DAS BLAUE BUCH

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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Vorige Story

P R O L O G

Der selbsternannte, selbst vor seinen Untergebenen mit grüner Maske auftretende Nachfolger des gestürzten Lord Voldemort hatte es sich so einfach vorgestellt. Er hat genug von dem Unlichtkristall, der nur dort entsteht, wo viele hundert Menschen an einem Tag von anderen Menschen umgebracht wurden. Er hat sogar den Ort erfahren, wo der Geist des vorzeitlichen Großmeisters der dunklen Künste Iaxathan die Jahrtausende überdauert hat. Doch er kann nicht zu ihm vordringen, weil eine Barriere aus weißer Magie jeden zurückprellt, der von den dunklen Künsten besessen oder durchdrungen ist. Der Geist des Dunkelmagiers Iaxathan kann Vengor nur mit dem von ihm benutzten Unlichtkristall vereinigen. Dreizehn Mondwechsel bleiben ihm, alle seine Blutsverwandten zu töten. Nur dann kann er die Barriere vor der Nimmertagshöhle durchbrechen. Schafft er es nicht, soll er mit dem in ihm steckenden Unlichtkristall zu einem Standbild seiner Selbst erstarren. Seine Zeit ist also knapp. Hoffnungen setzt er in eine Verborgene Bibliothek, von der einer seiner Handlanger Kenntnis besitzt.

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In seinem gefangenen Geist stritten Enttäuschung und Erheiterung um die Vormacht. Sein erwählter Knecht hatte es nicht geschafft, zu ihm vorzudringen. Jener, der ein Erbe der alten verhassten Lichtfolger war, hatte bei seiner Flucht aus der Nimmertagshöhle eine Barriere des vereinenden Lebens errichtet. Durch diese konnte nur durch, wer ohne vom Dunklen Atem berührt zu sein in den Berg hinein wollte. Sein Auserwählter, der als Bote der alles endenden Finsternis den Rang des in Ungnade gefallenen Bodenbereiters einnehmen sollte, war schon zu tief in die Gefilde der alles endenden Finsternis vorgedrungen, um unbeschadet den unsichtbaren Wall zu durchschreiten. Er, der letzte große Diener der alles endenden Finsternis, der von seinen Untergebenen auch als Kaiser der Nacht bezeichnet worden war, hatte seinem erwählten Getreuen nur dadurch helfen können, indem er ihm den als Kraft- und Verständigungsverstärker mitgeführten Kristall aus den Todesqualen von über dreitausend Menschen direkt in den Leib getrieben hatte, als dieser vom unsichtbaren Wall der vereinenden Leben zurückgeworfen wurde. Dadurch war ihm der Knecht so gut wie sicher. Nur die uralten Hochgesänge der Lichtfolger könnten ihm diesen arglosen Eiferer noch entreißen. Doch das durfte er dem Erwählten nicht sagen. Denn sollte dieser erkennen, dass er nur dadurch sein armseliges Leben über die Frist von dreizehn Mondwechseln hinaus erhalten konnte, wenn ihn einer dieser Lichtfolger lossprach, würde für ihn, Iaxathan, wieder eine unerträglich lange Zeit verstreichen, bis einer dem Irrglauben erlag, in die Nimmertagshöhle eindringen zu müssen, um alles Wissen und Können des eingekerkerten Großmeisters dunkler Kräfte zu erlangen, um als sein lebender Alleinerbe die Welt unterwerfen zu können. Doch Unterwerfung alleine war schon lange nicht mehr das Ziel des Eingekerkerten. Ihm ging es um die Überführung allen Lebens in die ewige Dunkelheit, aus der heraus die Welt einst geboren wurde.

"Na, ist dein kleiner Handlanger nicht zu dir hingekommen, Möchtegerndämon?" erscholl eine rein geistig schwingende Frauenstimme aus der Unendlichkeit von Zeit und Raum heraus. Iaxathan hatte seinen Unmut über den Gescheiterten Zutrittsversuch seines Knechtes wohlweißlich im Inneren seines Geistes verborgen. Woher wusste diese in seinem Stein der Macht über die Nachtkinder eingenistete Hure das, dass sein Knecht noch nicht ganz in seinem Dienst stand?

"Ich habe meinem Auserwählten befohlen, erst einmal zu beweisen, dass er wahrlich nur mir und meinem Werk verbunden ist. Erst dann werde ich ihn zu mir vorlassen", log Iaxathan. Doch die im Mitternachtsdiamanten verankerte Vielhundertseele der ehemaligen Nocturnia-Begründerin Lady Nyx alias Griselda Hollingsworth alias Elvira Vierbein, alias Blutmondkönigin Lamia vermochte zu Iaxathans Verdruss, die bitteren Unterschwingungen seiner Enttäuschung zu erspüren. Denn ein lauthalses, über alle maßen Schadenfrohes Lachen erfüllte seinen Geist.

"Mit anderen Worten, er muss erst eine Barriere beseitigen, die jemand zwischen ihm und deiner kleinen Schlummerhöhle hingepflanzt hat", lachte die durch hunderte von ihren Zöglingen potenzierte Seele der Vampirkönigin. "Du konntest ihm nicht helfen, zu dir hinzutreten, weil dein netter Nachtschatten nicht mehr da war, um ihm dem Hinterausgang zu zeigen."

"Du schweig still, niedere Fleischesmagd!!" Stieß Iaxathan eine wütende Gedankenantwort aus. "Er soll mir nur beweisen, dass er mir mit seinem äußeren und inneren Selbst dienen will, auf Leben oder Tod."

"Denkst du, ich hätte die heftige Erschütterung nicht mitbekommen, als dein armseliger Anbeter gegen eine widerlich starke Barriere aus heller Magie geprallt ist. Ich habe euer beider Schrei gehört, auch wenn du sofort versucht hast, dich mir gegenüber abzuschotten, Nachttopfthroner. Ich werde bald soweit sein, ihn dir abzujagen, ihn unter meinen Befehl zu stellen oder zu töten. Du hast kein Recht, diese schöne Welt kaputtzumachen, Fürstchen der alles fressenden Finsternis."

"Du wagst es, mich zu verspotten, du die du mein Geschöpf bist und in meinem Stein der Unterwerfung eingesperrt bist wie ein ungeborenes Balg im Schoß seiner verstorbenen Mutter?. Dein Ende naht eher als du meine Pläne zu Schanden machen kannst", entgegnete Iaxathan. Die im Mitternachtsdiamanten gefangene Vampirseele ließ Wellen der Erheiterung durch das Raum-Zeit-Gefüge eilen. Dann formulierte sie eine Gedankenantwort: "Deine Versuche, den nun in mir aufgegangenen Wächter freizusprechen und den Stein mit mir zerstören zu können haben doch nichts gebracht. Ohne einen dir treuergebenen Knecht hast du keine Möglichkeit, irgendwas auf dieser von schönen, dunklen Nächten immer wieder zugedeckten Welt anzurichten. Aber ich werde bald meine eigene kleine Truppe haben, und wenn die weiß, wo dein verrußter Spiegel steht, werden sie ihn holen und irgendwo hinbringen, wo kein lebendes Wesen ihn je erreichen kann."

"Die Nimmertagshöhle wird jedes Wesens Grab, das nicht in meinen Dienst tritt", schickte Iaxathan zurück. Darauf erscholl nur höhnisches Gelächter, dass sich in den Tiefen der Dimensionen verlor wie ein immer wieder hallendes und dabei schwächer werdendes Echo in den Bergen. Iaxathan war alleine, wieder einmal, und er wusste nicht, ob dies nicht für alle Zeiten so bleiben würde.

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Es war mal wieder Halloween gewesen, zum dritten Mal in seinem zweiten Leben. Jetzt, wo er schon ohne Hilfe laufen, ja auch schon hüpfen und springen konnte, empfand er es als immer schwieriger, anderen das unbedarfte Kleinkind vorspielen zu müssen. Manchmal wünschte er sich, er habe alles aus seinem früheren Leben vergessen oder würde sich erst wieder daran erinnern, wenn er alt genug war und damit frei und unverdächtig umgehen konnte. Andererseits musste er froh sein, sich noch an alles zu erinnern, was ein gewisser Lucas Wishbone erlebt hatte. Außerdem hatte er für sich eine Aufgabe gefunden, von der seine Mutter erst einmal nichts wissen durfte. Er wollte herausfinden, was es mit Daianira Hemlocks Tochter und Enkeltochter auf sich hatte. Doch das würde ihm wohl erst gelingen, wenn er alt genug für Thorntails war.

Zu den angenehmeren Dingen seines zweiten Lebens gehörte es, dass Tracy Summerhill, seine zweite Mutter, ihn zwischendurch noch säugte, obwohl er bereits alle Milchzähne besaß und wo er konnte schon abwechslungsreiches Essen zu sich nehmen konnte. Doch irgendwie hatte seine neue Mutter es nicht wirklich darauf angelegt, ihn zu entwöhnen. Beide wussten, dass er schon feste Nahrung zu sich nehmen konnte. Doch beide genossen diese Stunden intimen Zusammenseins, wenn sie schon nicht miteinander schlafen konnten, wie er es in seinem ersten Leben gerne getan hatte, bis man ihm die Bürde des Zaubereiministeramtes auf die Schultern geladen hatte und eine Geliebte, die zugleich seine Tante mütterlicherseits war, nicht in das Gefüge von ministeriellem Anstand gepasst hatte. Insofern musste er am Ende dieser widerlichen Wiederkehrerin Anthelia noch danken, dass sie ihn aus diesem Gesellschaftskorsett herausgerissen und der Gnade seiner Geliebten überlassen hatte.

"Trinkst du den NLT, dass du immer noch so viel hast, Mom?" fragte Tony Summerhill, als er am Tag nach Halloween eine herrliche Stunde an den Brüsten seiner zweiten Mutter genossen hatte.

"Solange ich dich immer wieder daranlasse habe ich ganz ohne den Trank genug, um dich zumindest ruhig zu halten, wenn du schon nicht wirklich satt davon wirst. Außer, dass ich immer viel trinken und mineralhaltiges Zeug essen muss macht mir das nichts aus. Ist auch schön, wenn du mir beim Abspecken hilfst", sagte Tracy Summerhill. Auch sie empfand es als erhaben, ihren ehemaligen Geliebten als leiblichen Sohn bekommen zu haben und so lange sie konnte in ihrer Nähe zu halten. "Aber wenn du vier bist wirst du mir wohl zu schwer, und ich werde dann wohl besser damit aufhören, bevor noch wer meint, ich gönnte dir nichts für große Kinder", grinste sie.

"Das ist eines der wenigen Sachen, warum ich meinen Entschluss nicht bereue", sagte Anthony Summerhill mit seiner glockenhellen Stimme. Dann rutschte er vom Schoß seiner Mutter herunter.

"Die kleine Whitney mag dich offenbar sehr", schnitt Tracy Summerhill ein anderes Thema an. Tony grummelte. Dieses gerade drei Jahre alte Hexengör war ihm bei Halloween dauernd hinterhergelaufen und hatte versucht, ihm einen schon angeleckten Dauerlutscher in den Mund zu schieben. Da hatte er nichts anderes tun können, als den kleinen blauen Schnuller in den Mund zu stecken, den er immer noch um den Hals trug. Das hatte dieses schwarzgelockte kleine Monster zum lachen gebracht. Ihm war das in dem Moment erst einmal egal gewesen. Hauptsache, diese Achtelhexe hatte ihn mit ihrem angesabberten Himbeerlutscher in Ruhe gelassen.

"Ich weiß nicht, was die an mir findet, wenn ich das bei einer normalen Dreijährigen überhaupt unterstellen kann", schnarrte Tony Summerhill. "Vielleicht hat deren Mom die auf mich angesetzt, weil ich ja nach außen Luke Wishbones einziger Sohn bin.

"Nein, ich weiß, was die an dir findet, dein schönes blondes Haar. Das haben die in ihrer Familie nicht", sagte Tracy.

"Dann hätte Whitneys Uroma nicht diesen Halbindianer heiraten sollen", grummelte Tony. "Ein schwedischer Zauberer hätte ihr sicher schöne blonde Kinder in den Bauch gelegt."

"Na ja, Whitney wird ja ein Jahr vor dir nach Thorntails reinkommen. Da wird sie dann wohl genug andere blonde Jungen treffen. Abgesehen davon wäre sie nicht die schlechteste Partie", erwiderte Tracy mit hintergründigem Lächeln. "Auch wenn ich vielleicht ziemlich eifersüchtig werden könnte."

"Ich glaube, das mit den Mädchen vergesse ich bis Thorntails ganz. So wie mit dir wird's eh nicht mehr sein."

"Na ja, aber so wie damals können wir es auch nicht mehr haben", seufzte Tracy. Doch dann lächelte sie. "Wenn du wieder groß genug bist kommst du schon darauf, die richtige zu finden, auch wenn mich das vielleicht eifersüchtig macht." Darauf wollte Anthony Summerhill genannt Tony nichts antworten. Er bat um die Erlaubnis, in sein Zimmer zu gehen und dort noch in einem "Bilderbuch" zu blättern. Tracy erlaubte ihm das.

Wenn er für sich war konnte Tony sogar in alten Zeitungen lesen, die seine Mutter eigentlich zu hoch für ihn auf einen Schrank gestapelt hatte. Doch Tony hatte es auch ohne Zauberei hinbekommen, einen Stuhl an den Schrank zu stellen, hochzuklettern und sich eine Ausgabe des Kristallherolds herunterzupflücken. Die Stimme des Westwindes verweigerte er, seitdem ein ehemaliger My-Truppler, der meinte, bei Cartridge schönes Wetter machen zu müssen, um nicht in Doomcastle zu enden, einige Details aus der Ära Wishbone verraten hatte, die den offiziell toten Ex-Zaubereiminister in der Erinnerung der amerikanischen Hexen und Zauberer noch schlechter wegkommen ließ, als seine Berufsverbotskampagne gegen Hexen und die totale Abschottung von Reisewegen und Handelsbeziehungen es schon getan hatte. Am Ende hatte noch wer mitbekommen, dass er gegen Anthelia oder die Entomanthropenkönigin den Finalen Fluch angeordnet hatte, bei dem sieben unschuldige Mädchen und ebenso viele Jungen ihr Leben hatten lassen müssen. Spätestens dann würde ein großer Aufruhr durch das Land gehen, was für einen Schwerverbrecher sie einmal zum Zaubereiminister gewählt hatten und ob der Sohn dieses Kriminellen nicht eines Tages selbst den dunklen Künsten verfallen würde, noch dazu, wo er der Sohn seiner Großtante war. Ob sie ihn dann in Thorntails unbehelligt ließen war dann fraglich.

Als Tony Summerhill las, dass Minister Cartridge verkündet hatte, dass er nach der Kriegstreiberei des amtierenden US-Präsidenten jeden Kontakt mit diesem abgebrochen und ihm sogar per Gedächtniszauber eingegeben hatte, es gebe keine magische Welt, musste Tony lachen. "Der hätte diesem von Rauschmitteln zerfressenem Gehirn gleich eingeben sollen, noch mal neu zu leben anzufangen und ihn als Wickelkind vor einer Muggelklinik ablegen sollen, wenn er schon nicht will, dass die Staaten sich gegen Terroristen wehren." Doch das würde ein Minister Cartridge nie tun. Er fragte sich aber, ob er jemals einen US-Präsidenten mit magischer Gewalt davon abgehalten hätte, einen Krieg mit der halben Welt anzufangen. Vielleicht, weil er ja wusste, dass die USA über diese Supersprengbomben verfügten, die zu allem Verdruss noch diese tödliche Strahlung in die Luft schleuderten. Zu seinem und aller Menschen Glück war er nie vor diese heftige Entscheidung gestellt worden. Mit einem gewissen Widerwillen musste er aber einräumen, dass die Wiederkehrerin es nicht zugelassen hätte, dass ein wirrköpfiger Politiker die ganze Menschheit und alles Leben auf der Erde vernichtet hätte. Doch die fühlte sich ja auch an kein einziges Zaubereigesetz gebunden. Immerhin galt sie seit dieser Sache im Mai nicht mehr als heimliche Verbündete der Zaubereiminister.

"Tony, Essen ist fertig!" trällerte Tracy Summerhill durch das Haus. Tony rief zurück, dass er käme. Er schob die gerade gelesene Zeitung unter den buntbemalten Kleiderschrank. Vielleicht würde er nachher noch mal aus seinem Kinderbett klettern und den Artikel über die Latierre-Kuh-Herde in Viento del Sol nachlesen. Seitdem die französische Tierwesenbüroleiterin an den ihr gehörigen Überrindern Dexters Cogison getestet hatte trug die Leitkuh der kleinen Herde in VDS auch so ein Ding, um zu prüfen, inwieweit diese Züchtungen eine gewisse Intelligenz besaßen.

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Wenn er in die bleichen Schlangenkopfgesichter seiner Untergebenen sah konnte er nicht erkennen, wie sie fühlten und dachten. Außer dem bereits verstorbenen Jungspund Calligula Scorpaenidus verstanden sich alle seine verbliebenen Getreuen darauf, ihre Gedanken und Gefühle zu verhüllen. Doch das würde nicht mehr lange so bleiben, war sich der Zauberer sicher, der als einziger der nur noch sechzehn Zauberer eine grüne Maske trug.

"Meine Bitte wurde erhört. Der in seiner Überdauerungsstatt wachende Geist des größten Meisters aller dunklen Künste hat mich zu sich vorgelassen, und er hat mir eine große Gnade erwiesen", setzte Vengor mit einer Rede an. "Er hat mich mit dem von mir gefundenen Unlichtkristall vereint, auf dass dieser und ich nun eins und unbezwingbar stark sind. Und er hat mir verheißen, dass jeder, der bereit ist, den Staub aus Unlichtkristall in sich aufzunehmen, ebenfalls stärker wird als vorher. Er hat mir einen Auftrag erteilt. Er sagte mir: "Schicke die, die dir Gehorsam geloben und deinen Befehlen folgen aus in die Welt, nach Hinterlassenschaften alten Wissens zu suchen! Wenn sie dir auf Treu und Leben gehorsam geloben, so bringe ihnen von den erhabenen Kristallen des vorzeitigen Todes in die Körper und erhöhe damit ihre eigene Kraft und Beständigkeit!" So spricht mein neuer Verbündeter, der große Meister aller dunklen Magier der Vorzeit." Vengor hatte bewusst sehr entschlossen geklungen. Besonders den Teil, wo er seinen Leuten angekündigt hatte, ihnen zerstäubte Unlichtkristalle in die Körper treiben zu sollen, hatte er mit besonderer Willenskraft erwähnt. Denn diese Prozedur hatte auch gewöhnungsbedürftige bis unangenehme Nebenwirkungen. Er selbst trug den aus den Trümmern des Welthandelszentrums geborgenen Kristall in fester Form im Körper und konnte damit um ein vielfaches stärkere dunkle Zauber ausführen. Wie aber würde sich das bei seinen Leuten auswirken, denen kein hilfreicher Iaxathan mal eben einen Kristall passgerecht in den Körper pflanzen konnte?

"Wir sollen zu Staub zermalene Unlichtkristalle in uns reinschlucken?" fragte einer von Vengors Gehilfen, der nach der drastischen Verringerung der einst dreißig Vergeltungswächter nun als Nummer fünf angesprochen wurde.

"So ist es, Nummer fünf", bestätigte Vengor. "Und du und alle anderen könnt ganz unbesorgt sein. Denn ich trage meinen Unlichtkristall nun schon seit drei Tagen im Körper, und er hat mich nur stärker gemacht." Mit diesen Worten zeigte Vengor seine leeren Hände vor. Dann zog er seinen Zauberstab und ließ ihn schnell durch die Luft peitschen. Ein Stück wand erzitterte und versank dann leise grollend im Boden. Hinter der Wand lag ein fensterloser Raum, etwa zwanzig mal zwanzig Meter groß. Darin saßen zwanzig Menner und Frauen gefesselt auf Stühlen und starrten ins Leere. "Überzeugt euch, dass dies echte Menschen sind!" trieb er seine Leute an. Diese prüften mit Zaubern wie Homenum Revelio oder dem Lebensquellenfinder, ob die zwanzig Gefangenen lebende Menschen oder magicomechanische Puppen waren. Als um die Gefangenen grüne, pulsierende Strahlenkränze aufleuchteten hatten die Vergeltungswächter die Bestätigung. Die Gefangenen waren echte Menschen.

"Ihr bräuchtet also zwanzig Todesflüche, um die da drinnen alle umzubringen", setzte Vengor an. "Sicher, ihr seid fünfzehn. Wenn jeder sich ein Ziel sucht wären diese armseligen Muggel da in nur zwei Ansetzen aus der Welt geschafft. Wie gesagt, ihr seid fünfzehn Leute. Das sind zwar eindeutig zu wenige für die mir vorschwebende Streitmacht der Vergeltung, aber immerhin könntet ihr zusammen diese Leute da mal eben erledigen. Tretet bei Seite und lernt die Macht der Unlichtkristalle kennen!"

Die fünfzehn verbliebenen Vergeltungswächter gehorchten ihrem Meister mit der grünen Maske. Sie zogen sich auf ihre Warteplätze zurück. Vengor erhob sich und schritt bedächtig nach vorne. Auch wenn die Maske seine Miene verhüllte und auch die echte Farbe seiner Augen überdeckte konnten die anderen Maskenträger deutlich sehen, wie sehr ihr Herr und Meister diesen Augenblick auskostete und wie sehr ihm danach war, seine Macht zu beweisen. Vengor nahm in der Mitte des Raumes aufstellung. Fast schon feierlich erhob er seinen Zauberstab und zielte auf die linke Hälfte des verborgenen Verlieses. Die dort untergebrachten Gefangenen blickten ihn wie weltentrückt an. Es sah so aus, als erlebten sie das alles hier wie einen Traum.

"Avada Kedavra!" Rief Vengor mit ganzer Entschlossenheit. Laut brausend strahlte ein gleißender, blassgrüner Blitz von seinem Zauberstab aus und schien auf der Rückwand des kleinen Verlieses wider. Noch ehe das urwelthafte Brausen verhallt war, sanken die zehn Gefangenen, die auf der linken Seite des Kerkers saßen, in ihre Fesseln hinein. Ihre Köpfe pendelten kraftlos nach vorne und hinten. Dann zielte Vengor auf die rechte Hälfte des Verlieses und rief abermals "Avada Kedavra!" Wieder schlug ein ungestümer blassgrüner Blitz durch den Raum und in den Kerker hinein. Als er erlosch waren auch alle Leben der von ihm erhellten Gefangenen erloschen. Vengor blickte prüfend in den Kerker hinein. Dann sah er seine Getreuen an.

"Das hat nicht einmal der dunkle Lord geschafft, mit zwei tödlichen Flüchen zwanzig miese Muggel auszuradieren", schnarrte Vengor gefährlich leise. "Der Kristall in meinem Körper gibt mir die Macht, mit einem Fluch bis zu zehn Feinde niederzumähen. Ich bin bereit, euch auch von dieser herrlichen Macht kosten zu lassen. Lasst euch von mir Staub aus Unlichtkristall in eure Adern treiben, auf dass ihr ebenfalls große Stärke erlangen könnt."

"Und was ist, wenn wir nicht wollen, dass was von diesem Zeug in uns drinsteckt? Nachher vergiftet es uns langsam", wagte Nummer vier einen Widerspruch.

"Dann erkläre ich dich und jeden anderen der so denkt wie du zu einem Verräter und Todfeind. Was mit solchen passiert wisst ihr ja alle von Nummer zwanzig und der ersten Nummer fünf", erwiderte Vengor. "Das wollen wir doch mal sehen", schnarrte Nummer vier und riss den Zauberstab hoch. "Avada Kedavra!" rief er, mit dem Stab auf seinen Meister zielend. Ein gleißender grüner Blitz sirrte heraus und traf Vengors Körper. Einen Lidschlag lang sahen alle eine völlig lichtschluckende Aura um Vengors Körper, die seine Konturen regelrecht verschluckte. Dann brach Nummer Vier zusammen, ohne einen Laut auszustoßen. Vengors Körper wurde ebenso schnell wieder sichtbar, wie er von der unheimlichen Aura verhüllt worden war. Nummer Vier lag mit dem Gesicht nach unten. Mit der weißen Schlangenkopfmaske, die nicht nur das Gesicht, sondern den ganzen Kopf bedeckte sah er wie eine tote Schlange aus. Vengor wandte sich ihm zu und stieß ein verächtliches Schnauben aus. "Er wollte es wissen. Jetzt weiß er es und auch ihr anderen. Der Kristall in meinem Körper macht mich für alle tödlichen Angriffe unerreichbar. Ja, der Todesfluch eines anderen, der nicht den Hauch eines Unlichtkristalles am oder im Körper trägt, tötet ihn selbst und führt seine Lebenskraft dem in mir verborgenen Kristall zu, der mein zweites Herz geworden ist und mein Fleisch und Blut vor allem Übel schützt. Auch ihr könnt gegen alle feindlichen Angriffe geschützt werden, wenn ihr meinem Befehl folgt und euch den Staub der Unlichtkristalle in eure Körper treiben lasst."

Die nun noch vierzehn Vergeltungswächter blickten einander an. Diesen Augenblick nutzte Vengor, um die Leiche des aufsässigen Gefolgsmannes mit einer schnellen Zauberstabbewegung einschrumpfen zu lassen. Mit einem leisen Plopp verschwand der Tote restlos.

"Ich werde gehorchen", machte die neue Nummer eins aus der kleinen Restmannschaft Vengors den Anfang. Lord Vengor nickte ihm zu. Dann deutete er auf einen Stuhl, der im Schatten einer unbeleuchteten Ecke des Raumes stand. Nummer drei bat vor seiner Entscheidung noch darum, zu prüfen, ob die Gefangenen wirklich alle tot waren. Vengor genehmigte das.

Als feststand, dass Vengors zwei überstarke Todesflüche tatsächlich zwanzig Muggel dahingerafft hatten, ließ sich Nummer eins als erster behandeln. Vengor streifte ihm den Ärmel des dunklen Umhangs nach oben. Dann holte er aus einem nur durch seine Hand berührbaren Schrank mehrere kleine Phiolen und etwas, das einer Spritze aus der Muggelwelt ähnelte. Aus einer der Phiolen füllte er ein vollständig schwarzes Pulver ein. Dann steckte er eine silberne Hohlnadel auf die gläserne Einspritzvorrichtung und näherte sich dem Getreuen auf dem Stuhl. Als habe Vengor sein Leben lang mit solchen Instrumenten Hantiert platzierte er ohne große Suche einen Einstich in die Armbeuge des Gefolgsmannes. Dann zog er den Kolben der Spritze behutsam heraus bis zum Anschlag. Er wartete fünf Sekunden. Alle sahen, wie sich der Glaszylinder der Spritze mit dem Blut des Vergeltungswächters vollsog. Das schwarze Pulver löste sich sofort darin auf, färbte die scharlachrote Flüssigkeit dunkelrot. Dann pumpte Vengor das aus der Armvene gesaugte Blut in den Körper seines Besitzers zurück. Dieser erstarrte. Seine Augen hinter den roten Sichtlinsen flatterten. Dann zuckte der Vergeltungswächter zusammen. Vengor hatte gerade noch die silberne Einspritznadel aus dem Arm ziehen können, da bäumte sich Nummer eins auf. Er stieß einen lauten Schmerzensschrei aus. Alle sahen, wie sich der mit dem dunklen Blutgemisch versehene Arm dunkel färbte. Nummer eins schlug um sich. Dann sackte er zu Boden und blieb bebend liegen. Sein angestrengtes Keuchen und Stöhnen waren die einzigen Laute, die er hervorbringen konnte. Eine Minute lang lag er so handlungsunfähig, ja sichtlich gepeinigt am Boden. Dann verflog alle Anstrengung und aller Schmerz. Auch die Verdunkelung des Armes verschwand. Der Vergeltungswächter erholte sich von der Behandlung. Er stand ohne Schwindel- oder Schwächeanzeichen auf und winkte seinen Mitverschwörern. "Mann tat das weh. Ich dachte, mir hätte wer flüssiges Eis in den Körper gejagt, das mich von innen her gefrieren lassen wollte", sagte der gerade mit Dunkelkristallstaub geimpfte Vergeltungswächter. Seine noch unbehandelten Kameraden starrten ihn argwöhnisch bis interessiert an. Vengor sah auf seinen Gefolgsmann und nickte ihm dann zu.

"Niemand wird ohne Wehen geboren, hat meine vorausgegangene Großmutter gesagt. Und du wurdest gerade wiedergeboren, als Träger der dunklen Macht, Nummer eins."

"Ich fühle mich irgendwie leichter und stärker. Aber ich habe auch Hunger!" sagte Nummer eins, der mit dem Ausgang seiner Behandlung offenbar zufrieden war. Damit war das Eis gebrochen.

Als nächster unterzog sich Vengors Gefolgsmann Nummer zwei der obskuren Behandlung. Wie sein Kamerad vorher durchlief er eine Minute lang eine Phase großer Schmerzen und Schwäche. Dann jedoch stand er auf, als sei er nach langem und erquicklichem Schlaf erwacht. Nun folgte Nummer drei, der in seinem sonstigen Leben Corvinus Flint hieß und als einer der wenigen lebend und unbehelligt nach der Schlacht von Hogwarts entkommen war. Doch außer ihm wusste das nur Lord Vengor, dass er sich hinter der weißen Schlangenkopfmaske verbarg. Als auch Nummer drei seine Dosis Unlichtkristallstaub in den Adern hatte folgte Nummer vier, der vor wenigen Minuten noch Nummer fünf gewesen war, aber durch den unnötigen Widerstand seines Kameraden dessen Rangstufe erreicht hatte.

Die fragwürdige Prozedur ging weiter. Die bereits geimpften stellten fest, dass die Einstichwunden gleich nach ihrer schmerzhaften Umwandlung rückstandslos verheilt waren. Allerdings kam zu dem Gefühl der großen Stärke nun ein immer stärkeres Hungergefühl auf. Als Nummer dreizehn einmal die Hand von Nummer zwei berührte schauderte er. Nummer zwei schien überhaupt keine Wärme mehr im Körper zu haben. Zwar war seine Hand nicht eiskalt, aber eben nicht mehr handwarm. Doch bevor sich Nummer dreizehn darüber Gedanken machen konnte kam die Reihe an ihn. Er wusste, dass jeder Widerstand tödlich sein würde. So überließ er sich auch jener anrüchigen Behandlung.

Nachdem alle verbliebenen Vergeltungswächter je eine Viertelunze des Kristallpulvers in ihre Blutbahn gespritzt bekommen hatten, vollführte Vengor mit seinem Zauberstab zwei Gesten, eine gegen seinen Brustkorb und eine gegen die im kreis um ihn stehenden Vergeltungswächter. "Iashari avurash okurishu!" rief er laut aus, wobei er den Zauberstab genau senkrecht nach oben hielt. Nach seinem letzten Wort schoss völlig geräuschlos ein pechschwarzer Dampfstrahl aus dem Zauberstab heraus und formte eine Wolke, die erst zur Decke aufstieg und dann auf Vengor und alle Vergeltungswächter herabsank. Als die unheimliche Wolke sie alle vollständig einhüllte meinten alle, in ihren Körpern etwas summen und singen zu hören. Sie erstarrten. Dann sprach Vengor mit einer wie aus einer anderen Welt zu ihnen vordringenden Stimme: "Mit diesem Bund des Kristalls des vorzeitigen Todes seid ihr alle mir nun über den Tod hinaus zu Gehorsam und Aufrichtigkeit verpflichtet. Wer dagegen verstößt oder sich in eine Lage bringen lässt, aus der er nicht mehr entrinnen kann, der sei der ewige Gefangene des Unlichts! Schwört mir nun alle Gefolgschaft über den Tod hinaus!" Die in der dunklen Wolke stehenden und den eiskalten Dunst ein- und ausatmenden Vergeltungswächter schworen gemeinsam den Gehorsam. Zu den bereits durch das unsichtbare Brandzeichen eingeprägten Verratsunterdrückungszaubern war nun noch ein Zauber gekommen, der jeden Versuch eines Verrates oder Widerstandes auf der Stelle bestrafte. Als alle geschworen hatten beschwor Vengor mit einer zweiten, den anderen fremdartig klingenden Zauberformel die dunkle Wolke in seinen Zauberstab zurück. Der Bund war besiegelt. Alle waren nun wie unter dem unbrechbaren Eid dazu gezwungen, nur noch Vengor zu dienen.

"Nun lasst uns etwas essen", sagte Vengor mit einer nicht zu diesem Ort und zu dieser Versammlung passenden Freundlichkeit. Die Männer folgten ihrem Herren und Meister in einen zweiten verborgenen Raum, in dem bereits eine Tafel mit Terinen und Schüsseln bereitstand. Als die Männer aßen stellten sie fest, dass ihnen das Essen offenbar nicht mehr bekam. Was sie an Fleisch und Gemüse zu sich nahmen lag ihnen bereits nach den ersten Bissen wie Steine im Magen. Nur Lord Vengor schien davon nicht beeindruckt zu sein. Als die vierzehn verbliebenen jedoch spürbar damit kämpften, noch einen Bissen zu essen, nickte Vengor. Dann klatschte er in die Hände. Die auf dem Tisch stehenden Terinen und Platten verschwanden, um keine fünf Sekunden später durch neues Geschirr mit neuen Speisen ersetzt zu werden. "Versucht diese Speisen, meine werten Wächter der Vergeltung!" schlug Vengor mit einem schon an Verschmitztheit grenzendem Unterton vor. Die vierzehn murrten. Dann probierten sie das neue Essen, und siehe da, der Appetit kehrte zurück. Die Vergeltungswächter langten ordentlich zu, bis die sich zwischendurch nachfüllenden Schüsseln und Platten zum dritten mal leergeräumt waren. Dann klatschte Vengor wieder in die Hände. Teller, Schüsseln, Terinen und Besteck verschwanden übergangslos vom Tisch und aus den Händen der Vergeltungswächter. Nur die silbernen Trinkkelche und die auf der Tafel stehende Karaffe mit Elfenwein blieben.

"Ich habe euch einem Test unterzogen, um zu ergründen, ob ihr ähnlich verändert seid wie ich. Als mir der große Meister der alten Zeiten meinen Unlichtkristall in den Leib pflanzte fand ich heraus, dass ich weder Tier noch Pflanze essen konnte, welche länger als einen Tag, besser eine Nacht, tot waren. Ich hungerte zwei volle Tage, bis ich auf einem Bauernhof ein Huhn stahl und schlachtete. Sein Fleisch konnte ich ohne Beschwernisse essen. Auch konnte ich frischgepflückte Früchte oder Gemüseteile essen. Deshalb weiß ich jetzt, dass nur ganz frisch für mich gestorbene Tiere und Pflanzen meinen Hunger stillen können. Alles andere ist unbekömmlich."

"Was hielt euch davon ab, uns das vorher zu sagen?" murrte Nummer acht. Vengor winkte ab und erklärte, dass dieser Umstand nur eine vernachlässigbare Nebenwirkung sei. Dass sie jetzt alle quasi unverwundbar und wesentlich ausdauernder waren rechtfertigte diese winzige Unannehmlichkeit. Das schienen die anderen nicht so zu sehen. Sie murrten, ja lehnten sich regelrecht auf. Erst als Vengor befahl, dass alle wieder friedlich auf ihren Stühlen sitzen sollten, erstarb der Aufruhr. "Ja, eure Selbstbeherrschung könnte unter dem Einfluss des Kristallstaubs ein wenig gelitten haben", meinte Vengor, als habe er nur ein erwartetes Ergebnis erhalten. "Ihr müsst euch mehr anstrengen, euch nicht von euren Gefühlen überwältigen zu lassen. Der Staub in eurem Blut giert nach neuem Leben, Leben, dass ihr ihm durch eure Taten zuführen müsst. Deshalb ist die Selbstbeherrschung wohl etwas eingeschränkt." Wieder muckten alle auf. Diesmal jedoch hielt die Auflehnung nur eine Viertelminute an. Als Vengor seinen Zauberstab ergriff erstarrten alle. "Ich habe euch das nun zweimal durchgehen lassen, um euch zu zeigen, wie anfällig ihr für eure eigenen Gefühle geworden seid. Lernt es nun, euch dagegen zu wehren!" schnarrte Vengor. Die anderen nickten schwerfällig. Dann deutete Vengor auf einen kleinen Schrank. "Ach ja, sicher ist euch noch nicht aufgefallen, dass der Kristallstaub in euch eure ganze Körperwärme verschluckt hat. Da ihr nun mit ihm verbunden seid sterbt ihr nicht an Unterkühlung oder Überhitzung. Doch wenn ihr mal wem die Hand reichen wollt könnte es demjenigen Auffallen, dass ihr keine eigene Körperwärme mehr besitzt. Deshalb schenke ich euch diese hauchdünnen, fleischfarbenen Handschuhe. Sie sind mit einem Warmhaltezauber belegt, der euren Händedruck für alle, die meinen, euch die Hand geben zu müssen, wie der Händedruck eines gutdurchbluteten Menschen erscheinen lässt." Die Vergeltungswächter verteilten die wirklich hauchdünnen Handschuhe, die wie angegossen passten. "Und jetzt kehrt zurück in eure bisherigen Leben, sofern ihr nicht vor irgendwelchen Weltverbesserern auf der Flucht seid!" schnarrte Vengor. Denn ihm hatte diese Sitzung bereits zu lange gedauert. Eigentlich hatte er damit gerechnet, die Präparierung seiner Leute in der halben Zeit durchzuführen. Doch die Verabreichung des Kristallstaubs hatte länger gedauert. Als dann alle verbliebenen Vergeltungswächter verschwunden waren atmete Vengor auf. Jetzt hatte er zeit, seinen wahren Auftrag anzugehen, die Suche und Tötung jedes Blutsverwandten. Er wusste, dass er nur dreizehn Mondwechsel Zeit hatte. Schaffte er es bis dahin nicht, alle seine näheren und ferneren Blutsverwandten zu töten, würde er für seinen Wunsch nach mehr Macht einen grausamen Preis zu zahlen haben. Also ging er daran, die bereits beschafften Ahnentafeln und Stammbäume zu sichten, wer in diesem Monat zu welcher Mondphase geboren worden war. Denn nur in der betreffenden Mondphase durfte er den betreffenden Blutsverwandten töten. Wie viele es für November waren musste er heute noch ermitteln. Denn verpasste er einen, so scheiterte er. Scheitern war jedoch ein Wort, dass er nicht einmal in Gedanken aussprechen wollte.

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Der Herbst zeigte sich von seiner unangenehmen Seite. Seit zwei Tagen hörte Tony Summerhill nichts als Regen. Egal aus welchem Fenster er hinaussah, nur grauer Himmel und ein Vorhang aus Wassertropfen. Seine Mutter hatte bereits die trocken zu haltenden Pflanzen aus dem Garten in den Überwinterungskeller geschafft. Der Garten selbst war ein kleiner Sumpf mit metergroßen Pfützen und knöcheltiefem Schlammgruben. Andere Jungen mochten bei diesem Dreckswetter leidenschaftlich gerne draußen toben und jede große Pfütze mitnehmen, in die sie hineinspringen konnten. Aber Tony verabscheute diesen Dauerregen.

"Am besten machen wir zwei ab morgen Urlaub in Florida. Ich guck mal, ob ich das kleine Ferienhaus kriegen kann, in dem dein Vater und ich mal eine schöne Zeit verbracht haben."

"Haha, Mom", knurrte Tony. Doch innerlich empfand er ein gewisses Bedauern, dass er kein erwachsener Mann mehr war oder erst wieder einer werden musste. Denn so konnte er die lustvollen Erinnerungen an die Zeit in Florida nicht wirklich genießen, außer, dass er auch da schon gerne die prallen Rundungen der Hexe gewürdigt hatte, die jetzt seine Mutter war und er die Art, sich mit ihr innig zu vereinigen als angenehmer empfunden hatte als seine Wiedergeburt, wenngleich die Erinnerungen an die Monate davor schon sehr angenehm gewesen waren.

"Wenn die dich mit mir da überhaupt noch mal hinlassen, wo die so pingelig anständig sind", schnarrte Tony.

"Die rechnen da unten auch nur in Galleonen und Sickel, mein kleiner. Abgesehen davon hat zwei Häuser weiter Erophilia Longleg ihre Kunden empfangen, was auch jeder halbwegs erwachsene Zauberer gewusst hat."

"Ich erinnere mich, du warst die einzige, die die Wonnefee nicht nur mit dem Hintern angeguckt hat, obwohl die wesentlich jünger als du ist und öhm ... na ja, da hast du sie mittlerweile gut eingeholt."

"Alles wohl Verwandlungstricks und Tränke, Tony. Die sah sicher nicht wirklich so aus, wie sie als Erophilia Longleg herumstolziert ist", lachte Tracy. "Jedenfalls haben die mir bloß nichts zu predigen, dass ich mit dem Sohn meines eigenen Neffen dahinfahren möchte. Du hast dir das schließlich nicht ausgesucht, sein und mein Sohn zu werden", erwiderte Tracy und musste wie Tony über diese Bemerkung lachen.

Eine kleine Glocke bimmelte im Wohnzimmer. Tracy deutete auf ihre Ohren und legte sich dann den Zeigefinger auf die Lippen. Das war das vereinbarte Signal, dass Linda Knowles in der Reichweite ihrer magischen Ohren vor dem Haus der Summerhills angekommen war. Tony verzog das Gesicht und hoffte, dass dieses neugierige Weib ihn nicht gleich wieder mit albernen Sprüchen traktieren würde. warum hatte seine zweite Mutter den Leuten vom Westwind nicht Hausverbot erteilt, seitdem die Sache mit dem ehemaligen My-Truppler durch die Zeitung gegangen war? Immerhin hätte sie den Ruf ihres verstorbenen Gefährten und Vater ihres einzigen Sohnes wahren müssen.

Die Türglocke bimmelte. Tracy ging und machte auf. "Ah, Linda, mal wieder in der Gegend? Benötigt Ihr Chef wieder einen Auszug aus dem Leben des Anthony Summerhill?" begrüßte Tracy die Reporterin mit unüberhörbarer Ironie.

"Nein, es geht mir nicht darum, wieder eine Geschichte über den kleinen Tony zu bringen, auch wenn mir das lieber wäre als der Grund, warum ich bei Ihnen vorsprechen möchte. Öhm, darf ich hereinkommen? Dieser Regen ist widerlich für eine Tochter aus dem sonnigen Kalifornien."

"Nur wenn ich weiß, weshalb Sie zu uns hinwollten. Seit dem unrühmlichen Artikel über angebliche Machenschaften meines verstorbenen Lebensgefährten und Neffen hinterfrage ich jeden Wunsch Ihrer Zeitung."

"In gewisser Weise geht es darum. Es handelt sich um das Testament Ihres Neffens. Mr. Dime will prüfen, ob der von Ihnen mündelsicher angelegte Goldvorrat in Gringotts nicht zur Aufteilung an die angeblich von Lucas Wishbone geschädigten freigegeben werden soll."

"Okay, kommen Sie bitte herein, Linda. Ich bitte mir nur aus, dass Sie meine Aussagen genauso wiedergeben, wie Sie sie von mir hören und mitschreiben."

"Daran habe ich mich bisher immer gehalten, Ms. Summerhill. Sonst hätte mich Heilzunftsprecherin Greensporn sicher nicht zur offiziellen Begehung ihres hundertzwanzigsten Geburtstags eingeladen."

"Davon habe ich auch gelesen", sagte Tracy Summerhill und winkte die Reporterin herein. "Tony, die nette Tante Linda Knowles möchte sich mit mir unterhalten. Geh bitte in dein Zimmer und guck dir ein Bilderbuch an!"

"Gut, Mom!" grummelte Tony ehrlich verstimmt. Zwar hätte er gerne mitgehört, was Lino vom Westwind so wissen wollte, zumal es offenbar um das von Tracy für ihn angelegte Vermögen ging. Andererseits wollte er auch nicht wieder von ihr mit Babysprache angenervt werden. Er tapste die Treppe zu seinem Zimmer hoch und machte die Tür hinter sich zu.

Eine ganze Stunde laut der Eulenuhr auf seinem Nachttisch hatte Tony sich durch ein paar Bilderbücher geblättert und ein paar Töne auf seiner Kindertrompete mit Spiellernbezauberung getrötet. Dann erst hörte er wie Linda Knowles das Haus wieder verließ.

"Linos Ohren haben aufgefangen, dass Dime sich mit dem neuen Strafverfolgungsleiter darüber geeinigt hat, die Aktionen von Lucas Wishbone auf mögliche Schadensersatzforderungen überprüfen zu lassen. Die spekulieren darauf, dass in dem Verlies von Gringotts mehr Gold ist, als dir eigentlich zustehen darf. Angeblich wollen sie uns zweien gerade noch so viel übriglassen, dass du nicht als Skelett und ohne Schulbücher nach Thorntails gehen musst. Ich habe Lino gesagt, dass ich mir vorbehalte, gegen jede Beschlagnahme seitens dieses Goldraffers Dime Beschwerde einzulegen, sollte sich erweisen, dass er auf das Geschwätz von gierigen Leuten gehört hat, die meinen, dich, also deinen Vater, nachträglich noch zum Schwerkriminellen abzustempeln."

"Das wäre für den Herold und den Westwind ein gefundenes Fressen, wo die dann wieder die Drachenfaucher über meinen Urgroßvater Mathew ausbuddeln können", sagte Tony verdrossen. "Aber wieso kommen die so spät mit dieser Anschuldigung heraus, wo ich, ähm, mein Daddy schon drei Jahre tot ist? Am Ende kommt diese unausrottbare Wiederkehrerin noch an und verlangt Schadensersatz wegen einer gezielten Rufmordkampagne gegen sie."

"Ich denke, dich zu meinem Sohn werden zu lassen war ihr Genugtuung genug", grummelte Tracy, musste dann aber überlegen lächeln. Tony nickte schwerfällig. "Jedenfalls habe ich Lino gesagt, dass ich mir schon mal einen Anwalt suche, falls dieses Enteignungsvorhaben in die Tat umgesetzt werden soll. Ich muss dich einkleiden, füttern und mit Schulsachen ausstatten. Wenn die Aasgeier einmal anfangen, in unserem Gold herumzuwühlen könnte am Ende nicht einmal ein Fingerhut voll Gold übrigbleiben."

"Und ansonsten wollte Linda Knowles nichts von dir?" fragte Tony.

"Sie hat nur gesagt, dass sie hofft, dass wir zwei unbeschwert von dieser alten Sache weiterhin gut zusammen leben und hat gefragt, ob ich mich nicht nach einem Zauberer an meiner Seite umsehen würde. Die Frage habe ich als nicht zu beantworten zurückgewiesen."

"Sie ist und bleibt eine Tratschhexe", schnarrte Tony Summerhill. "Dann wird das wohl auch nichts mit dem Ferienhäuschen in Florida?"

"Auf jeden Fall wird das was. Ich will nicht in diesem Regen ersaufen", erwiderte Tracy Summerhill darauf. Tony musste ihr da zustimmen.

Am Abend erfuhr Tony noch, dass es mit dem Ferienhäuschen in Florida nicht geklappt habe. Dafür würden sie nach Playa Dorada in Mexiko reisen, wo sie zwei Wochen lang den idyllischen goldenen Sandstrand und den warmen Golf von Mexiko genießen würden. Morgen wollten sie los.

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Albrecht Ziegelbrand war wütend. Er war wütend, weil er nicht auf seine Frau gehört und den Parapluvius-Regenumhang mitgenommen hatte. Er war wütend, weil sein Vorgesetzter, der Leiter der Abteilung für magischen Handel und Finanzwesen Chrysander Erzenklang, ihn bei strömendem Regen in die Umgegend von Solingen geschickt hatte, wo er eine angeblich jetzt erst aufgetauchte Schatzkiste von Klodwig Fingerhut aus dem verfallenen Haus des berüchtigten Goldbeschaffers von Gellert Grindelwald bergen sollte, was sich als posthume Rache des skrupellosen Zauberers erwiesen hatte. Denn in der Kiste befand sich nur ein zwei Zentner schwerer Haufen getrockneter Drachendung und ein Zettel mit dem Text "Mehr ist nicht drin". Zum dritten hatte ihm sein Vetter Burghard gesagt, er solle sich an seinem sechsunddreißigsten Geburtstag, der in zwei Tagen anstand, nichts vornehmen, weil ihm das sonst sehr übel bekommen würde. Mit Burghard hatte er sich seit seiner frühen Kindheit nie vertragen können. Da beide auch noch das Pech gehabt hatten, im selben Jahrgang und im selben Schulhaus von Greifennest zu leben, war Burghard für Albrecht Ziegelbrand gleichbedeutend mit Drachenpocken und Rotflechtenbefall.

"Burghard, wenn du meinst, du müsstest bei einer Geburtstagsfeier dabei sein leg dich besser wieder ins Bett und sieh zu, ordentlich aus deinen Träumen wieder aufzuwachen!" schnaubte Albrecht. "Abgesehen davon hat es mich nicht interessiert, als du vor fünf Wochen deinen sechsunddreißigsten Geburtstag gefeiert hast. Ich habe nicht mal gefragt, ob dir der Allerwerteste noch vom Hocken auf dem Jungesellenpfahl weh tut und ob dich eine komplett unwissende Hexe davon heruntergepflückt hat, damit du sie heiraten kannst. Also lass mich bloß in Ruhe meine Arbeit machen und mach du deine!"

"Ich habe dich eingeladen, Vetter", feixte Burghard. "Außerdem sehe ich nicht ein, dass du deinen so wichtigen Geburtstag mit dumm herumsitzen und Nölen verplemperst, nur weil du schon das schönste Mädchen von Mondenquell abgestaubt hast."

"Das war die mal", knurrte Albrecht. "Aber dass sie von dir nix wollte ist ja ein alter Hut. Also lamentier nicht rum! Wenn ich feiere, dann garantiert ohne einen solchen Halodri und Goldklimperer wie dich."

"Nur kein Neid, weil mein alter Herr es in der freien Wirtschaft weitergebracht hat als dein alter Herr im Zaubereiministerium, Alli. Man sieht sich bei der Party!"

"Wenn die Hölle zufriert", schickte Albrecht Ziegelbrand zurück. Burghard lachte nur und zog in Siegerpose davon. Sein absichtlich bis zum Hinterteil herunterwehendes rostrotes Haar verlieh ihm von hinten den Eindruck, er sei eine Hexe. Albrecht konnte gut verstehen, dass Hexen mit Verstand sich dreimal überlegten, sich auf einen solchen Wichtelreiter einzulassen. Da half ihm auch nicht das Geld seines Vaters, der zum Exportchef bei der Besendrechselei Donnerkeil aufgestiegen war. Allerdings ließ ihm sein Vorgesetzter, der Leiter der Spiele-und-Sport-Abteilung sein Erscheinungsbild durchgehen. Klar, weil Burghard ein heißer Draht zu den Donnerkeildrechslern war.

Sichtlich angenervt von diesen drei Unliebsamkeiten apparierte Albrecht Ziegelbrand vor der Tür seines kleinen Hauses bei Frankfurt am Main, dass eigentlich seine Frau von ihrem Großvater väterlicherseits geerbt hatte, Reinhild, seine Angetraute, hatte einmal als schönstes Mädchen von Greifennest gegolten. Außer ihm und seinem verhassten Vetter Burghard waren damals noch fünf andere Jungen aus allen vier Schulhäusern hinter ihr her gewesen. Doch die im Haus Mondenquell untergebrachte hatte sich sehr standhaft gegen alle Werbungsversuche behauptet, bis sie aus der Schule heraus waren. Dann hatte sie aus irgendeiner ihm bis heute nicht wirklich verständlichen Überprüfung heraus befunden, dass er der geeignete Zauberer für die Ehe war. Damals war er regelrecht liebesberauscht gewesen und hatte dieses flachsblonde Hexenwunder geheiratet und es genossen, wie alle anderen Nebenbuhler ihn vergrätzt bis unverhohlen neidisch angestiert hatten. Doch nachdem sie die drei gemeinsamen Kinder Lebrecht, Krimhild und Irmgard bekommen hatte war von ihrer zierlichen Figur und den langen schlanken Beinen nichts mehr übriggeblieben. Jetzt glich sie einem Hefekloß mit melonengroßen Brüsten und wurstförmigen Beinen mit klobigen Füßen. Zwar besaß sie noch das flachsblonde Haar, die niedliche Stubsnase und die vergissmeinnichtblauen Augen, doch einen Schönheitswettbewerb oder gar eine Anstellung als Kleidervorführerin würde sie nicht mehr gewinnen. Ihre Frustration über die verflossene Schöhnheit glich sie mit einer nervigen, ja schon krankhaften Putzwut aus. Jeden Tag fuhrwerkte sie mit dem Zauberstab und davon dirigierten Schrubbern, Besen und Lappen durch das Haus. Alle zwei Tage rumpelte der Wasch-Trocken-Schrank. Zudem war sie Mitglied verschiedener Handarbeitsgruppen und in jeder davon die jüngste.

"Der Umhang und alles andere gleich in den Trog", kommandierte sie, als Albrecht ins Haus hineingehen wollte und ein kurzes Wimmern erklungen war. "Die Schuhe gleich in den Putzkasten!" fügte sie noch hinzu.

"Ich habe die mir draußen auf der Rüttelmatte abgetreten, Hildi", knurrte Albrecht.

"Die sind aber noch schmutzig", beharrte Reinhild auf ihre Anweisungen. "Ich habe gerade den Boden gewienert und poliert."

"Wie jeden Tag", knurrte Albrecht. Doch dann schlüpfte er aus den Schuhen und hielt sie in Richtung eines grauen Kastens, der sich von selbst auftat und die Schuhe mal eben wie mit dem Aufrufezauber zu sich hin und in sich hineinfliegen ließ.

"Du solltest echt mal einen Heiler fragen, ob diese krankhafte Putzerei nicht doch zu viel ist", grummelte Albrecht. Doch seine Frau überhörte es. "Irmgard hat wieder geschrieben. Sie ist immer noch traurig, dass sie nicht zu Lebrecht und Krimhild nach Sonnengold gekommen ist."

"Ich teile die Schüler nicht zu. Die soll sich bei der Gräfin ausheulen", blaffte Albrecht. "Die kann froh sein, nicht in Erzenklang gelandet zu sein wie Burghard und dessen gierhälsiger Vater. Überhaupt, hast du mit dem irgendwas ausgeheckt wegen meines Geburtstags?"

"Burghard? Mit dem Schmutzfink, der nicht mal seine Haare ordentlich hinbekommt? Hat der echt sowas behauptet?"

"Ungefähr so, dass ich mir übermorgen nichts vornehmen soll. Der will bestimmt eine seiner gefürchteten Überraschungspartys veranstalten. Aber nicht auf meine Kosten."

"Und vor allem nicht hier", schnarrte Reinhild. "Onkel Giesbert und diese eingebildete Ziege, die er geheiratet hat, haben mir bei deiner zehn-Jahres-Feier schon die Laune vergellt, weil dein dekadenter Onkel nicht darauf achtete, wie viel Met er verträgt und mir die Hälfte davon auf den Wohnzimmerteppich gespien hat."

"Er hat uns doch einen nagelneuen Teppich spendiert, noch dazu unbeschmutzbar", feixte Albrecht. Seine Frau rümpfte die Nase und schnaubte:

"Klar, mit Gold geht ja alles, und Gold ersetzt jeden Anstand. Das habe ich schon gelernt, als dein Vetter meinte, mir den Hof machen zu können und den reichen Erben herausgekehrt hat, aber seine Finger nicht bei sich behalten konnte. Aber lassen wir das! Ich habe mit dem jedenfalls nichts ausgehandelt, wie wir deinen Geburtstag feiern. Zieh dich besser noch um, bevor wir essen!""

"Ich habe das verdammte Regenwetter nicht herbeigezaubert", blaffte Albrecht. Seine Frau stand vor ihm und hatte unvermittelt den Zauberstab in der Hand. "Nudato addo Portato!" Albrecht wollte schon nach seinem Zauberstab fischen, da flog ihm der Umhang vom Körper, seine Strümpfe streiften sich von seinen Füßen und seine Unterwäsche wand sich, bis sie ihm vom Körper herunterrutschte. Innerhalb von nur drei Sekunden stand er völlig nackt da. Seine Kleidung verschwand sogleich mit lautem Plopp. Nur der Zauberstab blieb liegen. Albrecht wollte schon barfuß auf ihn zugehen, da flogen ihm seine braunen Filzpantoffeln entgegen und schoben sich passgenau unter seine Füße. "Nicht mit verschwitzten Füßen über diesen Boden patschen", schnarrte Reinhild.

"Steck's dir wohin, wo keine Sonne hinscheint! Hast ja genug Löcher zur Auswahl!" grummelte er. Seine Frau errötete schlagartig und funkelte ihn sehr verärgert an. "Lass deinen Arbeitsfrust ja nicht an mir aus, Albrecht Ziegelbrand!" fauchte Reinhild. Ihr Mann ging zu seinem Zauberstab und hob ihn auf. Da er den Schnellankleidezauber nicht gelernt hatte musste er notgedrungen ins gemeinsame Schlafzimmer, wo er sich neue Unterwäsche und einen leichten Hausumhang aussuchte.

Während des Abendessens - es gab aufgewärmtes Goulasch vom Vortag - wechselten die beiden Eheleute nur die nötigsten Worte. Albrecht erklärte nur, dass er bei Regen wie aus Normgröße-null-Kesseln aus dem Büro hinaus gemusst hatte und das nur, weil jemand wohl einen schlechten Scherz mit dem Ministerium hatte treiben wollen und wertloses Zeug in einer angeblichen Schatzkiste ausgestellt hatte. Reinhild erwähnte, dass die zweitjüngste Tochter Krimhild behauptete, Lebrecht habe immer noch fünf Verehrerinnen. "Der hat ja unsere hervorragenden Anlagen geerbt", sagte sie stolz. Albrecht grinste dazu nur. Sicher, sein Sohn hatte das Haar und die Augen seiner Mutter geerbt, zudem das Quidditchtalent seines Vaters und die schlanke Figur seiner Mutter, zumindest vor der Schwangerschaft mit Irmgard. Allerdings wusste Albrecht nicht, ob sein Sohn sich zu einem herumstreunenden Lebemann oder einem sesshaften Familienvater entwickeln würde. Die zweitjüngste Tochter Krimhild, die wie Lebrecht im Haus Sonnengold untergekommen war, hatte noch keine Absichten, sich einen festen Freund zuzulegen. Mochte auch daran liegen, dass ihr Vater sie bei der Einschulung ermahnt hatte, vor ihrem siebzehnten Lebensjahr nichts mit einem Jungen anzufangen. Tja, und die in Mondenquell gelandete jüngste Tochter verbrachte ihr erstes Jahr in Greifennest und hatte immer wieder Heimweh, obwohl ihre Schlafsaalmitbewohnerinnen sehr umgänglich sein sollten.

Als es neun Uhr abends war läutete die Türglocke. Die Ziegelbrands sahen einander fragend an. Keiner von beiden erwartete noch so spät einen Gast. Draußen war es ja schon stockdunkel, und der Regen prasselte unaufhörlich hernieder. Immer wieder schlug eine stürmische Böe das Wasser gegen die Fensterscheiben. Niemand bei Verstand reiste bei diesem Wetter noch durch die Gegend, dachte Albrecht. Seine Frau indes schien von einer unerklärlichen Furcht ergriffen zu sein. Sie starrte auf die Tür. "Besser nicht aufmachen, Alli", zischte sie. "Mir ist nicht wohl bei der Sache." Da läutete es wieder an der Haustür.

"Der oder die sieht noch Licht bei uns", flüsterte Albrecht. "Nachher ist das ein Ministeriumsbote, der mir noch was für morgen zustellen muss."

"Das ist kein Bote", wimmerte Reinhild leise. "Ich fühle was böses."

"Hildi, wer sollte uns was böses wollen. Wir sind zu unwichtig. Außerdem ist dieser Irre aus England ganz sicher tot und die angebliche Wiedergeburt der Nichte der Französin würde sich nicht mit einem kleinen Laufburschen und Kassierer von Erzenklang abgeben, wenn sie gleich zu dem selbst kann." Wieder läutete die Türglocke. Die Haustür war zumindest mit Magie nicht zu öffnen, dachten beide beruhigt. Doch wer war das bloß?

"Ich frage, wer da ist", sagte Albrecht und stand auf. Er ging zur Haustür und blickte durch das bruchsichere Fenster hinaus. Doch draußen war niemand zu sehen. Vielleicht hatte der Fremde oder die Fremde bereits das Weite gesucht, ein Streich von kleinen Jungen, die mal sehen wollten, wer sofort an die Tür ging. Da wurde die Tür auf einmal völlig durchsichtig, und Albrecht sah einen hageren Schatten auf die Tür zutreten. Er ließ sofort die im Flur hängende Kerze in der Kristallsphäre aufflammen. Da sah er ihn, einen Mann im blutroten Umhang, dessen Kopf im Widerschein des Lichtes gespenstisch grün schillerte und Ähnlichkeiten mit dem Kopf einer Schlange hatte. Als Albrecht den Mund zu einem Warnschrei aufriss hörte er von draußen ein leise gezischtes Wort. Dann überkam ihn mit einem Schlag eine solche Glückseligkeit, die allen Argwohn und alle Furcht aus seinem Bewusstsein fortwischte. Noch ehe Albrecht begreifen konnte, was ihm widerfuhr erklang eine dröhnende Männerstimme in seinem Kopf: "Mach die Tür auf und lass mich herein!" Er spürte, dass sein Arm dem in den Kopf gepflanzten Befehl sofort ausführte. Er hatte keine Möglichkeit, sich dagegen zu wehren. Rasselnd lösten sich die Riegel an der Innenseite. Die Tür wurde wieder größtenteils undurchsichtig. Als Albrecht den großen Türschlüssel dreimal umgedreht und die schwere Klinke niedergedrückt hatte, stieß der Fremde von draußen sofort die Tür auf und betrat den Flur. Sein Umhang wies keine Spur Nässe auf. Der grüne Kopf schien von einer flirrenden bläulichen Aura umflossen zu sein. Die Augen glühten rot. Aus der Küche ertönte ein Angstschrei. "Ah, deine gute Haushaltshexe und Erbgutveredlerin, wie!" rief der Fremde. Seine stimme klang etwas verzerrt und verwaschen, nicht wie eine natürliche Stimme. "Dann bringen wir es über die Bühne", sagte er. Er sprach astreines, ohne regionale Färbung klingendes Deutsch.

Albrecht stand immer noch unter dem Bann des ihm in den Kopf getriebenen Befehls. Wieder brandete eine Flutwelle aus absoluter Sorglosigkeit durch seinen Kopf und riss alle aufkommenden Gedanken mit sich fort. "Bring mich zu deiner Frau hin!" erklang wieder diese übermächtig dröhnende Stimme, die nicht nach der aus dem grünen Schlangenkopf klang. Doch Albrecht erhielt keine Gelegenheit, darüber nachzudenken. Er drehte sich um und ging scheinbar ganz unbehelligt auf die Küchentür zu. Da trat seine Frau heraus, den Zauberstab in der hand. Hinaus mit dir, Unhold!" rief sie. Aus ihrem Zauberstab schlugen silberne Blitze, die sich zu einer Spirale um den Eindringling bündelten und ihn einschnürten. Doch da quoll etwas wie schwarzer Qualm aus dem Kopf und dem Körper des ungebetenen Besuchers und verschluckte die silberne Lichtspirale mit lautem Knistern. "Netter Versuch, Hefeklößchen!" lachte der Unheimliche. Dann deutete er auf sie und zischte: "Imperio!"

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Wer in die Blaubirnengasse in Frankfurt am Main wollte und nicht direkt dort apparieren wollte oder konnte musste durch die Schenke zur reuigen Rotkappe, deren muggelweltseitiger Zugang in einer kleinen Seitenstraße in der Nähe des Römermarktes zu finden war. Der Wirt war ein sehr lebenslustiger, bohnenstangengleicher Zauberer mit flachsblondem Haar und Augen, die wie an blühende Vergissmeinnicht erinnerten. Immer wieder fand er Zeit, sich mit seinen Gästen zu unterhalten. In seinem Wirtshaus gab es alles, was irgendwo in Deutschland als berauschendes Getränk zu kriegen war. So empfand es der aus Köln herübergekommene Zauberkunstexperte Bodo Nagelschmidt als sehr sympathischen Zug, dass er hier nicht auf sein geliebtes Kölsch verzichten musste. Zwar war ihm auch der hierorts so berühmte Äppelwoi in einem Bembel angeboten worden, doch Bodo hatte höflich aber bestimmt abgelehnt. "Bei Kölsch weiß isch et, wie vill isch davun drinke kann", hatte er dem Wirt gesagt, als dieser um neun Uhr eine Lokalrunde gab, weil, so die anderen Zecher, mit denen Bodo sich einen Tisch teilte, Herri genau um neun Uhr geboren worden sei. Bodo, dessen Vater Sendetechniker bei einem großen kölner Rundfunkhaus war, hatte dann gemeint, dass dann ja auch die vor einundzwanzig Jahren eingeführte Sommerzeit da aber ein gewisses Durcheinander bringen mochte. Der Wirt hatte das gehört und gesagt: "Ich habe zwei Uhren. Die eine zeigt die Muggelzeit, die andere meine Zeit. Und nur die nach meiner Zeit läuft ist wichtig." Bodo hatte den Wirt gefragt, wo er denn herkäme, weil er keinen Frankfurter Dialekt spreche.

"Aus Offenbach, aber psst, lassen Sie das bloß keinen von den Anwohnern hier hören."

"Jeht ja noch. Wenn Sie Düsseldorfer wären müsste isch mir Jedanken maache", hatte Bodo darauf erwidert. Darauf hatten beide gegrinst. Herri, eigentlich Herribert, hatte dann erzählt, dass er der lieben Verwandtschaft wegen in Frankfurt hängengeblieben sei und es bis heute nicht bereut habe, dass er die Schenke von seinem Großvater übernommen habe.

"Jedenfalls schönen Dank för et Freibier", erwiderte Bodo Nagelschmidt. Herribert nickte geschmeichelt. Doch dann verzog sich sein Gesicht zu einem Ausdruck großer Furcht und Anspannung. Er wandte sich um und winkte einem jüngeren Zauberer, der ihm ähnelte. "Dankward, schmeiß den Laden bitte. Ich muss ganz ganz schnell hier weg!" hörte Bodo den Wirt noch zischen. Dann sah er, wie der kontaktfreudige Schankwirt durch eine mit "Nur Personal" beschilderte Tür verschwand. Der jüngere, eindeutig der Sohn des Schankwirts, nahm hinter der Theke seine Position ein und nahm die Bestellungen der mindestens fünfzig Gäste entgegen. Fünf weitere Bedienungen führten die Bestellungen aus. Bodo Nagelschmidt fragte sich, wer dem Wirt da den schönen Abend vergellt hatte. Sicher hatte er von irgendwem einen Gedankenruf erhalten. Der kölner Zauberkunstexperte wusste nicht, wie froh er sein konnte, nicht zu wissen, weshalb der Wirt so plötzlich verschwunden war.

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Immerhin konnte Corvinus noch die Maske abnehmen, wenn er weit genug von den anderen Mitverschwörern fort war. Das beruhigte ihn ungemein. Er fühlte das sanfte Prickeln in seinem Körper. Wie hatte er sich darauf einlassen können, dieses pechschwarze Pulver in sein Blut hineinschießen zu lassen? War er jetzt für alle Zeiten davon abhängig, immer wieder was davon zu bekommen? Oder schlimmer, war er jetzt ebenso verseucht wie ein Vampir oder ein Werwolf? Er hatte die Tage seit jener fragwürdigen Behandlung damit zugebracht, möglichst unauffällig zu leben. Die Handwarm-Handschuhe waren bisher niemandem aufgefallen. Doch Corvinus Flint wusste, dass es wohl für immer mit der körperlichen Liebe vorbei war. Welche Frau würde sich mit einem Mann im Bett vergnügen, der keine eigene Wärme verströmte, ja auch keine Wärme von anderswo her in sich aufnahm? Außerdem konnte das für ihn oder eine rein körperliche Liebschaft gefährlich sein, wo er jetzt dieses dunkle Pulver im Blut hatte. Nachher konnte er damit ihm überlegene Monster erzeugen, Wechselbälger der dunklen Seite. Doch dann fiel ihm noch ein, dass der Kristallstaub vom Tod anderer Lebewesen und der Dunkelheit der Nacht seine Kraft erhielt. So ähnlich mussten sich echte Vampire fühlen, die vom Blut der Lebenden tranken und sich bei Nacht besonders wach und stark fühlten.

Wenn Corvinus in seinem kleinen Haus saß, dass er von seiner verstorbenen Großtante Pica geerbt hatte, fühlte er, wie verloren er im Grunde war. Die Zeit mit den Todessern hatte ihm zumindest das Gefühl gegeben, dazuzugehören, auch wenn das, was er im Namen des dunklen Lords getan hatte von den meisten anderen Menschen verachtet wurde. Aber was waren die schon wert? Schlammblüter und Halbblüter, die verlernt hatten, ihren Zaubererweltstolz zu achten. Im Grunde hatte er Glück gehabt, dass er bei der großen Schmach, wie seine mit ihm entwischten Kameraden die Schlacht von Hogwarts nannten, weiter hinten gestanden hatte. So war es ihm noch gelungen, zu entwischen. Außerdem hatte er anders als andere Todesser keinen Moment daran gedacht, die Maske abzulegen, als es so aussah, als habe der dunkle Lord auf ganzer Linie gesiegt. So wusste es im Ministerium noch niemand, dass er auch dazugehört hatte. Doch er wusste auch, dass er ab der Zusammenkunft mit dem, der sich Lord Vengor nannte, jederzeit auffliegen konnte. Er dachte daran, dass er vorher noch etwas an sich bringen musste, mit dem er sich und seinem neuen Herrn und Meister einen entscheidenden Vorteil verschaffen konnte. Er dachte da an Vorfahren, die vor vierhundert Jahren mit seiner Blutlinie zusammengeführt worden waren. Von denen hieß es, dass sie viele Zweige in aller Welt begründet hatten und eine großartige Bibliothek zusammengetragen hatten.

Bathilda Backshot, die große Zaubereigeschichtsexpertin, war eine sehr weit entfernte Verwandte von ihm gewesen. Nach ihrem Tod hatte das Zaubereiministerium das Haus in Godrics Hollow zum Denkmal der Zeitenwende erklärt. Es war zu einem Museum gemacht worden, in dem wichtige Artefakte aus den beiden Zeiten des dunklen Lords ausgestellt wurden und wo auch alle Veröffentlichungen Bathildas auslagen. Da es herausgekommen war, dass Bathilda Backshot mit Grindelwald verwandt gewesen war, hatte das Ministerium auch nach Hinterlassenschaften dieses dunklen Magiers gesucht, jedoch nichts gefunden. Corvinus erinnerte sich jedoch daran, dass er von seiner eigenen Großtante gesagt bekommen hatte: "Die gute Bathilda hütet unter ihrem Haus einen sehr wertvollen Schatz, eine große Sammlung verschiedener Zauberbücher, aber vor allem das sich ständig weiterschreibende Buch "de arcanis vivorum et mortuorum". Darin stehen alle Geheimnisse der Träger der Blutlinie Tobias Wishbones. Sie haben damals beschlossen, dass die Backshots dieses Buch verbergen sollen, weil die Keller unter ihrem Stammsitz nur für Nachkommen dieser Blutlinie auffindbar und betretbar sind. Ich gehöre leider nicht dazu. Aber deine Mutter und du könnt sie vielleicht finden. Sie wird aber erst betretbar, wenn Bathilda stirbt, ohne dass einer ihrer Verwandten ihr Leben ausgelöscht hat."

Warum hatte Corvinus in den Jahren seit der großen Schmach nicht versucht, diese Bibliothek zu betreten? Womöglich, weil das Zaubereiministerium starke Barrieren im Haus errichtet hatte, die nur Leuten Shacklebolts Zutritt zu den nicht der Öffentlichkeit präsentierten Dingen gestattete. Doch jetzt, wo in Corvinus der Unlichtkristallstaub zirkulierte, mochte er den Eingang finden und öffnen können. Er beschloss, es am morgigen Tag, dem fünften November, zu tun, wenn überall im Land der vereitelten Schießpulververschwörung mit brennenden Strohpuppen und Feuerwerk gedacht wurde. Da mochte dann ein lauter Knall mehr oder weniger nicht auffallen. Denn er durfte nicht vergessen, dass in Godrics Hollow auch Muggel wohnten, die mit ihren Fernsprechapparaturen schnell Alarm schlagen konnten.

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Vengor stand kurz davor, seinen ersten Schritt zur Niederwerfung jener verflixten Barriere zu tun. Vor ihm standen Albrecht Ziegelbrand, ein rothaariger Recke mit hellgrauen Augen und dessen füllige Frau Reinhild, die diesem Kerl da drei Kinder geboren hatte, die gerade alle in Greifennest waren und zu dem erst in den Monaten Mai, August und September geboren waren. Der durch den Kristall vervielfacht wirkende Imperius-Fluch hatte beide seinem Willen unterworfen. Er brauchte nur noch die zwei letzten Worte zu rufen. Doch gerade rechtzeitig fiel ihm ein, dass der Todesfluch in dieser Verstärkung wohl von draußen zu hören und zu sehen sein mochte. Außerdem mochten die übergroßen Energien ausreichen, außer den beiden da vor ihm auch einen Teil des Hauses zu beschädigen. Das würde eindeutig auffallen. Er wollte die beiden mitnehmen, um sie weit genug fort von jeder Ansiedlung auszulöschen. Er suchte etwas, dass er als Portschlüssel gebrauchen konnte, was groß genug war. Als er den Küchentisch ansah schmunzelte er. Hinter seiner grünen Schreckensmaske war das natürlich nicht zu sehen. Er hob den Zauberstab an, da tauchte übergangslos ein silberner Lichtwirbel in der Küche auf. Aus dem silbernen Wirbel trat ein hochgewachsener Mann mit flachsblondem Haar und denselben vergissmeinnichtblauen Augen wie Reinhild Ziegelbrand sie besaß. Vengor wusste, dass Reinhild einen älteren Bruder besaß, der sie seit ihrer Geburt beschützt hatte. Doch dass der mal eben durch die von ihm gezogene Antiapparierkuppel hindurchgekommen war irritierte ihn. Noch irritierender empfand er eine von dem anderen ausströmende Aura ihm zusetzender Energie. Er fühlte, wie der in seiner Brust verankerte Unlichtkristall unvermittelt zu beben und zu summen begann. Das Summen übertrug sich durch die Luft auf etwas am Körper des unverhofft eingetroffenen Zauberers, der seinen Zauberstab schon auf ihn richtete. "Stupor!" rief der Fremde. Der rote Schockblitz fegte auf Vengor zu und prallte von ihm ab. Pfeifend fuhr der Querschläger unter den Küchentisch und sprengte eines seiner Beine ab. Rumpelnd fiel der Tisch um.

"Imperio!" rief Vengor. Er wollte wissen, wie der andere hereinkommen konnte. Tatsächlich fühlte er für eine Sekunde den ihm so genehmen Strom aus dem Kopf durch den Arm in die Hand. Doch dann blitzte es vor ihm auf, und seine Zauberstabhand wurde von einem silbernen Lichtstrahl zur Seite geprellt. Wie konnte das sein, wo er doch den Fluch unwiderstehlich stark konnte? Fast wäre ihm der Zauberstab entfallen.

"Netter Versuch, Grünschädel!" rief der andere. "Ergib dich besser gleich!"

"Nur weil du einen besseren Schild kannst. Den habe ich auch!" rief Vengor. "Und so gut dein Schild auch immer ist, meine Macht wird ihn schwächen und durchschlagen." Da zog der andere etwas unter seinem Umhang hervor. Sofort meinte Vengor, in gleißendes goldenes Licht zu starren. Da fühlte er, wie etwas aus seinem Brustkorb ausströmte. Verlor er etwa den Kristall? "Wirf ihn nieder. Lösch ihn aus!" brüllte eine Gedankenstimme, die Vengor erst vor wenigen Tagen vernommen hatte, als er versucht hatte, in die Nimmertagshöhle einzutreten. "Lösch ihn aus! Er gehört zu deinen schlimmsten Feinden!" Dieser einpeitschenden Aufforderung hätte es nicht bedurft. Denn der andere versuchte seine Chance zu nutzen und griff mit Fang- und Lähmzaubern an. Vengor hielt mit Körperbrecherzaubern und Schwächungszaubern dagegen. Doch was immer dieses grelle Licht erzeugte, das Vengor beim Zielen störte, es parierte seine mächtigen Attacken. Wummernd, krachend und schwirrend jagten die abprallenden Flüche durch die Küche und ramponierten das Mobiliar. Als Vengor einen Schockzauber anbringen wollte klang das wie ein Kanonenschuss. Keine Hundertstelsekunde darauf hörte er es ohrenbetäubend schwirren, als der sieben- bis zehnfach verstärkte Betäubungszauber von jenem Lichtabprallte und mit lautem Knall den Küchentisch in einen Haufen glimmender Asche verwandelte. Der Schockzauber hatte wie ein Reducto-Fluch gewirkt. Weitere Zauber flogen hin und her. Kein Fluch konnte Vengor berühren. Jeder wurde auf seinen Absender zurückgespiegelt. Doch dessen verdammungswürdiger Schutz bewahrte ihn davor, Opfer seiner eigenen Angriffsversuche zu werden. Dann griff der andere zu einer neuen Taktik. "Anabneo Amplifico!" rief Reinhilds Bruder. Vengor begriff nicht, was das sollte, einen Atemwegsbefreiungszauber als Kampfzauber zu verwenden. Da traf ihn der Zauber am Hals und breitete sich bis in seine Lungen aus. Im selben Moment war ihm, als sauge jemand ihm Kraft ab. Der in seinem Brustkorb steckende Kristall zuckte für Vengor schmerzhaft unter seinem rechten Lungenflügel. Er konnte nicht an sich halten und stieß einen kurzen Schmerzensschrei aus. Gleichzeitig veränderte sich der ständig aus ihm dringende Summton zu einem kurzen, schrillen Aufschrei, der durch den geöffneten Mund des dunklen Magiers wie aus einem Blasinstrument verstärkt in den Raum drang.

"Ich bring dich um!" brüllte Vengor. Doch er wollte noch nicht den ultimativen Todesschlag ausführen. "Heliotelum!" rief er. Ein gleißender, armdicker Lichtstrahl furh aus Vengors Zauberstab und zerstob zu einer Wolke aus goldenem Licht, die ihm heiße Luft entgegenbrachte.

"Episkiye!" rief der andere. Wieder traf ein Zauber auf Vengor, der eigentlich gutartig war. Genau das aber war das Verhängnis. Für den von dunkler Magie erfüllten, durch diese am Leben gehalten, kehrte sich die Heilswirkung um. Vengor fühlte ein Reißn in der Schulter. Gleichzeitig meinte er, einen Energiestoß zu fühlen, der ihn zusammenzucken ließ. "Injuriclausa!" rief der andere. Doch diesmal blieb es für Vengor nur bei einem Ruckeln des in ihm steckenden Kristallkörpers. Der andere veränderte derweil seine Stellung. Das von ihm ausstrahlende Licht flackerte hektisch. Offenbar wurde es durch die auf seine Quelle einstürmenden Zauber doch geschwächt. "Fass sie nicht an! Imperio!" rief Vengor und zielte auf Reinhild. Er wollte, dass sie ihrem Bruder was immer es war wegnahm oder ihn niederschlug. Doch da hatte er sie auch schon bei der Hand ergriffen. Der Imperius-Fluch wirkte diesmal nicht. Doch das gleißende Licht schwächte sich weiter ab. Als Reinhilds Bruder nun auch zu dem immer noch unter dem Bann des Unterwerfungsfluches starr dastehenden Albrecht hinübergehen wollte erkannte Vengor, dass der andere vorhatte, die beiden Verwandten mitzunehmen. Das durfte er nicht zulassen. Er rief noch einmal den Sonnenspeerzauber auf, wobei er auf Albrechts Brustkorb zielte.

In einem weißgoldenen Blitz zersprang Albrechts Brustkorb unter dem Einschlag des Sonnenspeers. Flammen tanzten über die in Fetzen gerissene Kleidung. Das hatte Albrecht unmöglich überleben können. Als er es bei den beiden anderen versuchte, zerstob der Zauber jedoch wieder. Dafür aber flackerte der gleißende Lichtschein nun und zog sich zu einer hautengen, goldenen Aura zusammen, die gerade so noch auf Reinhild übersprang und sie mit einschloss.

"Jetzt habe ich euch beide", fauchte Vengor. Die Stimmverfremdung in seiner Maske ließ es wie die Todesdrohung eines körperlosen Dämons klingen. Da rief Herribert etwas in einer Sprache, von der Vengor nur einen winzigen, seiner Sache dienlichen Anteil gelernt hatte.

"Alaishadui Siri,
Alaishaduan a sogaharan Iri.
U Alaishaduim Godiri,
san Arwoxaran Laishandan Miri!"

Schlagartig erstarkte das gleißende Licht wieder. Vengor fühlte eine starke Welle aus Energie, die ihn zurücktrieb. Aus ihm selbst strömte schwarzer Dunst, baute sich zu einem stabilen Schild auf. Doch der half nicht dagegen, dass Vengor immer mehr zurückgedrängt und geschwächt wurde. Er stöhnte auf, sah vor seinen geistigen Augen zwei brennende Türme, aus denen heraus Dutzende von Menschen in ungehemmter Panik heruntersprangen. Er fühlte, dass er diesen Kampf trotz des Kristalls im Körper verlieren würde. Der andere hatte eine mächtige Anrufung ausgestoßen, die sicher nur bei äußerster Gefahr benutzt werden durfte, aber dann auch zuverlässig half. Es war keine dunkle, den Tod und die Vernichtung bewirkende Kraft, sondern eine helle, das Leben und die Unversehrtheit beschützende Kraft, der der Kristall nur sehr mühsam entgegenhalten konnte. Er musste jetzt den vernichtenden Schlag ausführen. Er zielte auf Reinhilds Bruder.

"Avada Kedavra!" presste er unter sehr großer Anstrengung hervor. Dabei wünschte er sich den Tod des Feindes, sah ihn wwährend des Rufes wie einen der vom Feuer gehetzten aus einem der brennenden Türme springen. Da brauste es laut auf. Ein schmerzhaft greller, weißgrüner Blitz hüllte die Küche in schattenloses Licht. Sofort danach erfolgte ein lautes Plopp, in dessen kurzen Nachhall bereits der ohrenbetäubende Donnerschlag einer gewaltigen Detonation einfiel.

Vengor fühlte zuerst, wie der ihn zurückdrängende Energiestrom erlosch. Dann erfasste ihn die heiße Druckwelle, die von der Wand ausging. Sie warf ihn zu Boden. Er sah über sich eine Lohe mit glühendem Staub und Gesteinstrümmern. Der in ihm wirkende Unlichtkristall panzerte ihn jedoch gegen alle physischen Schäden. So empfand er die über ihn hinwegbrausende Druckwelle, der vier Sekunden später ein ebenso starker Rücksog folgte, wie die seinen Körper durchknetenden Hände eines Riesens. In seinen Ohren klang ein hoher Piepton. Doch Pulsschlag für Pulsschlag ließ diese Beeinträchtigung nach. Er konnte nun hören, wie knirschend, knarzend und prasselnd immer mehr von der Wand und auch von der Decke niederstürzte. Die von der Decke herabregnenden Trümmer wurden immer größer. Zudem brannte die Küche im Feuer der unbändigen, aber von ihren Zielen abgeprallten Zauberflüche. Vengor fühlte neue Kraft in sich einströmen. Er sprang auf die Füße und sah noch, wie die gesamte Rückwand der Küche fehlte und wie auch ein Großteil der Decke und des Bodens von der Gewalt seines Todesfluches regelrecht atomisiert worden waren. Er hoffte nur, dass er die beiden noch rechtzeitig erwischt hatte. Zwar hatte er ein Ploppen gehört, dass gut und gern eine Disapparition sein konnte. Doch sein Fluch hatte hoffentlich noch beide vor dem Übergang in den Transit erwischt. Womöglich waren sie tot und verstümmelt irgendwo erschienen.

Vengor durfte sich nicht zu lange mit Vermutungen und Hoffnungen herumschlagen. Das ganze Haus war in Aufruhr. Sein Todesfluch und die vorangegangenen Beschädigungen hatten seine Standfestigkeit aufgezehrt. Es würde gleich einstürzen. Er musste weg. Er warf noch einen letzten Blick auf den mit Sicherheit getöteten Albrecht Ziegelbrand. Dann disapparierte er. Keine halbe Minute später brach das Haus der Ziegelbrands donnernd und dröhnend in sich zusammen. Das in ihm tobende Feuer griff nun auf die Balkensplitter, Möbel und niedergerissenen Vorhänge über, fraß sich in die Teppiche, Decken und Tücher hinein.

Da das Haus so abseits lag, dauerte es eine halbe Stunde, bis ein Zug Feuerwehrwagen mit laut trötenden Martinshörnern herankam. Denn die von einem Feueralarmzauber im Haus gewarnten Zauberer kamen wegen einer unsichtbaren Appariersperre nicht an das ausbrennende Trümmerfeld heran.

Lord Vengor apparierte in seinem Versteck und keuchte. Zwar hatte er seine eigentliche Aufgabe erledigt, den Blutsverwandten, der in diesen Tagen seinen Geburtstag begangen hätte zu töten. Doch das Auftauchen von Reinhilds Bruder und dass er Albrecht nicht unauffällig hatte beseitigen können ärgerte ihn. Vor allem die Erkenntnis, dass er starke Feinde besaß, die mit ihm unbekannten Schutzmitteln hantierten, erschütterte seine bisherige Überlegenheit. Wie viele Feinde gab es? Wer waren sie und vor allem, wie konnte er sie finden und erledigen? Von Reinhilds Bruder wusste er, dass er wohl die Gastwirtschaft in der Frankfurter Blaubirnengasse betrieb. Er beschloss, unverzüglich dort zu apparieren. Noch trug er seine Maske, die auch seine Stimme verfremdete. Niemand würde ihn erkennen.

Er konzentrierte sich. Er hatte die reuige Rotkappe nur einmal besucht, als er ein halbwüchsiger war und mit seinen Eltern ein paar Ferientage in Hessen verbracht hatte, um die Spuren alter Zauberer und Hexen abzuwandern, deren Geschichten zum Teil in die Märchenwelt der Muggel eingegangen waren, die dann von zwei Muggeln aus Kassel gesammelt und in Bücher gebannt worden waren. Ja, jetzt sah er den großen Schankraum mit seinen langen Tischen und den kleinen runden Tischen an den Wänden, der die gesamte Raumbreite beherrschenden Theke, sowie die Wandverzierungen, die aus einer alten Rotkappenmütze, Keltergerätschaften, einem mittelalterlichen Zweihandschwert und einem in Bronze gefassten Ochsenkopf bestanden. Jetzt meinte er auch den Lärm der Zecher zu hören, wie sie Apfelwein, Rotwein, Bier oder Met bestellten. Er roch den Duft gekochten Rotkohls, den die Hessen Rotkraut nannten, Bratwurst und Kartoffeln, aber auch den Geruch von Forellen und dem so genannten Handkäs. Jetzt hatte er sein Ziel sicher. Er konnte sich nicht verspringen oder gar zersplintern. Er wirbelte auf der Stelle herum und verschwand.

Vengor kannte das Gefühl dieser lichtlosen Enge, die alles an und in ihm zusammenpresste. Gleich würde er jedoch wieder in der hellen weiten Welt erscheinen und ... Da war ihm, als schlüge ein gleißender Blitz unmittelbar über ihm ein und jage ihm seine ganze elektrische Kraft durch den Leib. Er fühlte, wie etwas unbändiges ihn davonschleuderte. Diesmal meinte er, von der zusammenstauchendenDunkelheit vollständig zerquetscht zu werden. Er hörte sein Herz und das heftige Klopfen eines zweiten Etwas in seinem Körper. Dann fiel er und schrie, weil die Schmerzen des Energieschocks jetzt erst richtig in seinen Nervenbahnen angekommen waren. Er schrie wie bei seiner Geburt, lag am Boden und heulte. Erst nach einer Minute hörte die Pein auf. Auch der in ihm wirkende Kristall beruhigte sich wieder.

Er öffnete seine Augen. Er lag im Freien. Über ihm jagten die Sturmwolken dahin und ergossen ihre nasse Last über ihm. Er fühlte, wie die ihn umschließende Dunkelheit der Nacht ihn mit neuer Lebenskraft erfüllte. Er ließ sich in diesem Bad aus Dunkelheit, Wasser und Wind noch eine weitere Minute treiben. Dann erhob er sich. Er stellte fest, dass er keinen sichtbaren Schaden hingenommen hatte. Auch seine Kleidung und sein Zauberstab waren unversehrt geblieben.

"Du Narr hättest es ahnen müssen, dass dein Feind seine Heim- und Wirkstätte gegen von der Kraft der alles endenden Finsternis erfüllte Feinde geschützt hat", drang eine tadelnde Stimme in seinen Geist ein. "Sein Schutz hat dich trotz meiner Gabe abgewiesen, weil er über Generationen errichtet wurde. Außerdem bist du dort nun als großer Feind erkannt und wirst auch auf deinen Füßen nicht einmal mehr in die Nähe dieses Ortes gelangen. Du hättest nicht den kurzen Weg gehen dürfen, nicht nachdem du und dein Feind einander bekämpft habt."

"Verzeih mir, Meister Iaxathan. Doch ich wollte verhindern, dass jemand berichten kann, wie er verschwand", beteuerte der Zauberer, der sich Lord Vengor nannte.

"Duhättest ihn mit den Worten des schnellen Todes schlagen müssen, bevor er die Kraft seines Erbes entfesselt hat, du Narr", gedankenschimpfte Iaxathan.

"Dann ist er nicht tot?" fragte Vengor ziemlich einfältig.

"Als sein Erbe erfasste, dass du es mit den Worten des Todes überwinden würdest hat es seinen Träger und dessen Schwester in Sicherheit gebracht, weil sie beide Todesangst gefühlt haben. Du hast mit deinen Worten des schnellen Todes nur das Haus zerschlagen, du Fliegengehirn. Und dir habe ich die große Aufgabe zugeteilt, mein Helfer und Verbündeter in der Welt der Lebendigen zu sein."

"Aber ich habe ihn erledigt. Jetzt fehlen nur noch neununddreißig."

"Du bist so gut wie gescheitert. Denn zu diesen gehören ja auch die drei Abkömmlinge dessen, den du in dieser Mondphase töten musstest. Sie zu töten dürfte nach deiner einfältigen Tat um ein vielfaches schwerer sein."

"Es wird mir aber doch gelingen", begehrte Vengor auf. Jetzt schon sein Versagen einzugestehen widerte ihn an. Er wollte sich auch nicht als Versager beschimpfen lassen. Er sagte dann noch: "Wenn du mich zu deinem treuen Verbündeten haben möchtest, Meister Iaxathan, so gewähre mir mehr Einblick in dein Wissen. Denn nur so kann ich obsiegen und dir von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten. Denn wenn ich wahrlich scheitern sollte, dann wird wohl so leicht niemand mehr nach deinem Bund und Beistand fragen."

"Du wagst es, mir zu drohen, kurzlebiger Tor? Mir, dem mächtigsten Diener der alles endenden Finsternis wagst du zu drohen?!"

"Es ist keine Drohung, sondern eine Feststellung, Meister Iaxathan. Denn wenn ich versage und deine Strafe erhalte, so wird sie jeden anderen abschrecken, der darauf gehofft hat, ein Bündnis mit dir einzugehen. Ich werde auf jeden Fall weitermachen, bis ich entweder sterbe oder obsiege", erwiderte Vengor mit plötzlich wiedererstarkter Zuversicht. "Noch habe ich Zeit. Noch weiß niemand, wer ich in Wirklichkeit bin."

"Außer mir", lachte Iaxathan und nannte Vengors wahren Namen, was dem selbsternannten Erben Voldemorts sichtlich zusetzte. "Ich bin geneigt, deinem Treiben weiter zuzusehen, auch wenn ich jetzt schon gebieten könnte, dass du dort, wo du gerade stehst, zum lichtlosen Standbild der Mahnung erstarrst. Gedenke, dass ich diese Kraft habe, bevor du erneut gegen mich aufbegehrst!" Dies waren vorerst die letzten Worte, die Vengor von Iaxathan vernahm. Der in ihm pulsierende Kristall beruhigte sich nun völlig. Vengor wusste nicht, ob sein geisterhafter Bündnispartner bluffte oder die Wahrheit sprach. Doch er wusste, dass Iaxathan es sich nicht leisten konnte, ihn so früh aufzugeben. Denn dann würde es wohl wieder Millennia dauern, bis jemand kam, um mit ihm Kontakt aufzunehmen, wenn er bis dahin nicht völlig in Vergessenheit geraten würde.

Als Vengor die Gegend, in die ihn der unheimliche Rückprellwall geschleudert hatte genauer untersuchte, stellte er zu seiner Verblüffung und Belustigung fest, dass er genau dort angekommen war, wo seine Mutter ihn ganz ohne die hilfreichen Hände einer Hebammenhexe geboren hatte. Unter einem alten Eichenbaum hatte sie ihn auf die Welt gebracht. Seit seiner Zaubereiausbildung war er nicht mehr an diesem Ort gewesen. Seine Mutter hatte immer behauptet, dass sie einen Pakt mit dem Baum geschlossen hatte, ihn lebendig und gesund zu gebären und ihm als Mutter zur Seite stehen zu können. Wenn er sich jedoch zu lange bei dem Baum aufhalte, so könnte dieser sein Leben einfordern. Vielleicht war das nur ein Märchen, dass sie ihm aufgetischt hatte, weil sie ihm nicht verraten wollte, warum sie fern ab aller Menschen niederkommen musste und warum er bis heute nicht wusste, wessen Sohn er überhaupt war.

Vengor apparierte nun in sein Versteck zurück. Er hätte jetzt eh nicht mehr verhindern können, dass die Zecher in der reuigen Rotkappe die Sicherheitszauberer alarmierten, wenn den Fressern und Säufern überhaupt auffiel, wie und warum ihr spendabler Wirt verschwunden war. Womöglich musste Frohwein sein Geheimnis hüten, um keine Begehrlichkeiten des Zaubereiministeriums zu wecken. Darauf setzte Vengor seine Hoffnung. Er prüfte seine Liste der zu tötenden. Er strich den Namen Albrecht Ziegelbrand durch. Doch die drei von diesem Namen verzweigenden Linien, an deren Enden die Namen seiner Kinder standen, bereiteten ihm ein gewisses Unbehagen. Wie sollte er die drei töten? Gut, diese Frage hatte bis zum Mai Zeit. Bis dahin mochten alle, die die drei Jugendlichen betreuten, nicht mehr daran denken, dass er ihnen vielleicht noch gefährlich werden würde. Doch bis Mai würde er noch andere töten müssen, Leute, mit denen er früher oder später in Verbindung gebracht werden konnte. Die nächsten drei Kandidaten waren zwischen dem 1. und 5. Dezember fällig. Vielleicht konnte er es diesmal wirklich unauffälliger machen.

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Herriberts Elternhaus am Nordrand von Offenbach stand seit vier Jahren leer, seitdem Herriberts Mutter Heidrun mit ihrem Mann Guntram nach Brasilien ausgewandert war, wo sein Vater die Zauberpflanzen des Amazonasdschungels erforschte. Vier Jahre hatte sich nicht einmal ein Bundimun in dieses Haus gewagt. Denn jede Wand und jede Zwischendecke war von einem mächtigen Schutzzauber durchtränkt, der alle die bedingungslos vor Angriffen schützte, die in diesem Haus friedlich gewohnt hatten. In dieser Nacht jedoch endete die lange Ruhe. Mit lautem Plopp schoss ein gleißendheller Lichtwirbel aus dem Boden des geräumigen Schlafzimmers hervor. Keine Sekunde später verlor sich dieser Lichtwirbel in goldene Funken, die in alle Richtungen davonstoben. Zurückblieben die Geschwister Herribert Frohwein und Reinhild Ziegelbrand geborene Frohwein. Reinhild hatte die Augen geschlossen. Herribert blickte sich um und nickte. "Kannst die Augen wieder aufmachen, Hildi. Wir sind ihm entwischt. Und hier rein kommt der auch mit seinem schwarzen Talisman nicht", sprach Herribert beruhigend auf seine Schwester ein. Diese öffnete die Augen und vergoss sogleich eine Flut von Tränen.

"Er hat Alli ermordet, ihn einfach verbrannt. Wer war das?"

"Ein ziemlich übler Kerl. Kann sein, dass der unsere Familie erledigen wollte und bei dir und Al damit anfing."

"Einer von denen, von denen Opa Wilhelm erzählt hat?" fragte Reinhild.

"Zumindest einer, der auf den Spuren ziemlich dunkler Vorbilder wandelt. Kann auch sein, dass er es nur auf Albrecht abgesehen hat. Aber so richtig glauben möchte ich das nicht", erwiderte Herribert. Seine Schwester schneufzte noch einmal. Dann fiel ihr erst auf, wo sie waren. "Hast du uns hierhergebracht?" fragte sie erstaunt. Er schüttelte behutsam den Kopf und deutete auf das kleine Schmuckstück, das ihnen beiden im allerletzten Augenblick das Leben gerettet hatte. Dann deutete er auf das mit einem purpurrotem Baldachin überspannte Doppelbett.

"Weil wir beide Todesangst hatten und ich da gerade die mächtige Schutzkraft aufgeweckt habe hat uns mein Lebensretter dorthin zurückgebracht, wo wir unseren ersten Atemzug getan haben. Das ist irgendwie so eine Nebenwirkung, wenn der Stern seinen Träger nur noch in Sicherheit tragen kann", sagte Herribert. Dann sprach er sehr entschlossen: "Wir müssen zusehen, das an Güldenberg und die Lichtwächter weiterzugeben, dass ihr angegriffen wurdet. Wenn da wirklich wer meint, unsere Familie niedermachen zu wollen müssen wir Lebrecht, Krimhild und Irmgard schützen. Allerdings will ich nicht, dass dabei herauskommt, dass ich von Opa Wilhelm dieses Erbstück hier bekommen habe."

"Du meinst, der könnte auch hinter ihnen her sein?" erschrak Reinhild.

"Wenn es nichts mit der Arbeit deines Mannes an sich zu tun hatte tippe ich auf einen Vernichtungsfeldzug gegen unsere Familie."

"Dann müssen wir auch die Gräfin warnen", bemerkte Reinhild. Dem musste ihr Bruder zustimmen. Dann dachte er daran, dass die drei sicher sehr geschockt reagieren würden, wenn sie erfuhren, dass ihr Vater ermordet wurde und ihre Mutter beinahe auch umgebracht wurde.

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Bodo Nagelschmidt hatte sich auf eine Unterhaltung mit Greta Sandecker eingelassen, die extra von der Insel Feensand in der Nordsee nach Frankfurt gereist war, um über verbesserungen bei der Herstellung von Mondsteinsilber zu referieren. Die Übergriffe von Werwölfen in den letzten Wochen hatten es nötig gemacht, die wenigen wirksamen Bekämpfungsmittel außer offenem Feuer und dem Todesfluch zu optimieren.

"Auch wenn das Zaubereiministerium behauptet, die größte Gefahr sei gebannt müssen wir doch noch mit neuen Übergriffen der Wergestaltigen rechnen", sagte Greta Sandecker. Bodo, der beinahe seine Frau bei einem Werwolfüberfall in Köln Ehrenfeld beklagt hätte, wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als ein kurzer aber spürbarer Stoß durch den Boden ging. Die Wände des Schankraumes erzitterten für einen winzigen Augenblick, und in der Luft flimmerte es, als flögen Millionen beinahe unsichtbarer Funken herum. So schnell wie diese Erschütterung von Boden und Luft aufgekommen war, so schnell klang sie auch wieder ab. Doch alle hatten es mitbekommen. Beinahe Stille füllte den vorhin noch von munterem Gerede erfüllten Raum aus. Nur die beiden Uhren tickten unbeirrt weiter. Eine halbe Minute dauerte dieses angespannte Schweigen an. Dann sagte Dankward Frohwein mit ruhiger Stimme: "Alles in Ordnung, Leute. Nichts passiert."

Die Gäste sahen den Stellvertreter des Wirtes fragend und ungläubig an. So sagte er noch, dass diese kurze Erschütterung nur bedeute, dass wer versucht habe, mit einer ganzen Truppe von Leuten direkt im Schankraum zu apparieren, das aber seit dem Bau der Schenke unmöglich sei. "Wer immer uns da so plötzlich ins Haus kommen wollte wusste da nichts von", sagte Dankward Frohwein noch. Dann füllte er einen Bembel mit dem hier so beliebten Apfelwein und winkte einem der Schankmädchen, das den Krug zu einem der bereits länger hier sitzenden Zecher brachte. Damit endete die angespannte Stille wieder. Die Gäste nahmen die Fäden ihrer Gespräche wieder auf und sprachen dabei auch den vor ihnen stehenden Getränken zu.

Als Herribert Frohwein wieder aus der Tür für Personal heraustrat wirkte er angespannt, als habe er gerade eine betrübliche Nachricht erhalten oder eine brandgefährliche Lage überstehen müssen. Doch als er ganz in den Schankraum der reuigen Rotkappe zurückkehrte setzte er das berufsmäßige freundliche Gesicht auf, mit dem er die Gäste schon den ganzen Tag bedachte. Er erkannte natürlich, dass ihn alle ansahen und sagte, dass er nur eine sehr unangenehme Sache habe erledigen müssen, aber jetzt alles geklärt sei. Bodo Nagelschmidt und die anderen stellten keine weiteren Fragen.

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Dass er den Geheimgang und den kleinen Abstellraum kannte hatte die Sache perfekt gemacht. Schon lange hatten es der Junge, der von allen hier Goldstück gerufen wurde und die Tanz- und Turnkönigin Belladonna Lerchenflug schon darauf angelegt, sich klammheimlich zu treffen, um sich mal so richtig kennenzulernen. Dass sie miteinander gingen war durch Goldstücks dumme geschwätzige Schwester Irmgard schon dreimal durch die Burg. Dass er jedoch von seinem Onkel Herribert ein magisches Kletterseil mit sich selbst anhaftendem oder wieder lösendem Saugnapf geschenkt bekommen hatte wusste keine seiner zwei jüngeren Schwestern. Damit hatte es festgestanden, dass Belladonna ihren sechzehnten Geburtstag nicht als unberührte Jungfrau erreichen wollte.

Mit Hilfe eines Tarnumhangs, den Belladonna von ihrer Urgroßmutter Aconita geerbt hatte, hatten die beiden sich durch das Fenster einer Mädchentoilette im Erdgeschoss unerlaubten Zutritt zum achteckigen Hauptgebäude verschafft. Wer sie hier und jetzt schon erwischte konnte sie beide gleich für den vorzeitigen Heimflug vormerken. Das wussten beide. Doch der ZAG-Kandidat, den sie hier seit dem ersten verflixten Elternsprechtag nur noch Goldstück riefen, sowie die erste geborene Nachfahrin von Aconita Lerchenflug wollten es hier und heute wissen. Weil sie beide unter dem Tarnumhang unsichtbar waren trat der auf sichtbare Eindringlinge ansprechende Sittenwachzauber nicht in Kraft, der sonst jeden unerlaubt hier eintretenden Jungen mit lautem Tröten verriet. Sich ihrer verbotenen Taten bewusst schlichen sie so leise sie konnten durch das Schulgebäude bis zu einer Wand, auf der ein fröhliches Fest mit mindestens dreißig Leuten zu sehen war. Goldstück legte seine Rechte Hand auf ein abgemaltes Weinfass und wisperte: "In vino veritas!" Da schwang ein Stück der Wand nach innen und gab einen kurzen Durchgang zu einer Wendeltreppe frei. Immer noch unter dem Tarnumhang steckend huschten die beiden auf verbotenen Wegen wandelnden durch die Tür, die sich hinter ihnen lautlos schloss. Dunkelheit umfing die beiden Halbwüchsigen.

"Brauchen wir den Umhang hier noch?" wisperte Belladonna auf der Hut vor unsichtbaren Ohren.

"Besser ist's, wenn wir erst im Kellerraum sichtbar werden", wisperte Goldstück zurück.

Die Wendeltreppe führte an insgesamt vier ähnlicher Durchgänge vorbei nach unten. Erst auf der unteren Sohle schlichen die beiden immer noch unsichtbaren Nachtausflügler durch einen weiteren Gang und öffneten die Tür mit dem Passwort "Tempora mutantur!" Woher Goldstück diesen Schlüsselsatz kannte wusste Belladonna nicht. Ihr heimlicher Begleiter hätte ihr das wohl auch nicht erzählt, dass sein Onkel damals oft in der Nacht umhergeschlichen war, um die geheimgänge von Greifennest zu erkunden und dass dieser wiederrum von seinem Großvater die scheinbar nur Lehrern und Schuldienern bekannten Zutrittsworte kannte. Belladonna hatte ihre kleinen Geheimnisse. Er hatte seine kleinen Geheimnisse. Doch heute würden sie ein gemeinsames, bloß keinem zu verratendes Geheimnis begründen.

Der Abstellraum hinter einer dunklen Abzweigung enthielt große Steine, auf denen altgermanische Runen eingeritzt waren, Runen, wie sie in ähnlicher Form auch im Unterricht alte Runen drankamen. "Die wurden vor sechshundert Jahren hier eingekellert, weil der damalige Graf Gregorius eine Sammlung von den Dingern angelegt hat und auf den Steinen angeblich Anrufungen stehen, mit denen die alten Götter auf die Erde gerufen werden können", erwähnte Goldstück, als sie im Schein ihrer nun aufleuchtenden Zauberstäbe den Raum inspizierten. Woher Goldstück das Zutrittswort kannte fragte Belladonna nun doch.

"Mein Uropa Ingfried kannte die Kammer, weil er in Zaugesch und Runen die Utze gemacht hat hat und dafür mal die Erlaubnis kriegte, die Kammer hier zu erforschen, weil sein damaliger Hauslehrer wohl wollte, dass der voll was über alte Runen und damit machbare Zauber lernte. Tja, für die Oberspitzhüte von Greifennest dummerweise hat der die Zutrittswörter und -sätze nicht vergessen, sondern in einem Geheimtagebuch für seine direkt von ihm abstammenden Söhne oder Enkel aufgeschrieben. Tja, und irgendwie habe ich dieses Tagebuch mal gefunden und mir ein paar Sachen aufgeschrieben. Wo ich das Ding fand erzähle ich dir heute besser noch nicht."

"Kann man in dem Raum einen Klangkerker machen?" fragte Belladonna. Goldstück nickte. Er wusste nichts von einem Meldezauber gegen unerlaubte Zauber in diesem Raum. Sie nickte und hielt den Zauberstab bereit, als beide lange genug kein Wort gesprochen hatten.

"Nox!" wisperte sie. Ihr Zauberstablicht erlosch. "Sonincarcero!" flüsterte sie ein weiteres Zauberwort. Aus dem Zauberstab erstrahlte nun ockergelbes Licht, das einen gut sichtbaren Widerschein auf der Wand erzeugte. Schnell aber sorgfältig überstrich Belladonna alle Wände, den Boden und die Decke mit diesem Zauberlicht. Da glühten Boden, Decke und alle Wände im selben ockergelben Licht auf. Zeitgleich erlosch der Lichtstrahl aus Belladonnas Stab. "Wir müssen ja nicht gleich alle mit der Nase drauf stoßen, dass wir in meinen Geburtstag reinfeiern", sagte sie nun mit normaler Lautstärke. Ihre Stimme klang bereits so, als spräche eine Zwanzigjährige. Auch vom Aussehen her konnte Belladonna bereits für Volljährig durchgehen. Ihr schlanker, vom Turnen und Tanzen biegsamer Körper mit den kräftigen Armen und Beinen, der Kopf mit dem rosigen Gesicht, in dem ein roter runder Mund, eine schlanke Nase und zwei malachitgrüne Augen vorherrschten und der von bis auf den Rücken wallendem, nachtschwarzem Haar geschmückt wurde, hatten dem Jungen schon seit der dritten Klasse manch aufwühlenden Traum beschert. Ihm selbst war anzusehen, dass er viel Ausdauersport trieb und nicht umsonst ein schulweit gefürchteter Treiber seiner Quidditchmannschaft war. Flachsblondes Haar und verwegen dreinblickende vergissmeinnichtblaue Augen vervollständigten den Eindruck, es mit dem Sohn eines kühnen Kriegers aus dem Norden zu tun zu haben. Auch er hätte locker schon für volljährig durchgehen können. Das hatte ihm von seinen gleichalten Mitschülern her schon manchen neidischen Blick eingebrockt. Auch der Besenfluglehrer, der bei Turnierspielen auch als Schiedsrichter auftrat, hatte ihn immer wieder eher neid- als anerkennungsvoll angestarrt.

"Abstellkammer ist gut, Goldi. Das ist ja eine richtige Halle", stellte Belladonna nach einem prüfenden Rundblick fest. In der Tat maß der rechteckige Raum in der Länge an die fünfzig und in der Breite dreißig Meter. Die Decke war knapp fünf Meter über ihnen.

"Mein Uropa hat das hier als Abstellkammer bezeichnet, nicht ich", erwiderte Beladonnas Begleiter. Dann deutete er auf den dunkelblauen Marmorboden. "Hmm, ich habe aus dem Wäscheraum bei uns drei Decken und zwei Kissen ausgeliehen. Kann ich nachher in die Schmutzwäsche werfen", sagte er. Belladonna grinste und förderte aus ihrer Rocktasche ein fingerhutgroßes Rechteck heraus, dass sie nach kurzer Suche auf den im durchsichtigen Ockergelb schimmernden Boden legte. "Remagno!" Rief sie, während sie ihren Zauberstab darüber kreisen ließ. Schlagartig wuchs das winzige Ding zu einer einfachen Matratze mit blütenweißem Bezug an. "Engorgio!" rief sie dann noch. Unvermittelt wurde aus der normalgroßen Matratze ein knapp vier mal drei Meter großes Ungetüm von knapp anderthalb Metern Höhe. Damit stand für ihren flachsblonden Begleiter fest, dass sie es tatsächlich heute mit ihm tun wollte. Als sie dann noch ein verkleinertes Musikfass aus ihrer kleinen Umhängetasche fischte und mit einem Zauberstabstupser zum Abspielen sanfter, langsamer Musik anregte, holte er noch die abgezweigten Decken aus seiner Hosentasche und entschrumpfte diese, um sie dann ebenfalls mit dem Anschwellzauber Engorgius zu belegen.

Die nächsten zehn Minuten tanzten die beiden zur Musik aus dem kleinen Fass und tranken etwas von einer honigfarbenen Flüssigkeit, die Belladonna in ihrer kleinen Tasche mitgebracht hatte. Das Getränk berauschte, ohne die Sinne zu benebeln. Es regte an und machte Munter. Der Flachsblonde Junge fühlte, wie er immer mehr erregt wurde. Belladonna Lerchenflug empfand wohl wie er. Mit aufeinander abgestimmten Bewegungen und Handreichungen halfen sie einander aus den vorgeschriebenen Kleidern. Dann setzten sie sich auf die vergrößerte Matratze, frei von allem unnatürlichen. Sie kuschelten sich aneinander, hielten sich in einer erst sanften, dann engen Umarmung und kamen dann auf der vergrößerten Matratze zu liegen. Nach einer Minute stieß Belladonna einen kurzen Schmerzenslaut aus. Als ihr Geliebter deshalb von ihr loskommen wollte zog sie ihn energisch an sich. "Du bleibst da jetzt, wo du bist", schnarrte sie und umschlang ihn mit ihren Beinen. Er fühlte, dass er nichts anderes wollte, als mit diesem ausdauernden Hexenmädchen eins zu sein. Er fühlte die Wärme ihres Körpers, wie er immer mehr mit ihr verbunden war.

Die Zeit war nun bedeutungslos. Wichtig war nur, dass die beiden Halbwüchsigen sich immer wilder in ihrer verbotenen Liebe ergingen. Dann erbebte und schnaufte der Junge unter seinem ersten mit einer Frau erlebten Höhepunkt der Wolllust. Doch er fühlte sich nicht müder werdend. Er drängte danach, auch sie vollkommen glücklich zu machen, während er mit Mund und Händen ihren Körper berührte, während er seine Jungenzeit endgültig in ihrem wohlig warmen Schoß begrub. Dann errötete Belladonna schlagartig und schrie mehrmals hintereinander ihre ganze Lust hinaus. wäre der ockergelbe Schimmer des Klangkerkers nicht gewesen, so hätte man ihre Lustschreie garantiert in der ganzen Burg gehört, dachte Goldstück, während sie ihn noch einmal ganz eng an sich zog und sich dabei mit ihren Fingernägeln in seinen Rücken krallte, dass er einen gewissen Schmerz verspürte.

Erst nach zwei weiteren Minuten ließen sie voneinander ab. Sichtlich beglückt lagen sie nebeneinander und freuten sich über ihr erstes Mal.

"Ich habe mir den richtigen ausgesucht", sagte sie, nachdem sie ihre kurzfristige Erschöpfung überwunden hatte und streichelte ihm über die mit blondem Flaum bewachsene Brust. "Danke für dieses sehr schöne Geburtstagsgeschenk!"

"Du hast gerade so geklungen, als wenn du selbst gerade ein Kind bekämst", scherzte Belladonnas Liebhaber. Dann fischte er nach unten, wo sie ihre Kleidung abgelegt hatten und angelte seine Armbanduhr nach oben. "Oh, jau! Schon zehn vor eins. Alles gute zum Geburtstag, meine süße Tollkirsche!"

"Danke schön, mein flachsblonder Rosengärtner", antwortete Belladonna. Dann meinte sie: "Und damit dieser Tag nicht doch noch durch irgendwas verdorben wird möchte ich, dass du das Blaue Zeug in mich reintust." Mit diesen Worten angelte sie ihre kleine Umhängetasche vom Boden hoch und kramte eine geriffelte Flasche mit blauem Inhalt heraus.

Goldstück half ihr dabei, dass von der blauen Lösung nichts danebenging und sah zu, wie das Elixier leise gluckernd im Körper seiner Geliebten verschwand, bis die halbe Flasche leer war. "Das ist genug. Ich komme mir vor wie eine gerade aufgefüllte Sektflasche", scherzte Belladonna.

"Wenn's hilft", sagte Goldstück. Dann dachte er, dass es doch sehr bedauerlich war, dass sie beide gerade was taten, um zu verhindern, dass sie nach dieser Nacht schon Vater und Mutter wurden. Irgendwie, dachte er, war das doch Betrug an Mutter Natur, wenn er und Belladonna sich derartig absicherten, dass nichts passierte. Vielleicht sollte er sie noch einmal dazu bringen, ihn ranzulassen. Doch dann dachte er daran, dass sie beide in diesem Jahr erst die ZAGs machen wollten. Eine zweite Gitta Winkels in so kurzer Zeit, das hätten ihnen Magister Uriel Gleißenblitz, Magistra Gudrun Rauhfels und Heilerin Euphrasia Maiglock sicher nicht verziehen, dachte Goldstück, der mit wahrem Namen Lebrecht Balduin Siegbert Ziegelbrand hieß.

Nachdem beide sicher waren, dass sie keine verräterischen Spuren hinterlassen würden - Belladonna würde das Laken der Matratze selbst waschen und heimlich in den Wäscheraum zurückbringen - verließen die beiden züchtig verhüllt die Halle der Runensteine. Nichts darin deutete an, dass hier zwei Schüler die Grenze zu einem verbotenen Land überschritten und dieses ausgiebig durchforscht hatten.

Lebrecht sah noch, wie seine heimliche Geliebte über ihre durchsichtige Leiter in ein offenes Fenster auf halber Höhe des Mondenquellturmes hineinkletterte. Er selbst band sich das immer noch vom Badezimmerfenster im Sonnengoldturm herabhängende Seil um und dachte daran, nach oben zu wollen. Das Seil erwachte zum Leben wie eine Schlange und rollte sich immer mehr ein. Dabei wurde Lebrecht nach oben gezogen, bis er das Fenster erreichte. So heimlich wie er hinausgelangt war kehrte er ins Haus Sonnengold zurück. In seinem Schlafsaal löschte er die Schlafdunstkerze, die er vor seinem Aufbruch dort entzündet hatte. Vom Rest des davon erzeugten Rauches benebelt legte er sich in sein zugewiesenes Bett und schlief glücklich ein, nicht wissend, dass er am nächsten Morgen eine schreckliche Nachricht erhalten würde.

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"Achtung, Alarm!" wisperte eine Stimme im Kopfkissen von Andronicus Eisenhut. Der darauf schlafende hörte es noch nicht. "Achtung, Alarm!" erklang nun halblaut eine erregte Männerstimme aus dem Kissen. Andronicus erwachte und setzte sich blitzschnell auf. Er klopfte auf das Kissen und wisperte: "Alarm erhalten." Neben ihm erwachte seine Frau Kyra und fragte, was los sei. "Wurde gerade in mein Büro gerufen. Muss hin, sicher wieder diese Werwütigen", knurrte Eisenhut. Er schälte sich unter der Bettdecke hervor, stemmte sich aus dem Bett hoch und griff nach seinem Zauberstab auf dem Nachtschrank. "Schlaf du weiter. In das Haus kommen keine Werwütigen rein."

"Du bist lustig, wo diese indischen Wertiger gegen jede Magie immun sind", grummelte Kyra Eisenhut.

"Ja, aber die werden von unserem Wachtroll beharkt", grummelte Andronicus Eisenhut. Dass draußen vor dem Haus ein norwegischer Bergtroll mit zwei vollgetankten Flammenwerfern wachte war seiner Frau zwar nicht so geheuer. Doch seit klar war, dass die kriminellen Werwölfe sich mit den für ausgestorben gehaltenen Wertigern verbündet hatten hatten Eisenhut und sein Vorgesetzter die Bewachung durch Sicherheitstrolle mit magielos arbeitenden Flammenwerfern bestimmt.

"Dann sieh zu, dass du in einem Stück zurückkommst", seufzte Kyra Eisenhut. Ihr Mann hoffte das auch. Dann disapparierte er in sein Büro.

Karlo Glockenstuhl, der Schichtleiter der Lichtwächter, übergab dem Gesamtleiter einen Pergamentzettel. Darauf stand, dass der Verbindungszauberer zur Frankfurter Stadtpolizei um halb elf erfahren habe, dass ein alleinstehendes Haus gut zwanzig Kilometer vom Stadtrand eingestürzt und ausgebrannt sei. Es sei eine männliche Leiche in einem Umhang gefunden worden, deren Brustkorb wie von einem sehr heißen Flammenstrahl verkohlt worden sei.

"Ach, und das kriegen wir jetzt erst zu hören. Was für ein Haus ist es?" wollte Eisenhut wissen. Glockenstuhl beschrieb es ihm. "Verdammt, das Haus der Ziegelbrands", stöhnte Eisenhut. "In Ordnung, Leiche aus deren Obhut herausholen, alle damit in Berührung gekommenen Muggel gedächtnismodifizieren! Haus mit Rückschaubrille untersuchen!" gab er seine Befehle aus.

"Da können wir noch nicht hin, weil Feuerwehr und die Krriminalpolizei dort noch nach Spuren suchen", sagte Glockenstuhl.

"Als wenn uns das jemals aufgehalten hätte, wenn wir gegen eine unbekannte magische Gefahr vorgehen mussten", blaffte Eisenhut. "Los, Einsatztrupps Vergissmichs mitnehmen und dann das Haus untersuchen! Ich erwarte umgehend und vollständig zu erfahren, was dort vorgegangen ist!"

Fünf Minuten später erhielt Andronicus Eisenhut seinen Bericht. Dieser bestand im wesentlichen darin, dass jemand zwischen fünf nach neun und viertel nach neun Abends einen Unortbarkeitszauber über das Haus gespannt hatte, der jede bildhafte Einzelheit aus diesem Zeitraum in tiefschwarzem Dunst verschwinden ließ. Allerdings seien zwischendurch weiße Blitze durch diesen Dunst gezuckt, hätten diesen jedoch nicht zerstreut. Als die Unortbarkeit verflogen war habe das Haus bereits gebrannt und sei zur Hälfte eingestürzt. Wer und was genau den Einsturz herbeigeführt hatte war also auch nicht mit der Rückschaubrille aus Frankreich zu ermitteln. "Wozu taugt dieses teure Spielzeug überhaupt, wenn jeder sich unortbar machende Sabberhexensohn damit nicht zu erkennen ist?!" spie Andronicus seine Wut heraus, weil mal wieder was passiert war, was nicht durch magische Rückschauhilfen erkannt werden konnte. Er dachte an den Fall Tänzer, der vor einem Jahr und einem Monat Deutschland und Frankreich in Atem gehalten hatte.

"Gegen Unortbarkeitszauber gibt es noch keine ausreichenden Abhilfen", belehrte Glockenstuhl seinen Chef.

"Erzählen Sie mir mal was neues", knurrte Eisenhut. Dann verlangte er, nach Reinhild Ziegelbrand zu suchen. Denn deren Leiche war nicht gefunden worden. Es bestand allerdings die Möglichkeit, dass sie vollständig zu Asche verbrannt war. So bangte er bis zwei Uhr nachts, bis sich die Gesuchte von sich aus in seinem Büro meldete und ihm unter Tränen erzählte, wie ein Zauberer im dunklen Umhang, der einen giftgrünen Schlangenkopf auf den Schultern gehabt habe, ihren Mann und sie töten wollte. Ihr Mann habe dann mit einem Notfallzauber dafür gesorgt, dass sie entkam. Sie habe aber noch vor ihrem Verschwinden in einem Portschlüsselwirbel erkannt, wie der Fremde ihn mit einem beindicken Lichtspeer an der Brust getroffen hatte. Sie hatte dann noch das erste Wort des Todesfluches gehört. Dann wäre sie in der Nähe des Ortes angekommen, an dem sie selbst geboren worden war.

Andronicus Eisenhut fragte sie, warum sie nicht gleich Alarm gegeben habe. Sie erwiderte darauf, dass sie erst nach einer Stunde den Ort verlassen konnte, an dem sie der Notfallzauber abgesetzt habe. Denn nur dort sei sie wohl sicher gewesen, nicht angegriffen zu werden. Allerdings könne man von diesem Platz aus keine Gedankenrufe oder Hilferufzauber aussenden.

"Beschreiben Sie unserem Fahndungsmaler, wie dieser Fremde ausgesehen hat!" forderte Eisenhut von Frau Ziegelbrand. Diese erklärte sich sofort bereit, die genaue Bildbeschreibung zu liefern.

Während sie dem eilens herbeigerufenen Fahndungsbildmaler Größe und Gesicht des Angreifers diktierte versuchte Andronicus, die Erinnerungen der Betroffenen aus ihrem Geist zu schöpfen. Doch ein goldener Nebel vereitelte diesen Vorstoß. Es war, als habe jemand ihre Erinnerungen mit einem schützenden Schleier überdeckt, der jede legilimentische Ausforschung blockierte. Er dachte auch, dass jemand ihre Erinnerungen gezielt verändert haben mochte, damit sie diese Aussage machte. Doch legilimentische Untersuchungen verstießen gegen die Zaubererweltgesetze. Wenn da irgendwas war, dass nicht stimmte, dann musste er es auf andere Weise herausfinden. Am Ende hatte Reinhild Ziegelbrand ihren eigenen Mann ermordet und wollte es nun einem grüngesichtigen in die Schuhe schieben. Doch wozu dann das ganze Haus abfackeln? Das wäre doch zu auffällig, dachte Eisenhut. Dann sah er das immer deutlichere Bild, dass der Maler nach den Anweisungen Frau Ziegelbrands anfertigte. Es stach ihn wie ein glühendheißer Dolch ins Herz. Das Gesicht kannte er. Immerhin hatten die Strafverfolgungszauberer der ganzen Welt davon erfahren, was zwei Tage nach dem verbrecherischen Anschlag auf das Welthandelszentrum in New York passiert war. Ein grüngesichtiger Zauberer, der sich Lord Vengor genannt hatte, war dort erschienen und hatte aus den Trümmern einen kleinen schwarzen Kristall ausgegraben. Dieser Kristall schien ihn danach noch stärker gemacht zu haben. Ja und vor kurzem hatten die Kollegen drüben in Böhmen von einer Massenhinrichtungsstelle berichtet und vier ihrer Kollegen aus einem hermetisch verschlossenen Raum mit Locattractus-Funktion herausgeholt. Die vier hatten sich gegenseitig in Zauberschlaf versenkt, um nicht verhungern, verdursten oder ersticken zu müssen. Auch sie hatten übereinstimmend von einem grüngesichtigen Hexenmeister gesprochen, der mit nur einem Todesfluch mehrere fliegende Kollegen auf einen Streich getötet hatte. Dann ergab das mit dem ersten der beiden tödlichen Zauberwörter auch einen Sinn, dachte Eisenhut. Der Irre - er fand keinen sachlicheren Ausdruck für diesen neuen Dunkelhexer - hatte versucht, Reinhild mit dem Todesfluch zu treffen. Sie war im allerletzten Augenblick von diesem Notfallrettungszauber fortgeschleudert worden. Der Todesfluch hatte also kein lebendes Ziel mehr gefunden und war auf die Wand hinter ihr aufgeschlagen. Auch so schon wirkte ein auf tote Materie geschleuderter Avada Kedavra wie ein übermächtiger Sprengzauber. Wenn der Todesfluch wahrhaftig um ein vielfaches potenziert worden war mochte man mit einem Ausruf eine ganze Hauswand zu Staub zerblasen und dabei noch eine unbändige Hitze hervorrufen, die das Feuer im Haus entfacht haben mochte. Für Andronicus Eisenhut stand fest, dass Reinhild beinahe das Opfer jenes Verbrechers geworden war, der sich selbst Lord Vengor nannte. Das hieß aber auch, dass dieser mitbekommen hatte, dass sie gerettet worden war. Er würde sie als lästige Zeugin jagen und auch nicht davor zurückschrecken, ihre drei Kinder zu bedrohen, sofern ihm nicht von Anfang an daran gelegen war, die drei zu töten, um die Ziegelbrands auszulöschen.

"Wir werden Sie und ihre Kinder in einem anderen, durch Fidelius-Zauber geschütztem Haus unterbringen. Ich werde mich mit dem Minister noch darauf verständigen, besondere Schutzmaßnahmen für ihre in Greifennest lernenden Kinder zu treffen. Es wäre mir allerdings auch sehr wichtig, , wenn Sie mir verraten könnten, wie genau dieser Notfallrettungszauber funktioniert hat, den Ihr Mann vorbereitet hat."

"Das kann ich Ihnen leider nicht sagen, Herr Eisenhut. Er hat mir nur einmal gesagt, dass wir im Falle eines Angriffes gerettet werden, wenn einer von uns Todesangst verspürt. Den Zauber hat er wohl in seiner Freizeit ausgearbeitet."

"Dann hat er offenbar nicht genug Todesangst empfunden, um sich selbst zu retten", grummelte Andronicus Eisenhut. "Gut, dann bleibt uns nur, Sie und Ihre Kinder umzusiedeln und Ihren Kindern während der Zeit in Greifennest gewisse Schutzmittel an die Hand zu geben. Wir müssen leider davon ausgehen, dass der Verbrecher es noch einmal versuchen wird, Sie und/oder Ihre Kinder zu töten. Eigentlich müssten wir Sie vier in einen Zauberschlaf versenken, der erst endet, wenn wir den Verbrecher dingfest oder ganz und gar unschädlich gemacht haben. Doch das könnte sich als ein langwieriges Unterfangen erweisen", schnaubte er mit unüberhörbarer Verdrossenheit.

Als die Formalitäten geklärt waren wurde Frau Ziegelbrand in das sichere Haus der Lichtwächter gebracht. Ob sie da für immer bleiben musste wusste keiner.

"DA dachten wir, mit dem Ende von Nocturnia sei endlich einmal Frieden zu erwarten, und dann kommen diese Werwütigen und dieser grünköpfige Spinner, der versucht, noch wahnsinniger zu wüten als dieser Psychopath aus Großbritannien", blaffte Andronicus Eisenhut. Er wusste nicht, dass ein Teil der Geschichte Reinhild Ziegelbrands erlogen war. Sicher, der Angriff hatte stattgefunden, und geflohen war sie auch, aber auf eine Weise, von der das Ministerium nichts erfahren durfte. Denn das hatte sie ihrem Bruder Herribert versprechen müssen.

Als Andronicus Eisenhut endlich sein Büro verlassen und in sein trautes Heim zurückkehren konnte, regte sich die in einem bei ihm hängenden Bild abgemalte Hexe und wechselte in wenigen Sekunden in ein anderes ihrer Porträts. "Marga, gib es bitte an deine Schwestern weiter, dass der sich Lord Vengor nennende Nachahmungstäter zum einen die Ziegelbrands überfallen hat, um sie zu töten, zum zweiten offenbar wesentlich stärker geworden ist als in New York und abschließend wohl vielleicht die drei Kinder von Albrecht Ziegelbrand und seiner Frau bedroht. Reinhild Ziegelbrand wurde in ein geheimgehaltenes Haus umgesiedelt. Die Kinder werden wohl in den Ferien ebenfalls dort unterkommen. Bitte gib das weiter!" sagte die gemalte Hexe zu Marga Eisenhut, der Nichte von Andronicus Eisenhut. Diese ließ sich dann noch einmal alle Einzelheiten des an sich vertraulichen Gespräches und die Aussage Reinhild Ziegelbrands berichten und schrieb alles nieder. Als es nichts mehr zu vermelden gab kehrte die Ausgabe aus dem Büro von Andronicus Eisenhut in ihr Stammporträt zurück.

Marga Eisenhut seufzte. Dass mit ersten größeren Angriffen dieses grünköpfigen Irren zu rechnen war wusste sie ja schon. Sie fragte sich nur, warum es ausgerechnet die Ziegelbrands getroffen hatte. Sie wusste, dass Reinhild einen älteren Bruder hatte, herribert Frohwein, der die Schenke zur reuigen Rotkappe in der Frankfurter Blaubirnengasse betrieb. Vielleicht, so dachte Marga, galt der Angriff nicht Albrecht, sondern Reinhild Ziegelbrand und ihrer Blutsverwandtschaft. Doch das konnte die höchste Schwester gerne selbst überdenken und nachprüfen.

Als Marga alle erzählten Einzelheiten in eine zeitliche und sinngemäße Reihe gebracht hatte, disapparierte sie mit ihren Unterlagen, um in fünf großen Sprüngen in den US-Bundesstaat Mississippi überzuwechseln.

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Am nächsten Morgen erfuhren die Hauslehrer der drei Kinder Lebrecht, Krimhild und Irmgard Ziegelbrand, sowie alle deren Mitschüler, dass ihr Vater ermordet worden war und demnächst gewisse Schutzvorkehrungen getroffen werden mussten, damit der Angreifer oder dessen Handlanger sich nicht auch noch an den drei Kindern vergreifen konnten. Als Lebrecht Ziegelbrand die Eulenpost las, in der seine Mutter den Tod seines Vaters erwähnte, dachte er nicht mehr an die herrliche, verbotene Liebesnacht mit Belladonna Lerchenflug. Für ihn war in diesern Nacht eine Welt zusammengebrochen. Sein großes Vorbild war gestorben. Außerdem wollte er so schnell nicht zu seiner Mutter hin. Wenn die jetzt Rotz und Wasser heulte waren das für ihn Harpyientränen. Denn so gut hatten sich seine Eltern in den letzten Jahren auch nicht mehr verstanden.

"Gibt es eine Beerdigung?" wollte Lebrechts Klassenkamerad Horst Zunderschwamm wissen.

"Erst, wenn die wissen, wie sie die Gäste gegen diesen Sabberhexensohn absichern können, schreibt meine Mutter. Am Ende wollte der nur was machen, um uns alle abzumurksen und jeden, der dabei im Weg herumsteht."

"Da haben wir alle gedacht, nach Grindelwald und dem Trollrammler aus England wäre Ruhe", grummelte Horst, ein schrankbreiter Bursche mit rostrotem Haar. "Ich hoffe, ihr könnt euch noch anständig von eurem Vater verabschieden."

"Ja, und gleichzeitig zusehen, wie wir diesem Stück Drachenscheiße das eigene Lebenslicht ausblasen können", zischte Lebrecht.

"Sie und ihre beiden Schwestern erhalten natürlich einen Tag Frei, um mit ihrer Frau Mutter und den Lichtwächtern zu besprechen, wie es nun weitergeht", sagte Gräfin Greifennest nach dem Frühstück. Krimhild und Irmgard waren wegen der schlimmen Nachricht zu Heilerin Maiglock in den Krankenflügel geschickt worden.

"Die sollen bloß zusehen, von dem noch genug übrigzulassen, der meinen Vater umgebracht hat", schnaubte Lebrecht Ziegelbrand. "Den Rest will ich nämlich erledigen."

"Junger Mann, versteigen Sie sich bloß nicht in irgendwelche Rachegedanken", tadelte die Schulleiterin von Burg Greifennest den ZAG-Kandidaten. "So wie ich Herrn Eisenhut verstanden habe haben wir es mit einem sehr mächtigen Zauberer zu tun, der sich wohl darauf festgelegt hat, dem britischen Dunkelmagier Voldemort in allem nachzueifern und ihn zu übertreffen." Lebrecht hatte bei Nennung des gefürchteten Namens nur kurz mit einer Wimper gezuckt. Der Typ war tot, und wenn es nach ihm ginge, würde sein irrer Nachmacher auch bald nicht mehr leben. Doch zunächst stimmte er der Gräfin zu, dass er besser erst nur die Lichtwächter nach dem Verbrecher suchen lassen sollte und sich auf die ZAGs vorbereiten sollte.

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Vengor ärgerte sich, als er erfuhr, dass man ihn suchte. Sicher, wer er wirklich war wusste niemand. Doch der Umstand, dass es ihm nicht gelungen war, die Ziegelbrands heimlich zu töten und über mögliche Haarproben und Bilder der drei Kinder mögliche Fernflüche zu wirken, ärgerte ihn schon. Die größte Sorge bereitete ihm jedoch der Feind, der ihn zurückgetrieben hatte. Sicher, er wusste, dass es Herribert Frohwein war. Doch er kam nicht an ihn heran. Denn jedesmal, wenn er versuchte, ihm einen Fernfluch aufzuerlegen, blitzte es grell auf, und Vengor umtobten feuerrote oder giftgrüne Funkenwirbel der auf ihn zurückprallenden und von der meist unsichtbaren Schildaura des in ihm pulsierenden Unlichtkristalls abgelenkten dunklen Energien. Welche Macht konnte dieser Schankwirt, dieser Metzapfer und Bierpanscher beschwören, die selbst die durch den Kristall vervielfachte Wucht eines auf ihn geschleuderten Fluches zurückschleudern konnte? "Die Erben der alten Lichtfolger leben, und ihre vernichtenswürdigen Hilfsmittel sind für die Macht der wahren Finsternis schwer bis gar nicht zu zerschlagen, solange sie im Verbund der lebenden Erben Kraft aus dem unendlichen Gefüge von Raum und Zeit, Leben und Tod zu schöpfen vermögen", hatte der Geist Iaxathans ihm eingeflüstert. Vengor wusste, dass dieser Feind ihm den Todesstoß versetzen konnte, wenn nicht im direkten Zweikampf, dann doch dadurch, dass er ihn daran hinderte, seine Aufgabe erfolgreich zu vollenden.

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Sein Magen knurrte. Er wusste, dass er nicht mal eben in ein Gasthaus oder gar in ein Restaurant der Muggel gehen konnte um zu essen. Seitdem er diesen verfluchten Kristallstaub im Körper hatte konnte er nur Tiere oder Pflanzen verdauen, die weniger als einen Tag tot waren. Wollte er sein Vorhaben noch heute in die Tat umsetzen musste er erst einmal genug essen.

Der Morgen graute bereits, als Corvinus im Schutze seiner weißen Schlangenkopfmaske einen abgelegenen Bauernhof bei Carlisle erreichte. Das Muhen der Kühe drang bereits zu ihm vor. Wenn er sich mindestens zwei Hühner holen wollte musste er sich beeilen.

Er pirschte sich von hinten an den Hof heran und sah den kleinen Stall, in dem die Hühner untergebracht waren. Die Bauersleute würden gleich wohl zu ihren Kühen gehen um ihnen ihre Milch abzuzapfen. Ein mannshoher Zaun bezeichnete die Grenze des Hofes. Corvinus verlachte diese simple Abgrenzung. Er kletterte einfach über den Zaun hinweg, wobei er sehr drauf achtete, sich seinen dunkelblauen Umhang nicht anzureißen. Es fehlte noch, dass jemand einen Fetzen davon am Zaun fand. Corvinus hörte das erste Gackern der aufgewachten Hühner. Er holte den großen Leinensack hervor, den er mitgenommen hatte. Als er sich dem Hühnerstall näherte, bellte der Hofhund los. Corvinus unterdrückte ein Wutschnauben. An sowas hätte er doch echt denken müssen. Das kam eben davon, wenn man aus einer Stadtfamilie stammte.

Natürlich erregte das Gebell des nicht gerade kleinen Hundes Aufmerksamkeit. Ein stämmiger Muggel in grobem Leinenzeug trat aus dem Haupthaus und blickte sich um. "Roscoe, was ist?!" schnarrte er in unverkennbar schottischem Dialekt. Dann sah er den fahlgesichtigen Mann im Umhang, der gerade vor der Hühnerstalltür stand. Der Hofbewohner brüllte los: "Ey, runter von meinem Hof!" Doch Corvinus hatte bereits den Zauberstab in der Hand: "Stupor!" zischte er. Ein roter Blitz fauchte aus dem Zauberstab zu dem Bauern hinüber und traf ihn voll am Brustkorb. Wie ein gefällter Baum stürzte der Hofbesitzer zu Boden.

Corvinus vertat keine weitere Sekunde. Er eilte zur verschlossenen Stalltür. Ein Vorhängeschloss hing an der Tür. "Alohomora", dachte Corvinus und kitzelte das Schloss. Klickend sprang der Bügel auf. Das Schloss rutschte von selbst aus den Schließösen und fiel auf den Boden. Die Tür sprang von selbst auf. Corvinus tauchte in das dunkle Innere des Stalls. Der Gestank von Hühnermist und altem Stroh wehte ihm widerlich warm entgegen. Die Hühner gackerten sofort aufgeregt durcheinander. Zwei Hähne näherten sich dem Eindringling, um ihre Hennen zu verteidigen. Doch als sie bis auf Armeslänge an den Eindringling herangekommen waren schrien sie erschrocken auf und flüchteten wild flatternd in die äußerste Ecke des Stalles. Als Corvinus sich den ersten Hennen näherte stoben diese wild durcheinandergackernd und schrille Laute von sich gebend in alle Richtungen davon, nur weg von dem Unheimlichen, der gerade versuchte, nur eines der in Panik geratenen Hühner zu fangen.

Das Federvieh versuchte, sich auf die höchsten Stangen zu retten, die in dem Stall angebracht waren. Einigen gelang die Flucht durch die offene Stalltür. Die beiden Hähne zeterten und schlugen wild mit ihren Flügeln. Federn stoben durch den Stall. Die aufgescheuchten Hühner wuselten durcheinander. Corvinus sah, wie zwei Hennen aus lauter Panik Eier legten, die ins Stroh fielen.

Der Vergeltungswächter fand schnell heraus, dass er keines der Hühner mit bloßen Händen erwischen würde. Er zog den Zauberstab und deutete auf eine Henne: "Impedimenta!" Das Huhn erstarrte und gab Ruhe. "Impedimenta!" knurrte er noch einmal. Eine weitere Henne verfiel dem Lähmzauber. Da hörte Corvinus schnelles Klatschen von großen Pfoten auf dem Boden. Er hörte ein angespanntes Knurren und Hächeln. Dann war er da.

In der Tür tauchte die aufgerissene Schnauze einer Bulldogge auf. Der Hund sprang auf den Eindringling zu. Dieser hielt dem Tier den Zauberstab entgegen. Fast erreichte der Hofhund den ungebetenen besucher. Doch als wäre er auf eine unsichtbare Wand geprallt schleuderte ihn etwas zurück. Laut jaulend und mit eingeklemmter Rute zog sich der sonst wohl sehr furchteinflößende Hund in die Ecke des Hühnerstalls zurück. "Impedimenta!" zischte Corvinus. Er musste Grinsen. Offenbar wirkte die von ihm wohl ausgehende Ausstrahlung nicht nur auf dumme Hühner angsteinflößend, sondern auch auf zum Schutz von Hof und Eigentum scharfgemachte Hunde. Jetzt jedenfalls unterlag die Dogge dem Lähmzauber. Mit diesem machte Corvinus vier weitere Hühner bewegungslos. Dann sammelte er die Tiere ein und stopfte sie in den mitgebrachten Sack. Sicher konnte er nicht vier Hühner an einem Tag essen. Doch wenn er zwei Tiere als Lebendvorrat behielt, hatte er zumindest schon einmal für die nächsten Tage was zu essen. Einen der Hähne sackte er ebenfalls ein. Der andere Hahn hockte immer noch wild mit den Flügeln schlagend auf der höchsten Stange. Dann sammelte er noch alle frischgelegten Eier ein. Aus denen konnte er heute noch einen zünftigen Eierpfannkuchen zusammenzaubern. Immerhin hatte ihm seine Großmutter beigebracht, aus vorrätigen Lebensmitteln genießbare Speisen zu machen.

Um möglichst keine Spuren zu hinterlassen levitierte er den immer noch gelähmten Hund aus dem Stall hinaus. Dann schloss er die Tür und legte das Vorhängeschloss wieder vor, ohne es anzufassen. Er wusste, dass die Muggel mit Hilfe von Fingerabdrücken einen gesuchten Dieb oder Mörder aufspüren konnten. Als er dem geschockten Landwirt die Besinnung zurückgeben wollte stellte er fest, dass dieser nicht mehr aufwachen konnte. Der voll in die Brust gefahrene, überstarke Schockzauber hatte einen sofortigen und anhaltenden Atemstillstand herbeigeführt.

Als Corvinus mit seiner lebenden Beute disapparieren wollte, peitschten ihm kleine sirrende Geschosse gegen Kopf und Körper und prallten laut pfeifend ab. Einen winzigen Sekundenbruchteil später hörte er zwei laute Knälle. Irgendwer beschoss ihn doch wahrhaftig mit diesen verfemten Bleikugeln. Er wirbelte herum, den Sack über der Schulter und den Zauberstab in der Hand. Da sah er einen Mann Mitte dreißig, der erneut mit einem handlangen Rohr auf ihn zielte und mit dem Finger einen Bügel durchzog. Wieder schlug ihm etwas gegen die Brust, wobei es ein Loch in den Umhang stanzte. Beim Abprallen hinterließ das Ding noch ein Loch im Umhang und schwirrte zu seinem Absender zurück, der das Geschoss genau in die linke Schläfe bekam. Die Einschlagswucht war so groß, dass das Geschoss den Kopf des Schützen durchschlug und am Hinterkopf wieder austrat. Der Mann fiel blutüberströmt zu Boden. Der würde nicht mehr auf ihn schießen. Bevor noch jemand aufkreuzen würde suchte Corvinus sein Heil in der schnellen Flucht. Er disapparierte. Was mit den beiden Bauersleuten passierte betraf ihn nicht mehr. So hörte er auch nicht den langen Entsetzensschrei einer Frau, die aus einer Dachluke heraus beobachtet hatte, was in der Nähe des Hühnerstalls vorgegangen war.

Als keine Minute später alle menschlichen Bewohner des Bauernhofes aus dem Kuhstall und dem Wohnhaus herbeigeeilt waren und die beiden Toten fanden setzte eine hektische Debatte ein, wer das gewesen war. Der immer noch im Bann des Impedimentazaubers erstarrte Hund reagierte nicht auf Zurufe. Erst dachten die Farmbewohner, das Tier sei auch tot. Doch dann fand eine der Mägde heraus, dass die Dogge nur irgendwie in einer Art Starrkrampf steckte. "Rodney hat Roscoe rausgelassen, nachdem Dad irgendwen gerufen hat", sagte Leroy McFee, der Sohn des toten Bauern. Rodney, der Vormann der Knechte, war eindeutige erschossen worden. "Elsie hat behauptet, einen Mann mit einer Art Totenkopf gesehen zu haben, der einfach so verschwunden ist", sagte Pete, einer der drei unteren Knechte. Wendy, eine der Mägde, deutete erregt auf den erstarrten Hofhund. "Was hat man ihm getan?" fragte sie. Leroy McFee rief: "Ruhe, Leute! Was immer hier passiert ist kriegen wir gleich raus. Wenn der Typ oder was es war nicht die Kamera in der Buche ausgeknipst hat haben wir alles auf Video." Die Familienangehörigen des Bauern und das Gesinde nickten. Leroys Mutter Erin weinte um ihren toten Mann. Außer einem schwarzen Brandfleck auf Brusthöhe war nichts von einem tödlichen Angriff zu sehen.

"Okay, Pete, ich rufe Constabler McKoy an. Der soll am besten gleich die Kollegen aus der stadt anrücken lassen", sagte Leroy. "Pete, Bill, ihr passt bitte auf hier!"

Leroy wollte es noch nicht an sich heranlassen, dass sein Vater tot war. Allein die Frage, wer ihn umgebracht hatte war zu kompliziert für den jungen Landwirt, der eigentlich noch zwanzig Jahre warten wollte, bis er Chef auf dem Hof wurde. Doch jetzt musste er sich noch zusammenreißen. Er ging ins Haus und wählte die direkte Durchwahl zum in der Nähe postierten Ortspolizisten Brandon McKoy. Erst als er ihm die Lage geschildert hatte und erfahren hatte, dass der Constable gleich anrücken würde, fand Leroy Zeit, die schreckliche Gewissheit in sich wirken zu lassen, dass sein Vater tot war.

Während die Bewohner der Farm auf die Polizei warteten fand Leroy heraus, dass die Videokamera, die bei Berührung des Zauns ansprang, den Eindringling aufgenommen hatte. Allerdings sah es so aus, als habe sich der Unheimliche in einer schwarzen, an den Rändern flimmernden Nebelwolke vorangearbeitet. Nur dann, wenn er eine Sekunde stehenblieb drangen einzelne Umrisse durch den flirrenden schwarzen Dunst. Die Hofbewohner sahen, wie ein roter Blitzstrahl den Besitzer niederstreckte, wie die Tür vom Hühnerstall aufging und der Unheimliche im Stall verschwand. Sie sahen die in wilder Panik aus dem Stall rennenden und flatternden Hennen und dann den Fremden, der wieder ganz in flimmernde Finsternis gehüllt aus dem Stall zurückkehrte.

"Das kann es nicht geben", seufzte Leroy, als der Unheimliche sich einfach in Nichts auflöste. "Sowas geht doch nicht." Elsie, die Magd, schwor Stein und Bein, einen Mann mit einem bleichen Kopf ohne Haare aber mit roten Augen gesehen zu haben, der mit einem Sack über der Schulter alle auf ihn abgefeuerten Pistolenkugeln überstanden hatte und dann, als Rodney von einer seiner zurückprallenden Kugeln selbst getroffen wurde, einfach im Nichts verschwand.

Als der Constabler mit fünf Kollegen aus der Stadt eintraf und der mitgebrachte Gerichtsmediziner die beiden Toten untersuchte meinte Elsie: "Das war ein Dämon, ein böser Geist, der uns überfallen hat."

"Sagen wir es mal so, es muss jemand gewesen sein, der irgendwie die Kamera gestört hat", sagte Inspektor Cunningham, der aus Carlisle angereist war. Doktor Logan, der gerade den toten Hofbesitzer untersuchte, richtete sich auf und blickte die Anwesenden verärgert an. "Drehen wir hier jetzt die Uhren wieder zurück auf Mittelalter und Hexenjagd, oder was? Bevor ich die beiden Toten nicht untersucht habe ist jede Spekulation unpassend."

"So, dann sagen Sie uns mal bitte, wie Mr. McFee gestorben ist", blaffte einer der Knechte und erhielt Zustimmung von seinen Kollegen.

"Es sieht so aus, als habe ihm jemand einen glühenden Gegenstand in den Körper gestoßen, vielleicht auch einen starken elektrischen Schock versetzt. Näheres klärt die Autopsie", erwiderte der Arzt. Auf die Frage, wieso die verfeuerten Pistolenkugeln von dem Unbekannten abgeprallt waren wie von einem massiven Stahlblock und am Ende den Schützen selbst getötet hatten, wies der angereiste Detektivinspektor Cunningham mit der Begründung zurück, dass die Bilder der Kamera gefälscht sein konnten. Immerhin hätten die Hausbewohner ja genug Zeit gehabt, ein vorbereitetes Video in den Apparat zu legen. Das würde die Untersuchung zeigen. Der Constabler nahm die mal eben allesamt zu Verdächtigen erklärten Farmleute in Schutz und wies darauf hin, dass es wohl nicht nötig gewesen wäre, so einen Aufwand zu betreiben, wenn es einfach gereicht hätte, dass Mr. McFee "mal eben" unter einen Traktor hätte geraten können und die Farmleute ihn dann still und heimlich hätten verscharren können. Am Ende einigten sich Polizisten, Gerichtsmediziner und Farmleute darauf, dass die Spuren und die Videoaufnahme schon verraten würden, was wirklich passiert war. Eine Bestandsaufnahme der Rinder, Hühner und Schweine ergab, dass vier Hennen und einer der Hähne fehlten und auch nirgendwo auf dem Hof versteckt waren. Der Hund erwachte aus seiner Erstarrtheit. Was ihm passiert war sollte eine amtstierärztliche Untersuchung klären. Falls er von einem Betäubungspfeil getroffen worden war, würde das Narkosemittel wohl im Blut und Speichel der Dogge nachzuweisen sein. Mit dieser vorläufigen Feststellung rückten die Polizisten mit den beiden Toten und dem Hund wieder ab.

Das alles bekam Corvinus Flint nicht mit. Er war damit beschäftigt, seinen Fang in einer von ihm aus Baumstämmen zusammengezauberten Hütte unterzubringen. Dann zog er aus, um auf einem anderen Hof noch zwei lebende Schweine einzusacken. Hierbei kam es zu keinem Zusammenstoß mit den Besitzern.

Eines der Hühner schlachtete Corvinus gleich nach Ende seines zweiten Raubzuges. Das Knurren in seinem Magen verging, als er das gebratene Fleisch der getöteten Henne aß. Dazu noch ein paar frischgepflückte Früchte, dann war sein Hunger gestillt. Er konnte nun losziehen, um sein eigentliches Vorhaben auszuführen.

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Godric's Hollow gehörte mit voller Absicht zu jenen Ortschaften, die das Etikett "Verschlafenes Nest" trugen. Nichts von großer welt- oder auch nur landespolitischer Bedeutung war von hier ausgegangen. Berühmte Söhne oder Töchter waren in diesem Dorf auch nicht geboren worden. Zumindest war das die gängige Meinung der Bewohner, die ja gerade deshalb hier wohnten, weil es hier den Großteil des Jahres ruhig und beschaulich zuging.

Warum der Ort Godric's Hollow hieß konnte die Mehrheit der Einwohner nicht sagen. "Wissen wa nich'. Hieß schon imma so", war eine der am häufigsten gegebenen Antworten, wenn jemand nach dem Namen fragte. Selbst in den Kirchenbüchern und dem kleinen Archiv, das im fensterlosen Keller des Rathauses verwaltet wurde, fand sich kein Hinweis auf den Namensgründer, ja überhaupt auf das Gründungsjahr. Es interessierte auch keinen Geschichts- oder Erdkundler, wann von wem und warum dieser Ort gegründet worden war. Das dies so blieb, dafür sorgte der alte Morton Foster, der für die Mehrheit der Bewohner ein vom Alter gebeugter, schon leicht verwirrt wirkender Bibliotheksgehilfe war. Tatsächlich zählte Foster schon stolze hundertfünfzehn Jahre. Immer dann, wenn sich jemand für die Geschichte des Ortes interessierte und bei Foster Einsicht in die alten Bücher und Dokumente erbat oder einforderte, holte der betagte Bücherabstauber einen ebensobetagten Holzstab hervor, und am Ende dachte wer immer die Bücher lesen wollte, er habe sie gelesen und nichts gefunden, was über den Ursprung des kleinen Dorfes Auskunft gab.

Dreimal im Jahr lebte Godric's Hollow auf. Das war zum Frühlingsmarkt, der zwischen dem 25. April und 2. Mai abgehalten wurde, dann am fünften November, wenn die Kinder große Strohpuppen verbrannten, die an Guy Fawkes erinnerten, während ihre älteren Geschwister und die Erwachsenen Feuerwerkskörper zündeten, und dann noch zur alljährlichen Weihnachtsfeier, wenn auch Touristen aus großen Städten eintrafen, um sich an unverfälscht traditioneller britischer Folklore zu erfreuen.

Es schien, als sei der Albdruck der Terroranschläge und des diesen folgenden Kriegszuges in Afghanistan nicht in dieses kleine Dorf vorgedrungen. Die Leute feierten den fünften November. Hier und da krachte schon ein Knallfrosch, donnerte ein Böller oder schwirrte ein Luftheuler. Die Kinder und Jugendlichen umtanzten die von ihnen zusammengebundenen Strohpuppen und warteten darauf, diese in Brand stecken zu dürfen, natürlich beaufsichtigt vom Direktor der örtlichen Feuerwehr.

Der Marktplatz war mal wieder voller Menschen. Niemand achtete auf die Gestalt im dunklen Umhang, die abseits des fröhlichen Trubels um den alten Friedhof schlich. Corvinus Flint hatte seine bleiche Schlangenkopfmaske aufgesetzt. Unter ihr fühlte er sich seltsamerweise sicherer, auch wenn sie an sich auffälliger war. Doch solange niemand wusste, dass er schon zu den Todessern gehört hatte, musste ihn niemand bei verbotenen Taten erkennen, selbst wenn er jeden Zeugen gnadenlos verstummen lassen würde.

Der Friedhof war in zwei Abschnitte aufgeteilt. Der eine beherbergte die Gräber der Einwohner, die keinen Funken Magie im Leib gehabt hatten. Der andere Teil, sorgfältig durch Raumumgehungs- und Verhüllungszauber vom ersten Abschnitt getrennt, enthielt hunderte von Gräbern hier zur letzten Ruhe gebetteter Hexen und Zauberer, die sich und diesen Ort auch über Britanniens Grenzen hinweg berühmt gemacht hatten. Das berühmteste Grab, das wie ein klassischer spitzer Zaubererhut aus schwarzen und roten Marmordreiecken aussah und eine zwei Meter hohe Hecke als Rand besaß, war das Grab von Godric Gryffindor, einem der berühmtesten Zauberer des ersten Jahrtausends, einem würdigen Erben Merlins, wie die Geschichtsbücher es immer behaupteten. Corvinus beachtete das monumentale Grabmal mit einem verächtlichen Blick. Die durch die Maske rotgetönten Augen glühten voller Abscheu, als ihr Blick auf den zehn Meter hohen Marmorkegel fiel. Wegen Gryffindor war Hogwarts zu einem Pfuhl der Wertlosen und Schmutzblütigen geworden.

Mit etwas geringerer, aber doch noch erkennbarer Abschätzigkeit betrachtete Corvinus die Gräber der Eheleute James und Lily Potter. Ihretwegen war der dunkle Lord zweimal gestürzt worden. Das nicht weit davon weg die Gräber der Dumbledores lagen konnte Flints Unmut nicht besänftigen. Wo er hinsah erkannte er die Ursachen für sein schweres Los, immer auf der Flucht zu sein und jetzt als Träger einer unheilvollen Substanz sogar Abhängig von einem ihm namentlich unbekannten Nachahmer zu sein.

Als er ein Grabmal sah, das wie ein runder Hügel mit einem weißen Aufsatz auf der Kuppe aussah, empfand Flint zum ersten Mal eine gewisse Erheiterung. Er näherte sich dem Grab und blieb einen Meter vor dem Fuß des Grabhügels stehen. Er sah hinauf zu dem weißen Etwas, eine kleine Kuppel, auf der in großen Buchstaben und in magischen Runen zu lesen stand:

Hier ruht in ewigem Frieden
die große Hüterin der Vergangenheit
Professor Magistra Bathilda Ileen Gwendoline Backshot.
Ihr Leben galt der Erforschung des Vergangenen zum Wissen der Gegenwärtigen
und Wegbereiterin des Zukünftigen.
Sie wart Geboren 1820.
Sie ging dahin 1997
Requiescat in pace!

Corvinus erinnerte sich noch gut daran, wie der dunkle Lord ihm und den anderen Todessern verheißen hatte, dass Bathilda Backshot ihm Harry Potter zuführen würde, auch wenn sie schon längst tot war. Aus diesem Plan wurde jedoch nichts.

Corvinus Flint passierte schnell das Haus der Potters, das zu einem Denkmal des Widerstands geworden war. Wer wollte konnte das Haus besichtigen und eine Spende für den Fond der Opfer der Todesser entrichten. Das hatte Harry Potter nach der Schlacht von Hogwarts als Erbe dieses Hauses verfügt, da er von seinem Patenonkel ein eigenes Haus zum Wohnen geerbt hatte. Auch das Haus von Bathilda Backshot war zu einem Museum umfunktioniert worden, weil es keinen lebenden Erben gab. Im wesentlichen war das Haus eine Bibliothek und eine Galerie mit Fotos und Gegenständen aus dem letzten Jahrhundert. Hier fanden sich ebenso Bilder von Gellert Grindelwald, als auch Bilder aus den beiden Zeiten des dunklen Lords. Vor allem die Bibliothek war für Verehrer der Zaubereigeschichte sehr interessant. Der Tagesprophet hatte bei der Freigabe des Hauses als magiehistorische Begegnungsstätte geschrieben, dass hier Bücher aus den letzten drei Jahrhunderten lagerten, die das Geschichtsverständnis der Zauberergemeinschaft erheblich erweitern konnten.

Corvinus legte keinen Wert darauf, als ordentlicher Besucher in das Haus zu gehen. Was er hier suchte sollte möglichst ohne einen Zeugen enthüllt werden. Das ging schon mit der Tür los, auf der ein Meldezauber lag, um Leute wie ihn zu verraten, die das hier gehortete Wissen nur für sich allein erbeuten wollten.

Corvinus prüfte den Zugang zur Eingangstür und erkannte, dass er nur mit magischer Gewalt an dem unsichtbaren Überwachungszauber vorbeikommen würde. Die Hauswände selbst waren gehärtet worden und blockierten so den direkten Durchschlüpfzauber. Die Fensterscheiben waren sicher unzerbrechlich bezaubert und obendrein mit Annäherungsmeldezaubern belegt. Doch er wollte ja eh nicht in die oberirdischen Räume hinein. Er wusste, dass die wahrhaft interessanten Bücher aus der Zeit von Tobias Wishbone in einem tiefgelegenen Keller verstaut waren. Doch um in diesen hineinzukommen musste er erst einmal einen heimlichen Zugang zum Haus finden. Er entdeckte eine alte Esche an der Rückseite des Hauses. Einer ihrer Äste reichte bis zwei Meter an den Dachrand heran. Corvinus pfiff leise durch die Zähne. Das würde ihm ausreichen. Er näherte sich dem Baum. Dann berührte er seine Füße und Hände mit der Zauberstabspitze, wobei er "Muscapedes" murmelte. Er fühlte ein sanftes Kribbeln in Händen und Füßen. Dann legte er seine Hände so hoch er konnte an die Baumrinde und zog die Füße an. Es gelang. Er haftete mit den Händen an der Rinde. Sie war dick genug. Er nahm eine Hand fort und drückte statt dessen den linken Fuß auf Hüfthöhe an den Baum. Ja, das ging auch. Er zog sich einen halben Meter nach oben, bis seine am Baum haftende Hand auf Unterleibshöhe war. Er legte die freie Hand an den Baum und zog sich weiter nach oben. Jetzt gewann er wieder die genaue Bewegungsabstimmung, die er als Jugendlicher besessen hatte, wenn er völlig gefahrlos an einem hohen Baum hinauf- und wieder hinunterklettern wollte.

Nach einer nur eine Minute dauernden Kletterpartie erreichte er die unteren Äste der Esche. Wie von einem Trampolin abspringend federte er von einem starken Ast weiter nach oben, hinein in den bereits stark entlaubten Wipfel des Eschenbaumes. Dann hangelte er sich bis zu dem Ast, der dem Dach am nächsten hervorragte. Er klammerte sich mit den Füßen an zwei benachbarten Ästen fest und strich mit dem Zauberstab vom Baum weg zum Haus den Ast entlang, wobei er "Rame prolongato!" murmelte. Der Baum knarzte. Immer wieder, wenn er diesen Zauberspruch murmelte, erbebte das Holz der Esche. Der Ast erzitterte. Doch jedesmal, wenn er den Zauberspruch murmelte, wurde der Ast ein wenig länger. Erst waren es nur ein paar Zentimeter. Dann war es schon ein Viertelmeter. Als der Ast nur noch einen Meter vom Dach entfernt war passierte es.

Gänzlich ohne Warnung flogen Corvinus vier zweigdünne Gebilde entgegen, die wild schnarrend ihren Unmut bekundeten. Zahllose, mit krallen bewehrte Gliedmaßen packten zu. Bowtruckels, die Wächter von Bäumen. Corvinus hatte nicht damit gerechnet, in einer menschlichen Ansiedlung welche anzutreffen. Doch jetzt fielen diese vier Bowtruckels über ihn her, griffen nach seinen Armen, seinem Hals und versuchten auch, ihm ihre holzigen Zähne ins Gesicht zu graben. Die kleinen Zaubertiere waren schnell, biegsam und stark. Das musste Corvinus einmal mehr anerkennen, als es ihm nicht gelang, einen der Bowtruckels von sich abzuschütteln. Wie hölzerne Tausendfüßler und geschmeidige Schlangen wuselten sie auf ihm herum. Er hatte Mühe, sie von seiner Nase und den Augen fernzuhalten. Sie zerrten an ihm, versuchten, sich unter seine Kleidung zu wühlen oder ihm kräftig in Arme und Hände zu beißen. Das vertrackte war, die vier blieben nicht alleine. Aus bisher unbemerkten Spalten in der Rinde schossen weitere Baumwächter hervor und griffen den Störenfried und Baumbezauberer an. Dieser sah sich am Ende von zwanzig ihn beißender und kratzender Baumwächter belagert. Da kam ihm die entscheidende Idee. Vengor hatte erwähnt, dass keine körperliche oder magische Angriffskraft ihm schaden konnte. Er zielte mit dem Zauberstab auf sich selbst und rief: "Iovis!" Als er das rief versuchte ein Bowtruckel, in seinen Mund hineinzufahren. Doch da blitzte es aus Corvinus Flint heraus gleißendhell auf. Er spürte zwar, wie sein eigener Zauber ihm die Muskeln und Nerven zusammenzucken machte und fühlte den gewaltigen Energiestoß durch den Leib jagen. Doch um sich herum brach ein lautes, für menschliche Ohren fast schon unhörbar hohes Kreischen aus. Die auf ihm hockenden und herumkrabbelnden Baumwächter fielen qualmend von ihrem Gegner ab und stürzten bewegungslos in die Tiefe. Noch einmal behandelte sich Corvinus mit dem Stromschlagzauber. Das war auch für die drei nicht so lang auf ihm ausgestreckten Bowtruckel zu viel. Mit einem lauten Kreischlaut fielen sie von ihm ab und stürzten, eine weiße Rauchfahne hinter sich herziehend, durch den fast entlaubten Baumwipfel nach unten, ohne sich irgendwo festkrallen zu können.

"So viel zu euch", knurrte Corvinus und begutachtete seinen Körper. Die Kratz- und Bisswunden schlossen sich bereits wieder. Er konnte aber sehen, dass sein Blut so schwarz wie Pech aus den Wunden quoll. Seine Kleidung war durch die Baumwächter und die beiden Stromschlagzauber stark beschädigt worden. Der Vergeltungswächter schnaubte ungehalten, weil ihn "Diese Baumbiester" aufgehalten hatten. Doch nun fuhr er fort, den bezauberten Ast weiterwachsen zu lassen. Je länger er wurde, desto schneller wuchs er. Dann endlich erreichte seine Spitze das Dach.

Corvinus hangelte sich hinüber und kletterte auf das Dach. Er belegte sich noch einmal mit dem Muscapedes-Zauber, um auf den glatten, moosbewachsenen Dachpfannen sicheren Halt zu haben. Zumindest war niemand auf die Idee gekommen, das Dach mit Dauerglätte und Unanhaftbarkeitszaubern zu belegen. Krabbelnd wie ein Riesenbaby gelangte Corvinus zu einem der zwei großen Schornsteine. Als er dessen oberen Rand erklomm blickte er erst einmal hinein. Dann führte er einen Prüfzauber aus, um zu erfahren, ob der Kamin mit einer magischen Durchlasssperre für etwas größer als ein Staubkorn verstopft war. Er grinste innerlich als er herausfand, dass es keine solche Absicherung gab. Er machte sich so dünn er konnte und ließ sich, die Füße voran in den schon lange nicht mehr rauchenden Kamin hinab.

Nur einen Moment lang befürchtete er, im leicht verrußten Schacht stecken zu bleiben. Doch mit einer leichten Windung überwand er die Engstelle. Er landete auf einem kalten, blanken Kaminrost und erkannte, dass er im ehemaligen Wohnzimmer der Hausbesitzerin angekommen war. Er musste lachen, weil ihm der Gedanke kam, auch mit Flohpulver hier hereingelangt zu sein, wenn er die Flohnetzadresse des Hauses gekannt hätte. Doch dann erkannte er, dass das Haus längst schon vom Flohnetz abgetrennt worden war. Bei Verstorbenen ohne Erben war der Regulierungsrat sehr schnell dabei, nicht mehr benötigte Anschlüsse stillzulegen.

Das Wohnzimmer war noch vollständig eingerichtet. Jeder, der es betrat mochte denken, dass die Bewohnerin nur für eine Weile verreist war. Kein Staub bedeckte die Tische, Stühle, die Schrankwand und die Truhe mit dem gewölbten Deckel. In Schrank und Truhe war aber nichts, wusste Corvinus. Als die vom Ministerium Bathildas toten Körper gefunden hatten, hatten sie alles, was kein Buch gewesen war, aus den Schränken herausgenommen und an Altholz- und Altmetallverwerter verkauft. Nur in Bathildas Schreibstube würde er noch einen arbeitsbereiten Schreibtisch mit Federn und Tintenfass vorfinden. Doch da musste er nicht hin.

Immer auf der Hut vor Meldezaubern in den Türen suchte er nach einem bestimmten Punkt in der westlichen Wand des Hauses. Doch wie sollte er diesen bestimmten Punkt erfassen? Alle Bücherregale wurden von einem unsichtbaren Schleier aus Zauberkraft verhüllt, der verhinderte, das daraus entnommene Bücher aus dem Haus getragen werden konnten, oder, sofern nicht für minderjährige Zauberer zugelassen, gar nicht erst aus den Regalen herauszuziehen waren.

"Spectabiliporta!" murmelte Corvinus, nachdem er knapp eine halbe Stunde die westliche Hälfte des Backshot-Hauses untersucht hatte. Doch der sonst zuverlässige Anzeigezauber für Türen aller Art, auch wenn sie geheim waren, griff hier nicht. Wer immer das Haus mit Schutzzaubern bestückt hatte, er oder sie hatte auch diesen Auffindezauber mit einbezogen. Statt klarer Umrisse von Türen zu zeigen erglühten die Wände oder der Boden im gleichen weißen Licht, wie es bei einer eindeutigen Tür erstrahlte. Er überlegte, wie Bathilda diesen Kellerzugang wohl finden und öffnen konnte. Hier im westlichen Abschnitt musste er doch sein. Dann kam ihm eine weitere Idee. Er wusste nicht, ob sein vom Kristallstaub durchsetztes Blut das zuließ. Doch den Versuch war es sicher wert.

Corvinus zog aus seinem Umhang ein kleines Klappmesser mit silberner Klinge hervor. Die Klinge war mit mehreren Zaubern präpariert, darunter auch einem besonders wirksamen Persectum-Zauber. Er zog die scharfe Klinge kurz durch seine linke Handfläche, bis Blut kam. Doch das schwarze Blut sickerte nur ein wenig. Dann schloss sich die Wunde wieder. Egal. Das was ausgeflossen war mochte reichen. Er drückte die besudelte Hand auf den Boden und hob wie zu einem feierlichen Akt den Zauberstab: "Sanguis meus sanguinem familiarem vocato!" Sofort erhitzte sich seine Hand. Er meinte, ein leichtes Beben zu fühlen. Von oben schien eine unsichtbare Ameisenarmee über seine erhobene Hand zu krabbeln. Dann rumpelte es. Ein Bücherregal geriet ins Wanken und fiel. Dann spannte sich von dort, wo es gestanden hatte ein blutroter Lichtbogen, der jedoch von schwarzen Schlieren unterbrochen wurde. Als der Lichtbogen den erhobenen Zauberstab berührte meinte Corvinus, in kochendes Wasser geworfen worden zu sein. Er schrie auf. Etwas von der Quelle des roten Lichtbogens vertrug sich nicht mit etwas in seinem Körper. Das ganze Haus geriet in leichte Schwingungen. Corvinus schrie seine Schmerzen hinaus. Dann knallte es. Ein blutrot glimmender Steindeckel flog aus dem Boden heraus und krachte gegen die Decke. Eine Sekunde später polterte er gegen das an der gegenüberliegenden Wand aufgebaute Bücherregal und kam auf dem Boden zu liegen. Im gleichen Moment erlosch der blutrote Lichtbogen, der von schwarzen Schlieren durchsetzt wurde. Sofort griff die regenerierende Kraft des Kristallstaubs. Die Corvinus umgebende Dunkelheit wirkte wie eine belebende Quelle auf den Vergeltungswächter. Die höllischen Schmerzen verflogen und machten einer großen Genugtuung Platz.

Die freigelegte Öffnung war der Einstieg zu einer Wendeltreppe, die sich in einer sehr shmalen Spirale in die Tiefe hinabwand. Corvinus zögerte nicht lange. Er dachte "Lumos!". Dann stieg er in den freigelegten Schacht hinunter.

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"Bei allem Respekt, Herr Minister. Aber müssen wir wirklich einen Hühnerdieb jagen?" fragte Ernie MacMillan, einer der jungen Auroren, die zusammen mit Harry Potter bereits in Dumbledores Armee mitgekämpft hatten. Der Zaubereiminister der britischen Inseln nickte schwerfällig. Dann deutete er auf ein Pergamentblatt, dass die Größe eines in der Muggelwelt üblichen Posters besaß. Er deutete dann auf die verschlossene Tür. "Wenn Mr. Potter auch kommt werde ich Ihnen erklären, was es mit diesem Hühnerdieb auf sich haben könnte", sagte der dunkelhäutige Zaubereiminister mit seiner weithin berühmten Bassstimme.

Als Harry Potter ebenfalls eingetroffen war und erst den Minister und dann seinen muggelstämmigen Schulkameraden und Kampfgefährten begrüßt hatte drehte Kingsley Shacklebolt das Pergamentblatt um. Jetzt konnten sie alle sehen, dass es ein starres Bild eines Mannes mit bleichem Kopf war, der von schwarzen Dunstschleiern beinahe unkenntnlich verhüllt wurde.

"So hat es das elektrische Überwachungsauge des Hofes aufgenommen und festgehalten. Arthurs Leute haben das Bild mit einem eigenen Bildumwandlungsgerät auf Pergament übertragen. So sah der Täter also für elektrische Kameras aus. Und so hat ihn eine der Mägde des Hofes gesehen", sagte Kingsley und tauschte das Pergament gegen ein zweites Pergament aus, dass den Täter ohne die ihn umgebenden Dunstwolken zeigte. Harry und Ernie erstarrten eine Sekunde. Denn so wie der Mann dargestellt war, war es Tom Vorlost Riddle alias Lord Voldemort. Doch der war eindeutig tot. "Nun, ich habe auch nicht schlecht geguckt, als ich sah, wie ähnlich der Bursche Riddle sieht. Aber dann kam mir in den Sinn, dass es sich um einen Nachahmungstäter handelt, der den zum Glück für uns alle erledigten Verbrecher so sehr verehrt, dass er sich sein Erscheinungsbild verliehen hat. Ich vermute eine den ganzen Kopf umschließende Maske, ähnlich wie ein Gummitotenschädel, wie er bei Halloweenverkleidungen immer wieder gerne getragen wird. Wir haben es also nicht mit einer Wiedergeburt des Verbrechers Riddle zu tun, Gentlemen." Harry Potter und Ernie MacMillan atmeten hörbar aus.

"Sie haben ja von den Vorkommnissen um das am elften September durch zwei gezielte Aufschläge voll mit Kraftstoff betankter Düsenflugmaschinen zerstörte Gebäude in den Staaten gehört. Dort hat sich jemand, der sich selbst ganz offen als Lord Vengor bezeichnet hat, am dreizehnten September aus den Trümmern etwas herausgeholt, einen Kristallkörper, der ihm mehr Kraft bei der Ausübung bösartiger Magie zugeführt hat. Ob dieser Kristall dort immer schon lag oder durch den grausamen Anschlag selbst entstand wird gerade von den Magietheoretikern und Experten für dunkle Kräfte diskutiert. Sie erhielten ja die Einladung zu einer am elften November stattfindenden Zusammenkunft, bei der auch deutsche und französische Experten dabei sind." Die beiden jungen Auroren nickten bestätigend.

"Arthur Weasley und ich vermuten sehr stark, dass der als Tom Riddle maskierte Hühnerdieb mit jenem Dunkelmagier paktiert, der den Kristall aus den Trümmern des Welthandelszentrums geborgen hat. Insofern haben wir es hier nicht mit einem gewöhnlichen Viehdieb zu tun, allein schon, weil bei dieser Tat zwei Muggel starben, einer durch einen erheblich potenzierten Schockzauber, der beide Lungenflügel in unlösbaren Starrkrampf versetzt hat, der andere durch ein auf ihn selbst zurückgepralltes Geschoss aus einer Pistole. Was der Täter mit den geraubten Hühnern vorhat wissen wir nicht. Es könnte sich um die Zutaten zu einem schwarzmagischen Ritual, womöglich aus einem anderen Kulturkreis, handeln, Voodoo, wenn Ihnen dieser Begriff etwas sagt."

"Ist möglich", grummelte Ernie. "Ich habe mal gelesen, dass die Voodooleute, sowohl die gutartige Rituale machen als auch die die bösen Zauber wirken wollen, Hühner oder andere Tiere opfern, um mit deren Blut magische Kreise oder Zeichen zu malen. Das soll bei denen, die gutes wollen zum Heil für ihre Schutzbefohlenen sein, für die bösen Voodooleute ist das eine Möglichkeit, Fernflüche anzubringen." Harry nickte behutsam. So richtig kannte er sich damit nicht aus. Auch die nun im letzten Jahr ablaufende Ausbildung hatte ihm dazu nichts vermittelt, da hauptsächlich Zauber und Tränke aus dem eurasischen Wissensbereich vermittelt wurden.

"Also haben wir es mit einem Typen zu tun, der Hühner stiehlt, um damit was zu zaubern", knurrte Ernie. Kingsley Shacklebolt nickte. Dann sagte er: "Nicht nur mit einem, Mr. MacMillan. Soweit Mr. Weasley erfuhr kam es in Deutschland, Spanien, Österreich und Böhmen zu ähnlichen Vorfällen, wobei wir hier nicht ausschließen können, dass die meisten Fälle ohne Zeugen stattfanden und als Einbrüche ohne verbleibende Spuren abgehandelt wurden, wenn den betroffenen überhaupt auffällt, dass Tiere abhandenkamen."

"Wir besprechen das mit Mr. Weasley, inwieweit wir das alleine bearbeiten oder mit seiner Behörde zusammengehen", sagte Harry Potter. Der Minister nickte. Harry war ja durch seine familiäre Bindung besonders gut geeignet, mit Arthur Weasley eine erfolgversprechende Vorgehensweise zu finden. "Mr. Weasley hat eine kleine Sonderkommission Hühnerstall aufgemacht, die über unsere Verbindungen in die magielose Welt überwachen und zusammentragen soll, wo es wie zu weiteren Viehdiebstählen mit magischem Tathergang kommt. Vielleicht erwischen wir den Hühnerdieb von Carlisle dabei."

"Dann sollen wir ihn verhören, um herauszubekommen, ob er für diesen Lord Vengor arbeitet?" wollte Harry Potter wissen.

"Ich fürchte, wenn er dies tut dürfte ihm ein ähnlicher Verratsunterdrückungsfluch aufgeprägt sein wie Mr. Scorpaenidus, den die japanischen Kollegen erwischt und verhört haben. Es gilt vor allem, herauszubekommen, warum er so starke Schockzauber wirken konnte, dass ein Schocker ähnlich wirkt wie Avada Kedavra und warum er die Hühner geraubt hat."

Eine kleine Glocke läutete. Shacklebolt tippte eine Stelle auf seinem Schreibtisch an. "Herr Minister, der avisierte Besuch aus dem böhmischen Zaubereiministerium ist eingetroffen", klang eine wie aus dem Nichts kommende Frauenstimme.

"Hmm, ich lasse bitten, Temperence. Wird meine beiden Besucher auch interessieren, was der Herr - wie heißt er noch einmal? - zu sagen hat."

"Pavel Voyzek, Herr Minister", erwiderte die Stimme von Shacklebolts Vorzimmerdame Temperence Whitesand, die Harry und Ernie vorhin schon begrüßt hatte.

Herein trat ein kleiner, dünner Zauberer in einem lindgrünen Samtumhang. Er lüftete seinen erdbraunen Zaubererhut und blickte dann auf Harry Potter. In sein Gesicht trat ein Ausdruck großer Bewunderung und Freude. Harry hatte es schon auf den Lippen, dem Mann aus dem Osten ein Autogramm anzubieten. Doch zuvor wollte nicht nur er hören, was die Ministeriumszauberer in der tschechischen Republik, verwaltungstechnisch immer noch Böhmen genannt, erlebt und erreicht hatten.

So erfuhren die beiden jungen Auroren die ganze Geschichte um die Massenhinrichtungsmaschine Vengors, dessen Kampf gegen Ministeriumszauberer, wie diese ihn nicht überwältigen konnten und dass vier von den Ministeriumszauberern sich gegenseitig in Überdauerungsschlaf gezaubert hatten, um die nächsten Wochen und Monate ohne Hunger und Luftmangel zu überstehen. "Wir haben eine Stunde gebraucht, um Locattractus-Kammer aufzubrechen. Viele in Steinen steckende Flieche, die Herrschaften", sagte Pavel Voyzek in stark akzenthaltigem Englisch. "Waren auch Gejsterrückhaltezauber dabei. Sollten wohl alle da drinnen auch nach Tod gefangenhalten."

"Schon fies", grummelte Ernie MacMillan. Aber mehr als die Kerkerkammer, in der apparierende Zauberer hineingezogen wurden, hatte ihm und Harry der Bericht über die Massenmordvorrichtung schockiert. Harry Potter war sich sicher, dass dieser Vengor nicht um des reinen Mordens Willen eine solche Maschine erfunden und gebaut hatte. Als er dann noch erfuhr, dass Vengor mit Hilfe eines schwarzen Kristalls seine Kampfzauber verstärkt hatte war ihm klar, dass da noch viel Ärger auf die magische und nichtmagische Welt zukam. Denn wo diese eine Maschine gestanden hatte, konnten noch viele andere solcher Abschlachtapparaturen aufgebaut werden. Was würde es eine mehr als fünf Milliarden Menschen zählende Weltbevölkerung kümmern, wenn mal eben ganz heimlich über zehntausend Menschen, die zu arm und unbedeutend waren, um vermisst zu werden, einfach so verschwanden. Vielleicht hatte der unbekannte Hühnerdieb auch was mit diesem grausamen Vorhaben zu tun, von dem sie nicht wussten, was er oder dieser Vengor damit erreichen wollten.

Als Voyzek seinen vollständigen Bericht erstattet und seine auf Englisch verfassten Belege dafür überreicht hatte, läutete wieder die Meldeglocke aus dem Vorzimmer. "Ein Herr Eisenhut aus Deutschland wünscht Sie und seinen Kollegen Arthur Weasley zu sprechen, Herr Minister", verkündete Temperence Whitesand.

"Oh, das wird die Sache von Frankfurt sein. Da wurde ich schon vom Kollegen Güldenberg drauf hingewiesen. Ich rufe Mr. Weasley her. Dann schicken Sie den Besucher bitte mit ihm zusammen herein!" erwiderte der Zaubereiminister. Dann wandte er sich an Harry Potter. "Harry, Sie bleiben bitte hier und hören sich an, was der deutsche Besucher zu sagen hat. Ernie, Sie und Pan Voyzek gehen bitte in die Aurorenzentrale und stimmen sich mit Ihren Kollegen ab, wie sie mit der Kommission Hühnerstall von Arthur Weasley zusammenarbeiten können. Ihr Ansprechpartner ist Leroy McAleister."

"Alles klar, Minister Shacklebolt", sagte Ernie MacMillan.

Harry Potter und Arthur Weasley erfuhren von Andronicus Eisenhut, was vor einigen Tagen in der Nähe von Frankfurt passiert war. Die Unterhaltung drehte sich dann um eine internationale Überwachungstruppe, die alle dem neuen Feind zuzuordnenden Vorfälle zusammentrug und ein gemeinsames Vorgehen koordinierte.

Nach der Unterredung schickte der Minister die Beteiligten fort. Seine Sekretärin durfte auch ihren Feierabend antreten. Als sie fort war klopfte Shacklebolt auf einen wie eine pure Dekoration wirkenden kleinen Porzellanhund. "John, komm mit Rita zu mir! Könnte sein, dass wir wieder was für sie haben", sagte der Minister.

"Alles klar, Kingsley", klang eine Männerstimme aus dem halboffenen Maul des Hundes.

Als ein gedrungener Zauberer mit dunkelbrauner Haut und Naturkrause in Begleitung einer kleinen Hexe in grünem Umhang und mit auffallend langen, rotlackierten Fingernägeln eintraf schloss der Minister die Tür.

"Ms. Kimmkorn, Ihre Rehabilitationszeit läuft ja noch bis zum Juni 2002", begann der Zaubereiminister. "Durch den Zusammenbruch Nocturnias und dem erfolgreichen Ausgang der Operation Wolfsherbst haben Sie wohl wieder mehr Zeit gewonnen. Ich habe einen neuen Auftrag für Sie."

"Damals hieß es, das ich ausschließlich gegen die Vampire von Nocturnia ermitteln soll", wagte die Hexe einen Protest. "Die mit diesen Leuten in Frankreich vereinbarte Bewährungsarbeit sollte nur für diese Bedrohung laufen, Herr Minister."

"Da haben Sie die von meinem Kollegen Grandchapeau und seinen und meinen Mitarbeitern ausgefertigten Vertrag offenbar nicht gründlich genug gelesen, den Sie unterschrieben haben. Da steht eindeutig drin, dass Sie für eine Zeit von drei Jahren ausschließlich zum Wohl der europäischen Zaubererwelt an ministeriellen Ermittlungen teilzunehmen haben, bei denen Ihre immer noch als illegal vermerkte Animagus-Künste zum Einsatz kommen. Sicher, vordringlich wurde in dem Vertrag auf die Bedrohung durch die Weltherrschaft anstrebender Vampire erwähnt, bezog sich aber, so Klausel dreizehn, nicht nur auf Vampire, sondern jeder Art menschenfeindliche Gruppierung, die über Landesgrenzen hinaus tätig ist. Insofern haben wir durchaus das Recht, Sie für weitere Geheimermittlungen anzufordern, Rita", sagte der Zaubereiminister. "Oder haben Sie sich doch dazu entschlossen, der französischen Tierwesenbüroleiterin als in einem unzerbrechlichen Glas lebende Dekoration zur Verfügung zu stehen, wie diese es wwährend der Unterredung über ihre Taten vorschlug?"

"Wenn Sie finden, mir einen massiven Verstoß gegen die Zaubereigesetze vorwerfen zu müssen, Minister Shacklebolt, dann kann ich darauf bestehen, auch entsprechend dieser Gesetze befunden zu werden", erwiderte Rita Kimmkorn. Sie wusste, sie war in der schlechteren Position. Im Grunde konnte der Zaubereiminister sie ihr ganzes restliches Leben lang durch jeden brennenden Reifen springen lassen, den er ihr hinhielt. Im Grunde war sie zum Tode verurteilt, wobei Zeitpunkt und Art der Hinrichtung nicht vom Zaubereiministerium, sondern dessen Feinden bestimmt werden würde. Allerdings würde jeder offene Protest dagegen dazu führen, dass sie gemäß dem magisch bindenden Vertrag augenblicklich in ihre Animagus-Gestalt verwandelt würde und sich aus eigener Kraft nicht mehr zurückverwandeln konnte. Dann war sie einer erbarmungslosen Natur ausgeliefert, trotz aller ihr immer noch verbleibenden Intelligenz. Die würde dann aber mit den Jahren auch immer mehr verblassen, wusste sie auch. So widerrief sie schnell ihren Einwand und bat darum, näheres über ihren neuen Auftrag zu erfahren, wohl wissend, dass sie davon keinem weiterberichten durfte. außer Kingsleys Halbbruder John Curby würde dann nur noch der Chef der Strafverfolgung und der provisorische Leiter der Aurorenzentrale davon erfahren.

Rita hörte sich alles an und ließ es von ihrer neuen Flotte-Schreibe-Feder mitschreiben, die anders als das Vorgängermodell nur rein sachliche Niederschriften anfertigte. Die geheime Besprechung war gerade zu Ende, als die tiefe, hektisch läutende Glocke des Alarms durch das Ministerium dröhnte. Katastrophenumkehr, Desinformationsabteilung, Strafverfolgungsbehörde und Aurorenzentrale erhielten zeitgleich die Meldung, dass etwas das zum Gedenkzentrum umgewidmete Haus Bathilda Backshots heimgesucht hatte.

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Corvinus verwünschte diese enge Wendeltreppe, die sich immer tiefer in den Boden hineinschraubte. Wenn die nicht bald aufhörte würde er wohl im heißen Erdkern herauskommen, ja vielleicht sogar irgendwo in Australien wieder ans Sonnenlicht geraten. Wieviele Meter ging es denn noch hinunter?

Endlich kam Vengors Diener auf der Sohle der Treppe an und hatte vier Türen zur Auswahl. Jede Tür war mit einem Symbol für eines der klassischen Elemente gekennzeichnet. Eine gelbe Flamme auf einer feuerroten Tür stand für das heiße helle Element. Ein dreifacher silberner Wellenzug auf einer wasserblauen Tür bezeichnete das nasse Element. Ein geflügelter silberner Stiefel auf einer himmelblauen Tür bezeichnete das flüchtige Element, und ein goldener Hammer auf steingrauer Tür vertrat das feste Element. Durch welche dieser Türen sollte, ja durfte er. Er konnte sich vorstellen, dass hinter den Türen sogar Fallenzauber warteten, die je nach dargestelltem Element von einem wütenden Feuer über einen Atemstillstandsfluch bis zu einem Versteinerungsfluch alles hergeben mochten. So prüfte Corvinus jede Tür mit verschiedenen Erkennungszaubern. Tatsächlich fand er in den Türen verborgene Zauber, die beim gewaltsamen Öffnen wirksam werden mochten. Er dachte erst daran, die Türen gewaltsam zu öffnen. Doch dann fiel ihm ein, dass dann womöglich alle ihn interessierenden Dinge und Räume vollständig seinem Zugriff entzogen würden.

Er überlegte, durch welche der Türen er wahrscheinlich unangefochten hindurchgelangte. Dann fiel es ihm ein, dass die Bibliothek, die er suchtte, ja zu der Zeit angelegt wurde, wo Flints, Backshots und Wishbones noch nahe miteinander verwandt waren. Die bekanntesten Zauberer aus diesen Familien waren Kundige der Erdmagie. Wenn er sich also der steingrauen Tür gegenüber als legitimer Erbe dieser drei Sippen ausweisen konnte, würde sie ihn wohl unangefochten passieren lassen. Dann fiel ihm der alte Leitspruch der Wishbones ein, der, soweit er sich erinnern konnte, auch die mit diesen verschwägerten Backshots begleitet hatte: "Spiritus vivus verus omnes limites naturae ignorat." - Der wahrhaft lebendige Geist verkennt alle Grenzen der Natur. So stellte sich Corvinus mit ausgestrecktem Zauberstab vor die steingraue Tür und deutete auf den goldenen Hammer. "Spiritus vivus verus omnes limites naturae ignorat!" rief er.

Das Symbol des Hammers auf der Tür glühte hell auf. Der goldene Glanz überzog die gesamte Tür. Dann sprühten goldene Funken zu Corvinus' Zauberstab hinüber. Es entstand ein flirrender Lichtbogen, der leise prasselnd und knisternd bestehenblieb. Corvinus erinnerte sich zu gut an sein Erlebnis von eben, wo er den geheimen Einstieg in den Keller geöffnet hatte. Doch diesmal widerfuhr ihm nichts. Das konnte auch an dem Kristallstaub liegen, der in seinen Adern strömte.

Eine ganze Minute blieb dieses magische Licht, dann sprang die Tür auf. Graue Wolken wehten heraus, die sofort auf den Boden sanken und darin verschwanden. Dann erlosch das goldene Licht ganz übergangslos. Die Tür war jetzt offen und offenbar auch von allen magischen Fallen befreit. Corvinus trat vor und überschritt die Türschwelle. Da flimmerte es um ihn herum silbern. Es war wie eine Wolke aus leuchtenden Wassertröpfchen, die versuchten, ihn zu benetzen. Doch irgendwas fing sie knapp einen Zentimeter vor seinem Körper ab und prellte sie zurück. Wieso arbeitete diese Zauberfalle noch? Corvinus tat einen energischen Schritt vorwärts und kam ohne spürbaren Widerstand aus der wirbelnden Silbertröpfchenwolke fffrei. Mit leisem Piff zerstob das magische Leuchtobjekt hinter ihm. Der Boden erzitterte sacht aber spürbar. Corvinus Flint argwöhnte, dass die ihn nicht festhaltende Falle eine Abfolge von anderen Zaubern ausgelöst hatte, von denen er im Moment nicht wusste, ob sie ihm wohlgesonnen waren oder nicht. In jedem Fall wollte er zusehen, das besagte Buch zu finden, in dem die Geheimnisse der Wishbones, Backshots und auch seiner Familie fortlaufend weiternotiert wurden.

Durch einen schmalen Durchgang, der bei seinem Durchmarsch merklich erzitterte, als wollten sich die Wände gleich auf ihn zubewegen und ihn zusammenquetschen, erreichte er eine Abzweigung, von der aus es in drei verschiedene Gänge weiterging. Die Gänge waren knapp fünf Meter hoch. In den Gängen standen Regale mit Pergamentrollen. Jeder der sich ihm anbietenden Gänge war mit solchen Regalen möbliert. Er hatte also wirklich die Bibliothek erreicht. Jetzt hatte er das gleiche Problem, das jeder Wanderer in einem Wald hatte, der nach einem ganz bestimmten Blatt suchte. Welchen der Gänge sollte er nehmen? Wo genau sollte er nach dem Buch suchen? Sollte er außer dem himmelblauen Buch, in dem die Geheimnisse der Wishbones, Backshots und Flints fortlaufend festgehalten wurden, noch ein paar andere interessante Bücher oder Pergamente mitnehmen?

Minutenlang studierte Corvinus die Titel der Folianten, die zwischen handgroß und fingerdick bis einen Meter groß und mannsdick beschaffen waren. Da waren Bücher über die Zeit der Druiden, geschrieben in Runenschrift. Da waren Bücher über magische Orte des Altertums genauso zu finden wie ein Kompendium altrömischer Zauberpflanzenkunde, natürlich auf Lateinisch. Er musste einmal lachen, als er auch eine Ausgabe der Bibel, der Thora und des Korans vorfand. Was hatten diese die Magie verdammenden Schriften in einer magischen Bibliothek verloren?

Richtig zermürbend empfand er den Umstand, dass jeder der Gänge wiederum in zwei bis vier weitere Gänge verzweigte. Die alle zu durchsuchen würde Monate dauern. Hinzu kam noch, dass er hier unten kaum tagesfrische Fleisch- und Gemüsespeisen erhalten würde. Alles was älter als eine Nacht war war ja für ihn unverdaulich. Dann fand er noch heraus, dass es weitere Wendeltreppen gab, die in höhere Etagen führten, wo sicher noch weitere Regalreihen aufgebaut waren. Ja, hatte er denn geglaubt, das gesuchte Buch gleich am Eingang zu finden?

Als Corvinus Flint einen der gerade einmal handgroßen Kleinbände aus einem Regal fischen wollte, prallten seine Finger auf einen unsichtbaren Widerstand. Blitze zuckten von seinen Fingerspitzen über die gesamte Regallänge hinweg. Er schaffte es nicht, in das Regal hineinzugreifen. Er dachte an jene Absperrzauberei eines gewissen Bakunin. Doch dessen magischen Vorhang kannten die Erbauer der Bibliothek doch noch nicht. Dann fiel ihm ein, warum er nicht an das Buch kam. Zum einen hatten die Erbauer einen Ventomurus-Zauber vor die Regale gesetzt, der eine unsichtbare Mauer aus extremstark verdichteter Luft erschuf. Zum zweiten war das Regal selbst wohl mit dem Clavintentius-Zauber belegt, der nur dem jenigen Zugriff auf den Inhalt gewährte, der absolut genau wusste, wo er das fand, was er suchte und es auch herausnehmen wollte. Konnte er gegen beide Sicherungen mit seinem veränderten Körper ankämpfen? Er drückte die Hand noch fester gegen den unsichtbaren Widerstand. Jetzt hörte er ein hektisches Geprassel der weißen und blauen Blitze, die scheinbar aus seinen Fingern heraussprühten. "Und ich bekomme dich doch, im Namen von Mortitius Flint", schnaubte Corvinus. Er spielte schon mit dem Gedanken, den Zauberstab zu benutzen, um gegen die Mauer aus verdichteter Luft anzukämpfen, als ihm eine bessere Idee kam. Niemand, der nicht mit dieser Bibliothek vertraut war, würde hier was finden oder mitnehmen können. Das widersprach jedoch dem Zweck einer Bibliothek. Also musste es irgendwo eine Inventarliste, einen Katalog der gehüteten Bücher geben. Den musste er finden.

Da wohl nicht zu denken war, dass sowas wichtiges wie ein Katalog aller Bücher irgendwo im Labyrinth der Gänge und Regale verstaut war kehrte Corvinus Flint in den Raum mit den vier Türen zurück. Wieder durchschritt er eine Wolke aus leuchtenden Silbertröpfchen. Irgendwie musste er an zerstäubte Erinnerungen denken. Sicher war das aber was anderes.

Sorgfältig und mit Suchzaubern aller Art suchte Corvinus den runden Gang am Fuße der Wendeltreppe ab. Doch außer den Türen fand er nichts. Dann überprüfte er die Treppe selbst und hätte fast vor Erkenntnis seiner Einfalt aufgeschrien. Die unterste Treppenstufe war keine gemauerte Stufe, sondern nur eine von flachen Kacheln verdeckte Holzstufe. "Alohomora!" rief Corvinus mit auf eine einen Schlüssel tragende Kachel deutendem Zauberstab. Tatsächlich löste sich die Kachel, schwang zur seite. Dann klappte die ganze Stufe nach oben. Corvinus war auf der Hut vor einer magischen Falle. Doch als die Stufe nach oben umgeklappt war sah er nur ein Ablagebrett mit mehreren Dutzend Büchern, die alle den Schriftzug Katalogos sowie drei Anfangsbuchstaben des darin enthaltenen Inventars trugen.

Corvinus prüfte auf eine magische Absperrung oder Zauberfalle. Doch weder am Boden noch an der Decke lauerte eine magische Präsenz. Als er jedoch den Katalogband hervorzog, der seiner Meinung nach den gesuchten Buchtitel enthielt, hörte er aus dem Gang hinter der Tür ein lautes Brüllen. Sofort prüfte er, ob er vielleicht einen Meldezauber gekitzelt hatte. Er stellte fest, dass der Katalogband eine oberflächlich nicht erkennbare Magie enthielt, wohl einen Ortsbewegungsmeldezauber, der früher gegen Diebe und unerlaubte Benutzung von Gegenständen benutzt wurde. Jetzt, wo er das erkannte, fand er in jedem der Katalogbände einen solchen winzigen Anteil Magie, der mit der Erde wechselwirken mochte. Doch was immer er mit dem Zauber aufgeweckt hatte, jetzt konnte er auch genau nachsehen, was er suchte.

Außer dem einen lauten Brüllen aus den Tiefen des mehrstöckigen Labyrinthes erklang nichts. Eine unheimliche Grabesstille füllte diesen Keller aus, als sei immer noch niemand bis hier unten vorgedrungen. Gemessen an dem unheilvollen Gebrüll von eben war diese Stille sehr trügerisch, fand Corvinus. Dann konzentrierte er sich auf den Inhalt des Kataloges. Manchmal tanzten Buchstaben vor seinen Augen, fügten sich dann aber in die ihnen zugewiesenen Reihen und ließen sich lesen. Womöglich war ein Abwehrzauber gegen unbefugtes Lesen, ein Verwirrungsfluch, eingewirkt. Doch der griff wegen Corvinus' Kristallstaub im Körper nicht.

Endlich fand er den Titel des Buches und seine Beschreibung. "Nordostgang dritte Etage, Regalhöhe zwei siebter von links", las Corvinus im Flüsterton. Er prägte sich diese Position genau ein. Die Himmelsrichtungen würde ihm sein Zauberstab schon zeigen. Er stellte den Katalogband wieder an seinen Platz und deutete mit dem Zauberstab auf die hochgeklappte Treppenstufe. "Refermato!" dachte er. Die Treppenstufe klappte sich wieder nach unten. Die Schlüsselkachel glitt in ihre ursprüngliche Lage zurück.

Mit dem Vier-Punkte-Zauber lotete Corvinus die Himmelsrichtungen aus und betrat den nordöstlichen Gang, bis er den Aufstieg zu den höheren Stockwerken erreichte. Als er jedoch die erste Treppenstufe bestieg fühlte er diese erbeben, sah, wie sie sich dunkel verfärbte. Er fühlte einen gewissen Sog um sich. Seine Füße schienen unvermittelt einen Zentimeter über der Stufe zu schweben, die immer mehr Risse bekam. "Jetzt werden wir also gemein", lachte Corvinus und nahm die zweite Stufe, die sofort zu erbeben begann. Plötzlich fauchten links und rechts von ihm gleißende Flammensäulen zur Decke empor. Die Treppenstufe begann erst in einem sanften Rot zu glühen. Aus dem dunklen Rot wurde ein helles Rot, das bereits zum Orangegelben überging. Corvinus nahm die nächste Stufe und konnte um sich einen blauen Blitz in die Decke hinaufschlagen sehen. Ihm selbst geschah jedoch nichts. So ging er Stufe um Stufe hinauf. Er war sich nun sicher, dass die ihm hier auflauernden Zauberfallen, die vorhin noch nicht zu orten gewesen waren, ihm wahrhaftig nichts anhaben konnten. So durchschritt er schwarze Nebelspiralen, die ihn an den Feindesfresserzauber erinnerten und die nach nur zwei Sekunden um ihn herum wie überfüllte Luftballons zerplatzten, löste weitere Feuersäulen aus, die ihn ohne den Schutz des Unlichtkristallstaubs sicher zu feinster Asche verbrannt hätten und überstand auch blau leuchtende Wolken, die für einen Moment eisige Kälte verströmten, bevor sie sich in grauen Schnee verwandelten und um ihn herum niederrieselten. "Ich bin unbesiegbar!" rief Corvinus nach oben. Da flogen ihm gleich zwölf glühende Schwerter entgegen, die ihn feinsäuberlich tranchieren sollten. Doch die Klingen prallten laut klirrend von einem aus Corvinus' Körper entweichendem schwarzen Dunst ab und schepperten licht- und Kraftlos zu Boden. Corvinus lachte überlegen. Auch als eine Art silbernes Spinnennetz ihn einzuwickeln trachtete und dabei laut ratschend zerriss, lachte er.

Endlich erreichte er das im Katalog bezeichnete Stockwerk. Er durchschritt eine Wand aus grünem Feuer, ohne sich auch nur ein Haar zu versengen. Dann war er in dem Gang, den er suchte. Als er schon den himmelblauen Einband eines fast so groß wie er selbst gearbeiteten, so dick wie ein ausreichend ernährter Mann beschaffenen Buches auf der beschriebenen Position sah klaffte am anderen Ende des Ganges der Boden auf, und etwas riesenhaftes mit zwei säbelartigen Hörnern schob sich in die Höhe. Wieder hörte Corvinus das bedrohliche Gebrüll, nun eindeutig aus dem ungeheuren Schädel kommend, der sich da vor ihm emporreckte. Es war der Schädel eines überlebensgroßen Rindes. Der Schädel saß auf einem muskulösen Hals, der genauso steingrau war wie der Kopf. Nur die sich nun öffnenden Augen glommen in einem Gefahr verheißendem Rot. Unter dem Hals wuchs ein muskelbeladener Körper heraus, der Körper eines Menschen. Die ganze Erscheinung war von einem dichten Pelz bewachsen, der jedoch irgendwie brett- oder steinhart aussah. Als das Ungetüm, das bei Freilegung seiner gewaltigen Füße vier Meter aufragte, die Arme bewegte, holte es hinter seinem Rücken eine wuchtige Hellebarde mit zwei Klingen und einer mindestens einen Meter langen rasiermesserscharfen Spitze hervor. Corvinus schalt sich einen Stümper, dass er die Gänge nach Fallenzaubern, nicht aber nach animierten Wächterstatuen abgesucht hatte. Vor ihm stand ein steinerner Minotaurus, doppelt so groß wie seine lebendigen Vorbilder. Corvinus würde jede Wette darauf annehmen, dass dieses Ungetüm da auch mindestens doppelt so stark und trotz seines Materials sehr schnell und gewandt war. Als dann auch noch die scharfe Spitze und die wuchtigen Axtklingen der Hellebarde in einem weißen Licht zu glühen begannen war sich Corvinus sicher, in einem direkten Kampf gegen das Ungeheuer sehr schnell zu unterliegen. Würde seine neue Konstitution ihn auch vor diesem Koloss und seiner glühenden Waffe schützen?

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Irenaeus Wishbone, das Familienoberhaupt der in Großbritannien entstandenen Sippe, war trotz seiner hundert Jahre noch sehr gelenkig und rege. Wenn sie ihn ließen spielte er auch noch für die Tutshill Tornado Sturmriesen, die Veteranentruppe der berühmten Quidditchmannschaft.

Heute, am fünften November, hatte ihn seine halbmuggelstämmige Großnichte dazu überredet, sie und ihre drei Jungen Will, Walter und Warren in London zu besuchen. Er verabscheute das Verkehrsgewühl und den Abgasbrodem der Muggelwelt. Doch Charlotte hatte ihm damit gedroht, ihren Vater dazu zu überreden, dem allweihnachtlichen Bekundungstreffen der männlichen Familienangehörigen fernzubleiben, was Irenaeus' Autorität als Patriarch sicher sehr in Frage gestellt hätte. Das Charlotte ihren Vater ganz ohne Magie um den Finger wickeln konnte und er ihr förmlich aus der Hand fraß war lästig, von seiner Seite her aber nicht zu ändern. Deshalb nahm er dieses Getue um einen gescheiterten Sprengstoffanschlag auf das englische Parlament als notwendiges Übel hin, um Charlotte im Gegenzug dazu zu zwingen, ihrem Vater zuzureden, auf bestimmte Vorhaben zu verzichten, die Irenaeus' absolut nicht gefielen.

"Toll, noch eine brennende Strohpuppe", schnaubte der grauhaarige Familienführer, der sich in seinem dunklen Muggelweltanzug mit Hemd, Hose und Jacket absolut unwohl fühlte. "Jedes Jahr derselbe Unfug. Der Typ wurde doch schon damals gehängt. Der kann nicht noch mal sterben."

"Die Jungs haben für das Feuerwerk extra auf neue Fahrräder verzichtet, um die größte Strohpuppe mit eingewickelten Wunderkerzen zu sparen, Onkel Irenaeus", zischte Charlotte, die in diesem Dezember den ddreißigsten Geburtstag feiern wollte. Will, der erstgeborene, würde im nächsten Jahr nach Hogwarts kommen, wenn nicht herauskam, dass er ein Squib oder gar ein richtiger Muggel war.

"Jetzt brennt unser Guy!" Rief Warren begeistert aus, als eine drei Meter hohe Anhäufung aus Stroh, Schnüren und Feuerwerk zu lodern begann.

"Ich kann den auch wieder löschen", grummelte Irenaeus und tätschelte sein rechtes Hosenbein.

"Nur wenn du noch vor eurer auch alle Jahre wieder stattfindenden Patriarchenparty wegen Zauberei vor Muggeln verknackt werden willst, Onkel Irenaeus", zischte Charlotte. "Wally, nicht zu nahe ran! Die dicken Wunderkerzen sprühen ziemlich weit!" rief sie ihrem zweitjüngsten Sohn zu, einem aufgeweckten Blondschopf mit stahlblauen Augen, der mit seinen Grundschulkameraden näher an den mit einer langen Lunte entzündeten Strohmann herangehen wollte.

"Bist du dir sicher, dass der Frechdachs nach Hogwarts kommt?" fragte Irenaeus seine Großnichte.

"In zwei Jahren wissen wir es genau. Aber wer schon einen Fußball ohne ihn zu treten in ein Tor schießen kann sollte wohl in Hogwarts aufgenommen werden."

"Klar, die Kiste, wo die Vergissmichs wegen so eines Treteballs ausrücken mussten", feixte Irenaeus.

"Du kannst ihm gerne demnächst zeigen, ob er schon auf einem Besen sitzen kann", zischte Charlotte, als der Strohmann nun zu einer gewaltigen Wolke aus Flammen und goldenen Funken wurde. Nicht wenige bestaunten diese Konstruktion. Zeitgleich schwirrten anderswo Raketen in den Nachthimmel hinauf und Halbwüchsige warfen Knallfrösche in die Menge und amüsierten sich, weil die Leute schnell aus dem Weg sprangen, um sich nicht zu verletzen. Irenaeus wünschte sich, es wäre schon der zehnte Dezember. Dann würde er nämlich zum fünfhundertsten Spiel der Sturmriesen gegen die goldenen Harpyien antreten. Manchmal, aber das ganz heimlich, wünschte er sich, bei einem solchen Spiel der Veteranen von der ihm immer lästiger werdenden Welt abberufen zu werden, mitten aus einem Torwurf oder einer Parade heraus einfach und ohne langes Vorspiel. Dann sollten sich seine Verwandten und deren angeheiratete Anhängsel drum zanken, was er hinterließ. Er beneidete Regan Dawn, die dieses fragwürdige Glück gehabt hatte, sich bei einem Spiel das Genick gebrochen zu haben. Damals hatte er wegen unaufschiebbarer Familienangelegenheiten nicht mitspielen können.

"Bist du wieder über diese böse Welt am grübeln, Onkel Irenaeus?" fragte seine Großnichte.

"Und wenn es so wäre?" fragte der Gefragte zurück.

"Du solltest echt mal wieder mehr erleben als die drei Veteranenspiele im Jahr. Du sitzt zu viel in deinem großen Haus herum und vergräbst dich nur in deiner Vergangenheit."

"Das ist ja so nicht wahr, Lottie. Erstens sind es zwölf Spiele im Jahr. Und wenn die Fledermäuse auch eine gescheite Veteranentruppe zusammenkriegen werden es noch mehr. Zweitens vergrabe ich mich nicht in meiner Vergangenheit, sondern in der unserer ganzen Sippschaft. Drittens mache ich mir auch Gedanken um unsere Verwandtschaft heute. Ich will mit den anderen gerne drüber reden, wie wir die höchst fragwürdige Sache mit dieser Tracy Summerhill und dem in ihrem eigenen Wanst herangezüchteten Großneffen einstufen. Bisher wollten die anderen davon ja nichts wissen, weil mit Luke ja der letzte legitime Namensträger der Wishbones in den Staaten gestorben ist."

"Ach, und ihr wollt klarstellen, dass sein Sohn kein Anrecht auf sein Erbe hat, weil dessen Mutter auch seine Großtante ist?" fragte Charlotte.

"Genau das, Lottie", grummelte Irenaeus. Dann sah er, wie einer seiner Urgroßneffen von einem gerade wohl fünfzehn Jahre zählenden Burschen mit rotem Flaumbart angesprochen und mit einem roten Knallfrosch vor der Nase zurückgetrieben wurde. Doch Wally ließ sich das nur eine Sekunde lang gefallen. Dann stupste er den Jungen mit einem Finger an. So lächerlich die Abwehr aussah, so heftig wirkte sie sich aus. Denn der Teenager hob ab und flog wie von einem unsichtbaren Katapult geschnellt zurück und fast in den Funkenwirbel der mit Wunderkerzen überfrachteten Strohpuppe hinein. So lang wie er war schlug der Halbstarke auf den Boden und wusste offenbar nicht, wie ihm geschehen war. Sein Knallfrosch segelte durch die Luft und geriet dabei in die Funkenwolke hinein. Charlotte hielt den Atem an, als der Feuerwerkskörper mit einem lauten scharfen Knall explodierte und dabei den oberen Teil der Strohpuppe ramponierte. Das brennende Stroh und die sich aus dem Verbund lösenden Wunderkerzen regneten nieder.

"Mist, der Guy!" brüllte Will, der älteste, als die so schön regelmäßig brennende und sprühende Puppe immer mehr in sich zusammenfiel. Der von Wally mit einem lächerlich simplen Fingerstoß zwanzig Meter zurückgeschleuderte Bursche schaffte es gerade noch, aus der Sturzbahn zweier daumendicker Wunderkerzen zu kommen, die wie Sternschnuppen niedergingen und auf dem Boden zersprangen. Der Junge sprang auf und rannte wie von wilden Drachen gehetzt davon.

"Lottie, das muss sofort gemeldet werden. Der Bursche bringt's fertig und steckt seinen Kumpels, dass Wally übernatürliche Kräfte im kleinen Finger hat", grummelte Irenaeus.

"Weiß ich auch. Pass du auf die Jungs auf und schirm mich mal ab, damit ich ins Amt für Unfälle mit Muggeln kann!" zischte Charlotte. Irenaeus musste wider den Ernst der Lage lachen. Er war gerade einen Meter und sechzig groß. Seine Nichte maß einen Meter und achtzig. Doch irgendwie schaffte sie es, sich hinter ihn hinzuhocken und aus dieser Haltung heraus mit leisem Plopp zu disapparieren. Sofort legte Irenaeus mit seinem aus der Hose gezogenen Zauberstab einen Desinteressierungswall um sich und die Stelle, wo seine Großnichte verschwunden war. Dann rief er seine drei Urgroßneffen mit befehlsgewohnter Stimme zu sich hin und flüsterte ihnen zu, was passiert war. "Tja, und du hast gesagt, Wally is'n Squib", feixte Will. "Hat den langen Dennis Hogan aber richtig gut abgefertigt. Man soll eben keinen Winterford ärgern."

"Ich verstehe, dass der Bursche dir Angst gemacht hat, Wally. Aber so heftig hättest du den auch nicht umschmeißen müssen. Der verpfeift das jetzt irgendwem, und dann wollen die von der Polizei wissen, wie das gehen kann, was du gemacht hast. Merk dir das bitte, dass wir sachen machen können, die die anderen nicht mitkriegen dürfen und deshalb aufpassen, dass keiner was mitkriegt!" blaffte Irenaeus. Da tauchten auch schon vier Zauberer mit Ich-seh-nicht-recht-Umhängen auf, die nur von magisch begabten Menschen gesehen werden konnten. Sie suchten und fanden den halbwüchsigen und behandelten ihn mit einem Gedächtniszauber. Dann kam einer zu Irenaeus und den drei Jungen und sagte: "Werde meinem Stammhalter wohl den guten Rat geben, sich nicht mit deinem zweitgrößten Urgroßneffen anzulegen, Irenaeus. Aber wir haben die Lage bereinigt. Der Junge ist jetzt davon überzeugt, dass Wally zwei große Brüder hat, die den Burschen mal eben zurechtgewiesen haben. Schade um eure schöne Strohpuppe. Aber die wäre ja in zehn Minuten eh ganz abgebrannt."

"Zwanzig", berichtigte Will den Ministeriumszauberer. Dieser grinste und sagte noch: "Meine Oma freut sich übrigens schon, euch bei eurem Altbesenballett mit mindestens zwanzig Toren zu versenken."

"Sage deiner Oma, dass unser Hüter diesmal keinen Quaffel durchlässt, auch nicht den von alten Jungfern wie der Brubaker."

"Gebe ich weiter, wenn ich den Schreibkram für meinen Boss erledigt habe. Noch einen schönen Abend, Jungs!"

"War das Cecil McMerdow?" fragte Will. Sein Urgroßonkel bejahte das. "Der freut sich sicher auf seinen kleinen Neffen. Wie heißt der Hosenscheißer? Orlando?"

"Burschi, das muss dich absolut nicht kümmern", knurrte Irenaeus.

Als seine Großnichte zusammen mit ihrem Mann Raymond zurückkehrte beobachteten sie noch, wie der Rest der großen Strohpuppe niederbrannte. Dann brachten sie die drei Jungen wieder nach Hause. Irenaeus lehnte die Einladung ab, die Nacht bei den Winterfords zu verbringen. Er kehrte per Flohpulver in das Haus "Knochengrube" zurück, das bei York stand und seit Jahrhunderten ausschließlich blutsverwandten Familienangehörigen der Wishbone-Sippe offen stand. Während Irenaeus über diesen seiner Meinung nach verschwendeten Abend nachgrübelte fragte er sich, wie er verhindern wollte, dass "dieser Tantensohn" aus den Staaten jemals seinen Fuß in das Haus setzen konnte. Immerhin floss in dem auch das Blut von Lucas Wishbone und damit dem letzten der amerikanischen Linie dieses Namens.

Als er so darüber nachdachte, das Grundstück mit Abweisezaubern für einen bestimmten Namen zu bestücken, schepperte es ohrenbetäubend los. Das ganze Haus erzitterte wie bei einem schweren Erdbeben. Dann erscholl eine tonnenschwere Glocke im zweiten Stockwerk des Hauses. Irenaeus' altes Herz übersprang einen Schlag. Er hatte nie gedacht, das wirklich zu erleben, was jetzt gerade passierte. Sicher, seitdem seine entfernte Cousine tot war stand ihr ganzes Haus ja leer und damit war die große Bibliothek unüberwacht. Doch er wusste, dass niemand dort hin vordringen und etwas herausholen konnte, der nicht durch sein oder ihr Blut und den Gebrauch der richtigen Losung berechtigt war. Doch was jetzt passiert war zeigte, dass es doch jemand geschafft hatte, sich Zutritt zu der weitläufigen Bibliothek zu verschaffen, in die Bathilda ihn vor siebzig Jahren mal hineingeführt hatte. Er dachte an das blaue Buch und auch daran, dass darin stand, wo das ergaunerte Gold von Mathew Wishbone gelandet war. Zu gerne hätte er darin gelesen, um zu erfahren, was in seiner Familie noch so an Geheimnissen aufgekommen war. Doch das Buch lesen durfte nur, wer von seinem Eigentümer die Erlaubnis bekam, es in die Hand zu nehmen. Doch seine letzte Eigentümerin war tot. War er damit automatisch der legitime Eigentümer des blauen Buches?

"So sei es", sagte er laut, als das Gepolter und das Dröhnen der großen Glocke verklungen waren. Er stand auf, um in jenen großen Raum zu gehen, in dem die schwere Glocke geläutet hatte.

__________

Mit laut stampfenden Schritten kam der Minotaurus heran. Die glühende Hellebarde wies unmissverständlich in Corvinus' Richtung. Dann öffnete das Ungeheuer aus belebtem Stein das mit stieruntypischen Reißzähnen gespickte Maul und brüllte:

"Du bist nicht berechtigt. Du hast dich gegen die geheiligte Ordnung dieses Hauses vergangen!!"

"Du willst mich mit dem kleinen Zahnstocher da pieksen?" rief Corvinus. Denn durch die überstandenen Zauberfallen fühlte er sich völlig unangreifbar. "Ich habe das richtige Losungswort benutzt, um die Tür zu öffnen. Mit welchem Recht habt ihr mir dann diese ganzen Fallen aufgehalst?"

"Du hast vergessen, das richtige Losungswort zu sprechen, um die Erlaubnis für diese Räume zu erbitten. Du hast dich verweigert, dein Blut auf seine Reinheit prüfen zu lassen. Du hast verdorbenes Blut im Körper!!" dröhnte die hohl klingende Stimme des steinernen Stiermenschen. Die glühende Hellebarde wurde noch eine Spur heller. Funken begannen von den beiden Klingen und der Spitze zu sprühen. "Nimm deinen Tod hin!!" brüllte der Minotaurus.

"Oder sonst?" erwiderte Corvinus unbeirrt.

"Du stirbst jetzt!!" donnerte der Minotaurus. Dann beschleunigte er seine stampfenden Schritte. Der Boden erbebte regelrecht. Das Ungeheuer musste tonnenschwer sein, dachte Corvinus. Unter normalen Umständen war er der Kraft dieses Monstrums dort unterlegen. Sicher war es auch gegen einige Angriffszauber geschützt. Doch das würde er mal eben herausfinden.

Der Minotaurus war nur noch zehn seiner Schrittlängen von Corvinus entfernt, als dieser "Bollidius!" rief. Ein blaugrüner Feuerball fuhr aus dem Zauberstab heraus, fauchte durch die Luft ... und verschwand mit lautem Knall im Boden, ohne in eine Wolke sonnenheißer Flammen auseinanderzuplatzen. Unvermittelt fielen blaue Lichtvorhänge vor alle Regale herunter. Corvinus schnaubte. Trotz der Verstärkung war sein Feuerballzauber einfach abgelenkt und ausgelöscht worden, ohne dem Minotaurus einen Schaden zuzufügen. Also versuchte er es nun mit Flüchen, die normalerweise auf lebende Wesen geschleudert werden konnten. "Stupor! - Brachifrago! - Sectum Sempra! - Petripugnus!"

Für einen Zuschauer mochte es ein farbenfrohes Feuerwerk sein, als Corvinus die durch den in ihm wirkenden Kristallstaub verstärkten Flüche austeilte. Doch jeder der aufgerufenen Verunstaltungszauber klatschte bunt schillernd von einer unsichtbaren Schildaura um den Minotaurus ab. Offenbar hatten seine Erschaffer einen Sturm von mehr als vier Zauberern zugleich vorausgesehen und das Ungetüm entsprechend gepanzert. "Reducto!- Confringo! - Saxifrago Totalum!" Weitere Zauberflüche schlugen auf den Minotaurus ein, prallten von dessen unsichtbarem Schild ab und krachten in den Boden. Krater entstanden, Wellen wurden aufgeworfen. Meterlange und tiefe Spalten rissen auf. "Per Catenas incarcerus!" rief Corvinus. Klirrend peitschte eine meterlange Kette mit daumendicken Gliedern durch die Luft und umschlang den Oberkörper des Minotaurus, der seinem Widersacher immer näher kam. Schon sprühten die ersten Funken aus der Hellebarde auf Corvinus. Doch wie der Minotaurus wurde auch Corvinus von einer schützenden Aura umschlossen. Diese war jedoch sichtbar. Es war wie ein flimmernder schwarzer Schleier, der fein aber undurchdringlich alle Körperkonturen des Zauberers umhüllte. Dennoch wollte Corvinus es nicht im ersten Ansatz darauf anlegen, von einer magisch glühenden Hellebarde aufgespießt zu werden. Er schwang den Zauberstab kurz von links nach rechts und rief "Propugnaculum errecto!" Vor ihm entstand eine silbern leuchtende Wand, die die ganze Raumbreite ausfüllte. Laut klirrend wie ein tonnenschwerer Schmiedehammer auf einen metergroßen Amboss prallte die Hellebarde auf das silberne Hindernis und glitt daran ab. Der Minotaurus, von den ihm entgegengeschleuderten Zaubern bisher unbeeindruckt geblieben, blieb einen seiner Schritte vor der silbernen Schutzwand stehen, holte aus und versuchte, die Mauer von oben her zu durchschlagen. Doch die Klinge der Hellebarde prallte blaue Funken stiebend an der silbernen Schutzwand ab, die doppelt so hoch war wie Corvinus Flint.

"Und du stirbst doch!" brüllte der Minotaurus und wechselte die Taktik. Er packte die Hellebarde auf halber Länge, zielte nach unten und rammte die sperrige Waffe mit Wucht in den Boden. Sofort erbebte der Boden und gab nach. Corvinus fühlte, wie sein sicherer Stand in Schräglage geriet. Als das steinerne Ungetüm mit der ihm aufgeprägten Verhaltensbezauberung die Hellebarde wieder freizog kippte der Boden weiter vor. Die silberne Schutzmauer flimmerte und zerfiel mit lautem Plopp. Corvinus merkte, wie er immer mehr nach vorne rutschte. Das konnte doch unmöglich alleine von der Waffe kommen. "Deprimo!" rief er, vor die Füße des Minotaurus zielend. Doch der sonst ein Loch in den Boden sprengende Zauber prallte laut krachend ab und wurde zu einer Fontäne aus bunten Blitzen, die in die Decke fuhren, ohne Schaden anzurichten.

Der Minotaurus riss die Hellebarde hoch und zielte auf seinen Gegner. Dieser kämpfte darum, nicht der Schwerkraft folgend auf das glühende Mordwerkzeug zuzutaumeln. Irgendwer hatte in den Boden einen Glisseo-Zauber eingewirkt, schlimmer noch, er fühlte, wie er auf dem Boden ausrutschte und nun auf das Ungeheuer zuschlidderte. Glisseo und Sapovius in Kombination, das machte jede magielose Bodenhaftung zunichte.

Es fehlten nur noch drei Meter, bis die glühende Spitze ihn treffen würde. Ob der in ihm fließende Unlichtkristallstaub diesen massiven Ansturm von Kraft und Elementarbezauberung wegsteckte?

"Deterrestris!" rief Corvinus. Dabei zielte er aber nicht auf den Minotaurus, sondern auf seine Waffe. Diese erglühte einen Moment in blauem licht. Dann flog sie nach oben und zog das steinerne Scheusal mit sich mit. Auf den Gedanken, die Waffe loszulassen kam das animierte Monstrum gar nicht. Das war bei seiner Bezauberung offenbar nicht eingewirkt worden. Die Spitze der Hellebarde traf auf die Decke und glitt in diese hinein. Erst da stoppte der Aufwärtsschwung. Der Minotaurus hielt sich noch einen Moment an der behexten Waffe fest. Dann ließ er los. Er fiel und krachte mit Getöse auf den ramponierten Boden.

"Na, habe ich dir dein bestes Stück abgejagt, Muhkuh?" fragte Corvinus. Doch der Minotaurus antwortete nicht. Er richtete sich wieder auf und wollte nach dem Schaft seiner Waffe langen, um sie wieder freizuziehen. Da jagte Corvinus einen Reducto-Fluch gegen die in der Decke steckende Hellebarde. Außerhalb der schützenden Schildaura des Minotaurus war die Waffe gegen Materiebeeinflussungszauber schutzlos. Mit lautem Knall und einer Wolke aus weißen Funken und glutheißem Metalldampf zerbarst die Hellebarde. "Jetzt aber doch, Minitaurus!" frohlockte Corvinus. Da reparierte sich der Boden der Bibliothek. Der steinerne Stiermensch senkte seinen gehörnten Schädel und nahm Anlauf, um mit seiner ganzen Masse in den frechen Zauberer hineinzurennen. Dieser kam nicht so recht auf die Beine, weil immer noch ein Superglättezauber auf dem Boden lag. Der Minotaurus blieb davon unbeeindruckt. "Muscapedes!" zischte Corvinus und deutete auf seine Füße. Damit hob er zumindest die Glättewirkung des bezauberten Bodens auf. So und nicht anders konnte der Minotaurus sicher auf dem verhexten Boden entlangstampfen. Dann sprang Corvinus zur seite und ließ den Minotaurus voll ins leere stoßen. Der Stierschädel rammte mit den Hörnern ein Bücherregal. Der blaue Lichtvorhang prellte ihn jedoch zurück und ließ ihn polternd niederstürzen. Das steinerne Ungetüm versuchte, sich aufzurappeln. Doch offenbar waren nur seine Füße gegen die Glättewirkung des Bodens bezaubert. Er fand nicht den nötigen Gegenhalt, um sich wieder in die Senkrechte zu stemmen.

"Jetzt mach ich dich zu einem Sandhaufen!" rief Corvinus und zielte auf das laut schnarrende und schnaubende Maul des Minotaurus. Einen Fluch hatte er noch nicht ausprobiert. Ob der Schild den Minotaurus dagegen schützte?

"Avada Kedavra!" rief Corvinus, wobei er daran dachte, den in dem Stiermenschen verkörperten Lebensfunken auszublasen. Weißgrün und laut brausend zuckte ein Blitz aus Corvinus' Zauberstab und fand sein Ziel. Einen Moment lang leuchtete der Rachen des Minotaurus im Widerschein hellgrün auf. Dann erfolgte eine so laute und heftige Explosion, dass Corvinus schon fürchtete, sie habe ihn in der Luft zerrissen. Eine weißglühende Wolke blähte sich schneller als ein Lidschlag aus. Die glutheiße Druckwelle riss Corvinus hoch und durch die Luft. Gelbe und violette Blitze zuckten durch die blauen Lichtvorhänge vor den Regalen. Corvinus wurde mit Wucht in eine der blauen Absperrungen hineingeworfen. Einen Moment lang fühlte er es wie einen brennendheißen Stoß, der durch den ganzen Körper jagte. Dann flog er in die andere Richtung zurück und prallte unsanft auf den Boden. In seinen Ohren klang ein lauter Pfeifton.

Corvinus brauchte eine halbe Minute, um zu begreifen, dass er gerade noch mit dem Leben davongekommen war. Ein nicht mit dem Kristallstaub geimpfter Mensch wäre bei dieser Aktion sicher zerfetzt, verbrannt oder verdampft worden. Er fürchtete nur, das ihm das wilde Ohrenklingeln nun sein restliches Leben lang treubleiben würde. Doch da ließ es auch schon wieder nach. Mit jedem weiteren Atemzug behob der in ihm wirkende Unlichtkristall alle körperlichen Auswirkungen des am Ende erfolgreichen Vernichtungsschlages gegen den Minotaurus.

Als sich sein Gehör wieder erholt hatte konnte er das leise Schabenund Knirschen hören. Er fühlte das leichte Vibrieren des Bodens. Offenbar hatte der mit Magie getränkte Boden die Explosion des Minotaurus nicht so gut verdaut wie Corvinus. Er stand wieder auf und blickte sich um. Die blauen Lichtvorhänge waren immer noch da. So kam er an die Bücher nicht mehr heran, auch wenn er genau wusste, wo das gesuchte Buch stand. Er musste diese Barriere beseitigen, allerdings ohne dabei die Bücher zu zerstören. Er dachte daran, wie sich das angefühlt hatte, als er gegen einen dieser Lichtvorhänge geprallt war. Dann fiel es ihm ein. Ein kombinierter Feuer- und Luftzauber, besonders gegen lebende Wesen ausgerichtet. Da ein normaler Mensch dabei sicher Feuerschaden hinnehmen würde, zählte dieser Zauber eindeutig zu den dunklen Künsten. Er musste also nur eine Kombination aus Erd- und Vereisungszauber dagegen anwenden, die ebenso tödlich für damit in Berührung geratende Lebewesen war. Er durchdachte alle ihm bekannten Elementarflüche und spielte zehn Minuten lang mit Kombinationsmöglichkeiten herum. Dann entschied er sich für eine Kombination aus Körperfrostzauber und vorübergehendem Versteinerungszauber. Er postierte sich vor dem Regal, dass dem mit dem blauen Buch gegenüberlag und rief "Aggregato Petrifrigidissimus!" Aus seinem Zauberstab schoss laut zischend ein dunkelblauer Dampfstrahl und traf den blauen Lichtvorhang, der wild knisternd und krachend flatterte. Dann krachte es vernehmlich, und der Lichtvorhang war fort. Die beiden kombinierten Zauber hatten sich gegenseitig ausgelöscht. Luft gegen Erde, Wasser gegen Feuer. "Und dasselbe noch mal! Dann klemme ich mir das Buch unter den Arm und marschiere hier raus!" sprach Corvinus zu einem imaginären Zuhörer, wohl denen, die diese Fallen und Absperrungen erdacht und eingerichtet hatten. Er zielte auf das andere Regal und verwendete den Wiederholzauber zum schnelleren Aufruf der magischen Gegenwehr. Diesmal flatterte der Vorhang schneller und hektischer, bevor er mit lautem Knall in Nichts zerfiel. Als sich Corvinus dem blauen Buch näherte dachte er: "Ich will dieses Buch nehmen" und den Namen und die genaue Position. Jetzt konnte ihm kein Zugriffsverweigerungszauber was anhaben.

Corvinus streckte seine Hand aus. Da knallte es, und das ganze Regal war verschwunden. Sein Griff ging ins Leere und traf auf eine nackte Steinwand. Als er sich umwandte sah er, dass auch das gegenüberliegende Regal verschwunden war. Er dachte erst, einer negativen Illusion aufgesessen zu sein, die vorgaukelte, dass etwas nicht vorhanden war, was in Wirklichkeit immer noch an seinem Platz war. Er belegte sich mit dem Zauber zum Erblicken der Wirklichkeit. Doch als dieser wie ein kalter Schwamm in sein Gesicht klatschte sah er, dass er die ganze Zeit die Wirklichkeit gesehen hatte. Die Bücher waren mit ihren Regalen verschwunden. Corvinus erkannte, dass die Architekten und Bibliothekare weiter vorausgedacht hatten. Sie hatten nicht nur Sperren eingerichtet, sondern auch einen Notfallzauber, der dann griff, wenn die Absperrungen gewaltsam beseitigt wurden. Niemand unbefugtes sollte eines der Bücher erwischen. Aber wo waren die Bücher dann hingekommen? Sie konnten ja nicht alle in reines Nichts aufgelöst worden sein. Diese Frage war für Corvinus im Moment zweit- oder gar drittrangig. Zum einen meldete sich sein Magen mit lautem Grummeln. Die Abwehrzauber und die körperliche Belastung der letzten Minuten hatten eine beschleunigte Verdauung bewirkt. Jetzt hatte Corvinus wieder Hunger. Zum zweiten musste er feststellen, dass sich offenbar die Wege in diesem Labyrinth verschoben hatten. Denn da wo das Treppenhaus gelegen hatte, führte nun ein weiterer kahler Durchgang in einen anderen Bereich des unterirdischen Labyrinths. Corvinus fiel der Zeitungsbericht über die erste Runde des vor zwei Jahren begonnenen trimagischen Turnieres ein. Die Champions hatten da durch einen Würfel mit sich ständig verschiebenden Zugängen laufen müssen. Mochte es sein, dass diese Idee nicht erst bei diesem Turnier aufgekommen war? Dann fiel ihm ein, dass das die mit Abstand beste Abwehr gegen Eindringlinge war, sie einfach in einem sich ständig neu ordnenden Labyrinth herumirren zu lassen. Da halfen auch keine Richtungspfeile oder Flagrate-Markierungen nichts. Auch ein Faden, um durch das Gewirr der Gänge und Stockwerke zu finden, half bei einem solchen Labyrinth nichts. Corvinus war nun Gefangener in einem völlig leergeräumten Kellerlabyrinth. Und das gemeinste kam jetzt erst. Als Corvinus auf seiner Suche nach einem Treppenzugang kurz zur Decke hinaufblickte sah er, dass sich diese langsam und lautlos herabsenkte. Deshalb waren wohl auch alle Regale aus der Bibliothek versetzt worden. Jetzt konnte die Bibliothek ihren größten und wirksamsten Fallenzauber ausspielen.

Corvinus fühlte die ansteigende Furcht. Was hatte Vengor ihm und den anderen gesagt? Der Kristallstaub schwächte die eigene Selbstbeherrschung. Er fühlte, dass er hier nicht mehr lebend rauskommen würde. Denn selbst mit dem Kristallstaub im Körper würde er unter den vielen hundert Tonnen Gewicht langsam aber unweigerlich zerdrückt und zu Staub zermalmt. Noch hing die Decke mehr als zwei Meter über seinem Kopf. Wie viele Minuten hatte er noch?

Hektisch suchte Corvinus nach einem Treppenzugang. Doch immer dann, wenn er einen sah, verschob sich die Wand und baute einen neuen Durchgang auf. Zwei Minuten lang hastete er durch die nun völlig kahlen Gänge, wobei er auch hier und da in unsichtbare Zauberfallen hineingeriet. Die konnten ihm aber nichts anhaben, ja rieben sich an ihm regelrecht auf. Doch die immer tiefer sinkende Decke in jedem Gang war unbeirrt. Die Furcht wuchs in Corvinus immer weiter an. Er wollte nicht hier sterben, nicht so sinnlos. Er muste hier heraus. Hatte er es beim Betreten des Hauses tunlichst vermieden, hineinzuapparieren, weil er nicht wusste, wo genau er ankommen musste, mochte es zumindest gelingen, dem Labyrinth durch Disapparition zu entrinnen. Er brauchte ja nur sein eigenes Haus als Zielpunkt klar ins Bewusstsein zu holen. Doch was wenn die Erbauer dieser vertrackten Anlage genau damit rechneten, dass jemand ihren Fallen durch Apparieren entgehen wollte? Hogwarts war gegen jeden Apparator gesichert, ob er hinein- oder hinauswollte. Egal. Wenn er nicht zusehen wollte, wie ihn die Decke niederdrückte und langsam zerdrückte musste er es riskieren. Die Angst und der Hunger waren zu groß, als noch einen Augenblick länger zu warten.

Corvinus kämpfte darum, seine Selbstbeherrschung zurückzuerhalten. Er sah dabei nicht auf die Decke. Endlich konnte er seine Gedanken ordnen und die drei Stufen des Apparierens durchgehen: Ziel, Wille, Bedacht. Er stellte sich seinen Hauseingang vor. Dort wollte er hin. Er stellte sich vor, wie er dort stand, den kalten Nachtwind um den Kopf wehen fühlte. Jetzt wollte er dort sein. Er wirbelte auf der Stelle herum, den Zauberstab kerzengerade nach oben gereckt. Da fing es ihn ein, jenes zusammenquetschende Dunkel. Einen Moment lang dachte er, es habe ihn doch noch erwischt. Dann hörte das alle Körperstellen zusammenpressende Gefühl wieder auf. Die Welt bekam wieder Raum und Gestalt. Doch ein Blick genügte, um ihm zu zeigen, dass er verspielt hatte.

Er stand in einem kreisrunden Raum. Die Decke hing vier Meter über ihm. Er sah im Licht seines Zauberstabes große, metallisch glänzende Türen in der Wand. Sie besaßen große Drehräder wie bei schweren Schiffsluken, die er schon einmal begutachtet hatte, als er vor zwanzig Jahren bei einem Einsatztrupp des dunklen Lords dabeigewesen war, als es darum ging, eine Familie auf einem Vergnügungsschiff zu töten, nur weil diese Familie zwei magisch begabte Kinder in die Welt gesetzt hatte. Die Eltern hatten sie erwischt. Die Tochter und ihren jüngeren Bruder hatten sie nicht zu fassen bekommen. Ähnliche Türen hatte er auf dem Schiff gesehen. Doch das war eigentlich völlig unwichtig. Er war nicht vor seinem Haus appariert, sondern hier gelandet. Er versuchte noch einmal, zu disapparieren. Doch diesmal legte sich sofort eine bleischwere Decke um ihn, als er versuchte, diesen Ort zu verlassen. Da wusste er, dass er in eine Locattractus-Falle hineingeraten war.

Corvinus versuchte, eine der Türen zu öffnen. Doch keines der Drehräder rührte sich. Insgesamt gab es zwölf dieser Türen. Er versuchte Türöffnungszauber, Reducto-Flüche und Feuerstrahlen. Nichts half. Alles wurde vor den Türen in den Boden abgeleitet. Dann sah er es. Die kreisrunde Decke, vorhin noch beruhigend weit über ihm, glitt gnadenlos und geräuschlos weiter und weiter nach unten. Im Moment war sie noch zwei Meter über ihm. Doch mit jeder verstreichenden Sekunde kam sie Corvinus Flint näher und näher und näher.

Der Gefangene prüfte mit den Augen, ob zwischen Decke und Wand vielleicht genug Raum für Dampf oder Nebel war. Er schickte sogar einen Dampfstrahl los, der gerade soeben noch zwischen Wand und Decke nach oben entwich. Er versuchte also, sich in Nebelform zu verwandeln. Doch das gelang ihm nicht. Wieder und wieder versagte er bei den Versuchen. Dann erkannte er mit großem Ingrimm, dass der Kristallstaub die Verwandlungszauber wirkungslos machte. Damit war eine exotische Flucht in Nebelform ausgeschlossen.

Der ehemalige Todesser und jetzige Vergeltungswächter erkannte mit endgültiger Gewissheit, dass er nicht mehr hier herauskommen würde. Die Türen waren unüberwindlich. Ja, sie verhöhnten ihn regelrecht. Zwölf Türen, die zwölf Auswege bezeichneten. Doch ihm stand kein einziger offen. Vielleicht waren das auch keine echten Türen, sondern an nackte, geschlossene Wände angebaute Attrappen, dazu da, dem Gefangenen noch einen letzten seelischen Stich zu versetzen, bevor ihn die grausame Strafe ereilte.

Zauber gegen die Decke wurden wie von einem Schwamm geschluckt. Selbst der Todesfluch, vorhin noch eine Art Supersprengzauber, zerlief zu hellen grünen Spiralen, als er die Decke traf. Auch die Türen konnten damit nicht beseitigt werden. Vielleicht, so dachte der gefangene Vergeltungswächter, war das auch gefährlich, die Türen gewaltsam aus dem Weg zu räumen. Am Ende lauerte dahinter eine Horde Dämonsfeuerkreaturen, Sofortgefrierzauber oder ganz schlicht ein luftentleerter Raum, in dem jeder Atemzug erstickt wurde. Corvinus verwünschte seine Hab- und Neugier. Wieso hatte er dieses Buch nicht da gelassen, wo es war? Jetzt, wo er seinen verfrühten Tod vor Augen hatte fiel ihm ein, dass genau deshalb wohl niemand die wertvollen Schätze aus der Bibliothek entführt hatte, weil es hinlänglich bekannt war, dass dies leicht zum Tod führen konnte.

"Lord Vengor, helft mir! Ich bin in einem Locattractusraum gefangen, dessen Decke sich auf mich heruntersenkt!" wollte Corvinus an seinen Herrn und Meister mentiloquieren. Doch weil er dessen wahre Stimme nicht kannte verpuffte dieser geistige Hilferuf unvernommen. Corvinus erkannte, warum Vengor bisher immer auf Eulen oder Schallverpflanzungsartefakte zurückgegriffen hatte. Corvinus fühlte die Todesangst steigen. Doch er wollte nicht sterben.

Als die Decke nur noch einen halben Meter über ihm war dachte er daran, dass von ihm nichts übrigbleiben würde. Selbst wenn er den Tod als Geist überdauerte, würde er keine Nachtoderscheinungsform besitzen, weil ein bis heute wild diskutiertes Gesetz der Geisterwelt festlegte, dass ein Gespenst so gestaltet und bekleidet oder ausgerüstet war, wie es zum Zeitpunkt seines körperlichen Endes ausgesehen hatte und bekleidet gewesen war. Eine reine Pulverwolke als Gespenst konnte absolut nichts hermachen oder gar erwarten. Doch er wollte nicht einfach so sterben, nicht in einer leergezauberten Bibliothek oder wo auch immer dieser Fallenraum war. Dann hatte er eine wahnwitzig anmutende Idee.

Er erinnerte sich an den unheimlichen Diener Vengors, den höheren Nachtschatten. Er wusste zwar, dass dieser vernichtet worden war, weil seine Feinde den wahren Namen kannten und auch in den Besitz von Dingen aus seinem körperlichen Dasein gelangt waren. Doch wenn er es schaffte, dem zermalmenden Druck der Decke zu entkommen, würde er noch in dieser Nacht sein eigenes Haus aufsuchen und zerstören, was ihn mit der Welt der Sterblichen verbunden hatte. Ja, so und nicht anders konnte er dem drohenden Ende entrinnen.

Er kannte die verbotenen Formeln, die den eigenen Körper in eine eiskalte, lichtschluckende Substanz auflösten. Hoffentlich gelang ihm das zumindest, wo keine andere Verwandlungsform funktionierte. Er ließ die Vorstellung seines baldigen Todes noch stärker werden, bis er von Angst und Verzweiflung überflutet wurde. Dann zielte er mit dem Zauberstab auf seinen halboffenen Mund und stieß die Formeln aus, die seinen Körper töten und dabei verwandeln würden. Wieder und wieder sprach er diese Formeln. Er fühlte, dass der in ihm wirkende Kristallstaub diesen Ausweg zu vereiteln trachtete. Doch dann, mit einem Schlag, war Corvinus, als reiße ihm jemand das Herz aus dem Leib. Er fühlte einen Moment der eisigen Kälte und sah um sich herum nur Dunkelheit. Dann war ihm, als wirbele ihn etwas herum. Als er dann wieder sah war alles um ihn herum heller. Er hielt nichts mehr in der Hand, und er fühlte sich ganz leicht und von der ihn umfließenden Dunkelheit erfrischt. Er wünschte sich, durch eine der Türen zu gleiten. Er merkte, dass er keinen Schritt zu tun brauchte. Er glitt auf die Tür zu und prallte davon zurück. Etwas in der Tür hatte ihn zurückgewiesen. Dann sah er, wie die Decke immer tiefer sank. Er hatte jetzt keine Angst mehr. Denn als er auf seinen rechten Arm sah, war da nur ein alles Licht verschluckender schwarzer Schlauch, an dessen Ende eine schemenhafte Hand mit unscharf erscheinenden Fingern hing. Corvinus streckte die Hand nach oben und berührte die Decke. Sie wies seine Hand ab. Sollte es das also doch hier und jetzt gewesen sein? Dann dachte er an die schmale Spalte zwischen Wand und Decke. Seine Wünsche trugen ihn lautlos und schwerelos nach oben. Dann fühlte er den engen Spalt und wünschte sich mit aller Kraft, durch diesen hinaufzugleiten. Er fühlte, wie sein verwandelter Körper immer länger gezogen wurde. Dann fühlte er, wie er zwischen Wänden und Decke steckte. Er empfand es so, als kröche er unter einer tiefhängenden Decke entlang nach vorne. In Wirklichkeit schob er sich Zentimeter für Zentimeter weiter nach oben. Dann durchdrang er die stempelartige Decke und fühlte, wie ihn eine unbändige Kraft zusammenzog. Er sah es nicht, doch er konnte sich vorstellen, dass er zu einer kompakten, kleinen Kugel zusammengeballt war, die mit unbändiger Geschwindigkeit nach oben raste und durch eine weitere Decke drang, als sei sie aus Rauch. Noch eine Decke durchflog er. Dann fühlte er die vollständige Nachtdunkelheit eines wolkenverhangenen Himmels um sich herum. Sie lud ihn förmlich mit neuer Energie auf. Ja, er war entkommen. Doch er war nun auch für alle anderen tot. Wollte er überleben, musste er sich ab dieser Minute in dunklen, von keinem Sonnenstrahl berührten Räumen aufhalten. Außerdem würde er die Lebenskraft von anderen Menschen in sich einsaugen müssen, was ihn zu deren natürlichem Feind machte.

Einen Moment lang dachte der neuentstandene Nachtschatten, dass er nun ganz für sich alleine existieren würde. Doch dann erreichte ihn ein leiser Ruf aus weiter Ferne: "Corvinus Flint. Komm sofort zu mir!" Der Ruf wurde immer lauter. Corvinus kannte die Stimme nicht, die da rief. Doch allein dass sie ihn bei seinem Namen rief übte auf ihn eine unüberwindliche Anziehungskraft aus. Er trieb in die Richtung, aus der der Ruf kam und beschleunigte.

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Er blickte auf seine Karte der Getreuen. Er konnte sehen, wie Corvinus Flint in einem Haus in Godric's Hollow herumlief und schließlich von einem Moment zum anderen in einem Raum genau in der Mitte des Hauses ankam. Vengor dachte an Corvinus und ließ die Formeln der Verbindung durch seinen Kopf gleiten, die ihn über die Macht der Unlichtkristalle mit seinem Handlanger verbanden. Durch eine Art Nebel konnte er sehen, wie Corvinus in einem kreisrunden Raum festsaß, offenbar eine Locattractus-Falle. Wieso ließ er sich das gefallen? Er selbst kannte einen Zauber, um eine Locattractus-Falle umzuwandeln, dass sie statt eines Erscheinungsorterzwingungs- ein Standortvermeidungszauber wurde. Doch Corvinus kannte diesen Zauber offenbar nicht. Dann sah Vengor noch, wie sich der Raum verkleinerte. Ja, die Decke sank immer tiefer. Er fühlte Flints Furcht anwachsen. "Wir haben euch alle unterschätzt, ihr Backshots", knurrte Vengor. Er überlegte, ob er dem bedrängten Handlanger nicht zu Hilfe eilen und ihn aus diesem tödlichen Kerker herausholen sollte. Als er aber in Flints Gedanken Enttäuschung erspürte, dass er das gesuchte Buch der Wishbones nicht bekommen hatte, verwarf Lord Vengor dieses Vorhaben. Dann sollte Flint es eben darauf anlegen, entweder zerdrückt zu werden oder durch den Kristallstaub selbst dieser gewaltigen Kraft zu widerstehen.

Dann erkannte der Anführer der Vergeltungswächter, dass Corvinus einen Schritt tat, den er, wenn er Erfolg hatte, nicht mehr rückgängig machen konnte. Vengor fühlte beinahe körperlich, wie sein Getreuer sich mit voller Absicht die eigene Lebensenergie entzog. Zwar hielt der Kristallstaub einige Sekunden dagegen. Doch dann half dieser seinem Träger bei seinem Vorhaben. Auf der Getreuenkarte wechselte die Markierung von Corvinus Flint in ein tiefes Schwarz, um dann in einen giftgrünen Farbton umzuschlagen und zu zerfließen.

Vengor ergriff schnell eine silberne Phiole. Eigentlich hatte er darin den starken Nachtschatten Gunnar Ipsen einschließen wollen. Doch dieser existierte nicht mehr. Wenn Flint schon dachte, sich auf diese Weise einer tödlichen Falle zu entwinden, dann würde er ihm eben auf diese Weise weiterdienen. Vengor gravierte schnell den vollständigen Namen Flints in den silbernen Behälter. Dann sprach er einige Formeln auf das Material, das zu glühen begann, aber keine Hitze ausstrahlte. Als das Glühen nachließ ergriff Vengor seinen Besen und disapparierte. Knapp zwei Kilometer vom Haus der Backshots entfernt landete er. Er saß auf seinem Besen auf und flog dem Haus entgegen. Dabei rief er mit der Phiole in der Hand nach Corvinus Flint.

Es dauerte drei Minuten. Da vibrierte die Phiole merklich. Eine weitere Minute später sah Vengor eine schwarze Kugel auf sich zurasen, die gerade so groß wie ein Schnatz war. Noch einmal rief er Corvinus Flint bei seinem Namen. Da ploppte es. ein hohl klingender, dünner Schrei drang aus der Phiole. Vengor schraubte sogleich den Deckel darauf. "Auf dass du mir nun als unerschöpflicher Diener der Dunkelheit weiterhin folgst", lachte Vengor und flog weit genug zurück, um gefahrlos zu disapparieren. Diesen neuen Nachtschatten wollte er nicht mehr hergeben. Auch eine Anthelia würde ihn nicht wieder von ihm wegreißen.

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Es zischte, schwirrte, pfiff, jaulte, knatterte, knallte und wummerte. Raketen sausten in den wolkenverhangenen Himmel hinauf. Böller belferten, Knallfrösche barsten mit scharfem Knall vor den Häusern. Auf jedem Vorplatz brannte eine Strohpuppe, um die Kinder mit ihren Eltern tanzten. Der fünfte November neigte sich seinem Ende zu. Morton Foster, der Bibliothekar, hatte seinen Posten verlassen und sich unter das Volk gemischt. Er sah auch ein paar Leute, die sichtbar Probleme damit hatten, in ihrer Kleidung herumzulaufen. Er erkannte sie alle. Er winkte in die Menge und erfreute sich am Feuerwerk.

Unvermittelt erglühten über ihnen die Wolken. Es sah aus wie ein Gebirge aus weißer Watte. Foster erstarrte und blickte sich hektisch um. Dann sah er die Ursache für diesen hellen Widerschein und kniff die Augen zusammen. Keine zwei Sekunden später rollte ein Donnerschlag über Godric's Hollow hinweg, der jeden Böller in den Schatten stellte. Fensterscheiben zersprangen klirrend. Die Glastür des Pubs zum Roten Raben erzitterte, hielt der Wucht der Druckwelle jedoch stand. Als Foster es wagte, mit vor den Augen gehaltenen Händen durch die Fingerzwischenräume hinzusehen, was genau explodiert war meinte er, sein Herz würde hier und jetzt seinen Dienst aufkündigen. Dort wo das alte Haus von Bathilda Backshot gestanden hatte, reckten sich grelle weißblaue Flammensäulen in die Nacht. Über ihnen wirbelte eine Fontäne aus Rauch und glühendem Staub nach oben, die mindestens zweitausend Meter anstieg, bevor sie zu einem dunstigen Pilzhut auseinanderfloss. Bathildas Haus war explodiert. Besser, eine ungeheure Vernichtungskraft hatte es mit Wucht und Gluthitze in die Luft emporgeschleudert. Foster zwinkerte, um den Schmerz in seinen Augen zu verdrängen. Er blickte in die Wolken hinauf, die im Widerschein der Flammengarben leuchteten, als schiene eine helle Sonne durch sie hindurch. Eine Minute lang erhellte der absolut ungewohnte Schein das Dorf Godric's Hollow. Dann stürzten die weißblauen Flammensäulen in sich zusammen. Die Wolken ergrauten und verdunkelten sich wieder so wie sie vorher waren. Noch ein letzter Luftheuler schwirrte durch die Nacht. Dann trat totale Stille ein.

Morton Foster überhörte das leise Piepen in seinen Ohren. Ihm war wichtig, zu klären, was passiert war. Er eilte in sein kleines Haus zurück, um sofort in die Nähe des Hauses zu apparieren. Er wusste, dass man in das Haus selbst nicht hineinapparieren konnte, weil dort eine Locattractus-Falle wartete, die in den dunklen Nachtstunden auf unbedachte oder unbefugte Apparatoren lauerte. Doch als er zweihundert Meter von der Grundstücksgrenze entfernt war sah er nur einen gähnenden Krater. Dieser war mit einer hellrotglühenden Flüssigkeit angefüllt, die brodelte und zischte. Funken sprühten aus der Oberfläche heraus. Vereinzelt tanzten blaue und rote Flammenzungen auf der aufgewühlten Oberfläche. Es sah so aus, als sei unter dem Haus Bathilda Backshots ein Vulkan ausgebrochen. Die Nachbarhäuser waren alle schwarz von Ruß und eingeschmolzener Asche. Fensterscheiben waren, sofern nicht unzerbrechlich bezaubert, restlos aus den Rahmen geschlagen worden. Foster zuckte zusammen, als etwas sengendes seinen kahlen Schädel traf. Er erkannte, dass die in den Himmel gerissene Asche immer noch heiß genug war, um beim Niederrieseln böse Brandwunden zu verursachen. Deshalb disapparierte er schnell. Da er der Wächter von Godric's Hollow war war es seine Pflicht, die zuständigen Behörden zu alarmieren, bevor die Feuerwehr und Polizei der magielosen Mitbewohner anrückte.

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"Wie, das Haus der Backshot ist explodiert? Wie konnte denn sowas passieren?" wollte Tim Abrahams wissen, der als Leiter des Amtes für die friedliche Koexistenz von Menschen mit und ohne Magie ebenso in den Vorfall eingeschaltet worden war wie der Strafverfolgungsleiter Arthur Weasley, sowie der Leiter des Katastrophenumkerhkommandos und der Leiter des Ausschusses gegen den Missbrauch der Magie.

"Kann sein, dass jemand einen alten Feuerzauber entfesselt hat", sagte Arthur Weasley. "Außer den kaputten Fenstern ist aber nichts passiert. Die Feuer, die von der glühenden Asche verursacht wurden konnten schnell gelöscht werden."

"Sind die Katastrophenumkehrer schon bei der Arbeit?" wollte Tim wissen. Die Frage wurde mit einem klaren Ja beantwortet. Mehrere Vergissmichs des Zaubereiministeriums apparierten zwischen den immer noch verdutzten Einwohnern und veränderten deren Erinnerungen, dass sie an eine Explosion von unsachgemäß gelagertem Feuerwerk glaubten. Immerhin ging das an diesem Tag noch. An einem anderen Tag außer Silvester hätten die Gedächtnisumänderer des Zaubereiministeriums sicher eine andere Erklärung für die zerborstenen Fensterscheiben und die angesengten Dächer und Gartenpflanzen erfinden und in die Erinnerungen der Muggel pflanzen müssen.

"Sie sind Ceridwens Schwiegersohn?" fragte ein graubärtiger Zauberer den Leiter des Muggelkontaktbüros. Dieser grinste und fragte, ob der andere Morton Foster, der Aufpasser sei. Dieser nickte heftig. "Ich kann Ihnen sagen, warum Baths altes Haus in die Luft gegangen ist, Mr. Abrahams."

"Ja, ich höre und schreibe gerne mit", sagte Tim und präsentierte ein Klemmbrett und eine mit Tinte gefüllte Feder. "Nicht hier, Mister, die Muggel sollten es nicht mitkriegen", zischte Foster.

Arthur Weasley und der Truppenführer der Eingreiftruppe gegen magische Katastrophen trafen sich bei Morton Foster im Haus. Dort erzählte dieser ihnen, dass Bathilda ihm einmal gesagt hatte, dass niemand ihre weitläufige Bibliothek ausplündern könne, weil dort starke Abwehrzauber eingebaut seien. Und wer versuchte, ohne Erlaubnis der Hauseigentümerin aus der sich wie die Zeitversetztgänge in Hogwarts verändernden Bibliothek zu disapparieren, landete in einem kreisrunden Raum mit zwölf Türen. Wer dann nicht innerhalb von zwei Minuten die Erlaubnis der Hausherrin erhielt würde dort verhungern. Falls die Hausbewohnerin starb, so Bathilda vor fünfzig Jahren, würde der Raum den Eindringling gnadenlos zerdrücken. Und falls der es doch hinbekam, den Locattractus-Zauber dieses Raumes zu brechen und zu entkommen, würde das Ganze Haus von konservierten Feuer- und Sprengzaubern zerstört, um bloß keine Spuren von der Bibliothek zu hinterlassen. Allerdings, so Foster, würden die Bücher wohl nicht vernichtet, sondern nur an einen anderen sicheren Ort teleportiert. Wo dieser sei, habe Bathilda Backshot wohl mit ins Grab genommen.

"Nichts für ungut, Mr. Foster. Aber diese lebenswichtige Information hätten wir vom Ministerium sehr gerne sehr viel früher gehabt, am besten noch vor Bathilda Backshots Tod", sprach Lyndon Groover von der Katastrophenumkehr aus, was alle Zuhörer dachten.

"Ich weiß, ich hätte das auch gerne viel früher erzählt. Aber das gute alte Mädchen hat diese Information mit Fidelius-Zauber geschützt. Ich hätte das nicht verraten können, so gern ich das euch und Ihnen gerne längst mitgeteilt hätte."

"Na ja, aber mit dem Tod des Geheimniswahrers sind alle, die von ihm eingeweiht wurden automatisch Geheimniswahrer und können es freiwillig weitererzählen", wusste Arthur Weasley. "Wieso haben Sie uns das nicht gesagt, als klar war, dass Bathilda tot war? Wir haben aus dem Haus ein Museum gemacht. Da hätten hunderte von unschuldigen Leuten sterben können."

"Hätten nicht, weil das Museum nur tagsüber offen hatte und die Falle nur zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang eingerichtet war. Außerdem hätte niemand, der oder die nicht einen Tropfen vom Blut der Backshots im Körper hatte, den Zugang zur geheimen Bibliothek öffnen können."

"Von denen gibt's aber einige, da die Backshots vor vierhundert Jahren mit anderen Familien wie den Flints und den Wishbones zusammengefügt wurde", wusste Groover. Als Archivar von Godric's Hollow sollten Sie das eigentlich wissen, Morton." Der Angesprochene erbleichte erst und lief dann knallrot an. Mit ins Gesicht gemeißeltem Schuldbewusstsein nickte er schwerfällig.

"Flint? Interessant", warf Arthur Weasley ein. "Die waren immer in Slytherin, diese Gauner. Als ich noch im Büro zur Beschlagnahme verzauberter Muggelartefakte gearbeitet habe, musste ich wegen denen manchmal raus. Die haben schon ziemlich üble Sachen unter das Volk zu bringen versucht. Wenn einer von den Flints diesen geheimen Zugang finden und aufmachen konnte, dann hat der wohl versucht, was aus der Bibliothek zu stehlen. Die Frage ist, ob ihm das gelungen ist oder ob er mit dem explodierenden Haus sein Leben ausgehaucht hat."

"Das Haus flog nur in die Luft, wenn nichts mehr darin war, was nicht zerstört werden durfte", rückte Foster mit einer weiteren Information heraus. Die bei ihm versammelten Seniorbeamten aus dem Zaubereiministerium schüttelten missbilligend die Köpfe. Dann sagte Tim: "Dann schlage ich vor, dass wir alle lebenden Flints und Wishbones vorladen, einfach nur um zu sehen, wer von denen noch übrig ist. Wenn einer fehlt ist der mit dem Haus draufgegangen. Wenn doch alle am Leben sind könnte einer von denen der Verursacher der Explosion gewesen sein."

"Ich übernehme das", sagte Arthur Weasley. "Tim, Sie kümmern sich mit Lyndon darum, dass der Vorfall so in die Muggelweltzeitungen und Fernbildkästen kommt, wie wir das besprochen haben!" Tim nickte. Arthur Weasley war neben dem Leiter der Abteilung für magischen Handel und Finanzen nach dem Minister selbst der ranghöchste Zauberer der britischen Inseln und somit Tim übergeordnet.

Als Tim Abrahams wieder in sein Haus zurückkehren durfte fragte ihn seine Frau Galatea: "Und, was war in Godric's Hollow? Ich hörte was von einer Explosion."

"Für die Muggel war es ein Stapel Feuerwerkskörper, die unsachgemäß gelagert wurden. Aber eigentlich war es das Haus von Bathilda Backshot. Wäre schön gewesen, wenn uns der Dorfbibliothekar mal früher gesteckt hätte, dass es eine Art Selbstzerstörungsvorrichtung enthält, die bei unsachgemäßer Benutzung der Bibliothek losgeht."

"Das Backshot-Haus? Hmm, die Backshots sind mit den Flints und den Wishbones verwandt, wusstest du das?"

"Bis vor zwanzig Minuten nicht, Liebling", grummelte Tim. "Aber jetzt wissen wir es."

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Irenaeus Wishbone legte seine linke Hand auf einen runden Stein neben einem Bild seines Vorfahren Tobias Cuthbert Wishbone. Auf dem Stein war ein längsgespaltener Knochen abgemalt. "Sanguis meus clavis sit!" murmelte Irenaeus. Da stach ihm etwas wie mit zwei nadelfeinen Zähnen in die linke Hand. Unverzüglich fühlte er, wie etwas seine Hand noch fester an den magischen Stein presste, während etwas anderes scheinbar gierig sein Blut aus der Hand sog. Der letzte Erbe des Stammsitzes der Wishbones kannte diesen Vorgang. Er würde mindestens ein Zehntel seines Blutes lassen müssen, bis der darauf abgestimmte Mechanismus die schwere Steintür öffnete, die in den geheimen Raum im zweiten Stock führte. Endlich ließ der Sog nach. Wishbone fühlte sich ein wenig schwindelig. Jeder nicht zutrittsberechtigte wäre von dem vampirgleichen Türschloss restlos ausgesaugt worden. Jetzt ließ auch der Anpressdruck auf seiner Hand nach. Er zog sie zurück und heilte die beiden kleinen Wunden in der Handinnenfläche mit "Injuriclausa!". Dann rumpelte es, und die Steintür glitt auf.

Eigentlich hätte er mit etwas ähnlichem wie dem rechnen müssen, was er hinter der Tür vorfand. Doch der Anblick ließ ihn in Ehrfurcht erstarren. Denn hinter der Tür erstreckte sich ein gewaltiger Raum, so groß, dass die komplette St.-Pauls-Kathedrale hineingepasst hätte. Die steinerne Decke hing mehr als zwanzig Meter über dem Boden. Die gewaltige Halle, in die Irenaeus blickte, war mit einem Blick nicht zu erfassen. Baumstammdicke Säulen reckten sich empor und trugen die himmelhohe Decke wie auf steinernen und eisernen Ästen. Im Zentrum der weitläufigen Halle hing jene Glocke, deren Läuten ihm verkündet hatte, dass dieser Raum nun das letzte Vermächtnis der Backshots entgegengenommen hatte. Wishbone konnte die am Rand der goldenen Glocke eingravierte Schrift lesen: "Spiritus vivus verus omnes limites naturae ignorat", las er laut. Seine Stimme hallte lange nach. "Wohl wahr", fügte er noch hinzu. Dann stieß er ein lautes "Ha!!" aus, um das Echo dieses Raumes zu hören. Tatsächlich kamen unzählige Hah-Laute zu ihm zurück. Er vermutete, das der Abstand zwischen zwei Wänden an die zweihundertfünfzig Meter betragen mochte. Der Platz wurde auch gebraucht. Denn an den Wänden und bis zu einer Fläche von dreißig mal zwanzig Metern in der Raummitte standen lange Regale, die übereinandergestellt fast bis zur Decke emporwuchsen. In den Regalen standen myriaden von Büchern, Pergamentrollen und sogar kleineren Runensteinen aus vorrömischer Zeit. Die Regale bildeten ein Labyrinth, dessen Gänge gerade breit genug für zwei nebeneinander gehende Menschen von normaler Größe waren.

Irenaeus Wishbone wusste nicht, wo er zuerst hinsehen sollte. Er hätte zu gerne in den Regalen gestöbert, wäre eine der zwischen ihnen aufragenden Leitern hochgeklettert und hätte das eine oder andere Buch hervorgeholt. Doch irgendwie war ihm, als müsse er erst einmal in die Mitte des Raumes hinein. Er wusste nicht, dass in seinem Haus ein derartiger Rauminhaltsvergrößerungszauber geschlummert hatte. Oder war es vielmehr so, dass sein Haus selbst so groß gebaut worden war und nur von außen wie ein gewöhnliches Landhaus aussah?

Als er endlich in der Mitte der riesenhaften Halle stand erschien zu seinen Füßen eine blau flammende Schrift auf dem Boden: "Conserva et adora!" las er. Daneben stand in altenglischer Schreibweise, dass er, der durch Fleisch, Blut und Knochen rechtmäßige Erbe der altehrwürdigen Bibliothek der drei Familien verpflichtet sei, die Schätze des hier zusammengetragenen Wissens zu hüten und ausschließlich mit denen zu teilen, die aus der Familie der Wishbones hervorgegangen waren. Dies, so der blau flammende Text weiter, sei der Schlüssel zur Wiederkehr des einstigen Ruhmes der alten Familie, die ihre Wurzeln im Arthurianischen Britannien habe, wo sie im Gefolge des großen Merlin Ruhm und Macht der Zauberergilde begründet habe, bis die Vertreter der orientalischen Eingottreligionen Herrscher und Untertanen gegen Hexenund Zauberer aufgebracht hatten. Als Wishbone diese Mitteilung vollständig gelesen hatte, erlosch diese wieder. Sie hinterließ nicht die geringste Spur auf dem glatten Boden. Irenaeus nickte den haushoch gestapelten Büchern in den gassenlangen Regalen zu. Er würde sich nun viel Zeit nehmen, dieses immense Erbe zu studieren. "Conserva et adora!" so lautete der Auftrag: Bewahre und verehre!

Wieder in seinen bescheidenen Räumen angekommen dachte Irenaeus darüber nach, wie er sein Erbe nutzbringend einsetzen konnte. Vor allem war es nun noch wichtiger, festzulegen, dass dieser Inzestbastard Anthony Summerhill keinen Fuß in sein Haus setzen würde. Aber ihm schwebte auch vor, sich über die Bibliothek der Backshots, Wishbones und Flints mehr Einfluss in der britischen Zaubererwelt zu verschaffen, ja vielleicht einen seiner Söhne oder Enkel zum künftigen Zaubereiminister aufzubauen, um die nach dem Tod des Unnennbaren grassierende Übermenschenfreundlichkeit vor allem den Muggeln gegenüber zurückzuführen. Er wusste nicht, dass in dem Moment, wo sich die imposante Bibliothek der Bathilda Backshot in seinem Haus verstofflicht hatte, das alte Backshot-Haus zerstört worden war. Ebenso wusste er nicht, dass es von der goldenen Glocke, in der der Leitspruch der Wishbones eingeschrieben war, kleine Geschwister gab, die in dem Moment läuteten, wo die große Glocke den Erhalt seines Erbes eingeläutet hatte. Das bekam er erst später zu spüren, mehr als ihm lieb sein sollte.

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Tony liebte es, im Sand zu buddeln. Offenbar kamen jetzt seine ganzen frühkindlichen Vorlieben des ersten Lebens wieder durch, und er genoss es. Um diese Jahreszeit war Playa Dorada, ein von Hexen und Zauberern angelegter Gegenentwurf zu Playa del Carmen, von anderen jungen Familien, nicht nur aus den vereinigten Staaten gut besucht. Er konnte mit vielen Jungen und mädchen zwischen fünf Monaten und Grundschulalter spielen, wobei die größeren Jungen schon meinten, die kleineren herumschupsen zu dürfen, um sich mehr Platz am Strand zu erkämpfen. Ein gewisser Rudi Seidenweber aus Brandenburg, Deutschland, fand es wohl witzig, Tony einmal umschupsen zu müssen, weil er keine Lust hatte, für einen gerade zwei Jahre alten Yankeebuben abzubremsen. "Eh, Pimpf, weg da!" blaffte er auf Deutsch. Tony tat so, als verstehe er die Sprache nicht und straffte sich. Andere Jungen hätten jetzt wohl losgeheult und wären in die Arme ihrer Mütter oder Väter geflüchtet. Doch Tony sah nicht ein, sich einem achtjährigen Grobian zu ergeben. Er blickte ihn herausfordernd an. Als der anderthalb köpfe größere Junge die stumme Kampfansage annahm und vorsprang hieb Tony ihm mit der rechten Faust gezielt zwischen die Beine. Rudi krümmte sich zusammen und winselte los. "Du weg da!" blaffte Tony auf Englisch, auch wenn Rudi es nicht verstand. Der größere Junge wand sich. Der wohlplatzierte Tiefschlag hatte ihm offenbar gut zugesetzt.

Tracy Summerhill kam von ihrem belanglosen Schwatz mit zwei irischen Müttern herbeigerannt,ebenso die füllige Frau Seidenweber. Diese zeterte erst auf Deutsch und dann auf Englisch los, dass jemand ihrem Sohn weh getan hatte. "Sie wollen meinem unschuldigen Sohn unterstellen, er könne einem fünf Jahre älteren Jungen ernsthaft weh tun?" fragte Tracy mit gespieltem Vorwurf in der Stimme. Rudi funkelte Tony Summerhill an. Dieser blieb jedoch ruhig. Ohne Zauberstab war der Bengel ihm doch nicht überlegen, auch wenn der einige Kilo schwerer und einige Zentimeter größer war. Im Zweifelsfall konnte er ihm auch mit weniger tiefschlagenden Mitteln zeigen, dass körperliche Überlegenheit nur eine Illusion war.

"Ach, Ihr Sohn hat meinen in den Sand gestoßen und der wollte ihm in den Bauch boxen, wie er das mit einem anderen Jungen aus unserer Heimat schon mal gemacht hat und dabei eine Etage zu tief angesetzt? Tja, muss Ihr Junge eben aufpassen, mit wem er Streit sucht, Madam", sagte Tracy.

"Wenn mein Junge sich dabei was eingehandelt hat zahlen Sie den Heiler", schnarrte Frau Seidenweber.

"Im Moment braucht er das ja noch nicht, was ihm angeblich so weh tut", erwiderte Tracy. "Bringen Sie Ihrem Sohn lieber bei, sein Gehirn zu benutzen. In vier Jahren soll er ja wohl in diese Greifennest-Schule gehen, oder?"

"In drei. Mein Rudi ist schon acht", knurrte Frau Seidenweber.

"Dann soll er lernen, dass größere Jungs keine kleineren umzuschupsen haben, wenn er schon so groß ist. oder ist Ihr Mann davon überzeugt, dass ein Mann nur als Rüpel seinen Weg im Leben findet?"

"Sie inzestuöse Pute haben's gerade nötig", knurrte Frau Seidenweber. "Von Ihnen will doch kein Mann mehr was wissen, seit Sie sich von ihrem eigenen Neffen haben ..."

"Vorsicht, werte Dame, sie balancieren jetzt sehr gefährlich nahe an einem sehr teuren Gerichtsprozess entlang", sagte Tracy. Frau Seidenweber verzog nur das Gesicht, klaubte ihren immer noch über den Schlag in seine Weichteile wimmernden Jungen auf und ging davon.

"Ich verstehe, dass du dich von größeren Jungen nicht umschupsen lassen willst. Aber hätte es nicht auch ein Schlag in die Magengrube oder ein gestelltes Bein getan?" fragte Tracy ihren Sohn leise. Dieser sah sie nur verdrossen an. Dann nahm er seine Sandumgrabetätigkeit wieder auf.

Als sich dann alle Strandurlauber in dem klimatisierten Hotel in der Form eines blauen Sombreros trafen und dem Spiel der örtlichen Mariachis zuhörten begann Tonys ganzer Körper zu vibrieren. Er schaffte es gerade so, sich nicht anmerken zu lassen, dass sein körper vom Bauch bis unter die Schädeldecke bebte. Er verwünschte den Umstand, dieses Antimentiloquismus-Armband zu tragen. Denn dann hätte er seiner Wiedergebärerin mitteilen können, dass irgendwas auf ihn einwirkte. Er dachte erst an eine Rache der Seidenwebers. Doch dann ließ dieses beklemmende Beben in seinem Körper nach. Er schlüpfte auf den Schoß seiner zweiten Mutter und streckte sich, um ihr über das Gefidel und Trompeten hinweg was ins Ohr zu flüstern. "Irgendwas hat mich heftig durchgeschüttelt, ohne dass ein richtiges Erdbeben war. was war das?" Tracy Summerhill erstarrte. Dann sagte sie: "Wir müssen nach Hause, nachsehen, was los ist."

So heimlich sie konnten reisten sie mit ihrem mitgebrachten Besen ab. Das Flohnetz zu benutzen erschien Tracy zu auffällig, zumal sie nicht wusste, ob sie noch einmal nach Playa Dorada zurückkehren konnte.

Jenseits der Landesgrenze landete Tracy schön weit weg von den patrouillierenden Muggeln, die die achso freien USA gegen illegale Einwanderer abschotten wollten. Als sie wieder Bodenkontakt hattenapparierte Tracy mit Tony auf dem Rücken in das gemeinsame Haus. Als sie dort aus dem Transit zwischen Ausgangs- und Zielort herausfielen begann eine tief im Mauerwerk des Hauses gelagerte Glocke zu läuten, eine kleine Glocke, die wie ein alter Wecker schrillte. Gleichzeitig erbebte Tonys Körper wieder.

"Ich habe eigentlich gedacht, den Fremdkontaktmeldezauber immer noch in Tracys kleinem Unterschied sitzen zu haben. Aber offenbar habe ich den durch die Schwangerschaft und Geburt in dich zurückgedrückt, Tony. Ein Kontaktfeueranruf ist es also nicht."

"Das ist die Glocke der Erben, Mom", sagte Tony. "Mein Großvater hat sie mir einmal gezeigt, bevor er die kleine Kammer wieder zugemauert hat, wo sie hängt. Sie läutet dann, wenn das blaue Buch aus seiner bisherigen Aufbewahrungsstätte zu einem aus der Wishbone-Blutlinie übergewechselt ist. Ich habe dir doch mal von dem blauen Buch erzählt, als wir es davon hatten, wer etwas über das Gold von Mathew Wishbone, meinem Großvater, wissen könnte."

"Du meinst deinen Urgroßvater, Tony", berichtigte ihn seine zweite Mutter. Er nickte. Dann sah er die Sorgenfalten, die sich in Tracys Stirn gegraben hatten.

"Du meinst, irgendwer hat die angeblich unausraubbare Bibliothek dieser alten Bücherhexe Backshot zu plündern versucht und dabei diesen Sicherheitszauber ausgelöst, bei dem die Bücher alle an einen anderen Ort versetzt werden?" Tony nickte. "Und damit wird dieses blaue Buch für den lesbar, in dessen Obhut es gelangt ist?" fragte sie. Tony nickte und erkannte in dem Moment, was für eine große Sorge Tracy umtrieb, ja auch ihn umtreiben musste.

"Falls der, wo es gelandet ist, gleich meint, drin lesen zu müssen kommt raus, wie das zwischen dir und mir gelaufen ist, Mom Tracy", raunte Tony.

"Eindeutig", seufzte Tracy. "Bei wem wird es gelandet sein, Junge?"

"Beim alten Irenaeus. Das ist der letzte, der die Knochengrube warmhält, so heißt die Flohnetzadresse vom Stammhaus der Wishbones. Da können aber dann auch nur Leute rein, die entweder mit Namen und Uhrzeit von dem Hausbesitzer eingeladen wurden oder in deren Körpern auch nur ein Tropfen aus dem alten Blut der Wishbone-Sippe fließt. Sogesehen wäre ich von uns beiden der einzige, der da reindarf, weil deine Schwester ja eine angeheiratete Wishbone war."

"Will sagen, wenn dieser alte Zausel, der meine Schwester damals so komisch angeglotzt hat, als wolle der was mit ihr anstellen, dieses Buch liest, dann weiß der alles über deine Vorfahren hier in den Staaten und deine Wiedergeburt", grummelte Tracy.

"Spätestens dann kriegen wir zwei den vollen Ärger. Mir würden sie das Gedächtnis auf Kleinkind zurückschrauben und dir unter die Schädeldecke setzen, mich nie geboren zu haben, damit ich bei irgendwelchen Pflegeeltern normal weiteraufwachsen kann, weil wir meine Wiedergeburt nicht beantragt haben."

"Genau das ist das Problem", grummelte Tracy. "Ich storniere die nächsten Urlaubstage. Drei Tage waren ja auch schon eine Erholung. Dann klären wir beide, wie du dieses blaue Buch beschaffen kannst, ohne einen Zauberstab benutzen zu müssen."

"Ins nächste Drachenmaul mit der Wiederkehrerin", fauchte Tony. "Die hätte dir meinen alten Zauberstab überlassen können."

"Hat sie aber nicht. Außerdem ist mir das ganz recht, dass dich niemand mit einem Zauberstab beim Zaubern erwischt, Tony. Wie gesagt, ich kläre das mal eben mit Playa Dorada. Dann planen wir, wie du uns dieses Buch beschaffen kannst."

"Der wird es nicht unbewacht rumliegen lassen", sagte Tony. "Und wenn die ganze Bibliothek von Bathilda Backshot bei dem gelandet ist ist das das berühmte dunkelgrüne Blatt in einem Wald voller mittelgrüner Blätter."

"Wir kriegen das hin, Tony. Wir kriegen das hin", sagte Tracy. Dann disapparierte sie. Tony lauschte noch, ob die Glocke wieder läuten würde. Doch durch seine Rückkehr hatte er sie ausgelöst, und er hatte sie lange genug gehört. Er dachte daran, was ihm bevorstand. Vielleicht sollte er sich damit abfinden, dass er bald sein bisheriges Gedächtnis verlieren würde. Dann würde er als beliebiger kleiner Junge aufwachsen und ... Nein! Er hatte sich die Tortur mit seiner Wiedergeburt nicht aufgehalst, um dann seine ganzen Pläne umschmeißen zu lassen, nicht von diesem alten Einsiedler und Möchtegernpatriarchen Irenaeus Wishbone. Der würde es doch als gefundenes Fressen schlucken, dass Tony Summerhill in jeder Hinsicht illegitim war. Damit würde nämlich auch alles Gold der amerikanischen Wishbones heim ins Mutterland fließen. Nein, nein, nein! Solange er noch frei denken konnte, wollte er ihm diesen Triumph nicht gönnen. Und sei es, dass er bei dem Versuch, das Blaue Buch zu bekommen, sein Leben oder sein Gedächtnis verlor, dann hatte er es zumindest versucht. Er wollte dieses Leben fortsetzen, sein zweites Leben, in dem er vieles anders machen wollte als in seinem ersten. Wenn dieser Kerl auch noch erfuhr, dass Lucas Wishbone den finalen Fluch angeordnet hatte könnte ihm sogar noch was schlimmeres drohen als der Gedächtnisverlust: Die Seelenkerker von Doomcastle. Dafür hatte er nicht gegen die Wiederkehrerin gekämpft. Dafür hatte er sich nicht darauf eingelassen, von Tracy Summerhill neu ausgetragen und wiedergeboren zu werden. Dafür hatte er nicht in seinen eigenen Ausscheidungen gelegen und die Schmerzen der ersten Zähne aushalten müssen. Er wollte dieses Buch haben, in dem alle Geheimnisse der Wishbone-Sippe standen.

Während Tracy Summerhill wohl den Koffer packte und die vorzeitige Heimreise und eine gewisse Rückzahlung klarmachte dachte Tony daran, wer damals auf die gemeine Idee verfallen war, dieses blaue Buch zu erschaffen. Für jeden, der es las, bedeutete es Macht über den Rest der Sippschaft. Wer zum wilden Oger hatte sich das ausgedacht? Sicher stand das auch im blauen Buch drin, dachte Tony. Dann wolte er es erst recht haben.

Als seine Mutter wieder im Flur apparierte sagte sie: "Die Hälfte der noch zu zahlenden Summe konnte ich wiederkriegen. Diese Sombreroträger haben gut von uns gelernt, einmal kassiertes Gold nicht mehr rauszurücken. Aber jetzt sprechen wir zwei mal über dieses blaue Buch und wie du da drankommst."

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Er hatte der Versuchung nicht widerstehen können, noch in dieser Nacht die Bibliothek zu durchforschen. Doch von wegen ein blaues Buch, es gab hunderte von blauen Büchern, die da bei ihm angekommen waren. Es gab dunkelblaue, mittelblaue, solche von saphirener Färbung, solche die wie Enzianblüten aussahen oder solche, die wie der klare Himmel gefärbt waren. Auf einigen standen die Titel in lateinischen Buchstaben, auf anderen in altgriechischen Buchstaben, und dann gab es noch Bücher, die waren offenbar in arabischer oder hebräischer Sprache geschrieben. Nur "De arcanis vivorum et mortuorum", das gesuchte blaue Buch, hatte er noch nicht gefunden. Er war sich aber sicher, dass es da war.

"Accio De arcanis vivorum et mortuorum!" rief er einmal. Doch außer einem kurzen Funkenschauer passierte nichts. Die Bücher waren wohl gegen den Aufrufezauber abgesichert. "Wäre ja auch zu einfach gewesen", blaffte Irenaeus Wishbone.

Der Morgen graute bereits, als er gerade auf einem unsichtbaren Steg herumbalancierte, der fünfzehn Meter über dem Boden an einem Regal entlangführte. "Du bist da, und ich finde und lese dich", blaffte Irenaeus. Wieder sah er ein blaugefärbtes Buch im Licht einer über ihm schwebenden Laterne. Doch als er den Einband genauer betrachtete sah er nur den Titel "Der Minnekessel der Morgause". Das Buch galt unter Magiehistorikern und Zaubertrankbraumeistern als Mythos, weil die einen sagten, es sei nie geschrieben worden, die anderen aber behaupteten, es gäbe davon nur eine einzige Ausgabe.

"Dich nehme ich mal, wenn ich noch ein paar Galleonen von den Brauern haben will", sagte er dem Buch zugewandt und ging weiter über den unsichtbaren Steg.

"Graubart, wo steckst du? Hast du dich schon in Bathys Büchern verbuddelt?!" hörte er wie aus großer Tiefe einen Mann rufen. "Auf dass dir gleich nicht nur der Bart grau wird, Damien Mortlake", grummelte Irenaeus. Wieso hatte er die Kontaktfeuersperre nicht in den Kamin gemacht? Vor allem, woher wusste dieser Frettchenfanatiker von Bathildas Büchern und dass die jetzt bei ihm waren? Egal! Er wollte so tun, als sei er nicht zu Hause. Mortlake konnte nicht durch den Kamin zu ihm vordringen.

"Alter Knochen Irenaeus, wenn du zu Hause bist komm gefälligst her oder mach die Reisesperre raus, damit ich ganz zu dir kommen kann! Ich will mit dir reden, verdammt noch mal!" schimpfte Mortlakes Stimme von unten.

"Du mich auch", grummelte Irenaeus und fügte noch einen für einen Gentleman absolut unzulässigen Kraftausdruck hinzu. Dann hätte er fast geschrien und einen Luftsprung getan. Da vorne sah er was himmelblaues. Doch wenn er sprang würde er mal eben fünfzehn Meter in die Tiefe stürzen und danach wohl nicht mehr aufstehen. Also beherrschte er sich und eilte so schnell er sich auf diesem gerade einen Meter breiten Steg zutrauen konnte bis zu dem Ort, wo etwas mehr als einen Meter großes, mannsdickes stand, auf dessen Rücken mit goldenen Lettern "de arcanis vivorum et mortuorum" stand. Zudem meinte Irenaeus, dass das Buch leicht erzitterte. Er trat weiter vor. Da rief Mortlake von unten:

"Okay, Irenaeus. Ich wollte mit dir im Gguten reden. Aber wenn du entweder nicht zu Hause bist oder meinst, mich verschaukeln zu können wundere dich nicht, wenn ich gleich bei dir im Wohnzimmer stehe."

"Nur über meine Leiche", schnarrte Irenaeus leise. Dann zog er seinen Zauberstab und zielte auf die ermittelte Mitte seines Hauses. "Prohibio praesentiam Damien Mortlake in mansione meae!" Aus dem Zauberstab schlug ein goldener Blitz, der in der Luft zu einem Netz aus goldenen Linien zerfaserte, das sich ausbreitete und mit den Wänden Kontakt bekam. Sofort erstrahlten die Wände in goldenem Licht. Dann erlosch das Zauberlicht wieder. Keine Sekunde später hörte Wishbone einen lauten Aufschrei, der schlagartig abbrach. "Da hat's dir einen schönen Klaps auf deine von Frettchendreck verklebte Birne gegeben, was Damien?" lachte Wishbone. "Ach ja, und wo wir gerade so schön dabei sind: Prohibio praesentiam alle lebenden Träger des Namens Flint in mansione meae!" Erneut erstrahlte ein goldener Blitz aus Wishbones Zauberstab, der zu einem Netz auseinanderflog, das dann die Wände zum Leuchten brachte.

"Am besten sperre ich die McDuffys auch gleich mit aus", grummelte er. Doch er spürte, dass er sich durch das umfangreiche Hausverbot sehr angestrengt hatte. Wenn er jetzt noch alle Namensträger McDuffy, einschließlich der dreißig in den Staaten lebenden Abkömmlinge von Peter McDuffy mit einem magischen Hausverbot belegte, würde ihn das total auslaugen. Vielleicht wussten die aber noch nichts davon, dass die Bibliothek der Wishbones aus Bathildas Haus umgezogen war.

Er ging auf das blaue Buch zu, das ihn mit seinem Titel anlockte. "Siehst sehr schwer aus. Aber ich nehme dich jetzt schon mal. Wird wohl eine Woche dauern, alles wichtige aus dir herauszulesen", sagte er und griff nach dem Buch. Es fühlte sich warm an. Er zog es behutsam hervor. Es war wirklich schwer. Es zitterte ein wenig in seinen knotigen Händen. Er wusste, dass er es so nicht einfach zur nächsten Leiter tragen und damit hinuntersteigen konnte. Mit Bewegungszaubern war auch nichts zu machen. Doch er konnte es an einem Seil hinunterlassen.

Gerade wollte er aus einem Taschentuch ein ausreichend langes Seil machen, als das Haus erbebte. Irenaeus verlor das Gleichgewicht. Er konnte gerade noch sehen, wie das Buch wieder an seinen Platz zurückrutschte, bevor er abstürzte. "Cadelento!" rief er, auf sich selbst deutend. Knapp einen Zentimeter vor dem Aufschlag griff der Fallbremsezauber und ließ ihn etwas unsanft aber unversehrt aufkommen.

"Wer hat es gewagt?" brüllte er. Dann lief er durch die gewaltige Halle, verirrte sich zweimal im Labyrinth. Wieder erzitterte das Haus. Irgendjemand versuchte, die mächtigen Abwehrzauber zu durchbrechen. Einer alleine konnte das nicht sein, so heftig die Reaktion war. Aber er musste sich wehren. Wenn er nur darauf vertraute, dass die Abwehrzauber von alleine hielten, konnten die anderen vielleicht die nötige Bresche hineinschlagen, um mindestens einen von ihnen ins Haus zu schicken.

"Irenaeus, mach den Schild weg und lass uns rein. Oder wir machen den Fluch der schnellen Verwitterung!" rief ein wütender Zauberer, als Irenaeus in seine Wohnräume zurückgekehrt war. Durch eines der Fenster konnte er ihn sehen, Aquillus Flint und seine drei Söhne und fünf Neffen. Nur sein Bruder Corvinus fehlte. Kunststück, wo der seit der Schlacht von Hogwarts nirgendwo mehr aufgetaucht war. Wishbone öffnete das Fenster und wirkte den Sonorus-Zauber. "Ihr habt hier nichts mehr verloren, Aquillus, scher dich mit deiner Bagage in das Sumpfloch zurück, in dem ihr wohnt. Mit euch bin ich fertig!"

"Wir aber nicht mit dir, Graubart!" brüllte Aquillus Flint zurück. "Du hast was, dass auch uns zusteht. Wir wollen nur die Bücher von Esus Flint, meinem Urururgroßvater, der damals meinte, sich in deine überhebliche Sippschaft reinheiraten und reinrammeln zu müssen."

"Halt du den Quaffel bloß flach, du kleiner Wurm. Denn ohne dass dein Urururgroßvater sich mit meiner Urururgroßtante Della zusammengetan hätte gäb's dich Schleimlurch doch gar nicht. Wenn ihr meint, ich hätte irgendwelche Bücher, die euch gehören, dann fragt höflich per Eulenpost an oder geht zu Shacklebolt und klagt die Herausgabe ein. Aber ihr Gesocks kommt hier nicht mehr rein."

"Was uns gehört kriegen wir auch so, Moderknochen. Wenn du nicht willst, dass dir dein sowieso schon angefressenes Haus gleich überm Kopf zusammenbricht, dann lass uns rein oder rück unsere Bücher aus Bathildas Bibliothek raus."

"Welche Bibliothek?" tat Wishbone ahnungslos.

"Ey, seitdem meine Vorfahren sich mit deinen zusammengesteckt haben haben wir auch eine kleine Glocke der Erben, die läutet, wenn die damals von allen lebenden Blutsverwandten vereinbarte Zeit abgelaufen ist, da unsere große Bibliothek, die die Backshots verwaltet haben, beim letzten in England lebenden Träger des Namens Wishbone gelandet ist. Da du das bist liegen die Bücher jetzt irgendwo bei dir rum. Vielleicht weißt du das noch nicht. Wir können dir gerne suchen helfen. Aber dein mieser Hausverbotszauber zeigt, dass du alter Knochenkopp das längst weißt und uns nix rausrücken willst. Aber wir Flints haben immer gekriegt, was wir wollten. Und was uns schon gehört, kriegen wir erst recht. Also mach es nicht so schwer und hebe dieses lächerliche Hausverbot wieder auf!"

"Wenn es so lächerlich ist, warum betrittst du nicht einfach das Grundstück, du schräger Schnatzer? Na los, komm doch!"

"In einer Minute komme ich rein, wenn dein Haus nicht mehr steht. Wir können diesen Fluch gennial machen!"

"Mein Haus wird sich das nicht gefallen lassen, von einem Drachenfurz wie dir zerlegt zu werden", sagte Wishbone und wandte sich ab. Er hob den Zauberstab nach oben und murmelte eine altdruidische Formel der Luft und des Himmels. Dann zeigte er mit dem Zauberstab nach unten und murmelte eine alte Formel der Erde und des Wassers. Dann begann es auch schon, silbern und violett um sein Haus zu toben.

Das Blitzgewitter tobte eine Viertelstunde lang. Die Flints schienen nicht so recht davon begeistert zu sein. Dann schlugen blaue und violette Blitze in jeden der aufmarschierten Flints ein. Es sah zuerst so aus, als würden sie verbrennen. Doch dann standen sie alle versteinert da. Das Blitzgewitter erstarb.

"Ich sagte ja, dass das Haus sich wehrt", lachte Wishbone. Die ganzen Flints würden nun solange da draußen Standbild sein, bis jemand ihnen den Alraunen-Rückverwandlungstrank übergoss oder bis Regen und Wind sie langsam aber sicher zersetzt haben würden.

"War klar, dass diese Kerle es auf diese Tour wollen", rief Mortlake mit magisch verstärkter Stimme. "Aber mir wirst du bestimmt Einlass gewähren, Irenaeus, allein schon, damit ich dir diese heftige Kopfnuss verzeiehe, die du mir im Kamin verpasst hast. Los, hebe das Hausverbot auf und lass mich rein! Soll auch dein Schade nicht sein! Ich will ja nicht die ganze Bücherei, nur die Bücher von Abaddon Moureau über die Erschaffung nutzbringender Kreuzungen."

"Das soll bei mir sein? Frettchenreiter, wie kommst du denn darauf, dass ich ausgerechnet den Inbegriff schwarzmagischer Tierkreuzungsvorgaben bei mir liegen habe, wo den meines Wissens nach die Heiler in Frankreich schon vor über tausend Jahren eingezogen haben."

"Weil du klappernder Knochenhaufen genau wie ich weißt, dass es von dem Buch nicht nur ein sondern vier Exemplare gab und unser gemeinsamer Urahne Lykaon es in die Bibliothek der Backshots gestellt hat, weil da eben nur wer von unserer langen aber weit verzweigten Blutlinie drankommt. Ich habe damals genauso wie dein zu Staub zerfallener Urerzeuger eine kleine Glocke bekommen, die läutet, wenn Bathys Bib nicht mehr besteht und alle Bücher zum letzten lebendenWishbone verschickt werden. Also. Ich kaufe dir das Buch ab. Das ist mir glatt tausend Galleonen wert."

"Vom wildenWichtel gebissen, oder hat dich eines deiner Frettchen mit einer mir noch nicht bekannten Art von Tollwut angesteckt, oder sind dir ein paar Lovegood'sche Schlickschlupfe durch das Hirn gezischt und haben was davon mitgenommen?"

"In deinem alten Totenschädel ist ja schon jetzt nur heiße Luft, wenn du mir so überheblich zu kommen wagst, Irenaeus. Wie du meinst. Dann lasse ich die Bücher eben alle aus deiner Hütte rausholen."

"Oh, der Herr ist adelig geworden. Er lässt", lästerte Wishbone. Doch als er sah, wie Mortlake keine zehn Meter vor der Grundstücksgrenze eine Kiste absetzte und daraus vier weiße Frettchen herausließ musste er lachen. Das lachen verging ihm aber, als Mortlake den vier Tieren mit einem Zauberstabwink grüne Funken auf den Körper schleuderte und die Tiere unvermittelt auf Schweinegröße anwuchsen. Dann verteilten sich die vier verhexten Frettchen. "Ich rufe jetzt den Minister und das Schädlingsbekämpfungsamt und lasse dich einbuchten, du Pfuscher!" brüllte Wishbone mit magisch verstärkter Stimme.

"Du kannst noch das schlimmste verhindern, wenn du das Hausverbot gegen mich aufhebst und mir die Tür öffnest. Dann pfeife ich meine vier Hübschen wieder zurück."

"Du bist selbst eine Pfeife! Denkst du, ich ließe mir von vier auf Schweinegröße aufgeblasenen Pelztieren Angst machen?"

"Dann eben nicht", knurrte Mortlake und zog sich vom Grundstück zurück.

Wishbone verwünschte den Umstand, dass er seine Drohung, Mortlake das Ministerium auf den Hals zu hetzen, nicht wahrmachen durfte. Denn dann würden die vom Ministerium bei ihm Bestandsaufnahme machen und alle Bücher einsacken, nicht nur die wirklich böswilligen, sondern alle, auch das berühmte blaue Buch. Das aber durfte auf keinen Fall in fremde Hände fallen.

Wishbone benutzte den Schnellumkleidezauber, um in einen jägergrünen Umhang zu schlüpfen. Auf dem Kopf trug er eine mit einer goldenen Adlerfeder verzierte Jagdmütze. Mit einer Apportation holte er eine Armbrust und einen Köcher mit silbernen Pfeilen aus dem Nichts hervor. Dann zog er los. Den Eindringlingsalarm hatte er mit den Bildern der vier Frettchen abgestimmt. Als er an seiner Tür war, sah er bereits Frettchen nummer eins, das mit kräftigen Kieferbewegungen und Hieben seiner Pfoten versuchte, sich durch die Tür zu beißen. Wishbone ließ die Tür aufspringen und feuerte den ersten aufgelegten Silberbolzen ab. Das Frettchen bekam das Geschoss voll in die Brust und fiel laut schreiend um. Dabei schrumpfte es zusammen und blieb liegen. Fehlten nur noch drei. Doch als das eine Frettchen umfiel hörte Wishbone vom Dach her eine schrille Antwort. Also waren mindestens zwei von den Biestern aufs Dach geklettert und kamen sicher gleich durch einen der beiden Kamine.

Als Wishbone in sein Wohnzimmer gekeucht war, schlidderte schon Frettchen Nummer zwei aus dem Kamin und sprang vom Rost. Dabei wich es der auf es einschwenkenden Armbrust aus und krallte sich in den Boden. Mit drohendem Blick starrte das überlebensgroße Pelz- und Raubtier auf Wishbone. Der versuchte zu zielen, als ihm etwas sehr befremdliches auffiel. Durch den Kamin schlidderten weitere Frettchen, die normalgroß waren. Er hörte gleichzeitig ein gequältes Quieken und Schreien von oben. Dann waren nicht nur zwei, sondern fünf Frettchen bei ihm im Kamin. Und als wenn das immer noch nicht reichte begannen die fünf unwillkommenen Besucher zu wachsen. Wishbone ließ die Armbrust sinken und zückte den Zauberstab. "Incendio Carnivorignem!" rief er. Unvermittelt entstand ein violettes Feuer im Kamin und loderte unheilvoll heulend nach oben. Die fünf darin steckenden Frettchen schrien noch einmal schrill auf. Dann löste sich alles Fleisch von ihnen ab und ließ nur ihre Skelette übrig. Diese schrumpften wieder zu normaler Frettchengröße und noch kleiner zusammen. Das bereits im Raum hockende Frettchen sprang los, genau in einen Sonnenspeer Wishbones hinein. Laut kreischend hauchte es sein widernatürliches Leben aus.

"Mortlake, du wirst Dementorenfutter!" brüllte Wishbone, als er sicher war, dass dieses Frettchen ihm nichts mehr anhaben konnte.

"Die sind nicht mehr in Askaban, du Schlafmütze!" kam es von draußen zurück.

Ein wildes Schaben und sauenartiges Quieken warnte Wishbone davor, das Studierzimmer zu öffnen. Nur die massive Eisentür hatte die wohl im zweiten Kamin angekommenen Frettchen davon abgehalten, den Raum zu verlassen. Doch in dem Studierzimmer gab es zu viele wertvolle Sachen. Als Wishbone hörte, wie die eingedrungenen Tiere anfingen, seine Möbel zu Kleinholz zu verarbeiten und er dabei mehr als fünf einzelne Stimmen heraushörte wusste er, dass Mortlakes Manipulation mit den Frettchen wieder fünf oder mehr Artgenossen erzeugt hatte. "Und ihr krepiert da drinnen gleich", schnarrte Wishbone leise. Dann zielte er mit dem Zauberstab auf einen kleinen, unscheinbaren, grünen Totenkopf mit zwei gekreuzten Knochen. "Vita non Grata mori!" flüsterte er. Von seinem Zauberstab sprang ein grün flirrender Lichtstrahl auf den Totenkopf über, spannte einen leise singenden Lichtbogen. Der Totenkopf wuchs an und erglühte hell. Sofort erglühte auch die Tür. Dann klang von drinnen ein kurzer aber schrecklich anzuhörender Schrei aus vielen Kehlen, gefolgt von berstenden Geräuschen. Das Glühen verebbte. "Ich habe meine Hausaufgaben gemacht, Drecksack", grummelte er. Dann öffnete er die Tür, um einen Haufen in einzelne Knochen zerfallener Skelette zu sehen. Sein Schreibtisch war bereits in mehrere Teile zerbissen. Da sah er vier weitere Frettchen, die aus dem Kaminschacht fielen. Noch einmal beschwor er jenes violette Feuer, dass von den Eindringlingen nur Skelette übrigließ. Durch diesen Kamin kam nun auch kein Frettchen mehr.

"Blanca und Edurne sind immer noch am leben!" flötete eine gehässig betonende Stimme von draußen.

"Gleich nicht mehr, wer immer das ist", stieß Wishbone aus. Dann lief er keuchend durch die Etage seiner Wohnräume. Die Bibliothek in der magischen Halle war für unbefugte, auch vierbeinige, unbetretbar. Ein lautes Klirren aus dem Badezimmer zeigte ihm, wo der nächste Einfall stattfand. Aber diese Biester waren doch zu groß für das Toilettenabflussrohr gewesen. Da sprang auch schon die Badezimmertür auf, und ein sichtlich fülliges Riesenfrettchen wankte heraus. Hinter ihm kam noch eins, das gerade auf seine Hausschweingröße anwuchs und dabei noch anschwoll. Dann sah Wishbone, was das Geheimnis dieser Monster war. Beide Frettchen waren hochtragend, ja setzten gerade zu einem Wurf an. Er griff schnell zu seiner Armbrust. Jetzt konnte er dem Spuk ein für alle Mal ein Ende machen. Er zielte auf das erste jungende Frettchen und schoss. Es schrie auf und fiel um. Dabei entfielen ihm jedoch vier quicklebendige Minifrettchen, die kaum aus dem schützenden Leib ihrer magisch manipulierten Mutter heraus auf die Beine kamen und anwuchsen. Gleichzeitig spritzte es aus Mutterfrettchen nummer zwei förmlich heraus. Sechs auf einmal kamen so auf die Welt. Wishbone ahnte, dass die Nachkommen selbst schon trächtig waren und sofort jungen würden, wenn eine der Artgenossinnen starb. Deshalb hatte Mortlake was von vier Hübschen gesagt.

Wishbone versäumte den rechten Moment, zumindest noch eines der frisch geschlüpften Frettchen zu töten, da warf sich auch schon das gerade erst von seinen Jungen entbundene Monster auf ihn und setzte ihm seine gefährlichen Fangzähne an den Hals. "Okay, Edurne hat dich und ihre und Blancas Babys sind schon aus den Windeln raus. Also mach das Hausverbot rückgängig und die Tür auf. Sonst lasse ich meine Lieblinge und ihre Töchter dein Haus auf Links drehen, bis sie mir alle Bücher bringen, die da sind!" rief Mortlake.

"Noch nicht", dachte Wishbone und ließ die Todesangst richtig aufkommen. Noch hielt er seinen Zauberstab in der Hand. Dann dachte er konzentriert: "Devorato Inimicum!"

Laut fauchend strömte schwarzer Nebel aus den Wänden und erfüllte den Gang. Da das Frettchen auf Irenaeus' Bauch wohl darauf wartete, ob es zubeißen oder ihn nur am Boden halten sollte, reagierte es zu spät. Der Nebel hüllte es ein. Alle Ausgeburten der ursprünglich vier Monsterfrettchen schrien laut auf. Ihre Schreie schienen sich immer mehr zu entfernen. Dann hörte Wishbone wie durch Watte das Klappern zerspringender Knochen. Die zentnerschwere Last auf seinem Körper war verschwunden. Er wischte angeekelt die blitzblanken, aber auf Standardfrettchengröße geschrumpften Knochen von sich herunter. Wenn nicht noch irgendwo außerhalb seines Hauses eines dieser Blitzgebärenden Monsterfrettchen herumsaß war das Kapitel nun erledigt. Leider hatte er dafür den Feindfressernebel entladen müssen, der eigentlich gegen intelligentere Wesen eingesetzt werden sollte.

Der schwarze Nebel lichtete sich und gab den Blick auf ein schauerliches Bild von Tod und Verwüstung frei.

"Mortlake, bist du noch da?" rief Wishbone mit magisch verstärkter Stimme. "Mortlake!" Doch der Meister der manipulierten Frettchen antwortete nicht. Der hatte sicher das Weite gesucht, weil sein netter Streich komplett verpufft war, dachte Wishbone. Wozu wollte der eigentlich Abaddons Buch haben, wo der schon genug Unheil mit harmlosen Tieren anrichten konnte?

Wishbone kehrte in sein Wohnzimmer zurück und löschte das Fleischfresserfeuer. Ebenso verfuhr er im Studierzimmer. Dann ließ er alle Knochen mit dem Aufhäufungszauber zusammenfliegen und mit einem einzigen Verschwindezauber zu nichts als Nichts werden. Danach reparierte er die zerstörte Toilette und scheuerte kurz durch das Badezimmer. Die zerstörten Möbel konnte er nicht so einfach reparieren, weil die Monsterfrettchen bereits Stücke daraus herausgebissen hatten.

"Am besten verwandele ich dich selbst in ein Frettchen, oder besser in eine stinkende Wanderratte oder eine miese kleine Blattlaus", knurrte Wishbone. Er prüfte mit dem Menschenfindezauber, ob noch wer im Umkreis von hundert Metern lauerte. Doch der Zauber fand niemanden vor, der noch frei lebte. Was sollte er mit den Flints machen? Sollte er sie wirklich bis in alle Ewigkeit um sein Haus herumstehen lassen? Ihm wurde jedoch klar, dass das Geplänkel mit den Flints und mit Mortlakes Frettchenmonstern vielleicht nur der Auftakt gewesen war. Wenn die anderen Wishbone- und Backshot-Nachfahren ebenfalls informiert worden waren, waren die nächsten Anwärter auf die Bücher schon unterwegs. Im Moment konnte er nur noch die mit dem Eindringlingsalarm gekoppelten Fallenzauber in Kraft setzen. Er erkannte, dass er gerade zu einer Mischung aus Ein-Mamn-Armee und Einzelhäftling geworden war. Denn so wie es stand konnte er sein Haus nun erst wieder verlassen, wenn er klar wusste, wie er die nun viele hundert Tonnen schwere Erblast wieder loswerden oder zumindest auf die richtigen Schultern verteilen konnte.

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"Alles, Tony. Du musst alles in dich einsaugen, Kleiner", keuchte Tracy, während Tony wie ein halbverdurstender Säugling von ihr trank und dabei fühlte, wie ihm die Wangen von der Anstrengung schmerzten. Warum wollte sie ausgerechnet drei Stunden vor der gemeinsamen Abreise, dass er noch mal von ihr gesäugt wurde? Gehörte das zu ihrem Plan, ihn gegen mögliche Zauberfallen zu schützen, wenn sie mehr als zwei Liter Körperflüssigkeit von sich in ihn hineinbekam? Offenbar ja, denn als er auf der einen Seite nichts mehr saugen konnte, musste er auch die andre Seite restlos ausschöpfen. Tracy trank während dieser zwei Stunden erzwungener Zuwendung immer wieder Wasser und Saft nach, bis Tony tatsächlich nichts mehr aufsaugen konnte. Sein Bauch fühlte sich prall an. Seine Wangen taten weh. Doch er fühlte sich auch irgendwie wesentlich stärker als vor den zwei Stunden noch. Wie damals als Wickelkind stieß er auf, wobei er aufpasste, nichts von dem wieder auszuwürgen, was er gerade mühevoll in sich aufgenommen hatte. Tracy legte ihm zu allem Verdruss noch eine Reisewindel an. Eigentlich war er doch froh, sowas nicht mehr nötig zu haben. Andererseits konnte er den alten Irenaeus wohl kaum fragen, ob er bei ihm mal zur Toilette konnte.

"Moment, gleich können wir", sagte Tracy und zog ihren Zauberstab. Sie ließ ihn über Tonys Kopf und Bauch kreisen. Sofort durchströmte ihn eine starke Kraft, etwas, das von seinem Bauchraum in die Beine und wieder in den Kopf flutete und wie ein zweiter Blutkreislauf arbeitete, bei dem das pumpende Herz in seinem Magen saß. Den Zauber kannte er noch nicht. Ging der nur, wenn eine Hexe wem auch immer genug von ihrer Milch eingeflößt hatte? Doch in dem Moment, wo er den Gedanken formulierte, ebbte die wohlige Empfindung auch schon ab, und er vergaß, was er gerade erlebt hatte. Für ihn sah es so aus, als habe Tracy lediglich mit dem Zauberstab Haare und Kleidung ihres Sohnes geglättet.

"Kannst du in der Windel gut laufen?" fragte sie. Tony machte erst fünf langsame und dann zehn schnelle Schritte. "Bin ich nicht mehr gewohnt, Mom Tracy. Aber wenn ich eh nicht gesehen werden darf muss ich ja nicht rennen", sagte Tony. Seine Mutter nickte und hängte ihm einen Schnuller um. "Durch den kriege ich mit, wie es dir geht, Tony. Tu den unter dein Hemdchen!" Tony befolgte diese Anweisung. Dann ergriff er noch ein zerschlissenes Geschirrtuch, das seine Mutter zum Portschlüssel gemacht hatte. Keine halbe Minute später rasten beide durch den bunten, lauten Wirbel, der Portschlüsselreisende begleitete.

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Wishbone hatte sich mit einem langen Seil gesichert, als er in der Nähe des blauen Buches die Leiter erklomm. Er wollte es jetzt wissen. Zwei Stunden hatte er gewartet, ob noch wer das Haus bestürmen wollte. Doch es war nichts geschehen. Er hatte mit dem Gedanken gespielt, die Bibliothek zu einem Fidelius-Geheimnis zu machen. Doch dann war ihm eingefallen, dass hierfür ein Zauberer und ein Geheimniswahrer benötigt wurden. Wem sollte er sich anvertrauen, den er nicht in dieses Haus einlud? Vielleicht sollte er einen seiner Urgroßneffen als Geheimniswahrer einsetzen, natürlich ohne dessen Mutter ... Nein, das ging nicht, weil der Junge ja ausplaudern konnte, was er geheimhalten sollte. Blieb vielleicht nur der alte Fornax Cobbley, mit dem er damals eine heimliche Schulfreundschaft gepflegt hatte, wo Wishbone in Ravenclaw und Cobbley in Slytherin gewesen war. Doch wenn Cobbley was von der Bibliothek wusste würde er den Zauber nicht ausführen. Also kam der auch nicht in Frage.

Das Buch fühlte sich wieder warm in den Händen des Hauseigentümers an. Er zog es behutsam heraus. Gerade wollte er sich damit am Seil hinablassen, um es aus der Halle hinauszubringen, da läutete die Türglocke. Auf das Grundstück kam doch nur, wer das Blut der Wishbones in den Adern hatte. Irenaeus schob schnell das Buch zurück und ließ sich am Seil hinunter.

Vor der Tür stand Oliver, sein Neffe. Er hatte keinen Zauberstab in den Händen. "Hallo Onkel Irenaeus. Ich weiß, die Konferenz der Hausvorsteher ist erst im Dezember. Aber wenn ich das heute richtig gehört habe könnte die alte Bibliothek bei dir gelandet sein. Vielleicht sollten wir uns in Ruhe darüber unterhalten, wer davon was bekommen darf."

"In Ruhe? Ich hatte heute schon einige "Anfragen"", grummelte Wishbone und deutete auf die Grundstücksgrenze. Dort standen die versteinerten Flints.

"Öhm, Onkel, dir ist klar, dass du dich strafbar machst, wenn du die nicht wieder lebendig machst, egal was sie gemacht haben."

"Ich weiß, du hast die Gesetzbücher alle gefressen, Oliver. Aber die haben mich und mein Haus angegriffen. Wenn ich die wieder losspreche oder zulasse, dass die wieder rumlaufen können, werden die dir und mir, deiner Tochter und den drei Jungs alle Drachen und Basilisken der ganzen Welt auf den Hals hetzen. Bis ich klar habe, was ich dagegen machen kann bleiben die da erst mal stehen. Aber komm rein!"

Natürlich konnte Wishbone jetzt nicht an das blaue Buch gehen. Denn das würde bei seinem Neffen nur Begehrlichkeiten wecken. Er musste mit ihm sprechen, was bei ihm angekommen war und dann vereinbaren, was damit zu tun war.

"Onkel Irenaeus, ich fürchte, die alle werden dich bis ans Ende der Welt jagen, weil die Bibliothek bei dir angekommen ist", sagte Oliver. "Vor allem dürfte es das Ministerium interessieren, was an dieser fast vergessenen Bibliothek dran ist und vor allem, was sie enthält. Wenn wir eine komplette aufstellung aller Bücher machen, kann ich was für dich machen, dass du zum einen einen guten Preis vom Ministerium erhältst und zum anderen nicht wegen besitzes schwarzmagischer Literatur verklagt wirst. Denn ich gehe davon aus, dass die Flints da draußen genau wegen solcher Bücher hier aufgelaufen sind."

"Ja, und Mortlake. Er hat mir eine Probe seiner fiesen Frettchenmanipulationen gegeben", sagte Irenaeus.

"Ja, und sicher werden noch andere hier auflaufen. Die Bibliothek hat sich aus ihrem früheren Haus abgesetzt, weil jemand mit starken Zauberkräften ihre Schutzvorrichtungen niedergekämpft hat und wohl entkommen ist. Bathilda Backshots Haus ist explodiert, Onkel Irenaeus."

"Ja, sowas habe ich mir gedacht", erwiderte Irenaeus. Sein Neffe konnte schon ein echter Schreibtischwühler sein.

"Ich habe ausreichend Schreibmaterial dabei, um einen Katalog zu erstellen. Wenn wir alle Bücher verzeichnet haben können wir ..."

"Moment, Jungchen, außer dir und mir kommt hier niemand mehr rein, schon gar nicht zum Aussortieren der Bücher. Ich schlage dir was anderes vor. Wir machen den Fidelius, dass keiner mehr weiß, dass es diese Bibliothek gibt beziehungsweise, dass sie bei mir ist. Dann haben alle Ruhe, du, ich, einfach alle."

"Das darf ich leider nicht tun, Onkel, weil ich mich dann der Beihilfe des Besitzes potenziell gefährlicher Materialien, Schriften oder Gegenstände schuldig machen würde. Meine Enkelsöhne wollen schließlich nicht in Hogwarts zu hören kriegen, dass ihr Opa ein Verbrecher ist. Und du willst auch kein Verbrecher sein, denke ich."

"Wenn wir den Fidelius machen kriegt es keiner mit. Ich werde der Geheimniswahrer. Sobald der Zauber vollführt ist hast du es auch solange vergessen, bis ich es dir wieder erzähle, und zwar freiwillig."

"Wir stehen nicht über den Zaubereigesetzen, Onkel Irenaeus", brüllte Oliver, der nun sichtlich verärgert dreinschaute. "Entweder gehst du auf meinen Vorschlag ein und erlaubst den Archivaren des Ministeriums, die Bücher zu kaufen, die du nicht besitzen darfst oder siehst zu, wie sie alle beschlagnahmt werden."

"Wenn du nicht der Sohn meines verstorbenen Bruders wärest hätte ich dich hier und jetzt in einen Regenwurm verwandelt, Oliver. Diese Tiere haben genausowenig Rückgrat wie du. Dein Vorschlag ist für uns Wishbones eine Schande. Die Familie muss einig bleiben. Selbst wenn du es zugelassen hast, dass deine Tochter einen Muggel geheiratet hat fließt in dir immer noch Wishboneblut."

"Wollte der Unnennbare dich nicht haben, weil du für den schon zu alt oder zu stur warst, Onkel", konterte Oliver.

"Das wagst du mir in meinem Haus zu sagen?!" brüllte Irenaeus. "Sieh zu, dass du hier rauskommst, oder ich lege dich mit deinen zweiundsiebzig Jahren noch übers Knie und versohle dir den blanken Hintern!!"

"Die Drohung ist der Funke, der den Kessel bersten lässt, Onkel. Mr. Irenaeus Wishbone, im Namen des Zaubereigesetzes nehme ich Sie hiermit fest, wegen Besitzes potenziell gefährlicher Materialien, Schriften und Gegenstände, sowie wiederholte Bestechungsversuche gegen einen Ministerialbeamten und Bedrohung desselben."

"Du Korintenkacker willst mich verhaften? In meinem Haus? Dir hat wohl wer das Gehirn rausgenommen und gegen einen Klumpen Drachendung ersetzt, wie. Dann mal zu!" rief Wishbone. Sein Neffe wollte aufspringen. Doch der Stuhl, auf dem er saß, hielt ihn fest wie mit unsichtbaren Ketten. Gleichzeitig wallte um Oliver ein grüner Nebel auf. Doch Oliver Wishbone war auf Zauberfallen vorbereitet. Er hielt seinen Zauberstab in der Hand und rief vier Worte, die den alten Ägyptern eingefallen waren, um eine magische Gefangenschaft zu beenden, solange sie noch bei Besinnung waren. Dabei kam auch der Name des Sonnengottes Ra vor. Unvermittelt glühte der Stuhl auf, die grünen Nebelschleier, die ihn zu lähmen drohten, verblichen. Dann kam Oliver frei und sprang auf. "Genau deshalb verwenden wir im Gamot magische Halteketten. Die können so nicht gelöst werden, Onkel. Und nun ..."Wishbone hielt den eigenen Zauberstab in der Hand und holte zu einer Bewegung aus, die eindeutig einen magischen Angriff einleitete. Oliver setzte sofort eine Blockierbewegung an und rief "Protego!" Damit war das magische Duell eingeleitet.

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"War zu erwarten, der Blutwallzauber. Ich komme da nicht rein, nicht als deine Mutter und nicht als Reny", grummelte Tracy Summerhill, als sie mit ihrem Sohn auf dem Rücken nur hundert Meter von der Grundstücksgrenze entfernt stand.

"Okay, Mom, dann muss ich da eben rein. Ich hoffe, deine ganzen Vorkehrungen, von denen du mir nichts erzählen wolltest, funktionieren."

"Wenn nicht hole ich dich zu mir zurück. Im Zweifelsfall legst du das hier auf das blaue Buch, sobald du es findest, aber nicht an dich nehmen kannst." Sie gab ihrem Sohn ein rotes Taschentuch. Tony fragte erst nicht, was damit war. Sicher enthielt es einen mächtigen Zerstörungszauber. Doch das Buch war gegen die meisten Zerstörungsarten immun, ähnlich wie ein Horkrux. Das hatte er Tracy, wo sie noch seine Tante und verbotene Liebschaft war auch erzählt. Aber er fragte nicht nach, sondern ging behutsam auf das Grundstück zu.

Als Tony die Grenze erreichte, fühlte er einen leichten Schauer durch den Körper gehen. Dann hörte er vom Haus her wildes Zischen, knallen und Schwirren. Er kannte diese Geräuschkulisse zu gut. Da drinnen fand ein Zaubererduell statt.

Tony achtete sehr genau auf seine Umgebung. Schließlich wusste er aus eigener Erfahrung, wo und wie jemand Zauberfallen anbringen konnte. Einer der Bäume sah verdächtig nach einem Schreckensbaum aus. An einem seiner langen, schräg nach oben ragenden Äste hing das Skelett eines Vogels. Daneben erkannte er noch eine große Wiese, die das Haus umlief. Er durfte diese Wiese nicht betreten, wenn er nicht einem Anwachsfluch zum Opfer fallen wollte, der in frische Erde gewirkt werden konnte. So lief er den spiralförmigen Plattenweg entlang. Da konnte er die Gruppe von Statuen erkennen, die außerhalb der Grundstücksgrenze standen. Sie waren mit Kleidung und erhobenen Zauberstäben abgebildet. Tony fröstelte es ein wenig, als er daran dachte, dass es keine Standbilder sondern versteinerte Menschen waren. Als er dann eines der Gesichter erkannte wusste er auch, welche Menschen das waren. Er hatte natürlich von den Flints gehört und dass sie schon seit langer Zeit im Ruf standen, mit den dunklen Künsten zu hantieren. Doch beweisen konnte ihnen niemand etwas.

Näher und näher ging Tony auf das Haus zu. Als er vor sich die Haustür sah fiel ihm ein, dass er die bloß nicht berühren durfte. Er wich auf einen Seitenweg aus, wobei er ganz intuitiv über einen kleinen grauen Stein hinwegstieg. Jetzt stand er auf Höhe der Fenster. Das magische Gefecht im Haus war noch im vollen Gang.

Wer immer gewinnt ist nicht mein Freund, dachte Tony und suchte nach einem Fenster, das er mit seinem kleinen Körper erreichen konnte. Als er eine Falltür im Boden sah, die wohl zum Kohlenkeller führte, verwarf er den Gedanken, die Klappe anzuheben. Sicher war die magisch verschlossen. Ihm blieb nur ein offenes Fenster oder eine Möglichkeit, zu einem hinaufzuklettern. Jede Deckung ausnutzend arbeitete er sich weiter vor. Dann entdeckte er ein angelehntes Kellerfenster. Er ging darauf zu. Es war gerade groß genug für einen Knirps wie ihn. Doch was lag dahinter? Wenn der Raum mit einer Tür verschlossen war kam er nicht weiter. Doch er musste ins Haus. Dann fiel ihm ein, wie er eine der Seitentüren öffnen konnte.

Er lief um das Haus herum und fand die Terrassentür. Die war bruchsicher. Aber er wusste, dass das alte Wishbone-Haus von jedem Träger des Familiennamens und Blutes betreten werden konnte, der die alte Losung kannte. Er ritzte sich mit den Schneidezähnen die Haut in der linken Handfläche und legte die derartig verwundete Hand auf den Türrahmen, der sofort warm wurde. "Spiritus vivus verus omnes limites naturae ignorat", wisperte er.

Mit einem Klicklaut sprang die Tür auf. Tony hüpfte über die Türschwelle und hinein in eine silberne Wolke, die wie ein Schwarm kleiner Wassertröpfchen aussah. Diese Wolke umwehte ihn. Er fühlte, wie etwas aus seinem Bauch heraus warm und stark nach außendrängte. Erst dachte er, er habe vor lauter Angst in die Reisewindel gemacht. Doch in Wirklichkeit erglühte um ihn herum eine warme, goldrote Aura, die die silbernen Tröpfchen abperlen und zerfließen ließ. Kaum waren die silbernen Tröpfchen verschwunden, zog sich der goldrote LichtMantel in seinen Körper zurück. Er hörte seinen Magen grummeln und fühlte, dass er aufstoßen musste. So leise er konnte ließ er überschüssige Luft durch die Speiseröhre entweichen. Wie immer die Falle hatte wirken sollen, wie immer seine Mutter ihn behext hatte, er war noch frei und unversehrt. Vielleicht war das auch nur eine Art Personenprüfzauber, ob er in feindlicher oder friedlicher Absicht gekommen war.

Die Geräusche des Zaubererduells klangen sehr nahe. Offenbar war er ganz in der Nähe der Duellanten herausgekommen. Das hieß, er musste ganz schnell Abstand nehmen, wenn er nicht noch in einen Irrläufer hineinlaufen wollte. Er ließ sich auf seine Hände fallen und krabbelte schnell aber zielbewusst zur Wohnzimmertür. Das magische Gefecht tobte offenbar in einem Raum jenseits des Ganges.

Tony drehte den Türknauf, der sich unvermittelt erwärmte, aber nachgab. Er schlüpfte schnell in den Flur. Wo mochte die Bibliothek sein? Kaum hatte er die Frage gedacht, wusste er, dass er eine Treppe suchen musste. Er wusste auch, wohin er ausweichen konnte, ohne in das Duell zu platzen und dem Hausherren noch zu zeigen, dass er da war. Gerade barst etwas im Raum der beiden Duellanten.

"Letzte Chance, Neffe. Mach mit mir den Fidelius und wir vergessen das ganze. Ich lasse mich auf keinen Fall von dir verhaften!" brüllte eine altersrauhe Männerstimme.

"Ich habe den Eid geschworen, sowas wie dich jederzeit und überall zu entmachten und der gerechten Strafe zuzuführen, Onkel", rief eine nicht wesentlich jüngere Stimme zurück.

"Muss ich dich töten? Versimundus!"

Tony hastete so lautlos er laufen konnte zu der Treppe. Eine wo immer herkommende Intuition verriet ihm, nicht auf die ersten zwei Stufen zu treten. Er sprang kräftig ab und schaffte es, die dritte Stufe zu erreichen. So nahm er jede dritte Stufe, weil irgendwas ihm sagte, dass alle zwischenstufen gefährlich waren. Er fragte sich, wann er Felix Felicis getrunken haben konnte, dass ihm sowas einfiel. Dann wurde ihm klar, dass nicht er, sondern seine Mutter den Trank eingenommen hatte, bevor sie ihm noch einmal eine gehörige Portion ihrer Milch zu trinken erlaubt hatte. Aber Felix kämpfte nicht gegen einwirkende Zauber, sondern verstärkte nur die Intuition, die Reflexe und die Sinne.

Er fühlte, dass es gefährlich war, den Gang zu betreten. Doch eine weitere Intuition sagte ihm, dass er die Gefahr überstehen würde. Er lauschte auf die Kampfgeräusche. "Imperio", hörte Tony. Hatte der alte Wishbone seinen Neffen doch wirklich mit dem Imperius erwischt. Welchen Befehl würde der ihm jetzt geben? Tony fühlte eine starke Anspannung. Lucas Wishbone hatte es nie recht geschafft, diesem Fluch zu widerstehen. Das trieb ihn an, jetzt möglichst schnell aber leise weiterzueilen.

Tony huschte nach vorne. Da flirrte silberner Nebel auf. Tony erkannte sofort die Falle. Als aus dem Nebel ein genaues Abbild von ihm selbst hervortrat wusste er, dass er jetzt geliefert war. Denn auch wenn sein Doppelgänger nicht bewaffnet war, so war er gleichstark und ihm feindlich gesinnt. Der würde ihn seinem Erschaffer verraten. Da tat der Junge auch schon den Mund auf.

"Na, Tantensohn. Wie fühlt sich das an, noch in die Hosen zu kacken?" zischte der andere. Warum schrie der nicht nach dem Hausherren? Tony stand nur da. Sich umzudrehen würde nur noch einen böswilligen Doppelgänger hervorrufen. Er hätte sich nur durch einen drei Sekunden dauernden Sprung nach oben retten oder den Deterrestris-Zauber anwenden können. Doch ohne Zauberstab ...

Fast schrie Tony, als er meinte, etwas packe ihn genau im schritt und stemme ihn hoch. Er wurde von seiner eigenen Reisewindel wie auf einem Besen in die Höhe getragen. Sein gehässig grinsendes Ebenbild erzitterte, riss den Mund auf, kam aber nicht mehr zum schreien. Es zerfloss, während Tony knapp unter der Decke zum halten kam. Der silberne Nebel waberte noch einmal durch den Gang. Dann zerfloss er. Kaum war der Nebel verflogen sank Tony sanft wie auf einem landenden Besen zu Boden. Als er wieder auf seinen Beinen stand bangte er, ob die Falle des bösen Spiegels noch einmal zuschnappen würde. Doch wie mit vielen Fallen verhielt es sich bei dieser so, dass sie unschädlich wurde, wenn sie einmal ausgelöst worden war. Sicher würde sie sich regenerieren. Doch in der Zeit konnte Tony weiter.

Tony hörte, wie die Haustür geöffnet wurde. Er hörte die Schritte von zwei erwachsenen Menschen. Offenbar führte der alte Wishbone seinen unter dem Imperius stehenden Neffen irgendwo hin, wo er ihm erst einmal nichts mehr anhaben konnte. Ihn einfach verschwinden zu lassen war sicher unklug. Das würde Nachfragen heraufbeschwören. Vielleicht war das genau die Gelegenheit für Tony, sich das blaue Buch zu holen.

Als der kleine Junge mit dem Geist eines altgedienten Zauberers vor einer Steinwand stand, auf der ein Abbild des Familiengründers und das Symbol des längsgespaltenen Knochens prangte, fiel Tonys Blick auf den runden Stein. Der war etwa einen halben Meter über seinem Kopf eingelassen. In dem Stein war ein stilisiertes Gesicht eingraviert und blutrot bemalt. Das deutlichste Merkmal dieses Gesichtes waren zwei nadelspitze Fangzähne. Tony kannte diesen Zauber. Mit Hilfe von Vampirblut, das in einen Ton- oder Ziegelstein eingebacken wurde konnte jemand ein auf sein eigenes Blut oder das Blut seiner Verwandten abgestimmtes Schloss bauen. Vorausgesetzt, das Blut wurde von einem Lebenden Körper gespendet. Tony reckte sich und legte seine linke Hand auf den Stein. Dann sagte er: "Sanguis meus clavis sit!" Er wusste erst nicht, ob das auch ohne Zauberstab ging. Doch als ihm die eigentlich nur gemalten Vampirzähne in die Hand stachen und die Hand von einer unsichtbaren Macht auf den Stein gepresst wurde wusste der Wiedergeborene es.

Tony bangte, dass das Blutschloss ihm alles Blut aus dem Körper saugen würde, wenn er nicht der erlaubte Spender war. Doch als der Anpressdruck nachließ und auch das Saugen an seiner Hand aufhörte atmete Tony Summerhill aus. Sein Blut war doch noch das Blut der Wishbones. Die Steintür glitt auf. Tony überschritt die Schwelle, wobei er durch ein kurzes Gewitter aus blauen und grünen Blitzen hindurchmusste. Offenbar war die Tür auf den Träger eines bestimmten Namens geprägt. Wieder war ihm, als bräche etwas aus seinen Eingeweiden nach außen. Wieder umfloss ihn eine pulsierende goldrote Aura, die die Blitze auffing und dann in einer einzigen Wolke grüner und blauer Funken in alle Richtungen davonschleuderte. Dann zog sich das goldrote Leuchten wieder in Tonys Körper zurück. Wieder musste er aufstoßen. Da fragte er sich, wie oft die ihm wohl mit Tracys Milch eingeflößte Schutzaura helfen würde, wenn dafür immer was von dem eingesaugten Milchvorrat verdunstete.

Alle Sorgen und Fragen verblassten für Tony angesichts der imposanten Halle, in die er nun eintrat. Er hatte nicht damit gerechnet, in eine derartig große Halle zu kommen. Sicher, mit Rauminhaltsvergrößerungszaubern ging vieles. Aber das hier beeindruckte den Jungen, der als erwachsener Zauberer schon die merkwürdigsten und schauerlichsten Sachen mit angesehen hatte und zudem noch ganz bewusst die Wochen im Mutterleib neuerlebt hatte. Er sah die Regale, die fast bis zur Decke hinaufreichten. Sie wurden durch lange Leitern unterteilt. Tony konnte sogar Stege erahnen, auch wenn er sie nicht mit den Augen erkennen konnte. Allerdings war diese Halle des Wissens so groß und unübersichtlich, dass er Gefahr lief, Wochen hier zubringen zu müssen, um das richtige Buch zu finden. Dann wusste er auf einmal, dass er in den zweiten Gang nach rechts einbiegen musste.

Als Tony erst den zweiten Gang rechts, dann den dritten Gang links und dann bei einer Dreierabzweigung den Gang ganz rechts genommen hatte, kam ihm die Idee, jetzt bei der nächsten Leiter bis zur achten Regalreihe hinaufzuklettern.

Leider waren die Sprossen für erwachsene Hexen und Zauberer ausgelegt. So konnte Tony sich nicht links und rechts an den Holmen festhalten, sondern musste sich in einer Mischung aus Klimmzug und Springen von einer Sprosse zur nächsten hinaufkämpfen. Das war schon anstrengend, fand der Wiedergeborene. Aber wer hätte auch geahnt, dass er schon mit zwei Jahren in einer magischen Bibliothek herumlaufen musste. Außerdem störte ihn die Windel ein wenig. Doch ein hartnäckiger Gedanke hielt ihn davon ab, das lästige Popopolster fortzuwerfen. So schob und drückte er sich von Sprosse zu Sprosse, machte bei jedem Absatz eine kurze Pause, bis er die achte Ebene erreicht hatte. Da überkam ihn der Gedanke an eine unmittelbare Gefahr und dass er, wenn er zu dem Buch wollte, nicht daran vorbeikam. Doch jetzt war er hier oben. Sollte er wieder runterklettern? Nein, er musste jetzt den Weg zu Ende gehen. Er hatte den schmerzhaften Weg aus Tracys Schoß überstanden, da würde er auch das überstehen. Außerdem war er zuversichtlich, dass ihn die mit Tracys Milch eingesaugte Schutzbezauberung noch einmal helfen würde.

Auch wenn er die Gefahr fühlte sah und hörte er doch nichts. Er fühlte nur, dass da vor ihm etwas oder jemand lauerte. Zudem war der unsichtbare Steg, auf dem er wegen seiner Kleinheit mühelos laufen konnte, nicht so ganz geheuer. Er vermied es, zwischen seine Füße zu sehen. Damit kam er wesentlich besser zurecht.

Schon aus fünfzehn Schritten Entfernung sah er ein himmelblaues Buch. Er hatte schon einige Dutzend davon gesehen, als er durch die Gänge gelaufen war. Doch das da vorne rief ihn regelrecht. Der Eindruck, gleich in einer Falle zu landen wurde ebenso stärker. Als Tony zwei weitere Schritte getan hatte überkam ihn der Drang, keinen Schritt weiterzugehen. Er versuchte, ihn niederzukämpfen. Doch es gelang nicht. Und dann sah er ihn.

Wie appariert stand er plötzlich vor ihm, ein alter, leicht gebeugter Mann in einem jägergrünen Gewand, kein Umhang. Eher etwas, mit dem man sich auch gut durch die Wälder bewegen konnte. Auf dem Kopf mit dem eisgrauen Schopf ritt eine grüne Jagdmütze mit einer goldenen Adlerfeder. Das Gesicht wurde zum großen Teil von einem eisgrauen Bart verhüllt. Doch die stahlblauen Augen, die durch eine dicke Brille starrten, die waren eindeutig das Erbe der Wishbones. Aus diesen Augen sprachen Wut und Genugtuung. Da hob der andere einen betagt aussehenden Zauberstab.

"Verdammt, wie kontest du mieser Wechselbalg so zielsicher und an allen Fallen vorbei hierherkommen? Egal, verraten wirst du es keinem mehr", zischte Irenaeus Wishbone.

Tony fühlte, dass der andere ihn jetzt angreifen würde. Todesangst ergriff den kleinen Jungen. "Obleviate!" rief Irenaeus Wishbone. Da meinte Tony, etwas bräche direkt durch seinen Bauchnabel heraus. Es war ein goldener Lichtspeer, der in dem Moment, wo Irenaeus das Zauberwort rief, auf den Stab des Gegners zuschnellte. Normalerweise konnte niemand einen Lichtstrahl oder dergleichen sehen, wenn ein Gedächtniszauber ausgeführt wurde. Doch hier sah Tony, wie ein weißer Strahl direkt aus dem hinteren Ende des Zauberstabes schoss und Irenaeus Wishbone voll am Kopf traf. Der alte Zauberer stand einen Moment lang wie gelähmt da. Dann glitten seine Beine aus. Er kippte über den unsichtbaren Rand des Laufsteges und stürzte in die Tiefe. Tony sah noch, wie der goldene Lichtstrahl aus seinem Bauch den anderen in einen Kokon aus goldenem Licht einhüllte und zu Boden trug, wo er wie auf einen Stapel Federkissen aufkam und liegenblieb.

Der mit Tracys Milch eingesaugte Felix Felicis verriet Tony, dass er jetzt schnell das Buch nehmen musste. Auch wenn es viel größer als er selbst war musste er es herausziehen und gut festhalten. Er rannte, den goldenen Lichtstrahl vor sich tanzend, auf das blaue Buch zu. Es war anstrengend, es herauszuziehen. Doch er schaffte es Stück für Stück. Als es über den Regalrand in die Tiefe zu kippen drohte stemmte er es mit beiden Händen von unten hoch. Es kippte ihm entgegen. Er umschlang es mit seinen viel zu kurzen Armen, hielt es so gut fest er konnte. Dann hatte er es sicher. Es steckte nicht mehr im Regal. Doch es drückte mit seinem Gewicht auf Tonys Oberarme, drohte ihn umzustoßen und dann vielleicht über den Stegrand zu kippen. Warum auch immer, er stieß die Worte aus: "Ich habe das blaue Buch!" Da erlosch der goldene Lichtstrahl aus Tonys Bauch. Irenaeus Wishbone krümmte sich zusammen. Im selben Augenblick glühte es an Tonys Hals blau auf. Eine Blaue Lichtspirale fing den Wiedergeborenen ein. Keine Sekunde später war er verschwunden, zusammen mit dem blauen Buch.

Tony kannte das Gefühl zu gut. Er hatte einen Portschlüssel ausgelöst. Doch wo trug der ihn hin? Als er unsanft auf einem breiten Bett landete merkte er, dass er das blaue Buch immer noch hatte. Dann fühlte er, wie ihm etwas aufstieß. Er rülpste und spuckte dabei einen Schwall Milch und Magenschleim aus. Das übelriechende Gemisch spritzte auf die weiße Bettdecke. Dann hörte er die Stimme seiner zweiten Mutter.

"Das ist die dumme Nebenwirkung, wenn der Alma-Mater-Zauber entlastet wird", lachte sie. Dann pflückte sie ihren Sohn von dem Bett herunter. Dem blauen Buch hatte der Auswurf des kleinen Jungen nichts angetan. Es lag da, blitzsauber und himmelblau und vibrierte sogar ein wenig.

"Alma-Mater-Zauber?" fragte Tony, nachdem er die Reste des Erbrochenen abgehustet hatte.

"Schon was herrliches. Damit kann eine Hexe ihrem leiblichen Kind, sofern sie es innig liebt und es freiwillig von ihrer Milch trinkt, einen gewissen Schutz vor Feinden und Fallen einflößen. Wenn Irenaeus dich angegriffen hat und der Schild dadurch so heftig ausgelöst wurde, wie du gerade gekübelt hast, dann hat er mindestens alles Wissen der letzten Wochen verloren."

"Es war wie ein goldenes Licht, in dem der gebadet wurde. Er wollte mir einen Gedächtniszauber überbraten."

"Oh, dann hat der nicht nur sein Wissen der letzten Tage verloren, sondern sein komplettes Gedächtnis", lachte Tracy Summerhill. Tony erzählte ihr dann, dass Irenaeus abgestürzt war und von dem goldenen Licht aufgefangen wurde. "Ja, auch eine Wirkung des Zaubers. Er verhindert den Tod des Gegners, egal ob dieser magisch oder mit magieloser Gewalt herbeigeführt werden soll. Liegt daran, dass der andere ja auch eine liebende Mutter hatte oder noch hat", erwiderte Tracy. "Allerdings weiß ich nicht, ob der Todesfluch nicht doch durchgekommen wäre", fügte sie mit einem beklommenen Seufzer hinzu. "

"Oha, dann liegt der jetzt in dieser Bibliothekenkathedrale und weiß nicht einmal, wer er überhaupt ist?"

"Ist anzunehmen", sagte Tracy.

"Woher kennst du so einen Zauber? Ich kann mich nicht erinnern, dass uns den wer in Thorny erklärt hat."

"Den habe ich von meiner eigenen Mutter gelernt. Sie sagte, wenn ich einmal ein eigenes Kind haben sollte und das von irgendwem bedroht würde, dann ist der Zauber schon praktisch. Geht auch nur, wenn die Mutter noch ohne Nachzuhelfen milchen kann, also nichts mit Nutrilactus und auch nur bei Kindern vor der Pubertät."

"Schon heftig", sagte Tony. Dann deutete er auf das blaue Buch.

"Sollen wir's behalten und in Gringotts einschließen?" fragte er.

"Wäre eine Möglichkeit", sagte Tracy. "Allerdings ist mir Gringotts zu unsicher. Worum geht es uns denn, dass keiner weiß, das wir zwei Mutter und Kind sind, richtig?" Tony nickte. Dann sagte er: "Und um Mathews Goldverstecke."

"Ich denke, wenn schon um dieser Bibliothek Wegen Angehörige derselben Sippschaft gegeneinander kämpfen, dann wird das bei einem großen Goldvermögen, das angeblich hundert Millionen Galleonen umfasst, wahrlich Mord und Todschlag geben. Aber ich kann die Einzelheiten ja herausschreiben."

"Von dir wird sich das Buch nicht lesen lassen, Mom. Es kann nur von einem Wishbone gelesen werden."

"Tja, aber warten, bis du es lesen kannst, wo es so groß ist, willst du sicher auch nicht, oder?"

"Warum nicht? So in zwanzig Jahren oder so", sagte Tony Summerhill.

"Die werden danach suchen, wenn auch nur der Verdacht aufkommt, dass wir es haben", sagte Tracy Summerhill ruhig. Tony hatte irgendwie das Gefühl, seine Mutter wollte das Buch so schnell wie möglich loswerden. Doch was sie sagte stimmte leider. Wer das blaue Buch hatte wurde gejagt. Irenaeus Wishbone hatte für dessen Besitz mit dem Verlust seiner ganzen Erinnerungen bezahlt. Sein Neffe Oliver war vielleicht unter dem Einfluss des Imperius-Fluches zum Selbstmörder geworden, und wer wusste noch, wer alles gestorben war, bevor Tony das Buch ergriffen hatte?

"Wer weiß, dass es existiert und nicht mehr in einem geschützten Raum ist könnte einen Suchzauber darauf anwenden. Unser Haus kann zwar nicht ohne unseren Willen betreten werden. Doch jemand könnte uns einen Schwarm Dämonsfeuerkreaturen, die Schlingflut oder einen Arrestdom überstülpen und warten, bis wir verreckt sind. Dafür habe ich mir das mit dir nicht aufgeladen, dich zu tragen, zu gebären und bis heute großzuziehen, Tony. oder möchtest du wegen eines nicht mal bestätigten Goldvorrates irgendwo in der Welt so jung sterben?"

"Nein, Mutter", sagte Tony. "Dann gib mir bitte das rote Taschentuch", sagte Tracy. Tony fühlte wieder die Angst, er könne seiner Mutter fortgenommen werden, weil er etwas tat, was ihn verdächtig machte. Deshalb gab er ihr schnell das rote Taschentuch. Sie legte das Buch auf einen Handkarren und breitete darüber noch eine Wolldecke aus. Danach fuhr sie den Karren in den Garten des Hauses, wo sie beide wohnten und wo Tony angekommen war. Es ging zu einem Geräteschuppen. Dort hinein bugsierte Tonys Mutter den Handkarren. Sie nahm die Decke herunter und ließ das blaue Buch auf den Boden rutschen. Dann legte sie das rote Taschentuch darauf. Da zerfloss das rote Taschentuch zu roten Tropfen und verteilte sich über das blaue Buch, das unmittelbar erzitterte, aufklappte und mit allen Pergamentblättern um sich schlug. Tony und seine Mutter wichen zurück. Die Seiten färbten sich blutrot. Dann begannen sie zu zerrinnen wie Eis in der Sonne. Aus dem Buch fuhren graue Dunstschleier heraus, die für wenige Sekunden wie die schwach sichtbaren Geister von Menschen aussahen. Sie hörten Schmerzenslaute. Dann zerstoben die grauen Dunstgebilde, um anderen Platz zu machen. Inzwischen war das blaue Buch ein einziger roter Klumpen, der pulsierte wie ein seinem rechtmäßigem Körper entrissenes Herz. Immer noch stiegen graue Dunstgestalten auf, die kurz und wie aus weiter Ferne schrien, Stöhnten und wimmerten. Doch welche Zerstörerische Kraft Tracy beschworen hatte, sie verschonte weder Materie noch die Abdrücke von Geistern. Tony fragte sich, ob dieses Buch an die Seelen lebender Menschen gekoppelt worden war, um sich überhaupt zu schreiben, um alle Geheimnisse aufzunehmen. Hieß das, dass auch seine Seele an dieses Buch gebunden gewesen war, durch das erste und das bisher verlaufene zweite Leben? Egal! Jetzt war es nicht mehr zu ändern.

Das rote Etwas, das vorhin noch eines der geheimnisvollsten magischen Bücher gewesen war, zerrann langsam. Jeder Tropfen, der herabfiel löste sich in grauen Dunst auf, zeigte das Echo eines vergangenen Lebens und verwehte wie Nebel im Herbstwind. Der Vorgang vollzog sich mit einer unerträglichen Langsamkeit. Doch nach geschlagenen zehn Minuten zerlief der letzte Rest der roten Substanz, in die sich das Buch verwandelt hatte. Mit zwei letzten kurzen aber erfreuten Schreien entstigen zwei unerwartet konturscharfe Projektionen der verrinnenden Flüssigkeit. Für einen Moment konnte Tony sich selbst erkennen, als erwachsener Mann, allerdings eingeschlossen im glasartig durchsichtigen Leib seiner Tante Tracy, die seit nun zweieinhalb jahren seine zweite leibliche Mutter war. Fünf Sekunden stand diese Abbildung in der Luft. Dann winkte sie den beiden lebenden Originalen zu und verflüchtigte sich wie grauer Nebel.

"Was war dass denn?" Fragte Tony.

"Hecates Tränen, Tony. Kann nur mit Tränenflüssigkeit und Monatsblut einer Hexe auf einen mit entsprechenden Symbolen vorbehandelten Träger aufgebracht werden und zerstört magische Gegenstände, sofern sie nicht von einem lebenden Wesen berührt werden, durch deren eingewirkte Magie. Mit anderen Worten, das Buch hat sich selbst aufgefressen."

"Bist du auch mal bei den Sardonianerinnen gewesen?" fragte Tony sehr verstört.

"Das nicht, aber während du in mir herangewachsen bist habe ich die Mußestunden genutzt, mich über die fiesesten Hexenzauber schlauzulesen, um zu wissen, womit dieses Weib uns und allen anderen noch so kommen kann, wenn sie schon einen Schnellalterungsfluch beherrscht."

"Oha, und da habe ich selig und mollig warm verpackt geschlafen, während zwei Stockwerke über mir die gemeinsten Zaubersprüche und Rezepturen verarbeitet wurden", seufzte Tony. Ihm wurde klar, dass sie alle, er eingeschlossen, die Skrupellosigkeit seiner ehemaligen Tante und jetzigen Mutter total unterschätzt hatten. Am Ende stimmte es irgendwie doch noch, dass sie zumindest im Geiste eine brauchbare Bundesschwester Anthelias hätte werden können.

"Dir ist klar, dass dieser Zauber garantiert nicht in Thorntails gelehrt wird. Und ich setze mal voraus, dass du es auch keinem und keiner erzählst, dass deine Mutter den kann."

Tony erschrak unvermittelt. "Wenn die nachprüfen, was in dem Haus passiert ist können die mich da sehen", stellte er mit blassem Gesicht fest.

"Können sie nicht, weil ich dein Hemdchen mit einem Unortbarkeitszauber belegt habe, der gerade mal dich einschließt. Mit den praktischen Rückschaubrillen kriegen die nur eine graue, konturlose Dunstwolke zu sehen", lachte Tracy. "Glaub's mir, dass Momma schon alles bedenkt, was sie ihrem kleinen Goldschatz zumutet." Tonys Gesichtsfarbe normalisierte sich wieder. Er atmete ein paar mal durch. Dann musste er grinsen.

"Wird Hecate Leviata sicher amüsieren, dass ein Zerstörungszauber nach ihr benannt wurde", scherzte Tony.

"Umgekehrt wird ein Schuh draus, lachte Tracy Summerhill. "Die begabte Künstlerin und Sängerin hat sich nach der Urmutter der griechisch-römischen Hexen benannt. Aber das ist jetzt nicht so wichtig. Am besten ruhen wir uns jetzt aus. Es war doch ziemlich anstrengend für uns beide."

"Das ist wol wahr", erwiderte Tony. Er ging mit seiner Mutter zurück ins Haus. In ihm herrschten zwei Gefühle vor: Zum einen hatte er heute gelernt, dass Tracy Summerhill sehr starke Zauber beherrschte, von denen er noch nie etwas gehört hatte. Zum anderen wusste er jetzt, dass sie es niemals zulassen würde, dass irgendwer oder irgendwas ihre innige Beziehung gefährden würde. Und diese Zuversicht machte ihn glücklich.

__________

Der Mann stöhnte. Er blickte sich um, wimmerte und schrie wie ein Neugeborener. Alles um ihn war fremd. Seine Umgebung war völlig fremd. Er wusste nicht einmal, wer er war. Angst, nichts als Angst, füllte seinen Kopf aus.

Seine Schreie hallten lange nach, während der Mann sich am Boden wandt und unbeholfene Bewegungen mit Armen und Beinen ausführte. Erst langsam kam eine Art von Koordination in seine Bewegungen. Die urwüchsigsten Funktionen seines Gehirns griffen. Eigentlich sah der Mann kerngesund aus für sein hohes Alter. Doch davon wusste er ebensowenig, wie er hier in diesen viel zu großen Raum hineingeraten war.

Der Mann ohne Gedächtnis kämpfte sich zuerst in den Vierfüßlerstand, dann schaffte er es, sich an einer der langen, ganz hohen Wände mit den verschiedengroßen rechteckigen Dingern darin hochzuziehen. Wie ein Kleinkind bei den ersten Schritten tapste er erst unbeholfen an dieser Wand entlang, bis die Bewegungserinnerungen in ihm wieder wach waren und er erst zögerlich und dann frei ausschritt.

Weil er weder wusste, wo er war, noch wo er hingehen wollte, irrte der Mann ohne Gedächtnis durch die neben ihm und vor ihm aufragenden Reihen entlang. Irgendwann war er es leid. Er ließ sich zu Boden fallen und wimmerte. Irgendwann war er auch das leid und verfiel in einen tiefen Schlaf.

Als die Steintüre aufglitt, die das restliche Haus von diesem geheimen Raum trennte, betraten ein Mann und eine Frau die kathedralengroße Halle. Es waren Oliver Wishbone und seine Tochter Charlotte Winterford. Wäre es nach Irenaeus Wishbone gegangen, so hätte Oliver sich nach dem Schreiben eines Abschiedsbriefes von einer Eisenbahnbrücke in die Tiefe gestürzt. Doch unvermittelt war der ihn dazu treibende Befehl aus seinem Kopf verschwunden, wurde förmlich weggefegt. Er hatte erkannt, dass sein Onkel ihn in den Tod hatte treiben wollen, ohne ihn mit eigener Hand zu töten, was vielleicht klüger gewesen wäre, als ihn mit dem Fluch zu unterwerfen. Weil sein Onkel ihm den Zauberstab abgenommen hatte hatte es gedauert, bis er einen Ort erreichte, von dem aus er ein Fernsprechgerät der Muggel benutzen und bei seinen Schwiegersohn anrufen konnte. Dieser hatte ihm dann Charlotte geschickt. Jetzt waren sie beide wieder im Wishbone-Haus.

"Wegen dieser großen Bibliothek hätte Onkel Irenaeus dich fast umgebracht?" fragte Charlotte beklommen. Ihr Mann nickte und versuchte, eine Taschenlampe anzuknipsen, weil es schon dunkel war. Doch das handliche Leuchtmittel versagte. "Drachenmist, zu große Magiedichte, selbst für dieses einfache Ding", knurrte er. Seine Tochter deutete mit dem leuchtenden Zauberstab umher. Dann beschwor sie die hitzelosen Leuchtflammen auf ihre freie Hand, um mehr Licht zu haben. Ihrem Vater drückte sie den Zauberstab in die Hand, damit auch er sich Licht herbeizaubern konnte.

Eine Stunde irrten die beiden durch das Labyrinth. Charlotte leuchtete einmal kurz die goldene Glocke an, in der die Losung der Wishbones stand. Dann fanden sie Irenaeus auf dem Boden am Ende einer Sackgasse. Oliver Wishbone machte kein großes Federlesen. Er fesselte den Onkel mit magischen Seilen, bevor er ihn schüttelte und aufweckte. Doch außer ängstlichen Wimmerlauten und Schreien gab der Gefangene keinen Laut von sich.

""Komm, jetzt nicht den einfältigen Angsthasen geben, Onkel", knurrte Oliver. Doch seine Tochter deutete auf die Augen des Gefesselten und zischte: "Er scheint nichts und niemanden zu erkennen, Dad. Ich weiß nicht, was ihm passiert ist. Vielleicht hat er eines dieser Bücher da lesen wollen und hat einen Fallenzauber ausgelöst. Hat's alles schon gegeben."

"Leider all zu wahr", grummelte Oliver. "Das heißt für uns, dass wir diese verfluchte Bücherei bloß gut absichern müssen. Bin ja froh, dass noch kein anderer außer den Flints es gewagt hat, ihn deshalb anzugehen."

"Am besten gehen wir in die Offensive und klären das mit allen hier, dass diese Bücherei gefährlich ist", sagte Charlotte. "Nachher ist er nur deshalb bestraft worden, weil er dich angegriffen hat, seinen Neffen", vermutete Charlotte.

"Gar nicht mal so dumm, Charlotte", sagte Oliver. Er half seiner Tochter, den offenbar völlig erinnerungslosen Onkel durch den Flohpulverkamin ins St.-Mungo-Hospital zu schaffen. Da er als einziger aus dem Zaubereiministerium das Wishbone-Haus betreten konnte brauchte er lange, bis er seinen Zauberstab wiedergefunden hatte. Offenbar war es seinem nun selbst zum Opfer gewordenen Onkel nicht eingefallen, ihn zu zerstören.

In Übereinkunft mit dem Zaubereiminister wendete Oliver Wishbone den Fidelius-Zauber an und nahm somit das Geheimnis um den Aufenthaltsort der Bibliothek der Wishbones, Flints und Backshots in sich auf. Denn ihm gelüstete nicht danach, den um diese verfluchte Bücherei entbrannten Familienzwist zu einem Blutvergießen ausarten zu lassen. Die Flints wurden in das St.-Mungo-Krankenhaus transportiert, wo sie mit dem Alraunentrank übergossen und somit von ihrer Versteinerung erlöst wurden. Da dies nach der Ausführung des Fidelius-Zaubers geschah, wussten die Flints nicht einmal, worum es bei dem versuchten Sturmlauf auf das Wishbone-Anwesen gegangen war. Da Irenaeus Wishbone keine eigenen Kinder hatte wurde Oliver zum offiziellen Vormund seines Onkels bestimmt, bis erwiesen war, ob der massive Gedächtnisverlust umzukehren war oder nicht.

Um sicherzustellen, dass der Wissensschatz der Wishbones und Backshots dem Ministerium nicht vorenthalten blieb weihte Oliver Wishbone seinen direkten Vorgesetzten sowie den Zaubereiminister persönlich in das von ihm gehütete Geheimnis ein. Die Sache wurde zur Geheimsache S9 erhoben, womit der Tagesprophet und der Klitterer nichts von den Vorkommnissen um das Haus der Wishbones erfuhren.

"Es gibt Dinge, die sollte man wirklich dort ruhen lassen, wo sie sind", sagte der Zaubereiminister nach der abschließenden Besprechung. "Die Kataloge der Bibliothek kommen ins Schließfach", bestimmte er. Denn natürlich war einem altgedienten Auror nicht eingefallen, eine Quelle magischen Wissens völlig zu verschließen, falls eine Lage eintrat, wo das geheime Wissen vielleicht sehr wichtig, um nicht zu sagen lebensrettend sein mochte.

ENDE

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