünf Sekunden vierundsechzig Einzelteile von ehemals vier Zauberstäben in den Händen hielt. Diese warf sie genau in einen Stapel Holz in einem aufgebauten Steinring. Eine Sekunde später fauchte eine blaue Stichflamme zwischen ihren Händen hervor, als hielte sie dazwischen einen kleinen unsichtbaren Drachen bereit. Der Holzstapel stand sofort in hellen Flammen. Damit verbrannten auch die zerstörten Zauberstäbe. Die drei Festgebundenen wussten, dass sie nun keine Chance mehr hatten, sich gegen die Riesen zu behaupten, selbst wenn sie sich wieder frei bewegen konnten. Doch wo war die Russin? Wo steckte Nadja Tupulewa?

Nal hatte genau beobachtet, wie die drei Gefangenen den Verlust ihrer wertvollsten Ausrüstungsstücke hinnahmen. Keinen der drei ließ das kalt, dass ihm der Zauberstab weggenommen worden war. So setzte sie noch einen drauf und sagte: "Ich könnte euch jetzt locker die Bäuche aufschlitzen, euch ausweiden und dann für meine Leute und mich am Spieß braten. Vielleicht mache ich das noch, wenn ihr mir nicht erzählen wollt, wer ihr seid, woher ihr kommt und warum ihr uns beobachtet." Dann deutete sie auf Ethan, von dem sie wohl irgendwie mitbekam, dass er sie am besten verstanden hatte. "Fange ich mit dir an. Wer bist du?"

"Tom Vorlost Riddle", blaffte Ethan Oakshade. Eggebrecht Felsgruber verzog das Gesicht, während Georges Rocher dem Kollegen einen verdutzten Blick zuwarf. Die Riesin bekam das wohl mit und lachte lauthals. "Willst mich wohl verulken, du Winzling. Also, raus damit! Wer bist du?"

"Sagte ich dir doch, Tom Vorlost Riddle, britisches Zaubereiministerium, Abteilung für die Beobachtung ausländischer Zaubergeschöpfe."

"Hältst du mich für so unterentwickelt wie die anderen da?" röhrte Nal und überstrich mit einer lässigen Handbewegung alle sie und die Gefangenen umringenden Riesen. "Du stinkst nach Lüge, und die anderen haben so geguckt, als könnten die nicht verstehen, dass du das gesagt hast. Ja, und bei dem gut gefütterten Männchen da habe ich sogar einen Hauch Angst gerochen. Also bist du wer anderes als der, den du genannt hast."

"Warum soll ich dir erzählen, wer ich bin, wo du nicht mal sagst, wieso es sowas wie dich gibt, Grünes Mädchen?" konterte Ethan. Georges bewunderte die Kaltschnäuzigkeit. Sie waren alle Gefangen und ihrer Zauberstäbe beraubt. Doch Ethan tat so, als habe er hier die Oberhand.

"Wie ich heiße weißt du genauso wie der kleine Dicke und der viel zu dünne Begleiter von euch. Ich bin Nal, seit einem halben Tag die erste Gurgha dieser Sippschaft hier. Mein Vater war Utgardir, ein Schänder. Wer meine Mutter war kann euch egal sein, weil sie bei meiner Geburt gestorben ist."

"Wieso kannst du so gut Englisch?" wollte Ethan wissen. Er spekulierte wohl darauf, dass er das alles dem Zaubereiminister noch weitermelden konnte.

"Weil ich es gelernt habe", erwiderte Nal verächtlich. "Ich kann auch zehn andere Sprachen. Aber ich rede gerade mit dir. Also, noch mal, wer bist du?"

"Ich bin Mitarbeiter des britischen Zaubereiministeriums", sagte Ethan. Nal deutete auf drei Riesinnen, die zehn Meter hinter ihr auf meterdicken Stücken aus einem Baumstamm hockten. "Die drei da sind bald in der Stimmung für wilde Liebe, Kleiner. Ich überlege mir echt, dich und deine beiden Freunde da ohne eure Zauberstecken in die Landschaft rauszulassen und mir anzusehen, wer von den dreien dich zu fassen bekommt. Vielleicht verfüttere ich euch aber auch an alle die hier."

"Weißt du, grünes Mädel, ich habe nichts mehr zu verlieren. Ich bin dein Gefangener und weiß, dass ihr Riesen nicht gerade rücksichtsvoll mit euren Gegnern umspringt. Du bist da ja keine Ausnahme, wie wir mitkriegen mussten. Außerdem wird es nicht lange dauern, bis wir Hilfe kriegen. Und sollten wir bis dahin tot sein löschen unsere Leute euch alle aus, weil dann ja klar ist, dass ihr nicht mehr am Leben bleiben dürft. Ich werde mich nicht dazu hergeben, um mein Leben zu betteln." Eggebrecht nickte heftig. Georges' Miene wirkte versteinert.

"Du meinst, weil ihr eure Botenvögel losgeschickt habt?" fragte sie mit gewisser Überlegenheit, wobei sie jedoch auch immer wieder in den Himmel glubschte, ob von dort Unheil auf sie herabstieß. Dann holte sie aus ihrem Umhang zwei Pergamentbögen und zwei blutige Klumpen Fleisch und Federn. Georges erkannte in einem der Klumpen den Kopf seiner Posteule Contesse. "Ich habe auch Boten und Helfer. Die haben eure fliegenden Boten eingeholt und vom Himmel gezogen. Ich bin sicher, dass euch keiner hilft, solange euch keiner vermisst."

"Wir sollen jeden Tag einen Bericht verschicken. Kommt der nicht zu einer gewissen Zeit bei unseren Leuten an, gelten wir als gefangen oder tot. Auf jeden Fall kommt dann ein großer Trupp mit Flugbesen her und macht euch alle platt. Ihr seid nicht unbesiegbar", blieb Ethan so kühl, als habe er Nordmeerwasser statt Blut in den Adern. Georges imponierte diese Selbstsicherheit im Angesicht der Ausweglosigkeit. Nal grinste jedoch. Dann sprach sie zu den Riesen, wobei sie deren verstümmelte Sprechweise benutzte und erst auf Finnisch und dann in einer slawischen Sprache was sagte, womöglich russisch. Die Riesen erhoben sich und wandten sich langsam zum gehen. Wie Schlafwandler staksten sie los. Die Erde erbebte dabei. Georges erschrak, als er sah, wie die Riesen, sonst so unbeherrschbare, vor überschießender Kraft strotzende Geschöpfe, wie Marionetten oder lebende Tote davonwankten, ohne ein Wort zu sagen oder ohne gegen Nals Kommandos aufzubegehren. Die Erkenntnis, die er daraus gewann ließ sein Blut in den Adern gefrieren.

"Wie ihr vielleicht mitgekriegt habt", wandte sich die neue Gurgha an ihre Gefangenen, "habe ich meinen neuen Untergebenen und Helfern befohlen, diese Siedlung hier aufzugeben und an einem anderen Ort neu zu siedeln. Da ich sie nun alle ganz unterworfen habe werden sie das auch tun, was ich gesagt habe. Ja, und die sind wesentlich widerstandsfähiger gewesen als ihr drei Winzlinge."

Georges dachte an alles, was er über reinrassige und halbe Riesen wusste. Sie waren gegen die meisten nichtmagischen und sehr viele magische Gifte immun und konnten wegen ihrer dicken Haut und ihres magieschluckenden Blutes nicht mit üblichen Flüchen erledigt oder verwandelt werden. Wenn Nal die alle unterworfen hatte, dann hatte sie wahrlich mehr Macht. Dann dachte Georges daran, was er über grüne Waldfrauen wusste. Die konnten durch ihre Gesänge betören und durch Tränen, Blut, Speichel und ihre eigene Milch Menschen zu willenlosen Werkzeugen und Erfüllungsgehilfen machen. Das war die Erkenntnis, die dem rundlichen Zauberwesenexperten aus Frankreich so entsetzte. Utgardir hatte sich aus einem unaufschiebbaren Fortpflanzungstrieb heraus mit einer Sabberhexe gepaart und Nal gezeugt, ein brandgefährliches neues Ungeheuer, dass die Eigenschaften beider Rassen in sich vereinte, wenn nicht sogar stärker entfaltete. Da hörte er auch schon einen sanften, sphärischen Ton aus Nals Mund. Sofort fühlte er, wie sein Verstand umnebelt wurde. Er stemmte sich mit seiner verbliebenen Willenskraft dagegen an. Solange sie seinen Namen nicht kannte hatte er eine Chance, ihr zu widerstehen. Dann dachte er daran, verwirrende Gedanken zu denken, die den von außen auf ihn einwirkenden Zauber überlagerten. Damit hatte er sich einmal erfolgreich gegen den Imperius-Fluch gewehrt, als Professeur Tourrecandide ihn damit zu treffen versucht hatte.

Er kämpfte gegen die Macht der immer klarer, immer eindringlicher klingenden Töne an. Ethan sang dagegen an. Er sang das Lied über seine Lieblingsquidditchmannschaft, die Chutley Canons. Doch von Ton zu Ton geriet sein Gesang ins Hintertreffen. Eggebrecht Felsgruber versuchte wohl zu mentiloquieren. Georges konnte sehen, wie seine Augen aus denHöhlen quollen und sein Gesicht wild erbebte, als rüttele etwas von innen an seinem Kopf. Dann entspannte er sich schlagartig. Auch Ethan verging der letzte Ton. Er hörte nur noch Nals lauten, unwiderstehlich schönen Gesang. Georges dachte an Quidditchspiele, an Arithmantische Tabellen und Zaubertrankrezepturen. Doch als sein Kopf immer mehr schmerzte konnte er sich nicht mehr konzentrieren. Kaum dass er seinen inneren Abwehrkampf vernachlässigte überflutete ihn Nals über ihr Lied wirkender Zauber seinen Verstand und drängte diesen fast vollständig zurück. Für Georges war es, als erlebe er einen sehr schönen Traum. Die grüne Gurgha sah er nun nicht mehr als Ungeheur an, sondern als fleisch gewordene Erfüllung seiner geheimsten Wünsche. Als Nal sah, wie die drei Gefangenen ihr hilflos ausgeliefert waren tat sie noch etwas, das sonst nur eine grüne Waldfrau tat. Sie benetzte ihre Finger mit ihrem Speichel und trug diesen nacheinander auf Eggebrechts, Ethans und Georges' Gesicht auf. Die drei fühlten nun, wie sie endgültig entrückt wurden, wähhrend Nal sie nacheinander befragte, wer sie seien. Jeder beantwortete nun alle Fragen ohne zu lügen oder etwas wichtiges zu verschweigen. So erfuhr Nal auch, dass die drei Männer erst nach dem zehnten Januar vermisst würden. Da sie trotz der Abgelegenheit dieses Landes darauf achtete, den von Menschen benutzten Kalender im Kopf zu behalten wusste sie, dass sie noch fünfzehn Tage hatte, bevor jemand nach den dreien suchen würde. Die Frau hatte sie schon weit vom Lager entfernt ausgesetzt. Den Falken würde sie behalten. Sie brauchte das kleine Mitsehauge jedoch nicht, da sie von Natur her in die Wahrnehmung von magielosen Tieren hineinfühlen konnte. Blitzmaid würde sie behalten, um früh genug vor Feinden zu warnen. Doch dann erfuhr sie noch, dass nicht alle verbliebenen Riesen in diesem Landstrich wohnten. Mehrere von ihnen waren von Zauberern fortgeführt worden. Ethan erwähnte die Riesen, die bei der Schlacht von Hogwarts gestorben oder später getötet worden waren und auch Grawp, den der Halbriese Hagrid unbedingt nach Großbritannien hatte bringen müssen, weil er sein Halbbruder war. Georges erwähnte Meglamora, die in den Pyrenäen untergebracht war und dort ihren von Gracklor bekommenen Sohn großzog. Nal überlegte, ob sie sich das bieten lassen durfte, die Gurgha aller Riesen zu sein, aber mindestens zwei von denen in einem fremden Land in der Obhut von Zauberstabschwingern zu lassen. Sie beschloss, es sich zu überlegen. Die drei Männer wollte sie auf jeden Fall am Leben lassen. Sie selbst war der Beweis dafür, wie förderlich es sein konnte, die ungeschlachten Riesen mit denkfähigen Rassen zu kreuzen, solange sie, Nal, die Herrschaft über diese Nachkommen erhalten konnte. Urgothra, Moragrora und Summorra würden in zwei Monden wieder fruchtbar sein. Die drei Zauberer würden bis dahin von den anderen am Leben gehalten. Wenn sie bei der beabsichtigten Verpaarung starben dann sollte es eben so sein. Die Rothaarige würde ohne ihren Zauberstab nicht viel ausrichten können. Doch zunächst galt es, die Siedlung um etliche Tagesmärsche von hier zu verlegen, damit die Suchtruppen der Zauberstabschwinger sie nicht mehr fanden, wenn sie hier ankamen.

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Zehn Kilometer südöstlich des Berges Iremel im südlichen Uralgebirge


28. Dezember 2001, 08:21 Uhr Ortszeit

Windgeheul war das erste, was Nadja Tupulewa hörte. Es drang wie aus wweiter Ferne in ihre Ohren ein. Dann fühlte sie Kälte auf dem Gesicht. Das weckte sie ganz aus dem langen Schlaf auf, in den sie der Erholungsschlaftrank versetzt hatte. Verdammtes Alter! Wie hatte sie bei dem, was dieses grüne Riesenweib mit Utgardir angestellt hatte derartig zusammenbrechen können? Dann kam die nächste unangenehme Erkenntnis. Nadja befand sich nicht mehr in ihrem getarnten Zelt. Sie lag in ihrem gleichwarm bezauberten Schlafsack auf hartem Boden. Als sie die Augen aufschlug konnte sie nur Dunkelheit über sich erkennen. Sie lauschte. Das Windgeheul drang wie von weiter draußen zu ihr vor. Das klang nach einem Schneesturm, wie sie ihn in ihrem langen Leben schon hundertfach hatte überstehen müssen. Doch da hatte sie immer ein schützendes Dach, ein brennendes Feuer und heißen Tee zur Verfügung gehabt.

Nadja tastete sich ab. Sie trug nur ihr Warmwollenachthemd und die mit besonders dick gepolsterten Füßlingen vernähte Warmwollestrumpfhose. Ihre Oberbekleidung und ihre noch einmal gut gefütterten zweilagigen Drachenhautstiefel fand sie nicht. Auch dass sie nicht mehr in einem Zelt, sondern in einer fünf Meter hohen, zwanzig Meter breiten und vierzig Meter langen Berghöhle lag gefiel ihr absolut nicht. Als sie auch noch feststellte, dass sie weder ihren Rucksack noch den Zauberstab bei sich hatte schaukelten sich Wut und Beklemmung gleichermaßen auf. Hatten diese Halunken aus dem Westen ihr den Zauberstab weggenommen? Deshalb hatten sie sie wohl auch mit dem Schlaftrank benebelt, um ihre ganzen Sachen an sich zu bringen. Doch ohne Zauberstab war sie in dieser Wildnis so gut wie hilflos. Apparieren konnte sie nicht, Feuer zaubern auch nicht und Rufsignale aussenden ging auch nicht.

Der Wind heulte immer lauter. Das war ein veritabler Schneesturm, den ihre Landsleute Buran nannten. In den Bergen konnte sowas schnell losbrechen und innerhalb von Minuten alle Spuren verwischen und Ausrüstungsgüter zudecken, von der klirrenden Kälte ganz zu schweigen. Aus dieser weißen Hölle konnte niemand ohne geeignete Schutzkleidung oder magische Hilfsmittel entkommen.

Nadja wollte aber sehen, wo genau sie war. Sie ging auf das noch fern klingende Geheul zu. Als sie behutsam tastend in einen schmalen Gang eindrang, durch den ein mörderischer kalter Luftstrom fegte sah sie, dass der Ausgang mit schweren Felsblöcken verbarrikadiert war. In den Ritzen konnte sie hellgrau gegen nachtschwarz Schnee erkennen. Der Höhleneingang wurde vom Schneesturm zugeweht. Sie war eingeschlossen. Nur in knapp fünf Metern höhe fehlten die Felsen und ließen dem Wind freien Zugang. Schnee fiel durch diese Öffnung in den Höhleneingang hinein.

"Die haben mich glatt in dieser Höhle eingesperrt", schnaubte Nadja. Dann sah sie, dass die größten Brocken so groß wie ausgewachsene Männer waren. Wenn die aus dem Westen sie hier eingesperrt hatten, dann war das eine Gemeinschaftsaktion gewesen, diese Riesenbrocken ... Da wurde ihr klar, dass es für einen Riesen einfacher war, Riesenfelsbrocken zusammenzulegen, als für einen Zauberer, selbst wenn der starke Fernlenkzauber beherrschte und die Felsen erst einmal federleicht gezaubert hatte. Hieß dass, dass die Riesen sie in diese Höhle verschleppt hatten? Hieß das dann nicht auch, dass die Riesen die Ostland-Gruppe aufgespürt hatten? Nach dem Kampf der grünen Riesenfrau gegen Utgardir musste Nadja zumindest davon ausgehen, dass dieses Ungetüm bessere Spürsinne besaß als die reinrassigen Riesen.

"Nadja, bin in Höhle gefangen. Gerade aus Zaubertrankschlaf erwacht. Zauberstab und sonstige Ausrüstung wurden mir entwendet", schickte sie nach zwei Minuten in der größeren Höhle an ihre Enkeltochter, die seit mehr als einem Jahr unter einem anderen Namen leben musste.

"Babuschka! Hatte schon befürchtet, du seist gestorben, nachdem, was du mir zuletzt gemeldet hast."

"Wurde durch Erholungstrank handlungsunfähig gemacht. Hätte fast einen Herzschlag bekommen wegen grausamer Verstümmelung von letztem Gurg. Unverzeihlicher Schwächeanfall. Fand mich in großer Höhle im Schlafsack liegend wieder. Höhle durch große Felsen versperrt. Wetterlage gerade ungünstig für Ausbruch. Starker Schneesturm", schickte sie an ihre Enkeltochter in der Ferne.

"Wo bist du genau?" fragte diese wie ein leises Wispern im fernen Windgeheul erscheinend.

"Weiß ich nicht", schickte sie mit unverkennbarer Verärgerung zurück.

"Hast du noch zu essen da?"

"Nichts richtiges. Ohne Zauberstab auch keine Möglichkeit, Essen zu beschaffen", erwiderte Nadja. Doch dann fiel ihr etwas ein. Sie ging noch einmal an ihren Schlafsack. Sie tastete ihn ab und musste wider die Ausweglosigkeit der Lage grinsen. Das kleine Geheimfach war noch unversehrt. Sie fingerte an dem winzigen Reißverrschluss herum und bekam ihn auf. Dann griff sie hinein und tastete nach dem Paket, dass neben einem kleinen Kessel und einem kleinen Sack Holzkohle vorhanden war. "Sättigungskekse in Notfach von Schlafsack gefunden. Vorrat für eine Woche ausreichend", mentiloquierte sie mit gewissem Triumph an ihre Enkelin.

"Wenn Sturm bis dahin abgeflaut bitte Ortsbestimmung über die Sterne, falls freie Sicht", schickte Nadja Markowa zurück.

"Exosenso-Zauber?" fragte Nadja.

"Über die Entfernung leider nicht möglich", bekam sie die Antwort. Dass sie überhaupt noch mentiloquieren konnten war ja schon eine Menge. Das ging aber nur, weil Nadja Tupulewa Nadja Markowas Großmutter mütterlicherseits war, also eine direkte Blutsverwandtschaft bestand. Sie wusste aber auch, dass Verständigungszauber mit zunehmender Entfernung schwerer wurden. So hatte sie mit ihr erst wieder Kontakt bekommen, als sie unter dem Namen Nadja Markowa nach Russland zurückgekehrt war. Dass sie über ein halbes Jahr bei Sardonias Erbin zugebracht und bei der Gelegenheit noch eine kleine Tochter ausgetragen und geboren hatte hatte Nadja ihrer Großmutter erst nach ihrer Rückkehr mitteilen können. NadjaTupulewa, die selbst zu Anthelias heimlichen Gefolgshexen gehörte, hatte es mit gewissem Ingrimm hingenommen, dass die sich nach ihr selbst umbenannte und sie nur noch über Gedankensprechen miteinander in Verbindung bleiben konnten.

Kannst du in die Nähe von mir?" wollte Nadja wissen.

"Wenn ich weiß, wo du bist ja", war die Antwort. Das sah Nadja ein. So blieb ihr nichts anderes übrig, als darauf zu warten, dass der Schneesturm aufhörte und sie zusehen konnte, wie sie die Höhle verließ. Falls der Himmel nach dem Sturm dann frei war konnte sie mit Hilfe der Sternbilder und der Umgebung herausfinden, wo ungefähr sie war. Beide Hexen, Nadja und sie, waren leidenschaftliche Astronomiefreundinnen, die das Navigieren anhand der Gestirne noch gelernt hatten. Dieser Gedanke gab Nadja die nötige Zuversicht, aus ihrer scheinbar hoffnungslosen Lage herauszukommen.

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Im Haus von Nadja Markowa 20 Kilometer südsüdöstlich von Kaliningrad


30. Dezember 2001 gregorianischer Zeitrechnung, 15:10 Uhr Ortszeit

Anthelia war der Bitte ihrer Mitschwester Nadja Markowa sofort gefolgt und zu ihr nach Russland gereist. Dabei hatte sie sich vor möglichen Spähern der Zaubereiministerien hüten müssen. Jetzt saß die Führerin der Spinnenschwestern in einem gemütlichen Wohnzimmer. Im Kamin prasselte ein munteres Feuer, und auf dem Tisch stand eine große kanne Tee. Die dazugehörigen Tassen waren gefüllt.

"Wie geht's der kleinen?" fragte Anthelia, die genauso akzentfrei russisch sprechen konnte wie Englisch, Deutsch, schwedisch, Norwegisch, Spanisch, Italienisch, Portugiesisch, Lateinisch, altkeltisch und ihre beiden Muttersprachen Französisch und Altaxannai.

"Anastasia geht es sehr gut. Sie ärgert sich nur darüber, noch so klein zu sein, dass sie noch nicht an alles drankommt, wo sie drankommen will."

"Solange sie weiß, welche große Gnade wir ihr gewährt haben", wisperte Anthelia. Sie lauschte mit ihrem Gedankenspürsinn. Nadja okklumentierte. Nebenan schlief ein kleines Mädchen. Im Moment schwangen nur sanfte, nichtartikulierte Geistesregungen von ihr zu Anthelia. Also befand sie sich gerade in einer Tiefschlafphase.

"Was war das mit dieser grünen Riesin, von der deine Großmutter dir noch was zugedacht hat, bevor ihr altes Herz ihr zu schaffen gemacht hat?" fragte Anthelia. Nadja legte ihr zur Antwort ein Stück Pergament hin, dass scheinbar leer war. Doch als Anthelia es in die Hand nahm färbte es sich erst blutrot und wurde dann wieder gelb. Doch nun standen blutrote Buchstaben darauf. Anthelia las den in kyrillischer Schrift abgefassten Bericht durch und verzog das Gesicht.

"Wenn es wirklich die Tochter einer Waldfrau und eines reinrassigen Riesens ist und diese zudem auch noch die magischen und körperlichen Eigenschaften beider Eltern in sich vereint haben wir unter Umständen eine gefährliche Gegnerin", schnaubte sie.

"Sie kann Blitze und Feuerstrahlen machen, hat meine Großmutter mir zugeschickt."

"Waldfrauen können Feuerstrahlen erzeugen, weil sie die in den Bäumen ihres Reviers eingesammelte Kraft des Feuers aus den Bäumen herüberholen und bündeln können. Blitze sind ja auch eine Form von Feuer. Um mehr zu wissen muss ich mit der älteren Nadja sprechen. Weißt du denn jetzt endlich, wo sie ist?"

"Sie steckt immer noch in der Höhle. Der Sturm hat den Eingang zugefroren. Sie konnte gerade so genug Luftlöcher in die Eiswände schlagen, um nicht zu ersticken", erwiderte Nadja. "Wo genau sie ist kann sie deshalb noch nicht herausfinden. Mentiloquismus erlaubt ja keine Richtungsbestimmung."

"Weißt du denn zumindest, wo die Siedlung der Riesen ist?"

"Das hat sie mir gleich nach ihrer Ankunft zugeschickt."

"Und warum, so frage ich dich, meine Schwester, erfahre ich das jetzt erst?" forschte Anthelia sehr ungehalten klingend nach.

"Weil diese Ostland-Leute einen spürstein aufgestellt haben, der fremde Zauberei verrät", erwiderte Nadja sichtlich eingeschüchtert. Anthelia nickte. Natürlich hatten die sich gegen mögliche Spione aus der Zaubererwelt abgesichert. Denen war ja auch klar, dass sie und ihre Bundesschwestern sich sehr für die Ansiedlung der letzten Riesen interessieren mochten. Dann gab es ja noch diesen Lord Vengor, der sicher auch irgendwann darauf verfallen mochte, wie sein großes Vorbild Tom Riddle auf Riesen als Streiter zurückzugreifen.

"Wenn deine Großmutter aber jetzt nicht mehr im Lager der Ostland-Gruppe ist, dann kann das heißen, dass die Riesen diese Truppe komplett erledigt haben. In dem Fall würde denen ihr Spürstein nichts mehr nützen. Wir sehen nach."

"Öhm, du und ich?" fragte Nadja. Anthelia begriff, dass Nadja wohl schlecht mit ihr mitkommen konnte, wo sie auf die kleine Anastasia aufzupassen hatte. Sonst hätte sich das mit der erzwungenen Wiedergeburt der kleinen absolut nicht gelohnt. Denn starb die Mutter, erlosch die magische Bindung zwischen ihr und Anastasia und damit womöglich auch die Loyalität zu Anthelia, die Nadja noch aufbot.

"Natürlich kannst du mich nicht begleiten, Nadja", sah Anthelia ein. "Aber die Lage der Ansiedlung möchte ich von dir haben. Bei der Gelegenheit, muss ich darauf gefasst sein, dass die vier einbezogenen Ministerien bereits nach ihren Mitarbeitern forschen?"

"Das weiß ich nicht. Wenn die anderen ihre Posteulen losgeschickt haben könnten zumindest Arcadis Leute schon dort sein."

"Sehr nett, das also jetzt erst zu erfahren, wo diese Siedlung liegt", knurrte Anthelia. Nadja erkannte, dass es keine gute Idee gewesen war, der höchsten Schwester die Kenntnis um die Riesenansiedlung so lange vorzuenthalten. Womöglich durfte sie nur deshalb unversehrt weiterleben, weil sie mit Anastasia den Sanctuamater-Zauber durchgeführt hatte und sie damit an sich und Anthelia band. Doch um ihr Versäumnis schnellstmöglich auszubügeln gab sie Anthelia die genauen Bezugswerte wie Längen- und Breitengrad, Höhe über dem Meeresspiegel und die wichtigsten geografischen Objekte der Umgebung. Anthelia notierte sich diese Angaben und quittierte sie mit der schnippischen Bemerkung: "Warum nicht gleich nach Erhalt, Schwester?" Dann verabschiedete sie sich von Nadja. "Wenn ich deine Großmutter finde werde ich mit ihr besprechen, wie sie in die Zivilisation zurückkehren kann, um die Kunde von dieser grünen Riesenfrau weiterzumelden. Bis dann, Nadja!" Sprach's und disapparierte aus Nadjas Haus.

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In der Nähe des Lagers der Riesenbeobachtungsgruppe Ostland


31. Dezember 2001, 09:25 Uhr Ortszeit

Die felsige Gebirgslandschaft erglühte im Schein der Morgensonne. Im Moment wölbte sich ein fahler Himmel über der Landschaft. Der Wind zauste die Zweige der wenigen Bäume. Da erklang ein leises Säuseln vom Himmel her. Zwischen den zerklüfteten Gipfeln der Berge sauste ein schlanker Flugbesen heran. Auf diesem saß eine wunderschöne Frau mit blassgoldener Hautfarbe, dunkelblondem Haar und blaugrünen Augen. Sie trug einen scharlachroten, hautengen Anzug, der ihre Windschlüpfrigkeit verbesserte, ihr aber auch gleichzeitig Schutz vor dem kalten Atem des Gebirgswinters bot.

Anthelia/Naaneavargia steuerte ihren Parsek-Besen auf einen bestimmten Punkt zu. Mit ihren Augen konnte sie nichts besonderes erkennen. Sie verließ sich darauf, dass die Angaben ihrer Bundesschwestern Nadja Tupulewa und Nadja Markowa zutrafen. Hier sollte sich das getarnte Lager der Ostland-Gruppe befinden. Im Moment war Anthelia alleine in dieser Gegend. Sie war deshalb mit dem Besen angeflogen, um nicht gleich in eine vorbereitete Falle der russischen Ministeriumszauberer zu tappen und im Bedarfsfall schnell flüchten zu können.

Als Anthelia sicher war, dass es in dieser Umgebung keine denkenden Wesen gab und auch ein Homenum-Revelius-Zauber kein menschliches Wesen außer ihr selbst offenbart hatte landete sie. Sie wusste, dass sie beim kleinsten Zauber den Spürstein auslösen konnte, der den Leuten hier zeigte, dass wer unangemeldetes angekommen war. Doch wenn die außerhalb der Suchzauberreichweite waren mussten die schon apparieren, um sie noch überwältigen zu können.

Das Anthelia ganz ohne Begleitung hergekommen war lag an drei Dingen. Zum einen wollte sie nach Möglichkeit keine ihrer Mitschwestern an die Schergen des Zaubereiministeriums ausliefern, wenn diese schon hier waren. Zweitens wollte sie nach Nadja Tupulewa und Nadja Markowa die einzige bleiben, die wusste, wo das Land der Riesen war. Drittens wollte sie erst einmal alleine Kontakt mit der grünen Riesenfrau aufnehmen, ohne dass andere dies erfuhren.

"Katarash!" stieß Anthelia aus und hielt dabei den Zauberstab nach oben. Es blitzte kurz auf. Dann sah Anthelia sie auf dem Boden liegen, ausgebreitete, silberne Zeltplanen über zusammengelegten Stangen. Mit dem Zauber zur Aufhebung magischer Verhüllungen und Trugbilder hatte Anthelia die Tarnbezauberung der Zelte solange unterbrochen, wie sie in Sichtweite war. Anthelia stutzte nur einen Moment, dass die Zelte abgebaut worden waren. Sie sah das größere Zelt, wohl für die ehemals vier Zauberer und das kleinere Einzelzelt, in dem Nadja schön abgetrennt von den Mannsbildern gewohnt hatte. Anthelia grinste, wenn sie daran dachte, wie prüde doch diese Ministeriumsleute taten. Sie hätte kein Problem damit gehabt, mit Zauberern im selben Zelt zu nächtigen. Vielleicht hätte sie dabei mit dem einen oder anderen ein paar sehr schöne Stunden verbracht. Doch halt! Sie war nicht hier, um in erotischen Wunschvorstellungen dahinzutreiben. Sie wollte wissen, was hier passiert war. Sie wendete einen auf die Erde bezogenen Aufspürzauber an, um zu orten, wo genau jener Spürstein lag, der Magie unangemeldeter Hexen und Zauberer verriet. Keine halbe Minute später hatte sie den kleinen, runden, roten Stein aus dem Schnee gegraben. Mit einem Zauber, der übersetzt "Erinnerungen der Erde" hieß, brachte sie den Stein dazu, alle von ihm erfassten Zauber des letzten Monats als räumliche Darstellungen nachzubilden. Doch außer den üblichen Zaubern zum Kochen, Schneeräumen, ja und dem Aufbauzauber für Nadjas kleines Eine-Frau-Zelt fand sie nichts, was mit Zauberstäben gewirkt wurde außer ihrem Enttarnungszauber, der als erster in Form eines kurzen Flimmerns und der daraus entstehenden Zelte abgebildet wurde.

"Das hätte Sardonia sicher gerne gekonnt", dachte Anthelia mit gewisser Überlegenheit. Doch wo waren die drei Zauberer abgeblieben?

Anthelia musste die Erde selbst befragen, was hier in den letzten Mondwechseln geschehen war. Hierfür umschritt sie die beiden Zelte im weiten Bogen und wirkte denselben Zauber, mit dem sie das Geheimnis der Villa Samedi ergründet hatte.

Als sie den Zauber vollständig und fehlerfrei ausgeführt hatte wunderte sie sich ein wenig. Sie hatte damit gerechnet, entweder die Ostland-Leute oder die Riesen dieser Gegend hätten diesen Ort betreten. Doch als sie als letztes großes Ereignis im von ihr umzirkelten Bereich einen Körper wahrnahm, der irgendwie gegen die vorherrschende Schwerkraft wirkte und sich schnell näherte, staunte sie erst. Sie konnte beinahe körperlich fühlen, wie dieser Körper durch das Lager ging und dann mit etwas mehr Gewicht in Richtung Riesensiedlung davoneilte. Dann kam er wieder zurück. Wie viel Zeit dazwischen verstrichen war konnte Anthelia nicht genau erfassen, weil dieser Zauber Stunden wie Sekunden verspüren ließ, solange es an diesem Ort keine Bewegungen oder magische Vorgänge gab. Der irgendwie die Eigenschwere verringernde Körper steuerte den Punkt an, an dem das kleine Zelt gestanden hatte. Dann eilte er in Richtung nordwesten davon, aus dem Erfassungsbereich des Zaubers hinaus. Die nun folgende Ruhe dauerte jedoch nur drei Sekunden an, was zwischen drei und fünf Stunden wirklich verstrichener Zeit entsprach. Dann fühlte Anthelia, wie der im Moment nicht einzuordnende Fremdkörper mit einer gegen die Schwerkraft wirkenden Kraft durch das Lager ging, am einen und dann am anderen Zelt stehenblieb und dann mit hoher Geschwindigkeit wieder in Richtung Riesensiedlung davonzog.

Anthelia blieb eine Minute unschlüssig stehen. Dann schlug sie sich fast vor den Kopf. Natürlich, dachte sie. Wenn die grüne Riesenfrau nicht nur die Hautfarbe und die zauberstablosen Feuerzauber ihrer Mutter geerbt hatte, sondern auch deren Gabe, ohne Flügel zu fliegen, konnte sie sich mindestens federleicht machen, wenn nicht auch frei fliegen, so wie sie und alle, die den Freiflugzauber aus Naaneavargias Heimat erlernt hatten. Also hatte die grüne Riesenfrau das Lager aufgesucht. Es war zu keiner magischen Auseinandersetzung gekommen. Also hatte sie die vier im Schlaf überwältigt oder gar selbst in Schlaf versenkt. Waldfrauen, die auch als Sabberhexen bezeichnet wurden, konnten sowas. Anthelia beschloss, sich dieser Riesenfrau nicht ohne ausgeführten Geistespanzer zu nähern, der sie ähnlich wie das von den Lichtmagiern in Altaxarroi verehrte Lied des inneren Friedens gegen äußere Einflüsse abschirmte.

Sie saß wieder auf ihrem Besen auf, um die Siedlung der letzten Riesen anzufliegen. Einen Moment dachte sie daran, dass es unter anderem sie selbst war, die die Riesen dazu getrieben hatte, sich in blutigen Schlachten an den Rand der Ausrottung zu treiben. Jetzt würde sie, auch wenn es nun schon ihr dritter Körper war, das Refugium der überlebenden Riesen besuchen.

Als Anthelia den von Nadja anhand der Mitteilungen ihrer Großmutter beschriebenen Platz fand, wo die Riesen sich versammeln mochten, fand sie dort jedoch nichts mehr. Sie erforschte auf dem Besen fliegend die Höhlen der Umgebung, immer darauf gefasst, von den Giganten angegriffen zu werden. Doch kein Riese und keine Riesin war mehr hier. Sie landete und wiederholte an diesem Ort den Zauber, mit dem ihr die große Mutter Erde alles preisgab, was hier an allgemeinen und geheimen Dingen geschehen war. Dabei erfuhr sie, warum hier keine Riesen zu finden waren. Nach den letzten Kämpfen, deren Tote auch vom Gedächtnis der Erde aufgenommen wurden, hatte irgendwas oder irgendwer alle verbliebenen Riesen dazu getrieben, dieses gebiet zu verlassen. Sie konnte sogar erspüren, wie die Riesen eine lange Reihe gebildet hatten, um wie im Gänsemarsch die Siedlung zu verlassen. Eine derartig disziplinierte Marschformation war bei Riesen niemals zuvor beobachtet worden. Die griffen, wenn sie es hinbekamen, sich nicht gegenseitig umzubringen, in wilden Haufen an, ohne Gleichschritt und Marschordnung. Anthelia erschauerte, als sie die Erkenntnis traf, dass die grüne Riesenfrau diesen geordneten Auszug herbeigeführt hatte. Das ließ nur zwei Schlüsse zu: Die grüne Gurgha war sehr intelligent und wusste, dass man nach den Ostland-Leuten suchen und dabei auch die Riesensiedlung überprüfen würde. Also musste sie die Riesen anderswo unterbringen. Zweitens besaß sie so große Macht über die Riesen, dass sie sie dazu bringen konnte, in geordneter Formation abzuziehen. Da Riesen an sich gegen viele magische Angriffsarten gefeit waren und auch magische Vergiftungen überwinden konnten musste diese Macht schon erheblich groß sein. anthelia prüfte noch einmal nach, ob außer den Riesen, die hier ihr Leben ausgehaucht hatten, auch Menschen den Tod gefunden hatten. Doch wie im Lager selbst hatte es über die letzten Sechs Mondwechsel keinen sterbenden Menschen hier gegeben. Zum einen hieß das, dass die Zauberer der Ostland-Gruppe noch gelebt hatten, als die Riesen abgezogen waren. Zum anderen warf das aber die Frage auf, warum die grüne Riesenfrau Nadja alleine irgendwo hinverschleppt und in einer Höhle versteckt hatte. Dann musste Anthelia laut lachen, als ihr klar wurde, was die grüne Riesenfrau von den zauberern wollte. "Mädchen, du willst dir ein paar stramme Zuchtbullen halten. Aber eine Elefantenkuh, die mit einem Rindskalb Liebe macht wird dabei kein Vergnügen fühlen", grinste sie. Dann fiel ihr ein, dass es vielleicht sehr gutes Wetter bei diversen Zaubereiministerien machen konnte, wenn sie den Standort der Riesen und ihrer Gefangenen herausfand. Ihr lag zwar nicht viel an einer harmonischen Zusammenarbeit mit den Ministerien. Doch der gescheiterte Anlauf, einen neuen Burgfrieden mit Cartridge zu schließen hatte sie doch ein wenig verärgert.

Anthelia ging davon aus, dass die Riesen mindestens eine Stunde lang in der angeordneten Formation marschiert waren. So berechnete sie den dabei zurückgelegten Weg und überwand diesen auf ihrem Besen. Doch als sie am errechneten Zielpunkt mit dem Erdgedächtniszauber nachprüfte, ob die Riesen hier entlangmarschiert waren stellte sie fest, dass die grüne Riesenfrau ihre neuen Untergebenen nicht stur in eine Richtung geführt hatte. Jetzt zu suchen, wo die Riesen entlangmarschiert waren würde Tage oder Wochen dauern, Zeit, die Anthelia nicht hatte. Denn ihr war klar, dass Vengor oder die Wergestaltigen wieder etwas planten und dass sie dann bereit sein musste, dagegen vorzugehen. Sollten doch die Ministeriumsleute nach den Riesen suchen. Dann fiel ihr ein, dass die Leute schon längst hätten anfangen müssen, ihre Kameraden zu suchen. Außer Nadja Tupulewa hatte wohl niemand von denen mit gut eingestimmten Partnern mentiloquieren können. Also mussten sie Eulen schicken. Eulen? Anthelia knurrte, weil ihr das nicht sofort offenbar geworden war, dass in der Siedlung der Riesen mehrere sterbende Vögel gewesen waren, zwei, drei oder vier. Wenn das Eulen waren, dann hatte dieses grüne Weibsbild die Eulen womöglich noch vor dem Abflug in die Heimat erwischt und kurzerhand umgebracht. Dann war klar, warum die Ministeriumsleute noch nicht nach den Riesen suchten. Sie mussten ja erst einmal informiert werden, dass die vier überwältigt worden waren.

Mit dieser Erkenntnis begann Anthelia nun damit, nach Nadja Tupulewa zu suchen.

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Südöstlich des Iremel im südlichen Uralgebirge


8. Januar 2002 gregorianischer Zeitrechnung, 08:00 Uhr Ortszeit

Nadja Tupulewa hatte die letzten Tage damit zugebracht, die Luftwege in der Barrikade immer wieder freizuklopfen. Immer wieder hatte sie mit ihrer Enkelin Nadja Gedankenkontakt gehalten. Als sie sich am sechsten Tag nach dem Wiedererwachen mit Mühe und Not durch die gerade so noch ausreichend große Spalte zwischen Barrikade und Höhlendecke gewunden hatte und auf der anderen Seite herabgestiegen war, hatte sie mit Hilfe des Sternenhimmels den ungefähren Standort ermitteln können. Nadja war dann in ihre Nähe gereist, ebenso die höchste Schwester. Aus zwei verschiedenen Richtungen annähernd hatten sie Nadjas Exil eingekreist. Doch erst am 3. Januar des westlichen Kalenders hatten sie sie tatsächlich gefunden und ihr Stiefel und Winterschutzkleidung mitgebracht. Nadja hatte dann mit den beiden Hexen besprochen, wie sie in die Zivilisation zurückkehren konnte. Es durfte auf jeden Fall nicht herauskommen, dass sie Hilfe von außerhalb erhalten hatte. Leider hatte sie über die drei anderen Kameraden nichts berichten können.

"Ich habe es dir immer schon gesagt, Babuschka, lass dir den Herzstärkungstrank verordnen", sagte Nadja Markowa, die mal Vera Barkow geheißen hatte.

"Werde ich jetzt auf jeden Fall tun", knurrte die ältere Nadja darauf zur Antwort.

dreieinhalb Tage war es nun her, dass ihre Bundesschwestern ihr die so wertvolle Schutzkleidung beschafft hatten. Sie durchwanderte die eigentlich sehr imposante Gebirgslandschaft. Wenn sie es schaffte, eine Woche durchzuhalten, konnte sie ein kleines Bergdorf erreichen. Dort würde sie nach einem funktionierenden Fernsprechapparat der Muggel fragen und den Kontaktzauberer zwischen Zauberer- und Muggelwelt anrufen. Eigentlich wäre sie am liebsten wieder in die Zivilisation zurückgekehrt. Doch wenn nicht auffliegen durfte, dass sie eine Spinnenschwester war musste sie die Geschichte von der ohne Zauberstab in der Wildnis ausgesetzten Hexe absichern.

Nadja zog sich gerade keuchend an einem Felsvorsprung hoch, der sie auf ein kleines Plateau führte. Von diesem aus wollte sie ihre Umgebung überblicken und den besten Weg suchen, um weiterzukommen. Als sie mit dem Kopf über die zerfurchte Oberkante des Felsens reichte sah sie das Ding. Es sah aus wie eine riesige Libelle aus Metall, die auf langen, schlittenartigen Kufen hockte. Auf dem Rücken dieses oben schneeweißen und unten Hhimmelblauen Etwas wuchs eine senkrechte Stange empor, auf der waagerecht vier Flügel wie bei einer Windmühle herausragten. Dann sah sie drei Männer in dicker Kleidung, die auf sie zugerannt kamen. Einer hielt ihr ein handlanges Metallrohr an einem gekrümmten Griff mit der Öffnung voraus entgegen. "Hinlegen und Arme spreizen, Mütterchen!"

"Wer sind Sie?" fragte Nadja den Mann.

"Das könnten wir auch Sie fragen", sagte der Mann mit dem bedrohlich auf Nadja zeigenden Metallrohr.

"Nadja Gregorewna Tupulewa, Zoologin der Universität Moskau", stellte sich Nadja vor. "Gut, Sie zu treffen, Gosbodin. Ich wurde von in dieser Region hausenden Bergbanditen überfallen und meiner Ausrüstung beraubt. Zum Glück bin ich schon zu unansehnlich für die, dass die mir nicht noch was schlimmeres antun wollten."

"Bergbanditen? Das erzählen Sie bitte unserem Kommandanten. Igor, sag Natascha, sie soll sich für eine Durchsuchung hier einfinden!" rief der mit dem Metallrohr.

Nach einer an Demütigung grenzenden Leibesvisitation durch eine viel zu muskelüberladene Frau mit rotblonder Lockenfrisur durfte Nadja im Metallinsekt, einem Hubschrauber des Innenministeriums, zum Stützpunkt der den Ural durchkämmenden Truppe fliegen. Da ihre Geschichte von der die Berge erforschenden Tierkundlerin vom Zaubereiministerium wasserdicht gemacht worden war gelangte sie auf diese Weise schneller wieder in die zivilisierte Welt zurück, als sie ursprünglich zu hoffen gewagt hatte.

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20 Kilometer südöstlich von Kaliningrad


10. Januar 2002, 18:22 Uhr Ortszeit

Anthelia war sofort aufgebrochen, als ihre Mitschwester Irmina Manulescu, die im Reservat für europäische und asiatische Drachenarten arbeitete, über die eingerichtete Mentiloquistinnenkette die Alarmbotschaft über die grüne Riesin zugeschickt hatte. Mit Hilfe des Exosenso-Zaubers beobachtete sie nun durch Irminas Augen, wie ihre Kollegen versuchten, die grüne Riesin zu überwältigen, die schnurstracks in westnordwestlicher Richtung marschierte. Doch warum die alleine durch diese Landschaft marschierte wusste keiner außer der grünen Riesenfrau selbst.

Irmina war froh, nicht an vorderster Front zu sein. Denn die Riesenfrau konnte nicht nur alle ihr geltenden Flüche wegstecken oder wie Wasser von einer glatten Wand an sich abperlen lassen, sondern teilte mit Feuerstrahlen und Blitzen Gegenschläge aus. Dann versuchte einer, den tödlichen Fluch anzubringen. Diesen steckte sie mit einem kurzen Zittern weg. Dann machte sie was, dass die Drachenhüter zu regelrechten Berserkern machte. Auf einmal gingen die aufeinander los und bekämpften sich mit Zauberflüchen. Einem gelang noch die Flucht. Es war Charlie Weasley. Die anderen blieben entweder tot oder handlungsunfähig zurück. Irmina, die von ihrem Zaubereiminister den Auftrag erhalten hatte, nicht in die direkte Auseinandersetzung einzugreifen, sondern sie nur zu beobachten, disapparierte schnell. Anthelia löste ihre Exosenso-Verbindung. Was sie mitbekommen musste hatte sie mitbekommen. Die grüne Gurgha war mächtiger, als sie selbst befürchtet hatte. Genau wie sie selbst konnte sie dem Todesfluch widerstehen. Außerdem konnte sie eine Art großflächigen Aufhetzungszauber, wobei sie wohl nur ihre eigene Wut auf die anderen übertragen hatte. Die Frage, warum die Riesenfrau alleine herumlief und was ihr Ziel war konnte im Moment nicht beantwortet werden. Anthelia beschloss, erst einmal abzuwarten, ob und wie die Ministeriumszauberer mit dieser neuen Kreatur fertig wurden.

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Französisches Zaubereiministerium


11. Januar 2002, 09:10 Uhr Ortszeit

Julius Latierre schwankte zwischen dem Pflichtgefühl, seine Aufgaben im Ministerium zu erfüllen und dem Pflichtgefühl seiner Frau gegenüber, ihr in den nächsten Wochen beizustehen, bis die kleine Chrysope wohlbehalten zur Welt gekommen sein würde. Er hatte seiner Vorgesetzten Ornelle Ventvit entsprechende Andeutungen gemacht, ob sie ihn für die Zeit bis zum zehnten Februar nicht beurlauben konnte. Ornelle verstand, was ihren jungen Mitarbeiter umtrieb und sagte:

"Ich weiß, dass Sie gerne ihre Frau bis zur Geburt Ihrer zweiten Tochter betreuen möchten, Julius. Doch die Unauffindbarkeit von Euphrosyne Blériot gibt mir sehr zu denken. Da Sie nun einmal der amtliche Vermittler zwischen den Veelas und uns sind kann ich Sie nicht ohne weiteres freistellen, ohne Ihnen aufzuerlegen, ständig erreichbar und einsatzbereit zu sein. Dann ist es schon besser für Sie, wenn Sie sich hier bereithalten, wenn Madame Léto etwas neues berichtet. Außerdem steht ja noch aus, ob sie bei der Hochzeit von Méridana und Sirenion anwesend sein dürfen oder nicht."

"meine Schwiegertante, die meiner Frau als Hebamme beisteht, hat mir auch geraten, nur dann die ganze Zeit zu Hause zu bleiben, wenn meine Frau nicht mehr herumlaufen könnte. Im Moment geht sie aber nicht davon aus, dass meine Frau derartig eingeschränkt sein wird. Unsere Tochter verbringt jetzt viel Zeit bei ihren Verwandten im Château Tournesol."

"Ich bedanke mich für Ihre Einsatzbereitschaft", hatte Ornelle darauf geantwortet.

Julius hatte an diesem Morgen eine Anfrage aus der Geisterbehörde auf dem Tisch. Es ging noch einmal um die vier Beaurivage-Schwestern und ihre Mutter Eloise. Er wurde ersucht, sich dazu zu äußern, wie er genau die vier zu Rachegeistern gewordenen Hexen aus dem Mittelalter aus der Welt geschafft hatte. Offenbar hielt Simon Beaubois, der Leiter der Geisterbehörde, nichts von ungeklärten Angelegenheiten. Julius dachte eher daran, dass Monsieur Beaubois nur all zu gerne wissen wollte, wie ein Zauberer alleine vier übermächtige Geisterwesen auf einen Schlag bannen konnte. Julius schrieb deshalb, dass er durch einen bindenden magischen Vertrag mit den Kindern Ashtarias dazu gezwungen sei, über all das, was sie ihm beigebracht hatten, Stillschweigen zu bewahren, widrigenfalls er die Erinnerungen an alle bisherigen Erlebnisse verlieren müsse. Er begnügte sich mit der Andeutung, dass die Kinder Ashtarias ein Ritual kannten, dass durch gewaltsamen Tod zu geistern gewordene Hexen oder Zauberer doch noch ins Totenreich hinüberbefördern konnte, wenn das Ritual in Anwesenheit des oder der Betroffenen an der Stelle ihres Todes ausgeführt werde. Ornelle bestätigte dann noch in einem Anhang, dass sie, Julius' Vorgesetzte, die Erklärung zu seiner Handlung als zureichend anerkannte und ihm verboten habe, alles zu tun, was ihm seine Arbeitsfähigkeit rauben würde, und dass ein totaler Erinnerungsverlust einen massiven, womöglich unumkehrbaren Verlust seiner Arbeitsfähigkeit darstelle.

"Ich hoffe, auf dem aktuellen Kenntnisstand zu sein, wenn ich behaupte, dass Monsieur Rocher am zehnten Januar seinen nächsten Lagebericht erstatten sollte", sagte Pygmalion Delacour, der gerade einen anderen Vorgang bearbeitete. "Wurde vereinbart, dass nur Sie, Mademoiselle Ventvit und Sie, Monsieur Latierre, diesen Bericht erhalten?"

"Soweit vereinbart wurde sollte dieses Büro als solches den neuesten Lagebericht Monsieur Rochers erhalten. Der letzte Bericht beinhaltete, dass der vor hundertfünfundzwanzig Jahren in die letzte Riesenansiedlung eingewanderte Utgardir seine Rangstellung als Gurg gefestigt habe und dass seitens des Russischen Zaubereiministeriums die Zauberwesenexpertin Nadja Gregorewna Tupulewa der Ostland-Gruppe zugeteilt wurde. Sollte sich an der Lage nichts ändern sollte am zehnten Januar der nächste Lagebericht erfolgen, also gestern", erwiderte Ornelle Ventvit. Pygmalion Delacour nickte. Dann sagte er, dass ja schon beim Machtwechsel im November eine Verzögerung passiert sei.

"Ja, nur damals sollte der Beobachter in eigener Person zur Berichterstattung erscheinen. Die neue Vereinbarung lautet, dass Lageberichte bis zur Herstellung einer magischen Fernsprechverbindung über Eulenpost erfolgen sollen", sagte Ornelle.

"Ich wollte lediglich überprüfen, ob Monsieur Latierre neben Ihnen als einziger über die Lage bei den Riesen zu unterrichten sei", antwortete Monsieur Delacour. Julius hätte fast gesagt, dass er mit der Vermittlerrolle bei den Veelas wohl schon genug Sonderaufgaben habe. Er verstand aber, dass er, wo er Mademoiselle Maxime und ihre Tante Meglamora betreute, auch über Meglamoras frühere Nachbarn und Verwandtschaft unterrichtet werden sollte.

"Wielange braucht eine Posteule vom Ural bis zu uns?" fragte Julius. "Ich meine, wenn sie nicht durch das Flohnetz geschickt wird", legte er noch nach.

"Hängt von den Wetter- und Nahrungsverhältnissen ab", erwähnte Ornelle Ventvit. "Als wir die Ostland-Gruppe eingerichtet und zum Einsatzort geschickt haben wurde der Ankunftsbestätigungseule ein Reisedauerchronograf mitgegeben, der vom Zeitpunkt des Absendens bis zur Berührung durch meine Hand lief. Er hielt bei vier Tagen, drei Stunden, sieben Minuten und achtundzwanzig Sekunden. Leider sah das russische Zaubereiministerium keinen Sinn darin, ausländische Blitzeulen durch das seiner zuständigkeit unterliegende Flohnetz befördern zu lassen. Ich habe die Anfrage an den Flohregulierungsrat weitergeleitet, da wir im Gegensatz zu den russischen Kollegen einen Sinn darin sehen, die Flugzeit von amtlichen Eulen erheblich zu verkürzen. Aber bis zur Stunde erfolgte keine wie auch immer geartete Rückmeldung."

"Gut, bei einem Schneesturm kommt so eine Eule auch nicht wirklich weit", stellte Julius fest. Ornelle nickte bestätigend. Da klopfte es an die Tür. Ornelle rief: "Herein!"

Ein Mann in einem hautengen, grünen Anzug aus Drachenhaut, eingehüllt in einen grün-schwarzen Umhang trat ein. Julius erkannte ihm wegen seines flammenroten Haares und vertrauter Gesichtszüge als einen Sohn von Arthur und Molly Weasley.

"Verzeihen Sie mir bitte. Bin ich hier richtig in der Behörde für intelligente Zauberwesen größer als Kobolde, Zwerge und Hauselfen?" fragte der Besucher sehr langsam und fast jede einzelne Silbe betonend. Ornelle bestätigte das. "Sehr gut. Mein Name ist Charles Weasley. Ich bin Mitglied der internationalen Hege- und Pflegetruppe des gesamteuropäischen Reservats für eurasische Drachenarten in Rumänien. Ähm, ich bin nicht wegen einer Drachen betreffenden Angelegenheit bei Ihnen, sondern weil wir vor zwei Tagen von den Zaubereiministern Russlands und Rumäniens gebeten wurden, einen weiblichen Nachkommen einer Waldfrau und eines reinrassigen Riesens aufzuspüren und gegebenenfalls gefangenzunehmen."

"Monsieur Latierre, darf Monsieur Weasley Ihren Stuhl haben?" fragte Mademoiselle Ventvit. Julius nickte und stand auf. Der Besucher wunderte sich ein wenig über diesen Umstand, wo doch genug freie Stühle herumstanden. Doch als er sah, wie Julius hinter einem unvermittelt lebendig gewordenen Bürostuhl herjagte und diesen erst erwischte, als dieser in eine Ecke des Raumes gedrängt war musste er sogar grinsen. Dann setzte er sich auf den von Julius schon für längeres Sitzen eingestimmten Stuhl Mademoiselle Ventvit gegenüber. Julius nahm auf den Wink seiner Vorgesetzten rechts von ihm Platz und machte seine Flotte-Schreibe-Feder einsatzbereit.

"In Ordnung, von Anfang an. Wir von der Überwachungszentrale des Drachenreservates erhielten am neunten Januar ein Schreiben aus dem russischen Zaubereiministerium. Darin wurde erwähnt, dass eine russische Zauberwesenexpertin namens Nadja Gregorewna Tupulewa nach mehrtägiger Wanderung durch das Uralgebirge eine Mitreisegelegenheit nach Moskau finden konnte und dort erst im Zaubereiministerium Bericht erstatten konnte. Diesem Bericht nach sei es im Dezember letzten Jahres zum Auftauchen einer rund sechs Meter großen Riesin mit tannengrüner Hautfarbe gekommen. Diese habe den durch Entmachtungskampf eingesetzten Häuptling der letzten Riesen in einem Zweikampf besiegt, entmannt und getötet. Der Anblick dieser Bluttat habe sie derartig schockiert, dass sie von einem gewissen Georges Rocher in heilmagische Behandlung genommen wurde. Teil dieser Behandlung sei ein mehrstündiger Erholungsschlaf gewesen. Allerdings habe sie sich nach dem Wiedererwachen nicht mehr im Lager ihrer Einsatzgruppe befunden, sondern irgendwo in den Bergen. Außerdem habe ihr jemand den Zauberstab entwendet. Nach mehreren Tagen anstrengender Wanderung, bei der sie von Schnee und Eiszapfen gelebt habe, sei sie zu einem Lager der Sicherheitstruppen der muggel gelangt. Von dort aus sei es ihr dann gelungen, Kontakt mit einem Verbindungszauberer in der magielosen Welt und über diesen zu ihren Vorgesetzten zu erhalten. Der Minister selbst gab die Anweisung, die grüne Riesin festzusetzen oder bei unbrechbarem Widerstand ihrerseits zu töten, da, so der Zaubereiminister, nicht auszuschließen sei, dass diese Riesenfrau eine uneinschätzbare Bedrohung für die gesamte Menschheit sein könnte. Seine Suchtruppen fanden die Siedlung der Riesen jedoch verlassen vor. Auch die mit erwähnter Nadja Tupulewa eingesetzten Zauberer aus drei Ländern, unter anderem auch Frankreich, seien nicht aufgefunden worden. Der Einsatztruppenleiter sprach die Befürchtung aus, dass die Riesen die drei Zauberer ebenfalls irgendwo ausgesetzt hätten oder gleich getötet hätten, bevor sie ihre bisherige Ansiedlung verlassen hätten."

"Ja, bitte weiter", sagte Ornelle, die Julius' Ansatz einer Zwischenfrage mit einer raschen Handbewegung abwürgte.

"Dann kam heraus, dass bereits Anfang Januar eine grüne Riesin in abgelegenen Dörfern des Uralgebirges auftauchte, um dort Vieh zu stehlen. Die Bewohner seien durch etwas, was sie als bösen Zauber bezeichneten, dazu getrieben worden, sich gegenseitig niederzuschlagen. Als sie erwachten hätten sie festgestellt, dass die Riesin mehrere Rinder, Schweine und Hühner entwendet habe. Als die russischen Ministeriumstruppen die Dörfer der Umgebung absuchten stellten sie fest, dass einige davon verlassen und restlos niedergebrannt worden waren. Zumindest wurden weder tote Menschen noch tote Tiere gefunden. Sie haben versucht, die offenbar marodierende Riesin einzuholen. Doch irgendwie konnte sie ihnen immer entwischen, als sei ihr nicht nur bewusst, dass sie gejagt würde, sondern könne die Annäherung ihrer Verfolger früh genug wahrnehmen und ihnen somit ausweichen. Es wurden auch keine Fußabdrücke gefunden, selbst da, wo der Boden erdig und/oder schlammig oder von einer weichen Schneedecke überzogen sei. Somit wurden wir vom Drachenreservat beauftragt, die grüne Riesin zu verfolgen, da wir über Ausrüstungen verfügen, mächtige Zauberwesen in sicherer Entfernung zu orten und zu verfolgen. Natürlich wiesen wir darauf hin, dass wir keinem einzelnen Zaubereiministerium unterstellt seien, sondern nur mit den europäischen Zaubereiministerien zusammenarbeiteten, wenn es um Drachen ginge. Allerdings wollten meine Kollegen diesmal der Sache nachgehen. So suchten wir westlich des Urals nach dieser Riesin. Zweimal gelang es Kollegen von mir etwas stark magisches und übermenschlich großes zu orten. Falls Sie es wünschen darf ich Ihnen das dazu führende Verfahren erläutern." Ornelle winkte ab und bat um die Fortführung des Berichtes. Charles Weasley erwähnte dann noch, dass die eingesetzten Drachenhüter zweimal sichtkontakt mit der Riesin gehabt hätten. Doch jedesmal, wenn sie in ihre Nähe apariert seien, habe die grüne Riesin einen sphärischen Gesang angestimmt, der die Drachenhüter handlungsunfähig gemacht habe. Charles erwähnte, dass seine Kollegen danach nur noch mit völlig Schallschluckenden Ohrenschützern in den Einsatz gegangen seien. Sie hätten die Riesin in der Nähe von Kaliningrad geortet und angegriffen. Doch alle Zauberflüche seien von ihr abgeprallt oder an ihr zerflossen wie Wasser an einer glatten Wand. Einer von Charles' Kollegen hätte sogar den Todesfluch versucht. Der habe zwar den Körper der Riesin getroffen und erzittern lassen, aber sie dann erst recht wütend gemacht. Irgendwie sei diese Wut dann auch auf die anderen übergesprungen, und es kam zu einer magischen Schlacht. "Ich konnte gerade noch disapparieren, als mein Kollege Roman Petrescu einen Todesfluch gegen mich schleudern wollte. Ich vermute, dass diese Riesin ihre Wut auf andere humanoide Wesen übertragen kann wie durch einen Gefühlsbeeinflussungszauber oder wie Veelas Hingezogenheit und Weltentrücktheit herbeiführen können. Jedenfalls starben bei diesem Einsatz vier von sieben eingesetzten Drachenhütern." Julius musste Luft holen. Sich vorzustellen, dass die Tochter einer Sabberhexe und eines Riesens derartige Zauber wirken konnte und dann auch noch gegen Flüche wie Avada Kedavra immun sein sollten, gefiel ihm nicht. Denn er hatte schon mehrere magische Wesen getroffen, die derartig hart im Nehmen waren, und die meisten von denen waren Feinde der Menschheit.

"Haben Sie versucht, den Weg der Riesin vorherzusehen?" wollte Ornelle wissen, die keinen Moment daran zweifelte, dass Charles die Wahrheit sagte.

"Generalrichtung Westnordwest", gab Charles die erbetene Auskunft. "Wir und die offiziellen Einsatzgruppen der betroffenen Zaubereiministerien versuchen seitdem, die Riesin bewegungsunfähig zu machen. Doch seit der letzten Begegnung mit ihr versagen selbst die Ortungsvorrichtungen der Drachenhüter, und es gab auch keine neue Sichtung."

"Dann habe ich jetzt nur noch eine Frage an Sie, Monsieur Weasley", setzte Ornelle an. "Wieso wurden Sie dazu bestimmt, ausgerechnet uns darüber zu informieren, wo die Riesen doch auch vom Zaubereiministerium Ihres Geburtslandes beobachtet werden?"

"Mick O'Sullivan, ein Kollege von mir, sitzt wohl gerade bei Mr. Diggory im Büro und erstattet ihm Bericht. Da ich erfuhr, dass das französische Zaubereiministerium die Riesen ebenfalls beobachten lässt, kam ich zu Ihnen, da meine Französischkenntnisse besser sind als die meiner Kollegen."

"Auch wenn Ihr Bericht kein erfreulicher oder gar erbaulicher Bericht war möchte ich mich dennoch dafür Bedanken, dass Sie zu uns kamen, um von der Existenz und Macht dieser grünen Riesin, dieser grünen Gurgha, zu berichten", sagte Mademoiselle Ventvit mit unüberhörbarer Verdrossenheit. Charles Weasley unterschrieb dann die von ihm gemachten und mitgeschriebenen Aussagen. Ornelle sagte dann: "Ich werde mich über meine Kollegen von der Tierwesenbehörde mit dem Gesamtleiter Ihrer Hege- und Pflegetruppe in Verbindungs setzen, um umfassendes über die Einzelheiten der bisherigen Begegnungen zu erfahren. Sollte die grüne Riesin unser Hoheitsgebiet betreten sollten wir wissen, woran wir sind und ob wir sie gefangennehmen oder töten müssen. Sie, Monsieur Weasley, dürfen Ihrem Verbindungsmann zum russischen Zaubereiministerium gerne meinen Gruß ausrichten, er möge Monsieur Borodin in Moskau fragen, wieso er es bisher nicht für nötig hielt, alle in die Beobachtung der letzten Riesen einbezogenen Zaubereiministerien zu informieren. Vielen Dank!"

"Gut, dann mach ich mich besser wieder zu meinen Kollegen auf", sagte Charles Weasley. Er winkte Ornelle, Julius und Pygmalion Delacour zu. Dann verließ er das Büro.

"Soviel zu den Posteulen", bemerkte Julius. "Wundere mich nur, dass Georges Rocher nicht sofort eine Eule geschickt hat, als diese grüne Riesin diesen Utgardir entmachtet und getötet hat", fügte er noch hinzu.

"Vielleicht wollte er das und war dabei unvorsichtig und wurde von dieser grünen Riesin und den reinrassigen Riesen entdeckt und gleich am Ort getötet", grummelte Pygmalion Delacour. Julius nickte. Aber warum dann diese Russin überleben durfte und einfach nur irgendwo in der Wildnis ausgesetzt worden war wollte ihm erst nicht einfallen. Dann kam ihm ein übler Verdacht:

"Für das Protokoll, dies ist nur eine Hypothese, die auf dem Überleben der Russin Basiert. Zum einen könnte die Riesin befunden haben, die drei Zauberer am Leben zu erhalten, um alles über deren Auftraggeber, also auch uns, herauszubekommen. Dann hätte sie aber die russische Beobachterin ebenfalls gefangenhalten oder gleich töten können. Vielleicht konnte sie aber den Erholungsschlaf nicht beenden, von dem Mr. Weasley erzählt hat. Es gibt Schlafzauber, die tagelang wirken können, ebenso Tränke, die einen traumtolerant mehrere Tage verschlafen lassen. Sicher war der grünen Halbriesin daran gelegen, auch sie auszuforschen. Das gelang aber wegen der Behandlung nicht. Womöglich hatte sie keine Zeit, auf ihr Wiedererwachen zu warten oder benötigte sie nicht mehr." Ornelle sah Julius ungeduldig an und fragte, ob das schon seine ganze Vermutung war. Doch er schüttelte behutsam den Kopf und legte nach: "Der Umstand, dass Nadja nicht getötet sondern ausgesetzt wurde lässt sogar zwei Vermutungen zu: Die Riesin wollte nicht ohne Grund töten, aber sie brauchte Nadja auch nicht, weil sie eine Hexe ist und kein Zauberer."

"Ach ja, und wozu sollten ihr Zauberer eher dienen als Hexen?" fragte Ornelle, die sicher war, worauf Julius hinauswollte.

"Monsieur Rocher erwähnte, dass durch die Gurgwechselkämpfe viele männliche Riesen starben. Kann sein, dass die Gurgha Ersatz für diese toten Riesen sichergestellt hat. Wie erwähnt, das ist nur eine Hypothese, keine klare Tatsachenerkenntnis."

"Eine sehr gewagte dazu", grummelte Pygmalion, der aber so aussah, als habe Julius ihm gerade eine ganz unangenehme Wahrheit verkündet.

"Dann hat diese Riesin aber einen Fehler gemacht, weil sie die Russin nicht als für sie gefährliche Mitwisserin gleich eliminiert hat", widersprach Ornelle.

"Eben gerade deshalb komme ich ja auf diese Vermutung. Eigentlich dürften wir alle bis jetzt nichts davon wissen, dass es diese grüne Gurgha geben soll, wenn sie alle Mitwisser gleich hätte töten wollen. Ähm, ja und die Drachenhüter haben sich gegenseitig bekämpft. Sie wurden nicht von ihr direkt angegriffen, bis jemand von denen den Tödlichen Fluch ausgeführt hat. Dass sie den überlebt hat ist schon sehr besorgniserregend."

"Vielleicht ist sie durch die Hybridisation im Stande, mehrere Todesflüche zugleich zu ertragen, sowie reinrassige Riesen nur mit mehr als acht Schockern zugleich betäubt werden können", sagte Pygmalion. "Und jetzt wage ich eine Hypothese auf Grund der geschilderten Auswirkungen ihrer Magie: Die Eigenschaften ihrer Eltern sind in ihr wesentlich stärker entfaltet worden als bei jedem Elternteil. Meine Frau erzählte mir was davon, dass Muggel in Zoos Löwen und Tiger zur Paarung getrieben und dabei Kreuzungen gezüchtet hätten, die als erwachsene Tiere wesentlich größer als die Elterntiere ausfielen. Ich weiß nicht, ob dies stimmt. Falls ja, so könnte es sich bei dieser grünen Riesin um einen ähnlichen Fall handeln."

"Muggel haben das gemacht? Das kann ich nachprüfen, Pygmalion, falls Sie das interessiert", sagte Julius. Ihm war anzusehen, dass der Gedanke, es mit einem Geschöpf zu tun zu haben, dass die magischen und körperlichen Eigenschaften von Riesen und Sabberhexen in sich vereinigte und diese sogar noch stärker entfalten konnte, sehr großes Ungemach und jede Menge Tote bedeuten konnte, vielleicht sogar seinen eigenen Tod.

"Monsieur Latierre, wenn dieser Utgardir seit über hundert Jahren bei den Riesen wohnte wird Meglamora über ihn bescheid wissen. Ich erteile Ihnen hiermit den Eilauftrag, sie zu befragen, was sie über Utgardirs Vergangenheit mitbekommen hat. Pygmalion, Sie stellen die Bearbeitung der Anfrage von Monsieur Chaudchamp zurück und setzen ein Schreiben an den russischen Kollegen Anatol Borodin auf, dessen Inhalt ich Ihnen gleich diktieren möchte!" sagte Ornelle. Julius bestätigte den Erhalt des Auftrages. Die schriftliche Bestätigung würde er später erhalten, wusste er. "Öhm, bis zur endgültigen Klärung dieses Vorganges unterliegt dieser Fall der Klassifizierung S9, meine Herren. Ich werde mit Monsieur Vendredi und Minister Grandchapeau persönlich Rücksprache halten, inwieweit wir uns auf eine wie auch immer geartete Begegnung mit der grünen Riesin vorbereiten müssen. Sie dürfen nun den Auftrag ausführen, Monsieur Latierre." Julius bejahte das und verließ das Büro.

Vom Foyer aus konnte er frei apparieren. Sein Ziel war das für die Risin Meglamora und ihren Nachwuchs bereitgestellte Reservat in den Pyrenäen. Dass er vielleicht besser seine Winterstiefel angezogen hätte fiel ihm erst auf, als er bis zu den Waden in frisch gefallenem Schnee stand und um sich einen Schleier aus niederrieselnden Schneeflocken sah.

"Monsieur Latierre, was haben Sie der guten Ornelle Ventvit getan, dass sie Sie ohne Winterbekleidung zu uns geschickt hat?" fragte Olympe Maxime, die gerade aus dem weißen Schneetreiben hervortrat. Sie trug kniehohe, dick gefütterte Stiefel und einen bis zu den Waden reichenden weißen Warmwolleumhang. Darunter mochte sie weitere dicke Kleidung tragen. Julius bibberte ein wenig. Dann machte er jenen Zauber, mit dem Catherine Brickston einmal einen Regenschirm aus dem Nichts beschworen hatte, als sie mit Schülergruppen aus Hogwarts und Thorntails in Paris waren.

"Eilauftrag, Mademoiselle Maxime", sagte Julius, der darum rang, sich die Kälte hier nicht anmerken zu lassen. "Wir erhielten einen Bericht, dasss ein gewisser Utgardir getötet wurde. Ich soll Meglamora fragen, was der so alles getan hat."

"Utgardir? Haben seine Leute ihn doch getötet", erwiderte Mademoiselle Maxime. Dann winkte sie Julius hinter sich her. "Kommen Sie erst mal ins Warme! Oder können Sie den Schnellumkleidezauber gut genug ausführen, um sich diesem Wetter gemäß umzukleiden?"

"Im Moment wohl nicht", erwiderte Julius. Da fegte eine kräftige Windböe eiskalt um ihn herum und wirbelte den fallenden und bereits gefallenen Schnee zu einer weißen Wand um ihn auf. Sofort war er von einem Zentimeter Schnee bedeckt.

Julius beeilte sich, mit der drei Meter großen Halbriesin schrittzuhalten. Endlich erreichten sie das von Mademoiselle Maxime errichtete Blockhaus. Darin herrschte eine angenehme Temperatur von wohl zwanzig Grad Celsius. Ein munteres Feuer prasselte unter der großen Herdplatte in der Ecke. Mit einem Schnelltrocknungszauber behandelte Julius seine von Schnee und Wasser durchtränkte Kleidung. Dann erzählte er, was er erfahren hatte.

"Achso, und Mademoiselle Ventvit vermutet, dass die Riesin es auf Utgardir abgesehen hat, weil er mit ihr verwandt, womöglich ihr leiblicher Vater sein könnte?" fragte die ehemalige Schulleiterin von Beauxbatons.

"Hmm, laut gesagt hat sie es nicht. Aber ich bin geneigt, ihren Auftrag so zu verstehen, dass sie genau das überprüfen möchte", erwiderte Julius, dem Feuer und Gleichwärmebezauberung der Hütte schnell geholfen hatten.

"Meglamora ist in ihrem Iglu. Weil sie ja gerade schwanger ist könnte sie jeden Zutrittsversuch als Angriff auf sich und ihr Ungeborenes missverstehen. Aber vielleicht gelingt mir, sie zu fragen, ob sie mir von diesem Utgardir erzählt."

"Iglu? Die hat ein Iglu?" wollte Julius wissen.

"Das hat sie wohl von einem Verwandten gelernt, wie sowas gebaut wird. Jedenfalls wollte sie vorerst nicht in die Berghöhle, in der sie sonst wohnt."

"Gut, auf jeden Fall möchte ich wissen, was sie über Utgardir weiß, wann er zu den Riesen kam, ob er eine Gefährtin hatte, ob er Kinder also Guiguis gezeugt hat und ob er mal was erzählt hat, was er früher so angestellt hat."

"Ich gebe Ihre Anfrage weiter, Monsieur Latierre", sagte Madame Maxime. Dann bot sie Julius eine große Tasse frischen Kaffee an. Er nahm sie dankbar an.

Während Madame Maxime zu ihrer Tante hinüberging mentiloquierte Julius mit seiner Frau und teilte ihr mit, dass er gerade wieder bei Mademoiselle Maxime sei, weil er wegen Meglamoras Artgenossen was zu klären hatte.

"Oh, dann hättest du aber deine Warmwollesachen anziehen müssen, süßer. In den Pyrenäen ist gerade ein Schneesturm", bekam er die zu erwartende Antwort.

"Ja, ich hätte mir heute morgen noch die Wetterkarte von Frankreich auf dem Rechner anzeigen lassen sollen", schickte er zurück. "Und bei uns liegt kein Schnee?"

"Nein. Aber dafür pfeift hier ein kräftiger Wind. Goldie ist freiwillig zu mir ins Haus gerannt, weil die Bäume wackeln. Dusty macht das nichts aus. Der hat wohl wieder eine rollige Gespielin in der Nase oder in den Ohren."

"Sieht dem ähnlich. Seine Angetraute ist schwanger und der vergnügt sich mit anderen Weibchen", gedankensprach Julius.

"Goldie hat da kein Problem mit. Rorie ist gerade bei ihrer Oma Hippolyte. Ich hoffe mal echt, dass wir das hinkriegen, die schon geborenen Kleinen andauernd anderswo ablegen zu müssen, wenn ich was kleines in Aussicht habe."

"Rorie bleibt ja auch nicht immer ein wuseliges Kleinkind", versuchte Julius, seine Frau zu trösten.

"Erzähl mir was neues!" gedankenschnaubte Millie. Da hörte Julius Mademoiselle Maximes Stimme von draußen rufen: "Monsieur Latierre, meine Frau Tante wünscht, mit Ihnen persönlich über ihren Onkel Utgardir zu sprechen."

"Besteht Gefahr, dass sie handgreiflich wird, wenn ich sie besuche?" fragte Julius.

"Die Gefahr besteht immer bei Wesen ihrer Art und in ihrem Zustand", erwiderte die Halbriesin.

"Aber sie will nur mit mir sprechen?" fragte Julius nach zwei Sekunden Bedenkzeit.

"Nur mit Ihnen. Ich wollte wissen, was sie mir über Utgardir sagen kann. Da sagte sie wortwörtlich: "Wenn Kleinling Julius von Vaterbruder wissen will er selbst kommen soll!"

"Dann es so sein muss!" rief Julius zurück. Innerlich bereitete er sich darauf vor, blitzschnell zu disapparieren, wenn Meglamora ihn zu fassen bekommen versuchte.

Um nicht wieder vom wirbelnden Schnee überdeckt zu werden hüllte sich Julius in eine Kombination aus Sommerhauchzauber und Parapluvius-Zauber ein, die er aus einem Buch über Zauberkunst im Alltag gelernt hatte.

Das Iglu sah wirklich so aus wie bei den Inuit am Nordpol, nur dass es neun Meter hoch und vierzig Meter lang war. Der Eingang des aus gigantischen, festgestampften Schneeplatten errichteten Gebildes war mit zusammengenähten Warmwollefliesen verhangen. In dem Iglu stand ein drei Meter durchmessender Dreifuß mit einem Einhängring oben, in dem gerade ein mannshoher Kupferkessel hing, unter dem in einem Steingefäß groß wie zwei Badewannen ein Feuer brannte. Durch kleine Löcher in der Decke konnte der Rauch abziehen. Ansonsten beherbergte das Iglu eine aus zwölf Strohsäcken und einem gewaltigen Laken zusammengefügte Matratze mit entsprechendgroßer Zudecke, eine kleinere Bettstatt für den gerade im Schnee spielenden Ragnar und einen gewaltigen Nachttopf mit Deckel. Auf der Riesenmatratze saß Meglamora. Sie trug eine Art Kleid aus mit Warmwolle besetztem Leder. Ihre Füße waren nackt. Julius verbiss es sich, wegen des Rauches und der veratmeten Luft eine Kopfblase zu zaubern. Er sah Meglamora an, die im Moment ganz ruhig war. Das konnte sich aber jede Sekunde ändern.

"Du wissen willst wer Utgardir?" fragte Meglamora und winkte Julius zu, er solle näher zu ihr hin. Er dachte seine Selbstbeherrschungsformel, um bloß keine Angst oder Abwehrbereitschaft zu zeigen. Er ging weit genug, dass sie ihn nicht gleich mit einem Griff erwischen und herumwirbeln oder an sich reißen konnte. Doch sie war ganz ruhig, als mache es ihr nichts aus, in diesem Schneehaus zu hocken, anstatt den freien Himmel über sich zu haben.

"Utgardir jetzt Gurg? Hat Schwester von Babu gehört als ankam. Ich mit Hargatta groß geworden. Utgardir Babubruder immer geholfen, immer von dem beschützt."

"Babu heißt Vater?" fragte Julius. Meglamora nickte und knurrte, dass Olympe ihm das hätte sagen sollen. Dann fuhr sie mit ihrer Geschichte fort:

"Utgardir ganz hungrig war, als zu uns hinkam. Babu den bei uns gelassen hat, weil seine Schwester neues Guigui von anderem Mann wollte. Hat aber nur eins gemacht, Hargatta. Hat Babu erzählt, er bis zu Moragaha nur einmal mit Frau zusammen."

"Moragaha war oder ist Tante von dir?" fragte Julius.

"War Babuschwester bis bei Jagd gestorben", sagte Meglamora. Sie verzog das Gesicht, als wäre ihr nicht wohl. Das konnte durchaus sein, dachte Julius und war darauf gefasst, im Nächsten Moment verschwinden zu müssen. Doch Meglamora keuchte nur einmal. Dann sagte sie noch: "Utgardir nie stark genug war für Gurg. Wenn Gurg dann nur weil sehr geschickt und schnell."

"Hat Vater von dir gesagt, wer Frau war, die Moragahas Gefährte schon hatte?"

Meglamora grinste. Dann lachte sie so laut, dass der Schnee von der Decke riselte und die Wände erzitterten. Julius hielt den Mund offen, um den Druck dieser Lautstärke so schmerzlos es ging aus den Ohren und dem Kopf zu kriegen. Dann sagte Meglamora amüsiert: "Hat winzige grüne Fliegefrau gehabt und mit Guiguimacher aufgespießt, hat Babu Karkus gesagt, als ich nur zwanzig Schritte von Babuhöhle weg."

"So eine kleine, fliegende grüne Frau mit sonnenfarbenen Augen?" fragte Julius.

"Habe nicht gesehen. Weiß nur, dass wohnen da wo ganz viele Bäume", erwiderte Meglamora immer noch amüsiert. "Zu klein für Guiguis von großen. Will kein großer was von. Utgardir da ganz sicher krank war."

"Klar, vierzig Grad Stangenfieber", grummelte Julius. Meglamora sah ihn argwöhnisch an. So sagte er laut: "Sicher musste er eine Frau haben, und die war die einzige, die er gesehen hat, weil alle anderen schnell genug weggelaufen sind."

"Große von uns nicht gerne Guiguis machen. Wir denen zeigen müssen, wenn sie sollen und dann machen, dass sie machen", sagte Meglamora. Julius nickte. Das wusste er schon von den Riesen, dass die Männer eigentlich keine rechte Lust auf Sex hatten, weil das sie schwächte und angreifbar machte. Aber wenn sie eine rumbekam, dann ging es sehr ruppig zu. Doch zwischendurch konnten auch Männer finden, mit einer das Lager zu teilen. Wenn das dann so lief wie bei den Vulkaniern im Pon Farr oder bei rolligen Katzen konnte so eine grüne Waldfrau locker von einem derartig erregten Riesen vergewaltigt werden. Julius überlegte, ob er Meglamora erzählen sollte, dass Utgardir tot war. Doch dann ließ er es besser und fragte, ob Utgardir noch andere Gefährtinnen für Guiguis hatte.

"Neh, der Moragaha gehört hat. Die jede andere totgehauen hätte, die Guigui von dem wollte."

"Dann hat deine Schwester den als sehr stark oder schnell gesehen?" fragte Julius. Beinahe hätte er gefragt, ob sie ihn seiner Intelligenz wegen hatte haben wollen.

"Der lange gelaufen bis zu uns. Also lange laufen kann ohne zu essen, also sehr viel Kraft. Deshalb die von ihm Guigui haben wollte."

"War das lange vor deiner Tante, dass Utgardir die grüne Frau genommen hat?" fragte Julius.

"War da noch nicht da", kam die eigentlich zu erwartende Antwort von der Riesin. Julius wusste, dass Meglamora die ältere von zwei Schwestern und drei Söhnen war. Ramante war ja Mademoiselle Maximes Mutter, weshalb er nun hier in diesem Rieseniglu saß.

"Utgardir noch mehr Guiguis hatte?" fragte Julius.

"Nein, nur Hargatta. Aber immer mit Moragaha versucht hat, neue Guiguis zu machen. Kam aber kein neues."

"Warum ist Utgardir nicht mit euch zusammen gegangen, als Zauberer von weißem Schlangenkopf euch gerufen haben?" wollte Julius wissen.

"Utgardir wollte bei Hargatta bleiben. Die wollte neues Guigui von Argonorgh. Der aber wollte bei Golgomath bleiben."

"Dein Gefährte Gracklor und er gute Freunde waren?" wollte Julius wissen.

"Gracklor den für ganz ängstlich gehalten. Aber wenn der kämpfte dann er immer gewonnen hat. Wollte aber kein Gurg sein."

"Aber die Leute, mit denen ich mich immer wieder unterhalte sagen, er ... ist der Gurg", sagte Julius. Beinahe hätte er rausgelassen, dass Utgardir der Gurg war. Meglamora erkannte wohl , dass Julius was anderes gesagt hatte, als er eigentlich sagen wollte. Vielleicht verströmte er entsprechende Stressgerüche, die sie unbewusst wahrnahm.

"Der nicht mehr Gurg?" fragte Meglamora. Julius fühlte den Blick dieser tiefschwarzen Riesenaugen auf sich lasten wie ein Bleigewicht. Sollte er sie jetzt belügen oder ihr die Wahrheit sagen? In jedem Fall konnte das einen Wutausbruch auslösen. Er atmete zweimal ein und aus. Dann sagte er entschlossen: "Utgardirr von grüner Frau so groß wie du totgemacht wurde. Grüne Frau war böse auf ihn, ist jetzt Gurgha."

"Waaas!?" dröhnte Meglamoras Stimme so laut, dass es in Julius Ohren schmerzhaft klirrte. Noch mehr Schnee rieselte von der Decke. Die weiße Dampfspirale über dem Kessel zerfaserte zu hektisch umherschwirrenden Dunstwolken. Dann lachte sie auf einmal los, als habe Julius ihr den Witz des Jahrtausends erzählt. Er musste sich die Ohren zuhalten, bis sie aufhörte zu lachen. Dann sagte sie: "Ganz lustig, Julius. Ganz lustige Sache das! Der von eigenem Guigui totgeschlagen und Guigui ist Mädchen. Erzähl! Wie ging das?!"

"Die mir nur gesagt haben, dass grüne Frau so groß wie du ihn angegriffen und mit dem gekämpft hat. Er ist tot und sie die Gurgha. Wie das ging haben die mir nicht gesagt."

"Du fragen und dann mir alles sagen wie war!" röhrte Meglamora. Julius wusste nicht, wie er die Riesin einschätzen sollte. War sie jetzt wütend oder amüsiert über die Neuigkeit. Er fragte deshalb ob sie traurig sei, das Utgardir tot war.

"Utgardir immer viel Angst. Hargatta starkke Frau ist. Aber Utgardir sowieso irgendwann totgehauen werden würde. Aber von grüner Frau, von Guigui von viel zu kleiner, fliegenden Frau? Ganz lustig! Gaaaanz lustig!" wiederholte Meglamora. Julius hätte fast gesagt, dass das für Utgardir alles andere als Lustig war. Er versprach nur, zu fragen, was genau passiert war und es dann zu erzählen."

"Ja, und du dann auch wieder machen Kitzelblitz. War sehr schön. Will wiederhaben", sagte Meglamora. Julius sagte, dass er das wieder machen würde, wenn der Mond einmal alle vier Zustände hinter sich hatte. Dass ein Vitalumina-Blitzlicht auf Riesen anregend wirkte war für ihn immer noch unverständlich. Dann sagte er, dass er nun losgehen wolle, um die zu finden, die ihm alles sagen konnten, wie das war, am besten die grüne Frau selbst."

"Wenn die ist, dann du die zu mir bringen. Ich die sehen will!" sagte Meglamora. Julius erkannte, in welche heikle Lage er sich da gerade hineingeritten hatte. So sagte er schnell: "Die will vielleicht kleine Guiguis tothauen, auch die in großen Frauen drin sind."

"Dann ich die tothauen", knurrte Meglamora. "Aber vorher ich sehen will ob sie ist. Kann nicht sein, weil grüne Winzfrauen zu klein für Guiguis von großen Männern."

"Das will ich auch wissen, wieso das dann sein kann, weil die, die mir das gesagt haben nur sagen, was ist", erwiderte Julius.

"Dann los, suchen und die herbringen!" Julius hätte fast gesagt, dass er keine Befehle von ihr hinnehmen würde. Doch er wollte sie nicht weiter aufregen. Eines wollte er aber wissen:

"Geht es dir und deinem Guigui im Bauch gut?"

"Kann sein, dass zwei Guiguis in mir drin. Kleinling, der die gemacht hat sicher ganz viel von sich zu mir reingestoßen. Aber jetzt du losgehen und suchen grüne Frau so groß wie ich!"

"Ich weiß nicht, ob sie mit mir kommen will. Wenn die so groß und stark ist wie du kann ich sie nicht einfach herbringen."

"Du stark und klug. Du Orlogaths Blut im Leib. Sie bestimmt kommt, wenn du ihr machen Guigui."

"Öhm, ich habe Orlogaths Blut nicht mehr im Körper", setzte Julius an und endete mit "kann die mir dann sagen, wenn ich sie finde." Dann zog er sich behutsam zurück und verließ das Schneehaus. Mademoiselle Maxime stand draußen eingemummelt. Sie sagte kein Wort, sondern begleitete Julius zu ihrem Blockhaus. Dort errichtete sie einen provisorischen Klangkerker. "Ich habe Ihre Unterredung mit meiner Frau Tante sehr genau mitgehört", setzte sie an. "jetzt möchte ich von Ihnen eine vollständige Darlegung dessen, was Ihnen über diesen Fall zur Kenntnis gebracht wurde, wie gesagt, vollständig."

Julius erwähnte erst, dass es vorläufig als S9-Angelegenheit eingestuft worden war. Dann erzählte er ihr vom Besuch von Charles Weasley.

"Ja, die Wahrscheinlichkeit ist verschwindend klein, dass eine gewöhnlich große Frau das Kind eines männlichen Riesens bekommen kann und bei einer Waldfrau wohl noch geringer. Aber sie muss wohl eingetreten sein. Es muss ja nicht heißen, dass die betreffende Waldfrau Schwangerschaft und/oder Geburt überlebt hat."

"Öhm, stimmt. Aber dann müsste das Kind entweder vor der Geburt erstickt oder nach der Geburt verhungert sein, sofern es nicht gleich nach der Geburt wie ein Herdentier aufsteht und nach Futter suchen kann. Aber Kälber und Fohlen müssen trotzdem gesäugt werden."

"Wenn die Mutter es einer ihr verpflichteten Amme überließ", sagte Mademoiselle Maxime. Julius nickte. Das war nur logisch, weil diese grüne Frau ja existtierte und offenbar problemlos hatte aufwachsen können. So sagte er: "So wie Meglamora es erzählt hat muss Utgardir seinen Geschlechtstrieb nicht beherrscht haben, dass er eine grüne Waldfrau vergewaltigt hat."

"Kommt bei männlichen seltener vor als bei weiblichen Riesen. Aber wir wissen ja aus Erfahrung, dass ein immer stärker angestauter Geschlechtstrieb den Verstand trüben und zur baldmöglichsten Befriedigung treiben kann. Männliche Riesen fühlen sowas nur alle Jahre einmal, wenn sie keine Partnerin finden, die ihrerseits auf Fortpflanzung ausgeht. Außerdem kann er alleine gewohnt habenund daher die Angst vor Schwächung seines Körpers nicht so groß gewesen sein wie der Drang nach Fortpflanzung. Wenn er dann nur eine verfügbare Partnerin beziehungsweise ein Opfer seines ungestillten Triebes gefunden hat ..." Julius nickte. Das hatte er ja eben selbst bei Meglamora eingeräumt.

"Ich soll sie finden und herholen, notfalls, indem ich mich von ihr zum Vater eines neuen Kindes machen lasse", seufzte Julius.

"Ich habe Sie als sehr diszipliniert und pflichtbewusst kennengelernt und weiß, dass Sie von sich aus nichts unternehmen werden, was ihre ehelichen Verpflichtungen untergräbt. Aber ich frage Sie jetzt rein retorisch, ob Sie Ihres Lebens bereits überdrüssig genug sind, entweder von einer Hybridin zwischen Waldfrau und Riesen während eines wohl sehr gewaltsam vollzogenen Liebesaktes umgebracht zu werden wie ein Spinnenmännchen von seiner Partnerin, oder ob sie von Ihrer eigenen Gattin ermordet werden möchten, weil diese sich für Ihre Untreue rächen mag?"

"Nein, ich bin meines Lebens absolut nicht überdrüssig und bin froh, dass ich nach der Sache mit den vier Geisterschwestern eine schöne Zeit lang keine Angst um mein Leben haben musste", antwortete Julius.

"Behalten Sie diese Antwort immer im Bewusstsein, sollte die grüne Halbriesin, die sich selbst zur Gurgha der letzten lebenden Riesen erhoben hat, Ihr Erbgut einfordern."

"Meglamora sagte, in mir wäre Orlogaths Blut. Meint sie damit eigentlich Ihr Blut?"

"Nun, da ich erst sehr spät anfing, meine Herkunft zu erforschen und auch sehr spät erfuhr, wer meine direkten Verwandten waren oder sind weiß ich, dass Orlogath mein Großvater mütterlicherseits war. Sicher kann Meglamora es riechen, wer zu ihrem Volk gehört oder wie stark oder verängstigt ist. Sicher steckt in Ihnen noch mindestens ein Tropfen von meinem und damit Orlogaths Blut. Andererseits hätte das Meglamora nicht gehindert, Sie zur Zeugung eines Kindes einzufordern. Bei den Riesen können Cousins und Neffen mit Cousinen oder Tanten durchaus gesunde Kinder zeugen, was bei Riesen als gesund verstanden wird."

"Gut, dass Utgardir nur der Schwager von Orlogath war", sagte Julius. Es war irgendwie eine dumpfe Ahnung, die ihn das sagen ließ, eine Ahnung, dass die grüne Gurgha nicht nur ihren leiblichen Vater hasste, sondern jeden, der mit ihm Blutsverwandt sein mochte.

"Nun, die von meiner Frau Tante erworbenen Kenntnisse sollten Sie nun in einer amtlich zulässigenForm festhalten und Ihrer Vorgesetzten mitteilen", sagte Mademoiselle Maxime. Julius fragte bei der Gelegenheit, ob er dann auch die Vermutung Meglamoras festhalten sollte, sie könne Zwillinge tragen.

"Auf jeden Fall. Denn das gehört zu Ihrem und auch meinem Auftrag, zu ergründen, wie weibliche Riesen Schwangerschaften und Geburten empfinden. Sollte meine Tante fühlen können, wie viele Kinder sie erwartet, ist das eine unbedingt zu notierende Einzelheit. Sollte sich ihre Vermutung im Nachhinein als falsch herausstellen, so können Sie immer noch festhalten, dass Riesinnen bis zu einem gewissen Zeitpunkt nicht wissen können, wie viele Kinder sie erwarten."

"Danke für diesen wichtigen Hinweis", sagte Julius, der sich gerade wieder wie ein Schüler im Unterricht vorkam, darüber aber nicht verärgert war, sondern beruhigt war, dass Mademoiselle Maxime ihm Rückendeckung gab. Er verabschiedete sich von ihr und verließ das Blockhaus. Draußen im Schneesturm disapparierte er.

"Eh, lassen Sie den Schnee gefälligst draußen!" schimpfte ein untersetzter Zauberer mit schwarzem Ziegenbart, als Julius umhüllt von einer wirbelnden Schneewolke im Ministeriumsfoyer apparierte.

"Sagen Sie das dem Schneesturm. Wenn es nach dem gegangen wäre hätte ich den ganz mitnehmen müssen", erwiderte Julius abfällig.

"Wie witzig, junger Mann", knurrte der Zauberer. Dann steuerte er eine Fahrstuhlkabine an.

"Ähm, mach den Schnee besser erst weg, bevor du zu deinem Büro zurückfährst", grinste ihn Martine Latierre an, die ebenfalls im Foyer war.

"Ist wohl besser so, bevor ich noch Krach mit der Zentralverwaltung kriege", sagte Julius und behob mit vier schnellen Zaubern den kleinen, bereits schmelzenden Schneehaufen und die Nässe seiner Kleidung. Dann fuhr er mit Martine zusammen nach oben. Sie stützte sich dabei auf ihn, weil ihr ein wenig schwindelig war, wenn der Fahrstuhl anfuhr und stoppte. "Also wenn Millie das auch so gefühlt hat wundert mich nicht, dass die auf keinen Besen mehr durfte", grummelte Martine. Dann wünschte sie Julius noch einen erfolgreichen Tag.

"Danke, das hoffe ich sehr stark, Tine", sagte er.

"Der Kollege Delacour ist bei Monsieur Vendredi und mit ihm zusammen mit Moskau zu verhandeln, warum wir bisher nichts von dieser grünen Gurgha mitbekommen haben. Ich soll dich eigentlich sofort rüberschicken, wenn du wieder da bist. Aber ich sehe, dass du erst mal Ruhe brauchst, um alles gescheit zu sortieren", sagte Ornelle. Julius bedankte sich für diese Rücksicht. Dann schrieb er alles auf, was Meglamora ihm erzählt hatte. Mit dem Multiplicus-Zauber machte er gleich fünf Kopien davon. Eine bekam Ornelle, eine sollte Monsieur Vendredi erhalten. Eine war für das Archiv und eine für den Minister, sollte der noch was dazu befinden.

"Dann bring dem Monsieur Vendredi seine Kopie!" sagte Ornelle Ventvit.

Der Gesamtleiter der Abteilung für die Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe war nicht besonders erfreut, dass Julius nicht sofort zu ihm gekommen war. Doch als er gleich einen fix und fertig abheftbaren Bericht auf den Tisch gelegt bekam verzieh er Julius dieses Versäumnis.

"Also, Ihr Kollege Delacour und ich gelangten bereits zur gemeinsamen Ansicht, dass wir von Monsieur Borodin eine ausführliche Darlegung des Vorfalls erbitten müssen und warum seine Mitarbeiterin als einzige auffindbar war und unsere nicht. Stimmen Sie dem Vorgehen zu, Monsieur Latierre?"

"Im vollen Umfang, Monsieur Vendredi", erwiderte Julius und dachte mit gewissem Ingrimm, dass er auch ja nichts anderes hätte antworten dürfen. Als er seine Antwort auch noch noch damit begründen konnte, dass eine frühzeitige Benachrichtigung über diesen gravierenden Vorfall zu einer gemeinschaftlichen Such- und Rettungsaktion für die drei Vermissten geführt hätte nickte Monsieur Delacour.

"Leider wären wir dann auch bezichtigt worden, erworbene Kenntnisse vorenthalten zu haben, nachdem, was ich hier lesen muss. Aber bis heute hätte wohl niemand daran gedacht, dass es Hybriden zwischen Waldfrauen und Riesen geben könnte."

"Zumal sich die sehr beunruhigende Frage förmlich aufdrängt, ob diese grüne Gurgha die einzige ihrer Art ist oder es nicht noch ein paar Dutzend mehr davon gibt", unkte Pygmalion Delacour.

"Das gehört auch zu den Dingen, die wir mit den Kollegen in Moskau zu klären haben. Immerhin leben in deren Zuständigkeitsbereich auch ein paar grüne Waldfrauen."

"Gut, dann schicken wir die Blitzeule los. Ähm, die Anfrage wegen Genehmigung von Blitzeulen von uns, die aus Russland losgeschickt werden darf ich auch beifügen?"

"Unbedingt", erwiderte Monsieur Vendredi.

Julius begleitete Pygmalion Delacour zur ministeriumseigenen Eulerei. "Da kann noch was arges auf uns zukommen", sagte Fleurs und Gabrielles Vater.

"Ja, und das kurz vor der Geburt meines zweiten Kindes."

"Als Fleur geboren wurde hatten wir alle Angst vor diesem unnennbaren Dunkelmagier aus Ihrer Heimat. Wäre auch zu schön gewesen, wenn wir in einer friedlichen Welt hätten weiterleben dürfen." Julius konnte dem nicht widersprechen. Selbst Polizisten wünschten sich eine Welt mit weniger Verbrechern, auch wenn deren Verfolgung ihr Job war.

Mittags traf er sich mit seiner Schwägerin Martine in der Kantine. Da er ihr über die Sache mit der grünen Gurgha nichts erzählen durfte redete er nur darüber, dass er mal wieder Mademoiselle Maxime hatte aufsuchen müssen, um sich nach Meglamoras Zustand zu erkundigen.

"Stimmt, die wird ja auch demnächst immer runder", grummelte Martine. Julius fragte frech, ob sie Mademoiselle Maxime meine. "Nein, deren ganz große Tante, du Wichtelbändiger", grummelte Martine. Doch dann grinste sie. "Wenn Mademoiselle Maxime aus Sympathie auch was Kleines austragen würde wäre das der Brüller in Beauxbatons."

"Klar, wo die da alle gedacht haben, ich hätte der wen neues anvertrauen sollen, als ich mit ihr drei Monate zumindest den Tisch geteilt habe, wenn schon nicht das Bett."

"Hätte ja nicht viel gefehlt, wenn ich Millies Briefe richtig verstanden habe. Na ja, sei froh, dass sie noch mehr auf ihren guten Ruf bedacht war als du."

"Wohl wahr", erwiderte Julius. Dann fragte Martine, ob er ihr was neues von Laurentine erzählen könne und dürfe.

"Na ja, die Geier kreisen, die geier krächzen. Sie ist froh, damit im Moment nichts zu tun zu haben. Immerhin hat ihr Großvater ein Testament gemacht. War ja nötig, um das mit seiner Weltraumbestattung rechtlich abzusichern."

"Na ja, aber stelle ich mir auch ziemlich blöd für die Angehörigen vor, wenn sie kein Grab besuchen können. Oder würde es dir gefallen, dir vorzustellen, dass Claire irgendwo da oben im Himmel herumfliegt?"

"Da sie so oder so immer bei mir und allen ist, die mir wichtig sind hätte ich damit kein Problem gehabt, wenn sie sich in den Weltraum hätte schießen lassen wollen. Aber das konnte sie ja leider nicht so früh festlegen wie Laurentines Opapa", erwiderte Julius. Martine erkannte, dass sie da gerade was nicht so ganz nettes gesagt hatte und lief rot an. Julius sagte deshalb, dass sich Martine nicht für ihre Frage schämen müsse. Schließlich sei er froh, dass er und Millie ihrer Tochter zeigen konnten, wo Claire schlief.

"Na ja, jedenfalls bin ich wohl bald nur noch auf Bürodienst gebucht. Werde dann wohl der guten Madame Mistral helfen können."

"Bei dem trüben Winterwetter ist das echt eine bessere Alternative", sagte Julius.

Nachmittags fiel für Julius nur Schreibarbeit an. Er sollte die Kollegen in Großbritannien fragen, wie diese auf die Sache mit der grünen Gurgha reagieren wollten. Das konnte für Julius in einer neuen Dienstreise in sein Geburtsland ausarten. Aber laut vermuten wollte er das nicht.

__________

Französisches Zaubereiministerium in Paris


17. Januar 2002, 09:45 Uhr Ortszeit

Julius hatte gerade die Antwort von Amos Diggory auf die Anfrage seiner Vorgesetzten ins Französische übersetzt, um auch für des Englischen unkundige Kollegen nachlesbar festzuhalten, was Diggory geschrieben hatte. Der Leiter der britischen Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe hatte seine Besorgnis bekundet, dass sein Ostland-Agent Ethan Oakshade nicht den befohlenen Lagebericht geschickt hatte. Gleichzeitig hatte er seiner Verärgerung Ausdruck verliehen, dass auch er erst von einem außerministeriellen Zauberer erfahren musste, dass es eine grüne Riesin gab, die offenbar gegen viele Zauber immun war und ihrerseits nach außen wirksame Magie entfalten konnte. Diggory plante, zwanzig Beamte, die in der Bekämpfung gefährlicher Zaubertiere und -geschöpfe ausgebildet waren, in das Land der letzten Riesen zu entsenden, wenn das russische Zaubereiministerium ihm die Genehmigung dazu erteilte. Ihm war wichtig, den offenbar verschollenen, vielleicht auch schon toten Mitarbeiter Oakshade zu finden. Allerdings räumte er ein, dass die Wahrscheinlichkeit dafür sehr gering sei, da er befürchten musste, dass die Riesen den britischen Beobachter nicht nur töten, sondern auch essen mochten. Julius hatte an seine Kindertage gedacht, wo er Märchen von menschenfressenden Riesen gehört hatte, die gezielt in Dörfer oder Städte gegangen waren, um sich ihre Nahrung zu beschaffen. Wenn eine Kreuzung aus grüner Waldfrau und Riese die Ernährungsgewohnheiten beider Zauberwesenarten in sich vereinte konnte diese grüne Gurgha, die wegen was auch immer gerade durch Europa wanderte, für jeden Menschen gefährlich werden, der das Pech hatte, ihr über den Weg zu laufen. Sabberhexen standen im Ruf, kleine Kinder zu fangen und zu fressen.

"Borodin hat um fünf Wochen Sonderurlaub gebeten und diesen genehmigt bekommen, schreibt mir sein Stellvertreter Ilja Groschenko, wenn ich das hier richtig lese", sagte Pygmalion Delacour, der neben Englisch auch ein wenig Russisch lesen und schreiben konnte.

"Soll das eine Art Entschuldigung dafür sein, dass die anderen an der Ostlandgruppe beteiligten Zaubereiministerien nicht früh genug informiert wurden?" fragte Ornelle Ventvit. Pygmalion las den Brief noch einmal durch und nickte. "Groschenko schreibt, dass er von Anatol Borodin nicht umfassend über Ostland informiert worden sei und - jetzt kommt's - erst durch unser Anschreiben darauf gebracht wurde, diese Unkenntnis zu beheben."

"Es soll Leute geben, die können nur dann zur Toilette gehen, wenn es ihnen ausdrücklich gesagt wird", musste Julius einen Kommentar dazu loswerden.

"Ja, und dann auch für jede dort zu vollbringende Handlung einzeln Anweisungen entgegennehmen", fügte Mademoiselle Ventvit dem hinzu, ohne Julius wegen seiner Derbheit zu rügen. Offenbar dachte sie genauso wie er.

"Wie gehen wir jetzt vor. Schicken wir auch Suchtrupps los?" wollte Julius wissen und winkte bekräftigend mit Diggorys Brief.

"Für eine Retrocular-Rückschau ist es zu spät. Außerdem halte ich es für Übereifer, gleich zwanzig Leute loszuschicken, wo die Hauptbedrohung gerade weiter westlich zu finden ist. Ich werde Monsieur Vendredi vorschlagen, fünf sehr gute Besenflieger mit guten Kenntnissen osteuropäischer Sprachen loszuschicken. Pygmalion, verfassen Sie eine schriftliche Anfrage auf Erteilung einer kurzfristigen Erlaubnis zur Einreise und Erkundung von fünf Mitarbeitern, zu Händen dem Leiter für internationale magische Zusammenarbeit! Dienstweg über Monsieur Vendredi und Monsieur Chaudchamp an dessen russischen Kollegen, dessen Name mir gerade nicht bekannt ist!"

"Tupulew, Alexej Alexejewitsch Tupulew", sagte Pygmalion. "Ich weiß das von meiner Schwiegermutter."

"Den Namen notiere ich mir besser auch gleich", sagte Julius, der sich wunderte, dass Léto ihm diesen Namen noch nicht mitgeteilt hatte, wo es vielleicht noch einmal um ihre Schwester Sarja gehen könnte.

Ornelle wollte Julius gerade losschicken, um in der Außeneinsatzabteilung die fünf mit den besten Sprachkenntnissen zusammenzutrommeln, als eine unsichtbare Glocke mit hellem Klang ertönte. Ping - ping - ping. Jede Sekunde ein Ping. Drei Sekunden Stille folgten. Dann erklang es wieder: Ping - ping - ping.

"Moment, das ist die Kollegin Jacqueline Dubois, die die Waldgebiete im Norden überwacht", sagte Ornelle und öffnete eine der Schubladen ihres Schreibtisches. Sie zog ein kleines gerahmtes Bild einer in Grün gekleideten, astdünnen Hexe heraus und hielt es ins Licht: "Hämm-ämm, viele Waldfrauen in Formation aus Richtung Ostsüdost in Richtung Westnordwest, einzelne Exemplare nicht zu unterscheiden! Dringende Sichtaufklärung vor Ort erfragt", hörten sie alle ein winziges Stimmchen aus dem kleinen Bilderrahmen.

"Aufklärung erfolgt!" sagte Ornelle und gab Julius das Bild. "Hier, Sie gehen sofort in das Außeneinsatzbüro und nehmen sich die Kollegen Montrich, Laroche, Brussac und Lelyonaise aus unserem Büro mit. Dann bitten Sie die Tierwesenbehördenleiterin Madame Latierre noch um die Amtshilfe durch die Kollegen Fontclair und Bleuchat! Letzte beiden sind versierte Drachenjäger. Ausführung!"

Julius notierte schnell die Namen und bestätigte den Befehl. Dann lief er aus dem Büro hinaus. Ornelles Anweisung hatte sehr drängend geklungen. Außerdem konnte er sich vorstellen was das hieß, wenn von mehreren Waldfrauen in Formation gesprochen wurde, die aber nicht als Einzelwesen erkannt werden konnten. So ging es also auch, dachte er.

Er gab die Anweisung an die Ornelle direkt unterstehenden Leute weiter und wunderte sich nicht, dass Montrich ein großer, stämmiger Zauberer war. Er schickte die aufgeforderten in Ornelles Büro hinüber, bevor er zu seiner Schwiegertante ging, dort brav an die Tür klopfte und wartete, bis er hereingerufen wurde.

"Eine unserer Waldfrauenbeobachter hat angeblich mehrere nicht in Einzelwesen unterscheidbare Waldfrauen auf dem Weg durch die Normandie gemeldet. Könnte die grüne Gurgha sein", sagte Julius. "Meine Vorgesetzte erbittet Amtshilfe durch die Kollegen Fontclair und Bleuchat aus der Drachenjagdtruppe!"

"Ich sehe ein, dass ich wohl noch keine schriftliche Auftragsbestätigung und kein schriftliches Amtshilfeersuchen von Ihnen erhalten kann, Monsieur Latierre. Aber ich möchte das doch gerne mit Ihrer direkten Vorgesetzten persönlich abklären", sagte Barbara Latierre. Dann wandte sie sich an ihren Mitarbeiter Lamarck. "Sie übernehmen meine Termine für die nächsten zwei Stunden, bis ich wieder da bin!" sagte sie. Dann begleitete sie Julius zu dem ihr zugeteilten Außeneinsatzbüro, an dessen Tür Bilder von Drachen, Greifen und Einhörnern aufgemalt waren.

"Yves und Guillaume, Sie begleiten mich und Monsieur Latierre zu Mademoiselle Ventvit. Einsatz gegen übergroßes Zauberwesen wahrscheinlich!" rief sie in den Einsatzraum, wo gerade vier Schachpartien und zwei Kartenspielrunden abliefen.

Julius sah zwei sehr große Männer, die in ihrer Jugend bestimmt gute Quidditchhüter oder -treiber gewesen waren. Einer von ihnen hatte hellblondes Haar und türkisfarbene Augen. Der andere besaß eine nachtschwarze Mähne, die ihm bis auf die Schultern fiel und wie bei einer Frau auf Nackenhöhe von einer silbernen Spange gebändigt wurde. Seine Augen waren dunkelbraun.

Als die von Ornelle angeforderten in ihrem Büro versammelt waren begründete sie diesen Alarm damit, dass ihre Außendienstmitarbeiterin Jacqueline Dubois mit der Hilfe von Waldfrauenhaaren und Gold einen Aufspür- und Verfolgungszauber für Waldfrauen entwickelt hatte, mit dem sie den Aufenthaltsort der drei in den Wäldern Nordfrankreichs lebenden Waldfrauen überwachen konnte, wo sonstige Ortungszauber schwer bis gar nicht funktionierten. Über ein Bild ihrer Urgroßmutter, die vor zweihundert Jahren diesen Ortungszauber erfunden hatte, hatte Ornelle den Alarm erhalten. "Sie wurden im Rahmen des von Monsieur Vendredi vorgestern verfassten Rundschreibens über die Existenz und Aktivitäten jener Waldfrauen-Riesen-Hybridin informiert, die sich zur Herrscherin aller noch lebenden Riesen aufgeschwungen hat. Sie durchwandert offenbar den europäischen Kontinent. Womöglich sucht sie nach jemandem oder etwas bestimmten. Ich habe bereits eine Bereitstellung von Ohrenschützern für Sie alle und Monsieur Latierre erwirkt. Bitte holen Sie diese zusammen mit Einsatzflugbesen im Depot für Außeneinsatztruppen ab! Monsieur Montrich, Sie sind als Dienstältester Einsatzleiter! Bitte nehmen Sie diese Schallverpflanzungsbüchse mit! Damit stehen Sie unmittelbar mit mir in Kontakt, sobald Sie das Ministerium verlassen haben. Apparieren Sie nach Erhalt der Ausrüstung vom Foyer aus in diesem Planquadrat! "Sie übergab dem großen, breitschultrigen Monsieur Montrich eine Landkarte und eine kleine Silberdose mit Deckel. Julius konnte darauf Runen erkennen, die ineinander verschlungen waren. "Unbedingt zu befolgende Anweisung: Magische Abschirmung gegen Gefühlsbeeinflussungszauber errichten und aufrechterhalten! Die uns noch größtenteils unbekannte Kreatur kann womöglich unerwünschte Gefühle erzeugen."

"Und wozu die Ohrenschützer?" fragte Monsieur Fontclair.

"Mann, weil das Biest eine halbe Sabberhexe sein soll und diese Biester durch Gesang bezaubern können", stieß Brussac, ein spindeldünner Zauberer mit schwarzer Igelfrisur und listigen braunen Augen aus.

"Wollte es nur amtlich haben", sagte Fontclair.

Gut, alle Anweisungen erteilt. Ausführung!" befahl Ornelle. Barbara nickte heftig, um den ihr selbst unterstellten zu zeigen, dass das auch für sie galt.

"Ähm, ich soll da mit?" fragte Julius."

"Sie tragen noch keine ohrenschützer, Monsieur Latierre, daher muss ich davon ausgehen, dass Sie meine Anweisung gerade klar und deutlich gehört haben müssen. Ich sehe von einer Rüge wegen Unaufmerksamkeit ab. Also los!"

Julius war nicht das erste mal im Außeneinsatz. Er bekam auch nicht zum ersten Mal in seiner Dienstzeit mit einer gefährlichen Kreatur zu tun. Dennoch wunderte er sich ein wenig, dass er gleich mit zum Einsatz sollte, wo alle um ihn herum mindestens zehn bis fünfzig Dienstjahre mehr als er vorweisen mochten.

Zunächst ging es ins Ausrüstungsdepot. Dort war wohl ein Memoflieger mit demEilantrag aus Ornelles Büro angekommen. Denn die zum Einsatz befohlenen erhielten innerhalb einer Minute Rennbesen vom Typ Ganymed 12, sowie fleischfarbene Ohrenschützer.

Im Laufschritt ging es aus dem Depot zurück zum Fahrstuhl und damit zum Foyer. Dort bildeten alle zusammen einen Kreis. Monsieur Fontclair, der die Zielgegend kannte, übernahm die Zielausrichtung für das gemeinsame Apparieren. Alle anderen konzentrierten sich nur darauf, dort zu erscheinen, wo Monsieur Fontclair sein wollte. Eine halbe Minute Später krachte es laut, und die Einsatzgruppe war aus dem Foyer verschwunden.

"Sofort Abstand voneinander nehmen und Ohrenschützer auf. Aura-Calma-Zauber aufbauen!" befahl Montrich, als sie alle vollständig am Zielort angekommen waren, dem Hochsitz von Madame Jacqueline Dubois. Diese deutete mit einem drei Arme langen, fingerdicken Stab mit einer kleinen, leuchtenden Kugel am Ende in eine bestimmte Richtung. "Gleichbleibende Vorwärtsbewegung. Von der Geschwindigkeit her fliegen die wohl, wenn es nicht eine Kreatur ist, die die Präsenz mehrerer Waldfrauen auf einmal imitiert!" rief sie noch. Doch die Einsatzgruppe setzte gerade die Ohrenschützer auf. Jetzt konnten sie gerade ihren eigenen Herzschlag und Blutfluss hören. Julius verzichtete auf den Aura-Calma-Zauber, der sonst gegen Gefühlsveränderungszauber wirkte. Er würde das Lied des inneren Friedens benutzen. Um nicht aufzufallen tat er jedoch so, als benutze er auch Aura Calma, wobei er aber nur an eine Melodie ohne Text dachte. Dann machte Montrich ein Handzeichen zu seinem Besen und schwang sich darauf. Die anderen folgten seinem Beispiel. Dann stieß er sich ab. Julius hätte ihn beim Start fast schon überholt. Doch er fing sich gerade noch ab, um nicht vorwitzig rüberzukommen. Außerdem kannte er sich in diesem bewaldeten Gebiet nicht aus.

Die Umgebung bestand aus einem Mischwald. Die Laubbäume standen völlig kahl zwischen hoffnungsvoll grünen Tannen, Fichten, Kiefern und Lärchen. Um nicht mit einem der Bäume zusammenzustoßen führte Montrich seine Truppe bis zehn Meter über den höchsten Baumwipfel. Dann schlug er die Richtung ein, die die Hexe vom Hochsitz ihnen mit ihrem Zeigestock gewiesen hatte.

Julius dachte nun das Lied des inneren Friedens. Außerdem fühlte er das sorgfältig unter den Ärmeln seines weißen Warmwollehemdes verborgene Verständigungsarmband aus der Villa Binoche. Es reagierte ähnlich wie die Pflegehelferarmbänder von Beauxbatons auf gut- und bösartige Magie. Im Château Dixarbres hatte ihm die Kombination aus dem altaxarroischen Geistesschutzzauber und der Magie des Armbandes sehr gute Dienste erwiesen. Julius hoffte, dass das auch weiterhin so sein würde.

Zwanzig Minuten lang flogen sie über die Wälder dahin. Julius fiel auf, dass sich viele Vögel, vor allem Krähen und Raben, über den Bäumen aufhielten. Ob sie Laut gaben hörte er nicht. Er sah nur, wie sie die dahinjagenden Zauberer kurz anflogen und dann wie in Panik davonschwirrten. Doch es war keine Panik, wie Julius schon nach zehn Sekunden erkannte. Es war ein Sammelmanöver. Immer mehr Vögel flogen wie auf der Flucht vor einem wütenden Brand aus den Bäumen auf und hielten für eine Sekunde auf die Besenflieger zu. Julius wusste nicht, warum er nach oben sah statt nach unten. Weil er es tat fiel ihm die Gruppe hoch über ihnen kreisender Greifvögel auf. Da waren vier Bussarde, drei Habichte und ein Wanderfalke, soweit Julius erkennen konnte. Das gefiel ihm ebensowenig wie der immer dichter werdende Vogelschwarm, der sich vor den Besenfliegern zu retten schien.

Julius flog zum Anführer Montrich und deutete kerzengerade nach oben, damit dieser die weiter oben kreisenden Greifvögel sah. Als Montrich mit einem verknirschten Gesichtsausdruck auf Julius' Armbewegung reagierte und nach oben blickte erstarrte er. Julius wusste nicht, was der Anblick kreisender Greifvögel so erschütterndes bot. Dann sah er selbst noch mal nach oben und erkannte, dass zu den bereits erkannten Vögeln noch vier Adler gekommen waren. Außerdem wurde der unter ihnen und um sie herum umherfliegende Schwarm immer dichter. Julius ahnte übles Ungemach. Montrich zog die silberne Büchse aus seinem Umhang und klappte den Deckel auf, während er mit einer Hand den Besen weiterlenkte. Was er hineinrief hörte Julius nicht. Jedenfalls klappte Montrich die Dose schnell wieder zu. Dann konnten sie alle sie sehen.

Zwischen den Bäumen stapfte eine sechs Meter hohe Gestalt dahin. Sie trug außer einem ledernen Lendenschurz keine Kleidung. Ihre Haut war so grün wie das einer finnischen Nordmannstanne. Um ihre Schultern wehte tiefschwarzes Haar. Ihre Augen waren wie zwei glatte, goldgelbe Bernsteinkugeln. Ihr Gesicht war schlank mit einem leicht spitz vorspringenden Kinn. Außerdem war dieses Wesen unverkennbar weiblich und sah für eine, die von einem Riesen abstammte sehr wohlgestaltet, ja sogar wunderschön aus. Ihre Haut war glatt und ihre Glieder waren schlank und kräftig. Vor allem die langen Beine zogen die Blicke auf sich. Das war sie also, dachte Julius. Das war die grüne Gurgha.

Montrich deutete mit der linken Hand nach unten, bog dann die Finger aber nach oben. Julius hatte gelernt, dass so angezeigt wurde, wenn eine Besentruppe gerade bis auf zwei Meter über dem Boden absinken aber nicht landen sollte. Montrich wartete, bis alle ihm zugenickt hatten. Dann begann er den Sinkflug.

Julius sah, wie die Vögel alle in den Wipfeln der Bäume hinabsanken und sich dort zusammenrotteten. Ein schneller Blick nach oben verriet ihm, dass die über ihnen kreisenden Greifvögel ebenfalls tiefer gegangen waren, aber immer noch hoch über ihnen ihre Bahnen zogen. So viele Greifvögel auf einmal waren Julius nicht geheuer. Überhaupt, dass hier so viele Vögel auf einmal versammelt waren alarmierte ihn überdeutlich. Montrich schien ebenfalls nicht so begeistert von den vielen Vögeln zu sein. Er nahm seinen Zauberstab und ließ um sich und seinen Besen einen silberblauen Dunst entstehen. Julius hatte diesen Zauber noch nicht in Aktion erlebt, wusste aber, dass es der Nebel der Abschreckung sein musste. Wer in ihn hineintauchte wurde mit albtraumhaften Bildern und Geräuschen gepeinigt, die ihn oder sie zur Flucht trieben. Auf gewöhnliche Tiere wirkte der Nebel derartig abschreckend, dass sie in ihrer Panik davoneilten, bis sie vor Erschöpfung zusammenbrachen oder abstürzten, je danach, wie sie sich voranbewegten. Der einzige Nachteil dieses auf dem Element Wasser fußenden Zaubers war, dass er bei dichtem Nebel, Regen, Schneefall oder unter Wasser nicht ausgeführt werden konte.

Julius' Armband vibrierte, als sie auf Höhe der Baumwipfel waren. Er sah, wie die Vögel ihre Schnäbel aufrissen und ihre Körper wild erbebten. Offenbar machten die ganzen Rabenvögel gerade einen Höllenlärm. Dann fühlte er, wie etwas versuchte, in seinen Kopf einzudringen. Sofort dachte er noch einmal das Lied des inneren Friedens. Das fremdartige Tasten verklang. Sein Armband zitterte nun regelrecht. Er fürchtete, dass seine Einsatzkameraden das bemerken mochten. Doch die hatten andere Sorgen.

Unvermittelt flimmerten die Konturen der Zauberer auf ihren Besen in einem hellen Grünton, schienen zu verschwimmen. Gleichzeitig prasselten grüne Funken aus dem silberblauen Nebel um Montrichs Besen und wurden zu grünen Blitzen, die in den Waldboden einschlugen. Dabei löste sich der Nebel innerhalb von Sekunden in Nichts auf. Jetzt umfloss auch Montrich jene hellgrüne Flimmeraura. Julius sah schnell auf seine Hände. Ihn umgab kein grünes Flimmern. Lag das daran, dass er keine magisch aufgeladene Schutzaura um sich erzeugt hatte?

Die Besenflieger zogen ihre Zauberstäbe und versuchten, die grüne Riesenfrau mit Schockern und Fesselzaubern zu überwältigen. Doch die Schocker zerflossen wie hellrot leuchtende Wassertropfen am Körper der grünen Gurgha. Die gezauberten Seile glitten kraftlos an den Armen und Beinen der Riesenfrau ab und lösten sich restlos auf.

Montrich machte eine Armbewegung nach hinten und eine Aufwärtsbewegung gleich mit. Das hieß Rückzug. Julius folgte der unhörbaren Anweisung genauso prompt wie seine Einsatzkameraden. Dabei ließ er weder die grüne Riesin noch die in den Bäumen versammelten Vögel aus den Augen. Deshalb bekam er wohl als einer der ersten mit, wie sich die Raben und kräehen aus den Bäumen lösten und wie auf ein Kommando auf die sich zurückziehenden Zauberer stürzten. Julius wusste, dass das feige rüberkommen konnte. Aber wenn er nicht gleich von Dutzenden von Schnäbeln beharkt werden wollte musste er den Vögeln entwischen. Er riss seinen Besen hoch und jagte im Rosselini-Raketenaufstieg beinahe senkrecht nach oben, zwischen zwei Bäumen hindurch. Gerade flatterte ein Pulk großer Raben auf ihn zu und verfehlte ihn um zwei Besenlängen. Julius ärgerte sich, seinen Kollegen keine Warnung zurufen zu können, solange sie alle Ohrenschützer trugen. Er beendete seinen rasanten Aufstieg knapp vierzig Meter über Grund und ging sofort in eine enge Kreisbahn direkt über der grünen Gurgha. Diese machte gerade Gesten gegen die sie bedrängenden Zauberer. Dabei schüttelte sie sich mit offenem Mund. Offenbar lachte sie. Julius sah, wie die anderen Zauberer die auf sie einstürmenden Vögel mit Flammengeißeln zurückschlugen. Sicher, das hätte er auch machen können. Vielleicht sollte er das auch tun. Dann erkannte er, dass nicht alle Vögel zum vereinten Angriff ausgeschwärmt waren. Einige waren wie Julius erst einmal nach oben gestiegen. Jetzt stürzten sie sich in die Tiefe. Julius blickte sich um und erkannte zwei Bussarde, die ihn aufs Korn genommen hatten. Ehe er reagieren konnte krachten die beiden Greifvögel mit ihren Schnäbeln gegen seinen Kopf, genau da, wo die Ohrenschützer saßen. Eine Viertelsekunde später rissen ihm die beiden gefiderten Jäger die so wichtigen Hilfsmittel von den Ohren weg. Die plötzlich wieder auf ihn einströmenden Geräusche ließen Julius für einen Moment erstarren. Vor allem fürchtete er, dass die beiden ihn attackierenden Bussarde nun auf seine Augen oder freiliegende Hautpartien einhacken würden. Doch die beiden geflügelten Beutegreifer hatten sich mit ihren Trophäen zurückgezogen. Er konnte noch sehen, wie die Bussarde die von ihm weggerissenen Ohrenschützer mit ihren Krallen zerfetzten und die Fetzen zu Boden regnen ließen. Einer bösen Ahnung folgend sah Julius nach unten und erkannte, dass die nicht am direkten Angriff beteiligten Raben- und Singvögel gerade dabei waren, auf die Ohrenschützer der anderen einzuhacken oder sie wie bei ihm von den Ohren ihrer Träger wegzureißen. Julius erkannte, wie intelligent dieses grüne Ungeheuer war und wie gefährlich für seine Feinde.

"Avada Kedavra!" rief jemand. Julius vermutete Montrich, dessen Ohren von Schnabelhieben blutig geschlagen worden waren. Zwei andere riefen ebenfalls die sonst verbotenen Worte. Drei zeitversetzt losjagende grüne Blitze sirrten auf die grüne Riesenfrau zu. Einer davon erwischte einen Raben im Flug und brachte ihn zum Absturz, ohne ihm das Gefieder zu zerzausen. Die beiden anderen Todesflüche fanden das ausgewählte Ziel. Einer erwischte die grüne Gurgha an der linken Schulter. Der andere traf sie genau am Bauchnabel. Die Riesenfrau erzitterte unter den beiden mächtigen Zaubern. Würde sie jetzt tot umfallen? Eigentlich musste sie das, dachte Julius. Doch sie blieb stehen und beruhigte sich auch wieder. Julius hörte sie laut loslachen:

"Damit doch nicht, ihr Fliegenhirne!" spottete sie. Ihre stimme klang glockenhell und ebenso weit dröhnend, eigentlich eine sehr schöne Stimme, fand Julius. Dann hörte er in der Ferne das unverkennbare Knarzen von fallenden Bäumen. Er sah sich um und konnte zwei laublose Eichen sehen, die gerade wie von einer unbändigen Sturmböe getroffen fielen und dabei noch zwei kleine Fichten mit sich rissen. Wieder rief einer der Zauberer den Todesfluch. Doch damit schoss er nur einen Eichelhäher ab, der gerade auf ihn zuflog.

"Ist gut jetzt!" rief die grüne Riesin. Julius wunderte sich sichtlich, dass sie akzentfrei Französisch sprach. "Landet jetzt sofort, wenn ihr nicht von euren Flugbesen herunterfallen wollt!" Die konnte sogar ganze Sätze sprechen, staunte wohl nicht nur Julius.

"Ergib dich, grüne Riesenfrau!" wagte Montrich einen Vorstoß, der an Dreistigkeit nicht zu überbieten war. Gleichzeitig führte er gegen sich die Zauberstabgesten für den Aura-Calma-Zauber aus.

"Ich wollte eigentlich ganz ruhig meines Weges ziehen. Aber wenn ihr mir alle gehören wollt, auch der Bursche da über meinem Kopf, dann sage ich nicht nein."

"Rückzug auf B-Abstand!" rief Montrich.

"Wirst du wohl landen!" brüllte die Riesin, als die anderen sofort auf Abstand gingen, von den Waldvögeln umschwärmt. Dann umfloss sie alle wieder jenes hellgrüne Flimmern. Julius konnte nun sehen, dass die grüne Gurgha dabei konzentriert auf ihre Gegner blickte. Sollte er sie nun von oben angreifen? Aber womit? Sie war ein intelligentes, menschenähnliches Wesen. Selbst wenn er den Todesfluch richtig ausführen konnte, durfte er sie nicht töten.

Kaum war das grüne Flimmern erloschen begann die grüne Riesenfrau mit weit reichender und hörbar aus dem Wald zurückschallender Stimme zu singen. Julius dachte sofort wieder an das Lied des inneren Friedens. Die anderen versuchten, sich erneut mit dem Aura-Calma-Zauber zu schützen. Doch ihre Gesten wurden schlaff. "Laaandeet weeeiiich! Laaandet gleeeiiich!" hörten sie die Stimme der grünen Riesenfrau. Wieder und wieder sang sie diesen Befehl, wobei sie die Selbstlaute wie sanfte Wellen schwingen ließ. Julius fühlte den Druck auf seinen Kopf. Es war wirklich eine magische Stimme, wie bei Léto, wie bei den Meigas bei der Quidditchweltmeisterschaft. Mit zunehmender Beklemmung sah Julius, wie seine Kameraden der gesungenen Anweisung folgten. Die Vögel zogen sich zurück und landeten in den Baumwipfeln. Nur er widerstand der gesungenen Auforderung noch. "Leeegt aaalles aaab! Leeegt aaalles aaab!" sang die grüne Riesenfrau mit ihrer überirdisch rein und sphärisch klingenden stimme. Julius fühlte noch keinen Drang, dieser Anweisung zu folgen. Er hielt mit dem Lied des inneren Friedens dagegen und dankte seinem Lehrer Ashtarggayan, dass er ihm diesen rein geistigen Schutzzauber beigebracht hatte. Er sah, wie die Zauberer wie in hypnotischer Trance ihre Umhänge abstreiften, wie sie aus ihren Stiefeln stiegen. Er wusste, dass seine Kameraden bereits verloren waren. Sollten sie nicht sterben musste er jetzt was unternehmen. Aber was? Da sah ihn die grüne Gurgha von unten an. Aus vierzig Metern Entfernung wirkte ihr Gesicht wie das einer tannengrün angemalten Puppe mit goldenen Augen, golden wie die von Hallitti, dachte Julius. Sie sah ihn mit einem verbitterten Gesichtsausdruck an. Dann riss sie ihre rechte Hand hoch. Julius wich sofort aus, weil er mit einem Flammenstrahl, einem Blitz oder ähnlichem rechnete. Doch ihre Handbewegung galt den über ihm fliegenden Greifvögeln, die zusammen einen lauten Revierruf ausstießen. Für Julius klang dieser jedoch als Schlachtruf. Dann stießen sie herab, auf ein und dasselbe Ziel zu. Das Ziel hieß Julius Latierre.

ENDE

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