DIE BASTION DER BINOCHES

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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P R O L O G

Die Schreckensherrschaft des bösen Zauberers Voldemort ist noch lange nicht vergessen. Doch wissen einige wenige auf der Welt, dass diese im Vergleich zu uralten Mächten verblasst. Eben diese uralten Mächte warten darauf, in die Welt der Gegenwart zurückzukehren und ihre grausame Herrschaft zu erneuern. Nur wenige Wesen mit magischen Kräften wissen um die Gefahr. Doch sie wandeln auf unterschiedlichen Wegen. Ihnen gemeinsam ist, dass sie bereits das zweite oder dritte körperliche Leben führen, ohne das Wissen der vorangegangenen Lebensspannen vergessen zu haben. Sie sind die Daisirin, die Zwiegeborenen

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Seine überempfindlichen Ohren vernahmen selbst hier draußen noch das laute Rauschen und Tuten in der zehn Kilometer entfernten Stadt Merida. Pico Castro kauerte hinter einem kargen Strauch und hielt seine kurze Wolfsschnauze in alle Richtungen. Doch wahrscheinlich würde er Largos Leute eher hören als riechen. Im Süden, keine hundert Meter entfernt, standen der Dünne und der Rothaarige, Luneras beste Leute. Wenn sie heute Largo und seine Gorillas erwischen und in die Bruderschaft hinüberholen konnten gehörte ihnen halb Mexiko. Wenn das so weiter ging war ihnen bis Weihnachten ganz Mittelamerika sicher. Dann schwammen sie im Geld und beherrschten die Unterwelt. Pico fühlte den Drang, jemanden zu beißen. Auch wenn der Mond gerade nicht voll war fühlte Pico immer wieder dann, wenn er von sich aus in seine Wolfsgestalt wechselte, dass er der tirhaften Natur dieser Daseinsform nachgeben wollte. Dann hörte er es. Seine Ohren kippten sofort in die Richtung, aus der das Knirschen von Kies und Geröll unter breiten Autoreifen und das Röhren eines PS-starken Motors herkamen. Natürlich fuhren Largos Leute ohne Licht. Aber lautlos konnten sie deshalb doch nicht fahren. Castro prüfte noch einmal den Wind. Ja, da wehten schon erste Spuren von Gummiabrieb, heißem Motorenöl und Dieselabgasen heran. Wohl noch eine Minute, bis der Jeep bei ihm ankam. "Okay, Pico, du bleibst so und wartest, bis wir Largos Typen am Boden haben. Dann komm rüber!" zischte Finos Stimme. Der dünne Mondbruder nahm wohl seine schwere, schallgedämpfte MP von den Schultern. Pico hörte das metallische Klicken, als die Waffe entsichert wurde. Auch Rabioso machte sich kampfbereit. Der rothaarige Mitbruder hatte zudem noch mehrere Handgranaten am Gürtel. Pico schmerzte es jetzt schon in den feinen Ohren, wenn er sich vorstellte, wie laut die Dinger gleich knallen würden. "Mond für Abendstern, Erdwolke im Anzug", hörte Pico Finos Stimme diesmal raunen. "Gut, Donnerwetter loslassen, Affenbande einschläfern, Schlange beißen!" quäkte eine Frauenstimme aus einem winzigen Lautsprecher. Pico zog sich einige Dutzend Meter von der groben Piste zurück. Jetzt konnte er den großen Schatten sehen, den der Geländewagen warf. Da warf Rabioso die erste Handgranate. Pico hörte im selben Moment, wo das gefährliche Metallei unter den Jeep kullerte, wie das Schrappen von Hubschrauberrotoren näherkam. Polizei oder Verstärkung für Largo? Da erschütterte die Granatenexplosion Picos Trommelfelle. Er hörte es förmlich nachklirren. Über das aus weiter Ferne nachhallende Explosionsecho hinweg hörte er das wilde Schwirren und Tackern der gegen den Wagen fliegenden Maschinenpistolensalven. Doch der Jeep war wohl gut gepanzert. Zwar hatte die Handgranate ihn vom Weg abgedrängt, ihn aber nicht umgeworfen. Das besorgte Handgranate Nummer zwei vier Sekunden später. Pico sah flirrendes Mündungsfeuer und hörte das laute Rattern eines MGs. Er fühlte, wie zwei oder drei schwere Kugeln gegen ihn prallten und laut pfeifend querschlugen. Für Blei und Stahlmantelgeschosse war sein Körper wie ein undurchdringlicher Stahlblock. Wieder hielten Fino und Rabioso mit ihren MPs auf den Wagen Largos. Dieser ließ seine Schutztruppe ausschwärmen und zurückschießen. Doch Rabioso und Fino lachten nur laut. Da hörte Pico die ersten Todesschreie. Insgesamt hatte Largo fünf Begleiter an Bord gehabt. Er selbst blieb im offenbar gepanzerten Wagen in Deckung. Seine Helfer fielen unter den MP-Salven. Als keiner mehr kämpfen konnte rief Rabioso: "Largo, du Wurm, raus aus deiner Sardinenbüchse, oder ich pack den großen Dosenöffner aus!" Doch Largo hörte nicht. Vielmehr bediente er wohl das auf dem Dach befestigte MG. Um die drei Mondbrüder herum schwirrte, pfiff und jaulte es. Viele Kugeln blieben in den kurzen Stämmen der Sträucher oder den dicken Baumstämmen stecken. Andere radierten über den Boden und schlugen sprühende Funken. Die Mehrheit der Geschosse pfiff jedoch wirkungslos in den Himmel. Irgendwo weit weg würden die Kugeln schon wieder runterfallen. "Einverstanden, du Bastard! Dann eben grob!" brüllte Rabioso und zog den Zünder einer weiteren Handgranate. Pico hörte immer noch auf das Fluggeräusch des Hubschraubers. Die laut heulende Turbine war sehr unangenehm für seine Ohren. Da explodierte die dritte Handgranate. Pico sah die beiden Mitbrüder aus der Deckung huschen und auf den gerade wohl aufgesprengten Wagen zuspringen. Das war für Pico das Signal, aus seiner Deckung zu kommen. In weiten Sätzen galoppierte er auf den umgestürzten und aufgesprengten Jeep zu. Largo feuerte gerade eine Leuchtkugel ab. Beinahe hätte das brandheiße Signalgeschoss Rabiosos wilde Mähne erwischt. Keine Sekunde später brach eine Hölle aus Stahlmantelgeschossen über den kleinen Einsatztrupp herein. Aus dem Hubschrauber wurde geschossen. Rabioso und Fino wurden von der Wucht der Geschosse niedergeworfen. Ihre reißfeste Kleidung wies erste Löcher auf. Auch Pico wurde von schweren Geschossen getroffen und aus dem Laufweg gedrängt. Es waren für ihn jedoch nur dumpfe Schläge. Das machte ihn nur wütend. Als er am Jeep war wollte Largo gerade das zweite Leuchtgeschoss in den Himmel feuern, als Pico ihn ansprang und sofort zubiss. Doch Largo trug kugelsichere Kleidung. Die Fangzähne des Werwolfs verfingen sich darin. Dann zielte Largo mit der Leuchtpistole auf den ihn bedrängenden Werwolf. Einen Sekundenbruchteil später zischte das Leuchtspurgeschoss aus der Pistole und traf Pico an der Brust. Sein wolkengrauer Pelz stand sofort in hellen Flammen. Pico fühlte jetzt erst echten Schmerz. Silber aus Mondsteinöfen, Todeszauber und Ersticken waren drei Arten, einen Werwolf zu töten. Die vierte war die einfachste: Das Feuer. Laut heulend ließ Pico von seinem sicher geglaubten Opfer ab. Wie eine wolfsförmige Fackel lodernd warf er sich auf den Boden und wälzte sich, um die Flammen zu ersticken. Als Fino hinzuspringen wollte hob Largo wieder die Waffe. "Ab in die Hölle, ihr Mondheuler!" brüllte er. Gleichzeitig hagelte es vom Helikopter her weitere MG-Salven. Largo musste in die Deckung seines wracken Jeeps zurücktauchen, um nicht erledigt zu werden. Pico heulte, weil er die ihn umzüngelnden Flammen nicht sofort ausbekam. Dann flogen auch noch Leuchtspurgeschosse aus dem Hubschrauber. Rabioso schleuderte noch eine Handgranate. Offenbar dachte er, die bewaffnete Maschine damit vom Himmel zu holen. Doch außer einem dumpfen Knall richtete die nach oben fliegende Handgranate nichts aus. "Rückzug!" rief Fino, der fast in eine Kaskade roter Leuchtspurgeschosse geriet. "Ich lasse mich nicht von eurer stinkenden Brut kassieren!" brüllte Largo. "Nehmt das als Vorgeschmack auf die Hölle, wo ihr herkommt und wieder hinfahrt!" fügte er noch hinzu. Zischend und fauchend schlugen die roten Brandgeschosse links und rechts ein. Büsche brannten, Baumstämme glühten. Mittlerweile hatten auch Fino und Rabioso ihre Wolfsgestalt angenommen, um näher am Boden und wesentlich schneller und gewandter vor den ihnen nacheilenden Brandgeschossen zu flüchten. Pico fühlte, wie es ihn wieder erwischte. Er schrie auf, als sein Fell wieder in Flammen stand. Dann sah er noch, wie etwas über ihn hinwegflog und punktgenau in den Jeep hineinfiel. Keine Viertelsekunde später detonierte Handgranate Nummer fünf.

Pico konnte nicht mehr weiter. Die Schmerzen wurden unerträglich. Weil er sich willentlich verwandelt hatte blieb er nur ein Wolf, solange er sich darauf konzentrieren konnte. Doch nun ging das nicht mehr. Er wurde wieder ein Mensch, klein, gedrungen, eigentlich unbedeutend. In Todesqualen schreiend wälzte er sich auf dem Boden. Doch es war schon zu spät. Die Brandgeschosse hatten zu viel von seiner Haut und seinem Fleisch verbrannt. Immerhin, so dachte er in den letzten Sekunden seines Lebens, hatten sie Largo erledigt.

Fino und Rabioso wussten, dass sie nicht mehr lange durchhalten würden. Aber dann fanden sie das Versteck, wo ihre Zauberstäbe lagen. Zischend folgten ihnen Brandgeschosse aus dem Hubschrauber. Rabioso bekam als erster seine menschliche Gestalt wieder und riss den Stab hoch. "Avada Kedavra!" rief er. Ein gleißendgrüner Lichtblitz sauste sirrend auf den Hubschrauber zu. Doch die Entfernung war zu groß. Der Fluch erreichte die Maschine nur in abgeschwächter Form und heizte lediglich den gepanzerten Bug auf. Da ergriff Fino seinen Mondbruder und verschwand mit ihm. Beide tauchten knapp fünfzig Meter hinter dem Hubschrauber wieder auf. Die Entfernung war ideal. Rabioso und Fino rissen ihre Zauberstäbe hoch und riefen: "Bollidius!" Grünblaue Feuerbälle flogen aus den Zauberstäben und schlugen zeitgleich in den Hubschrauber ein. Dieser wurde sogleich von einer blaugoldenen Flammenwolke eingehüllt. Die Rotorblätter glühten auf. Die Turbine erstarb mit lautem Knall. Die nun weißglühende Maschine stürzte in die Tiefe.

"Na bitte, geht doch!" rief Rabioso. Da hörten sie das unverkennbare Knallen aus dem Nichts herausbrechender Feinde. Sie wussten, dass sie sich nicht noch auf eine Schlacht mit Zauberern einlassen sollten und verschwanden ihrerseits, bevor die alarmierte Truppe sie an diesem Ort festbannen und dann mal eben töten konnte.

Noch in derselben Nacht überfielen die Mondbrüder Largos Basis bei Merida. Sie raubten die dort gelagerten Drogenvorräte und töteten dreißig Bandenmitglieder. Nur fünfen wurde die fragwürdige Ehre zu Teil, den Keim der Lykanthropie eingepflanzt zu bekommen. Damit war Largos Bande nun erledigt. Doch die Kunde von einem weiteren Schlag der Mondbruderschaft machte die Runde, nicht nur bei den noch eigenständig handelnden Drogenschmugglern, sondern auch im Zaubereiministerium Mexikos, sowie bei den Zaubererzeitungen Mittel- und Südamerikas. Das gefiel Lunera Tinerfeño nicht. "Da hätten wir doch mit rechnen sollen, dass Largos Leute von der Polizei überwacht werden", schnarrte die unumstrittene Anführerin der Mondbruderschaft. "Dann müssen wir den Schlag gegen Costas Klüngel in Bogota eben um einen Mond vertagen, bis die Zauberer sich wieder mit anderen Sachen beschäftigen. Die Operation Erntemond wird jedoch nicht beendet." Ihre Kameraden stimmten ihr zu.

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Sie war froh, dass sie wieder laufen konnte. Die anderthalb Jahre, in denen sie herumgetragen werden musste, waren nur noch ein unangenehmes Kapitel in ihrem zweiten Leben. Larissa dachte zwar immer wieder daran, wie behaglich es war, als sie von ihrer Mutter Peggy getragen wurde. Zwischendurch hörte sie in ihren Träumen das Herz ihrer Mutter über sich schlagen. Doch im Grunde war sie froh, nun schon seit mehr als drei Jahren auf eigenen Beinen stehen, gehen und laufen zu können. Auch wenn sie vor den Uneingeweihten das kleine, gerade vier Jahre alte Mädchen spielen musste, freute sie sich doch, ihr Leben als Peggy Swanns Tochter zu leben. Wenn sie in ihrem Zimmer alleine war las sie heimlich in Büchern, in denen weniger Bilder als Textseiten enthalten waren. Außerdem gab ihr ihre Mutter zwischendurch auch Briefe von Mitschwestern aus aller Welt zu lesen. Daher wusste sie, was im Mai dieses Jahres in upper Flagley begonnen und irgendwo im Orient beendet worden war. Die Vorstellung, dass die Abgrundstochter des düsteren Windes es darauf angelegt hatte, einen hochbegabten Zauberer zu ihrem jungfräulichen Sohn zu machen, um ihre vor bald fünf Jahren entkörperte Schwester Hallitti ebenfalls zurück auf die Welt zu bringen, bereitete ihr schon ein gewisses Unbehagen. Wie viel Macht hätte dieses Windweib dadurch gewonnen, wenn es einen magisch hochbegabten Zauberer und seine Kräfte unterworfen und zu einem Teil ihres eigenen Körpers und Geistes gemacht hätte?

"Larissa, Essen ist fertig!" flötete Peggy Swann durch das pfannkuchenrunde Haus, dass sie beide bewohnten. Larissa rief mit ihrem glockenhellen Kleinmädchenstimmchen zurück: "Ja, Mom! Bin gleich unten!" Sie streckte ihren Arm nach oben, um den Türknauf zu erreichen, mit dem sie die Tür ihres Zimmers öffnen konnte. Sie lief über den Teppich zum Badezimmer und nutzte noch einmal den für sie eingebauten Kindertoilettensitz. Immerhin musste sie jetzt auch nicht mehr auf einen Topf, um sich zu erleichtern. Nachdem sie dann noch auf der kleinen Trittbank vor dem Waschbecken stehend ihre Hände gewaschen hatte, eilte sie mehr hüpfend als laufend die Wendeltreppe ins Erdgeschoss hinunter, immer dem verlockenden Essensduft nach. Wann würde sie es für total alltäglich halten, Essen mit ihren Zähnen zu zerbeißen? Irgendwie nahm sie jeden Tag ihrer zweiten Kindheit mit größerer Aufmerksamkeit wahr, als es zum ersten und überwiegend einzigen Mal aufwachsende Kinder taten. Stolz erfüllte sie, dass Peggy das dreigängige Menü so gut hinbekommen hatte, wie sie, Larissa, es ihr beigebracht hatte, als sie noch die Mutter und Peggy die Tochter gewesen war. Sie saß auf einem erhöhten Stuhl mit zwei Fußrasten, um ihre Beine nicht unangenehm lange baumeln lassen zu müssen. Dass Peggy ihr mal wieder einen Kuchenteller mit kleinem Besteck hingestellt hatte nahm sie heute einfach hin. Irgendwann würde sie auch wieder von großen Tellern mit ordentlichem Essbesteck speisen können. Aber ihre Mutter wollte nicht, dass sie zu viel aß. Trotz Wiederwachstum hatte Larissa nämlich schon einen beachtlichen Kugelbauch, als erwarte sie mit ihren viereinhalb Jahren schon Nachwuchs.

"Und, hat Lady Roberta noch was zu dem Vorfall mit dieser Verschmolzenen geschrieben, die die Sklavin Ilithulas behelligt hat?" wollte Larissa wissen, nachdem sie, für ein körperlich vier Jahre altes Mädchen völlig unüblich, erst einmal alles im Mund befindliche Essen durchgekaut und hinuntergeschluckt hatte. Peggy Swann schüttelte den Kopf. Das schöne rotblonde Haar, das sie von ihrer Mutter geerbt hatte, wogte dabei sanft. Larissa gabelte noch den Rest des Gemüseauflaufs auf, den Peggy gekocht hatte.

"Minister Cartridge lässt nichts ans Licht kommen, wie er mit diesem Vorwurf aus England umgehen soll. Einerseits hat diese Wiederkehrerin ja eine echte Feindin aller anständigen Menschen bekämpft und keine wirklich unbescholtene Bürgerin. Andererseits war ja vorher nicht klar, dass Semiramis Bitterling schon seit langem eine Dienerin dieser Abgrundstochter war."

"Außer Lady Roberta und der seligen Lady Daianira und womöglich noch einigen anderen, die sich mit den dunklen Formen der Magie auskennen", wandte Larissa ein. "Aber es galt und gilt ja immer, dass jemand solange unschuldig ist, bis ihm oder ihr die Schuld bewiesen wird."

"Genau da liegt das Dilemma für Minister Cartridge. Rein rechtlich müsste er jetzt wieder offen gegen diese unverwüstliche Spinnenhexe vorgehen, weil sie einen Menschen bedroht und angegriffen hat. Vane will es wohl auch auf eine endgültige Auseinandersetzung ankommen lassen. Wie lange er sich zurückhalten lässt ist fraglich", erwiderte Peggy Swann.

"Was macht der Junge jetzt?" fragte Larissa. Mit dem "Jungen" war Julius Latierre gemeint.

"Das will mir Antoinette nicht verraten, weil er zu ihrer Verwandtschaft gehört. Die anderen Kontakte haben aber bestätigt, dass er wieder in seinen Alltag zurückgefunden hat. Er hatte ja wirklich Glück, dass seine Frau wen von diesen Ashtaria-Kindern getroffen hat. Wer das aber war wissen wir immer noch nicht und werden es wohl auch nicht gesagt bekommen."

"Hast du nicht gesagt, die französische Sprecherin unserer Gemeinschaft wolle sich nun wieder mehr um ihn kümmern?" fragte Larissa. Ihre Mutter nickte. Sie wolte gerade was erwidern, als die Türglocke ertönte. Peggy fragte ihre Tochter nun mit säuselnder Betonung, ob sie fein gegessen habe. Larissa widerstand der Versuchung, laut aufzustoßen. Seitdem sie keine Windeln mehr nötig hatte verzichtete sie darauf, ihrer Mutter so zu zeigen, dass sie satt war. Sie klopfte sich auf ihren prallen Bauch und nickte. Peggy räumte daraufhin das Geschirr mit einem Zauberstabwink ab und ließ es in die Küche und das große Spülbecken hinüberschweben. Dann rief sie laut: "Moment! Bin gleich da!" Als sie sicher war, dass jedes Geschirr- und Besteckteil unfallfrei im Abwaschbecken gelandet war, eilte sie zur Tür. Larissa lauschte und hörte die Stimme einer anderen, noch jungen Frau. Doch Larissa erkannte die Stimme. So klang Theia Hemlock. Ihre Stimme ähnelte ihrer Mutter Daianira so sehr, dass Larissa immer wieder daran denken musste, dass Theia eine exakte Doppelgängerin der verstorbenen Daianira sein musste. Vielleicht, so überlegte Larissa, war es auch so. Sie selbst war ja das Paradebeispiel dafür, wie jemand ein Leben beenden und ein neues beginnen konnte. Aber dann hätte sie eigentlich noch keine zwanzig Jahre alt sein und selbst eine Tochter bekommen können. Schon merkwürdig.

"Wir sind schon mit Essen fertig, Ms. Hemlock. Ich habe Zeit für Sie", hörte Larissa ihre zweite Mutter gerade sagen. Die andere Hexe an der Tür erwiderte darauf: "Das wäre sehr nett, Ms. Swann. Ich würde sehr gerne mit Ihnen die neue Entwicklung nach der Upper-Flagley-Affäre besprechen."

"Kein Problem", sagte Peggy. Dann hörte Larissa die Schritte einer Erwachsenen und eines kleinen Kindes im Flur. "Lenie, nich' so schnell!" rief Theia Hemlock. Da plumpste es. "Siehst du! Langsam ist besser!" Einen Moment lang quängelte eine Kinderstimme, ob aus Erschrecktheit oder Wut wusste Larissa nicht einzuordnen.

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Sie war froh, dass Julius sich nach der Sache mit den Abgrundstöchtern wieder gefangen hatte. Das lag sicher auch daran, dass er sich auf das zweite Kind konzentrierte, dass Millie im Februar bekommen würde. Camille Dusoleil dachte daran, wie hektisch ihr eigener Mann immer war, als Jeanne, Claire und Denise unterwegs gewesen waren. Bei Chloé hatte er sich schon eher zurückgehalten, wohl weil er immer wieder daran hatte denken müssen, dass es nicht selbstverständlich war, dass ein Kind länger lebte als seine Eltern. Im Moment freute sich Camille Dusoleil, dass die kleine Chloé und ihr Vetter Philemon ihren Alltag auflockerten. Sicher war es anstrengend, immer hinter den beiden herzusein. Außerdem war Philemon ein Raufbold. Als Chloé ihn aber einmal kräftig umgeschupst hatte, weil er ihr an den Haaren gezogen hatte, war er zu seiner nur wenige Wochen jüngeren Base wesentlich freundlicher. Sie hatte ihm gezeigt, dass sie sich von ihm keine Grobheiten mehr bieten ließ.

"Mamahn, dürfen die Kleinen zu uns rüberkommen? Viviane langweilt sich, weil sie mit Janine und Belenus noch nicht so spielen kann, und Mademoiselle Rubinia ist gerade irgendwo im Dorf unterwegs", hörte Camille die Gedankenstimme ihrer ältesten Tochter im Kopf. "Ja, und Bruno ist wohl wieder mit César und den anderen Jungs von der Mannschaft bei den Renards, oder?"

"Neh, im Mondscheincafé in Paris, Maman. César wollte sich das nicht anhören, dass Sylvie sich den Muggelstämmigen Louis Vignier geangelt hat."

"Verstehe, Sylvie und Celestine haben nur noch das eine Thema, und deren Eltern wissen nicht, wie sie selbst damit umgehen sollen", schickte Camille ihrer Tochter zurück. Dann antwortete sie noch auf die gestellte Frage: "Wenn deine Tante ihren einzigen Sohn an dich ausleihen möchte kann ich dir die beiden rüberbringen, Jeanne."

"Wäre mir neu, dass Tante Uranie jetzt doch die immer umsorgende Mutter in sich entdeckt hätte, wo sie den Kleinen von dir und Papa erziehen lässt."

"Tu ihr nicht unrecht, Jeanne. Wir zwei wissen, wie eng die Bindung zu einem eigenen Kind werden kann, auch wenn es am Anfang nicht gewollt war", maßregelte Camille ihre einige Kilometer entfernte Tochter. Jeanne sandte ihr darauf keine Antwort. Also stimmte sie zu. Camille fragte ihre Schwägerin, ob Philemon zu Jeanne gehen durfte. Uranie, die gerade an einem Brief für die internationale Vereinigung magischer Astronomen schrieb, willigte ein. Philemon und Chloé tobten im Garten. Philemon versuchte schon, auf einen der kleineren Bäume zu klettern. Doch noch waren seine Arme zu kurz, um sich richtig anzuklammern. Camille rief nach ihrer jüngsten Tochter und dem Neffen. Als sie "Jeanne und Viviane wollen mit euch spielen!" rief, waren die zwei so schnell bei ihr, dass sie schon dachte, die beiden gerade drei Jahre alten Kinder könnten schon apparieren. Auf dem Familienbesen trug Camille sie dann zu Jeannes und Brunos haus hinüber. Als sie die beiden mit der mütterlichen Ermahnung, ihr keinen Kummer zu machen, abgeliefert hatte, flog sie zum Haus Jardin du Soleil zurück. Dann überlegte sie, was sie am nun freien Nachmittag unternehmen sollte. Da fiel ihr ein, dass sie längst schon in das Haus ihrer Großeltern mütterlicherseits hätte gehen wollen, um es zu erforschen. Seitdem ihre Großmutter Claire verstorben war, hatte sie es nicht mehr betreten. Damals hatte sie auch nicht alle Räume kennengelernt. Ihre Großmutter hatte ihr erklärt, dass es dort alte Räume gab, wo ganz teure oder auch gefährliche Sachen seien, wo nur große Hexen und Zauberer drangehen durften. Deshalb waren die Türen für Kinder verschlossen geblieben. Jetzt, wo sie wusste, dass in der Villa ihrer Großeltern wohl noch sehr wichtige Hinterlassenschaften verborgen waren, sollte sie diese so rasch es ging finden und kennen lernen. Warum nicht gleich heute, am fünfzehnten Juli 2001? Uranie saß über ihrer ausländischen Korrespondenz. Florymont schaffte für das Ministerium, dass auf den Geschmack gekommen war, noch mehr Duotectus-Anzüge und Superglättefolien zu bekommen. Die Gärten in Millemerveilles waren alle in Ordnung. Sogar die Blumenuhr, die sie für die Latierres um die verkleinerte Ausgabe des Uhrenturms von VDS gepflanzt hatte, ging so wie sie sollte. Also hatte sie Zeit. Sie teilte ihrer Schwägerin mit, dass sie die kinderfreie Zeit nutzen und noch einmal über ihre Vorfahren recherchieren wollte. Uranie bestätigte das. Sie wollte nur wissen, wann Camille zurückkehrte. "Ich bleibe bis acht weg. Dein Bruder würde eh ohne Abendessen durcharbeiten, wenn ich ihn ließe. Aber um acht bin ich wieder da. Solange hat Jeanne die beiden Wirbelwichtel. Bis nachher!" Camille nahm ihren eigenen Ganymed 8, um aus dem Schutzbereich von Millemerveilles hinauszufliegen. Sie hatte außer dem Zauberstab und das hochpotente Erbstück ihrer Mutter nur noch Schreibzeug mitgenommen, um mögliche Einzelheiten niederzuschreiben, die zu kompliziert waren, um sie sich gleich beim ersten Besuch einzuprägen.

Im Hui brauste Camille über alle Häuser und Gärten von Millemerveilles hinweg durch die unsichtbare Schutzglocke aus der unrühmlichen Ära Sardonias hindurch. Einen halben Kilometer dahinter landete sie und schulterte den Besen. Sie konzentrierte sich auf einen Tannenwald auf einen Hügel südwestlich von Bordeaux. Sie musste sich das Bild des Tannenwaldes noch einmal genau vor das geistige Auge rufen. Immerhin war sie seit ihrem achten Lebensjahr nicht mehr dort gewesen. Sie stellte sich zudem noch die Villa ihrer Großeltern vor, deren vier Ecktürmchen, die Julius mal mit dem Zentralgebäude des Towers in London verglichen hatte. Endlich hielt sie das gewünschte Bild in ihrem Bewusstsein. Sie wünschte sich, genau dort zu sein, bis sie sicher war, die zeitlose Reise dorthin zu schaffen. Sie drehte sich mit erhobenem Zauberstab auf der Stelle und fühlte das alle Körperteile zusammenquetschende Dunkel zwischen Ausgangs- und Zielpunkt. Sie keuchte, weil diese Apparition sie doch gut anstrengte. Doch als die stoffliche Welt sie wieder aufnahm und um sie herum Gestalt bekam war sie froh, es hinbekommen zu haben.

Die uralten Tannen wiegten sich im leichten Sommerwind. Die Sonne übergoss die hohen, spitzen Wipfel mit ihrem goldenen Licht. Die Tannen wuchsen fast ohne menschliche Ordnung auf einem sanft ansteigenden Hügel von zweihundert Metern Gipfelhöhe. Als Camille den seit Jahren von Tannenzweigen überwucherten Pfad sehen konnte, huschte gerade ein Rotfuchs zwischen den sanft schaukelnden Stämmen hervor und tauchte keine Sekunde später zwischen dichter stehenden Bäumen in den Wald ein. Camille näherte sich dem früheren schmalen Pfad, bereit, einen Zauber zu wirken, der überwuchernde Zweige bei Seite schieben konnte, ohne die Pflanze zu schädigen. Doch sie suchte zunächst vergeblich das Haus, zu dem sie gewollt hatte. Warum war sie nicht direkt davor appariert, wo sie doch wusste, dass es hier liegen musste? Den Hügel erkannte sie auf jeden Fall wieder. Sie ging ganz dicht an den überwucherten Pfad heran und schwang den ausgestreckten Zauberstab sanft von links nach rechts und zurück. "Rami viam meam liberate!" murmelte sie. Wie von unsichtbaren Händen gepakct schwangen die dicht mit Nadeln besetzten Zweige zur Seite. Sogar dort, wo sich überhängende Äste verkeilt hatten, glitten sie zur Seite. Camille ging nun, den Stab im Takt ihrer Schritte ausschwingend, auf den Pfad. Hinter ihr sprangen die bei Seite gezauberten Äste wieder über den Weg zurück. So bahnte sie sich ohne neues Ausrufen der Zauberformel ihren Weg den Hügel hinauf. Dann sah sie es. Die Tannen auf der Kuppe rückten zur Seite und machten etwas Platz, das aus dem Nichts heraus Gestalt gewann. Es war, als bliese jemand etwas zunächst pergamentdünnes innerhalb von nur vier Sekunden auf die Breite eines herrschaftlichen Gebäudes auf. Im selben Zeitraum wuchsen dem Gebilde vier schlanke Türme mit zwiebelförmigen Bronzedächern, die wie aufgesetzte Ritterhelme in der durch die Tannen sickernden Sonne glänzten. Vor dem Gebäude verlief eine drei Mann hohe Mauer mit einem schmiedeeisernen Tor. Camille wedelte sanft die vor ihr wachsenden Zweige zur Seite. Dann erreichte sie die höchste Stelle und stand vor dem Tor. Sie wusste, dass Träger des Blutes der Binoches das Tor nur berühren mussten, um es zu öffnen. sonst war es mit keiner körperlichen oder magischen Gewalt zu öffnen. Sie trat vor und streckte die freie Hand nach dem Tor aus. Einen Moment durchlief sie ein warmer Schauer. Ihr Heilsstern unter dem smaragdgrünen Umhang hüpfte einmal. Doch dann war wieder ruhe. Ohne das leiseste Geräusch schwang das Tor nach innen auf und gab den Weg auf einen mit Granitplatten ausgelegten Hof frei. Camille passierte das Spitzbogentor. Als dieses sich hinter ihr wieder schloss blieb sie erst einmal stehen und genoss den Anblick. Ja, als achtjähriges Mädchen hatte sie dieses Haus noch als größer empfunden. Damals hatte sie sich schon für den Garten und die zwei Gewächshäuser interessiert. Doch dorthin hatte ihre Großmutter Claire sie nicht gelassen. Womöglich hatte sie damals Alraunen oder noch gefährlichere Zauberpflanzen dort untergebracht. Jetzt blickte sie das Haus an und zählte die Fenster, die alle im Spitzbogenstil gebaut waren. Die an jeder Ecke aufragenden Türme besaßen dagegen echte Schießscharten, als sei dieses Haus kein Landsitz, sondern eine kleine Burg, die es gegen Feinde zu verteidigen galt. Allerdings fehlte ihr dafür der Graben und eine Zugbrücke. Sowas gab es bei den Latierres und Eauvives in ihren Stammschlössern, wußte Camille. Dennoch wurde sie den Eindruck nicht los, dass dieses Haus eher eine Bastion als ein Landhaus sein sollte. Sie dachte an die Szenen, die sie aus den Julius' überlassenen Erinnerungen ihrer Mutter nacherlebt hatte. Damals hatte Lucian Binoche sich gegen Grindelwald und seine Anhänger verteidigen müssen. Das Haus wurde damals von starken Abwehrzaubern umfriedet. Vielleicht, so kam ihr nun die Vermutung, waren die alten Schutzzauber noch wirksam. Das mochte dazu geführt haben, dass sie nicht wie gewünscht direkt vor diesem Haus appariert war. Doch die übliche Widerstandskraft bei Eindringlingsabweisezaubern hatte sie nicht empfunden. Jedenfalls stand sie nun im Hof der Villa Binoche. Zwei Minuten lang umschritt sie das Gebäude. Ihr Heilsstern pulsierte dabei warm unter ihrer Kleidung. Offenbar wechselwirkte er mit freundlichen Zaubern, die dieses Haus umgaben. Als sie das Gebäude einmal umschritten hatte und mit einer gewissen Wehmut die verdörrten Überreste einstiger Pflanzen in den von Tannenpollen und Staub verkrusteten Gewächshausscheiben gesehen hatte, stieg sie die sieben Treppenstufen bis zum Eingangsportal hinauf, das gut und gern aus einer kleinen Kirche oder einem Schloss genommen worden sein mochte. An der Tür hing ein Klopfer in der Form eines Fuchskopfes. Die Schnauze des bronzenen Klopfers war gegen das dunkle Türholz gerichtet. Doch Camille wusste, dass ihr dort drinnen wohl niemand mehr öffnen würde. Wie ging das noch mal, die Tür zu öffnen? Mit den üblichen Öffnungszaubern war dieser Tür nicht beizukommen. Ebenso versagten Spreng- und Feuerzauber. Dann fiel ihr wieder ein, was ihre Mutter ihr einmal gesagt hatte: "Wir großen Hexen sagen ganz leise oder denken das nur "Sanguis benedictus", wenn wir vor der Tür stehen. Wir brauchen dafür aber einen Zauberstab, den wir genau dahinhalten, wo das Türschloss ist." Camille suchte und fand das Türschloss, dass jedoch klar zeigte, dass es hierfür keinen Schlüssel gab. Sie tippte das Schloss an und dachte "Sanguis Benedictus!" Unvermittelt brach ein sechsfaches Rasseln und Klicken in die Stille des Tannenwaldes ein. Dann klackte es, und die Tür glitt nach innen. Camille fühlte ihren Heilsstern nach oben hüpfen und verspürte ein sanftes Streicheln über ihren Kopf und um ihre Beine herum. Dann stand sie in der erhabenen Empfangshalle. Dutzende von schlanken Säulen ragten nach oben. Sie schienen in leere Luft zu führen, weil Camille über sich nur den hellen Sommernachmittagshimmel sah. Doch sie wusste, dass die Eingangshalle so bezaubert war, dass die Decke den gerade sichtbaren Himmel nachbildete. So war es auch in der großen Halle von Hogwarts, hatten Julius, Gloria und Pina ihr erzählt. Sie erinnerte sich, dass diese Bezauberung nur dann in Kraft trat, wenn ein lebender Mensch die Empfangshalle betrat. Von der rechteckigen, die gesamte Breite des Hauses einnehmenden Halle führte eine steinerne Wendeltreppe, die sich weit ausladend nach oben drehte. Links davon sah sie fünf Türen. Rechts von der Treppe gab es drei Türen. Sie wusste, dass die links von der Treppe eingebauten Türen nur für "die Großen" zu öffnen gewesen waren. Die rechts von der Treppe führten in große Räume, in denen Feste und Empfänge stattgefunden hatten. Camille versuchte eine der bisher für sie unzugänglichen Türen. Diese ruckte jedoch nicht, obwohl es kein erkennbares Schloss gab. Als Camille ihren Heilsstern nahm und ihn der Tür entgegenstreckte, machte sich das Kleinod auf einmal so schwer, als müsse sie mehr als fünf Zentner anheben. Gleichzeitig erzitterte die Tür, und eine magische Männerstimme erklang mit warnender Betonung: "Versuche nicht deinen Schutz und meine Wachsamkeit widereinander!" Camille wusste mittlerweile, dass die Erbstücke der Kinder Ashtarias durchaus ein gewisses Eigenleben besaßen und zwischen ihren Erzeugern, der gemeinsamen Urmutter und dem anerkannten Träger vermittelten. Die in der geheimnisvollen Stadt Khalakatan überdauernden Altmeister des versunkenen Reiches hatten es ihr offenbart. Camille sah es deshalb ein, dass sie die Tür nicht mit Hilfe des Heilssterns überwinden konnte. Sicher war diese auch gegen Öffnungs- und Sprengzauber geschützt wie das Tor und das Hausportal. Camille trat nun an die Tür heran und legte ihre Hand auf die Klinke. Sie fühlte ein sachtes Kribbeln unter den Fingern. Als sie die Klinke drückte, war ihr, als jage ein warmer Schauer durch ihre Hand in den Arm, dann in die Schulter und breite sich schlagartig über ihren ganzen Körper aus. Jetzt erst konnte sie die Klinke niederdrücken und hoffte, keine verbotene Tür aufzustoßen.

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Selene Hemlock empfand es als Zeitvergeudung, dass sie mit der kleinen Larissa spielen sollte, wo sich ihre Mutter mit dieser Peggy Swann über die ganzen Sachen unterhalten sollte, die die achso schweigsamen Schwestern nun vorhatten. Sicher, Selene war noch nicht alt genug, um in die Reihen dieser uralten Sororität aufgenommen zu werden. Doch Theia hätte sie doch zumindest in das einschrumpfbare Kinderbett legen können und sie, Selene, so tun lassen können, als schliefe sie, während die scheinbar so großen Hexen ihre geheimen Sachen beredeten. Dazu kam noch, dass ihre Mutter ihr noch einmal eine Windel umgebunden hatte, eine, die das Laufenlernen ermöglichte, aber trotzdem noch alles unbenötigte aus dem Körper auffing. Immerhin hatte sie dadurch ein gewisses Polster am Gesäß und konnte sich mal eben hinplumpsen lassen. Aber zu Hause durfte sie schon einen kleinen Topf benutzen, den sie, wenn ihr und ihrer Mutter niemand zusah, alleine herbeiholen und nach Gebrauch ins Badezimmer tragen und in die große Toilettenschüssel entleeren durfte. Aber was sie, die nach außen hin die fast zwei Jahre alte kleine Hexe darstellen musste, mit einer vierjährigen anfangen sollte, die sich sichtlich freute, mal ein anderes Kind zu sehen, wusste sie nicht. Zu gerne hätte sie Theia, ihre ungewollte zweite Mutter, gefragt. Doch die hatte ihr ja gleich nach ihrer anstrengenden Geburt dieses widerliche Antimentiloquismusarmband umgelegt. Wo sie noch ein harmloser Säugling war, hatte sie zumindest noch ein Cogison benutzen dürfen. Doch wenn es zu Besuch bei anderen ging, durfte sie es natürlich nicht tragen. Das hätte unliebsame Nachfragen provoziert.

Selene dachte ein wenig wehmütig daran, dass sie es sich selbst eingebrockt hatte, noch einmal Kind sein zu müssen. Sicher, sie wurde umsorgt und ja auch geliebt, und die Erfahrung in der Welt der Ungeborenen hatte sie trotz der schier unerträglichen Belastung des Geborenwerdens irgendwie auch genossen. Zwar wäre ihr lieber gewesen, sie wäre von einer ihr genehmeren Hexe wie Blanche Faucon oder Oleande Champverd wiedergeboren worden. Doch nun war sie einmal Theias Tochter, und das nur, weil sie damals nicht Daianiras zweite Mutter sein wollte. Das hatte sie wohl davon. Deshalb hockte sie nun mit dieser rotblonden kleinen Hexe Larissa in deren Zimmer auf rosaroten Sitzkissen. Deshalb musste sie sich gefallen lassen, wie Larissa ihr irgendwelche watteweiche Kuscheltiere wie Einhörner, Abraxas-Pferde und Schlummerstreeler zuwarf. Interessant wurde es erst, als Larissa aus einer Spielzeugkiste mehrere Bilderbücher herausfischte. Hoffentlich war da nicht Winnies wilde Welt bei, dachte Selene. Doch die bunten Einbände erinnerten sie an kein Buch, dass seine Leser mal eben in die erzählte Welt hineinsog und dort solange festhielt, bis die Hauptfigur der Handlung zu müde war, um den in ihre Welt gezerrten Besucher weiter festzuhalten. Larissa schien wohl zu überlegen, was sie ihrer kleinen Besucherin jetzt genau zeigen sollte. Selene sah "Klingelkessel", das bebilderte Buch mit englischsprachigen Kinderliedern und "Heimeliges Haus", das Buch, wo Menschen und Möbel erklärt wurden. Das hatte ihr Theia auch mal gegeben und gemeint, dass sie die Wörter für die Möbel lernen sollte, wie sie eine Zweijährige zu sprechen hatte. also "Bettchen" oder "Heia", "Stühlchen" und so weiter. Am interessantesten war für Selene jedoch ein Buch, auf dem mehrere bunte Bälle abgebildet waren. "Purrley, der purpurrote Knuddelmuff" las Selene lautlos auf dem Bücherrücken. Sie streckte sogleich ihre Hand danach aus und ergriff es. Larissa strahlte sie an, als habe Selene ihr gerade was schönes geschenkt. Doch dass interessierte Selene nicht. Sie klappte das Buch auf. Tatsächlich stand da wohl eine Geschichte drin. Ihre Augen hefteten sich auf die großen Buchstaben. Offenbar war das hier auch als Vorschullesebuch gedacht, um den Zaubererweltkindern die ersten Erfahrungen mit geschriebener Sprache zu vermitteln. Nun, wenn sie dieses Buch kennen sollte, dann wollte sie es zumindest lesen. Doch diese vermaledeite Übereinkunft! Sie durfte nicht wirklich lesen, weil eine Zweijährige das nicht konnte. Hatte Selene vor ihrer Wiedergeburt noch gehofft, ihr Gedächtnis mit allem, was sie als erwachsene Hexe Austère Tourrecandide gekonnt und gewusst hatte zu vergessen, war sie jetzt doch sehr darauf bedacht, nicht als unangemeldete Iterapartio-Geburt aufzufallen. Dennoch hielt sie die Neugier gepackt, was man heutigen Klein- und Vorschulkindern denn so an Geschichten oder anderem Schrifttum zumutete. Als sie zum ersten Mal Kind gewesen war hatte sie sich mit Kuscheltieren und einer rosaroten Schmusedecke begnügen müssen.

Sie sah das erste Bild, eine purpurrote Kugel zwischen vanillefarbenen, die alle grinsende Gesichter zeigten. Auf der linken Seite stand die Geschichte. Selene las aufmerksam quer und erfuhr, dass Purrley von den anderen Knuddelmuffs ausgelacht wurde, weil er nicht so aussah wie sie. Die anderen scherzten, dass seine Mutter wohl nur rotes Zeug mit der langen Zunge in sich hineingezogen hatte und bedachten ihn mit bösen Worten wie "Brummselquaffel" und "Rotes Kullerkissen". An einigen Stellen auf dem sich bewegenden Bild gab es Stellen, auf die ein Kind oder dessen Vorleser drücken konnte. Das machte Selene und erzeugte unterschiedliches Lachen, mal so wie von einem gekitzelten Meerschweinchen, mal wie von einem Fagott, dessen Spiler gerade über einen gelungenen Witz lachen müsse, aber seine Noten weiterspielen müsse. Als sie auf den roten Knuddelmuff drückte, hörte sie ein klägliches Jammern wie von einer rolligen Katze, die ihren auserwählten Kater nicht für sich gewinnen konnte. Sie blätterte um und las im Schnelldurchgang, dass Purrley die Knuddelmuffs aus seinem Heimatnest verlassen hatte, um sich die große Welt anzusehen. Windsausen, das Plätschern eines Baches, der Ruf eines Kuckucks und andere Naturgeräusche konnten auf dem dazu passenden Bild hörbar gedrückt werden. Als Purrley aus Versehen einen quakenden Frosch mit seiner langen Zunge in sich einsaugte, hüpfte er sogar auf und ab, bis der Frosch wieder aus ihm herausplumpste. Laut Text schimpfte der Frosch, dass er keine Fliege sei und was dem roten runden Ding denn einfiele, ihn mal eben in sich reinzuziehen. So erfuhr Purrley etwas über das Leben an einem Froschteich und dass die Frösche vor Stan, dem Klapperstorch auf der Hut sein mussten. Erwähnter Froschfresser war dann auf dem nächsten Bild zu sehen. Purrley unterhielt sich mit dem über den Himmel, die Wolken und andere Länder wie Afrika. Die dazu gehörigen Geräusche waren das Storchengeklapper, das typische Summen eines Knuddelmuffs und ein rhythmisches Getrommel aus dem schwarzen Erdteil. So ging die Geschichte dann weiter mit einer Reise in den Urwald, wo es auch Löwen und Elefanten gab, bis hin in die Staaten zu den Großfüßen und Jiggy-Jaggs. Am Ende traf Purrley auf Poinky, einen rosaroten Knuddelmuff, der in einem Schweinestall auf einer nordamerikanischen Farm aufgewachsen war. Die entsprechenden Geräusche eines Bauernhofes konnten auf dem Schlussbild nachgehört werden, wo Hühner, Schweine, Enten, Kühe, Pferde, ein Hahn und der Hofhund versammelt waren, um Purrley und Poinky als neue Mitbewohner zu begrüßen. "Und wenn ihr die Babys der beiden sehen wollt, dann kommt in die Winkelgasse 93 und seht sie euch an!" Selene las noch, dass das Buch von einer V. Whitesand geschrieben worden war. Hatte dieser Muggelweltunfug auch schon in die Zaubererwelt übergegriffen, unschuldige Kinder schon im Windelalter mit Werbung zu berieseln. Enttäuscht von dieser Erkenntnis warf Selene Larissa ihr Buch wieder zu. die hatte in den zwanzig Minuten, die Selene sich damit beschäftigt hatte, ganz friedlich in ihrem Buch vom Klingelkessel geblättert. Neben den niedergeschriebenen und durch farbige Bilder dargestellten Liedern gab es dort auch viele Musikinstrumente nachzuhören. Doch kein Getröt, Geflöt oder Gefidel war hervorgedrückt worden, während Selene las. Nicht ein schiefer Ton irgendeines Kinderliedes war Larissas Mund entschlüpft. Aber was sollte es jetzt. "Da, Musik!" sagte Selene, einmal mehr sehr auf ihre Selbstbeherrschung bedacht, nicht missmutig dreinzuschauen, weil sie sich so unentwickelt ausdrücken musste, um nicht aufzufallen. Larissa gab ihr das Buch über den Klingelkessel, der auf dem Einband zu sehen war. Viele Instrumente ragten aus ihm heraus. Selene blätterte jedoch nur durch und lies mal ein Klavier zwei fröhliche Akkorde nachklingen und mal ein Jagdhorn tröten. Die Lieder bekam sie von Theia und deren Urgroßmutter Eileithyia immer wieder vorgesungen. "Die musst du können, Kleines. Sonst denken die anderen Kinder, du wärest arm und dumm", hatte diese unverwüstliche Hebammenhexe ihr einmal ins Ohr geflüstert, als sie Selene auf ihren Knien gewiegt und ihr von der kleinen Eule Schuhuhu vorgesungen und das typische Schuhu einer Waldohreule nachgemacht hatte. So meinte Selene, nichts verkehrt machen zu können, als sie das Lied von Billy, dem blubbernden Kessel nachsang, wobei sie künstlich einige schräge Töne einfließen und holperige Notenschritte vorkommen ließ. Larissa lachte darüber und sang ihr das Lied tatsächlich fehlerfrei und auswendig vorgetragen vor. So vergingen die Minuten, wo Larissa wohl austestete, was Selene schon singen konte. Sie bekamen es wahrhaftig hin, das Lied vom dösenden Drachen zusammenzusingen. Der Held des Liedes prangte auf einem der Bilder im Buch, ein grüner, kurzschnäuziger Drache mit goldenen Augenlidern, aus dessen Nase zarte blaue Rauchringe herausschwebten. Dann wollte Larissa spielen und warf Selene eines der Schlummereinhörner ins Gesicht. Selene ließ ihrer Verdrossenheit freien Lauf und pfefferte das windelweiche Schmusespielzeug gegen die runde Rückwand des Zimmers. Das Einhorn gab ein beschwingtes Wiehern von sich, während Larissa ein dickbäuchiges Knuddelschweinchen warf, das Selene jedoch auffing und hinter sich hinlegte, um es nicht noch mal als Wurfgeschoss abzubekommen. Dann krabbelte sie wieselflink durch das Zimmer, während Larissa ihren Kinderbesen holte und hinter ihr herflog. Selene durfte dann auch mal auf dem rosaroten Tu-dem-Kind-nicht-weh-Besen reiten. Doch, ja, das war doch was angenehmes, nicht mehr so nah am Boden daherstolpern zu müssen. Larissa feuerte Selene an, während sie aus einer für Selene uneinsehbaren Vertiefung in der runden Wand noch einen Kleinkinderbesen hervorzog und sich daran machte, ihrer zwei Jahre jüngeren Spielkameradin hinterherzureiten. Selene trauerte ihrer ersten Jugend nach, wo sie gerne Quidditch gespielt hatte und an vier Walpurgisnachtfeiern in Beauxbatons teilgenommen hatte. Gut, in bald neun Jahren kam sie nach Thorntails. Doch Quodpot war ihr zu ruppig, und Walpurgisnacht wurde da auch nicht gefeiert. "Hui!!" rief Larissa und versuchte, Selene zu überholen. Die zog den Besen nach oben. Doch die eingewirkten Zauber ließen es gerade einmal zu, dass der Besen nicht höher als anderthalb Meter flog, damit im Fall eines Absturzes kein großer Schaden entstand. Selene hatte einmal lachen müssen, als sie die kleine Inschrift auf dem Kinderbesen gelesen hatte, den sie zu Weihnachten 2000 bekommen hatte:

Dieser Besen kann ungesicherte Einrichtungsgegenstände beschädigen oder zerstören. Bitte sichern Sie ihr zerbrechliches Eigentum, bevor sie den Besen zur Benutzung freigeben!

Im Moment begruben wohl Selenes Kleinmädchenrock und Reisewindel diesen Warnhinweis. Larissa ergriff Selenes Hand, und die beiden flogen nun Seit an Seit immer im Zimmer herum. Erst die beiden Mütter machten dem Spektakel ein Ende. "Schön brav zusammen geflogen, ja?" fragte Theia ihre Tochter. "Fein war das, ja? Dann mach schön Winke-Winke für Larissa!" Selene ließ sich vom gerade geliehenen Spielzeugbesen auf den gepolsterten Po plumpsen. Dann winkte sie Larissa, die noch auf ihrem Besen herumwippte.

"Tschüs!" rief Larissa zurückwinkend. "Tschüs!" rief Selene zurück. Dann ließ sie sich von ihrer Mutter aufhelfen und ging an ihrer großen Hand aus dem Zimmer. Im Flur im Erdgeschoss wartete der Familienbesen, mit dem Theia und ihre Tochter hergeflogen waren. Peggy sah den beiden nach, wie sie in den Spätmorgenhimmel von Viento del Sol hinaufglitten. Dann schloss sie die Haustür wieder und hörte ihre Tochter fröhlich "Hui! Hui!" rufen, während sie auf dem Besen die Wendeltreppe herunterflog. Sie fegte noch einmal kurz durch die Eingangshalle und tippte das Bild ihrer Vorfahrin Rheia an den Saum ihres Umhanges. Die gemalte Vorfahrin verzog nur das Gesicht und wiegte den Kopf. "Habt ihr zwei schön gespielt?" fragte Peggy ihre Tochter. Zur Antwort vernahm sie die Gedankenstimme einer älteren Hexe: "Wenn die Kleine von Lady Daianiras Tochter erst zwei Jahre auf der Welt sein soll, dann gibt es auch rote und grüne Knuddelmuffs." Peggy verzog das Gesicht, obwohl die Mentiloquismusregeln das verpönten, auf nur gedankensprachliche Mitteilungen sichtbare Regungen zu erwidern. Dann winkte sie ihre Tochter in das Wohnzimmer, das ein Dauerklangkerker war, wenn alle Fenster und die Tür verschlossen waren. Dort konnte sie selbst die scharfohrige Linda Knowles nicht belauschen, sofern sie sich in ihrem Heimatort aufhielt.

"Wie kommst du drauf, dass Selene nicht nur zwei Jahre auf der Welt ist?" wollte Peggy nun von dem kleinen Mädchen wissen, das vor etwas mehr als fünf Jahren noch ihre Mutter gewesen war.

"Die hat so getan, als könne sie noch nicht lesen, was im Buch von Purrley geschrieben steht. Dabei hat sie aber irgendwann so unübersehbar quergelesen, als hätte die das schon längst gelernt. Die hat zwar die Geräuschemacherstellen gedrückt, aber wohl nur für mich, denke ich. Könnte es sein, dass die Gerüchte stimmen und Theia und ihre Tochter auch schon das zweite Leben führen."

"Selene ist anständig von Theia geboren worden. Wer soll denn Theia vorher gewesen sein, Larissa?"

"Lady Daianira", warf Larissa eine Vermutung in den runden Raum.

"Dann sollte sie der kleinen beibringen, dass Bilderbücher nur zum drin herumblättern da sind", grummelte Peggy. Larissa verzog ihr Kleinmädchengesicht und nickte. Dann sagte Peggy: "Sie wollen das nicht, dass das alle mitkriegen, Larissa. Selene wollte nicht so das Kind von Theia sein, wie du mein Baby werden wolltest. Aber sie sind jetzt eben zusammen und Selene wächst als Theias Tochter auf. Aber das muss das Zaubereiministerium garantiert nicht wissen und unsere etwas zurückhaltender auftretende Feindin, die Verschmelzung aus Anthelia und der unbekannten Spinnenhexe, erst recht nicht."

"Ich bin zwar gerade erst richtig aus dem Windel- und Töpfchenalter raus, meine liebe Nährmutter. Aber offenbar bin ich dir doch immer noch weit voraus. Geh davon aus, dass die Wiederkehrerin das mitbekommen hat, wo sie selbst ja irgendwie hinbekommen hat, nicht Lady Daianiras Tochter sein zu müssen. Sicher hat die mit der, die jetzt Selene heißt irgendwie den Platz getauscht, nachdem Hyneria Daianira alias Lysithea in ihrer widerwärtigen Zeitfresserkiste hat verschwinden lassen. Pech halt. Die hätte Anthelia in Lady Daianiras warmem Bauch liegen und großwerden lassen sollen."

"Weiß die jetzt garantiert auch", grinste Peggy. "Na ja, aber tun wir zwei mal so, als hätten wir das nicht mitbekommen, dass Selene schon lesen kann." Larissa nickte und grinste.

"Hast du mit Theia Hemlock darüber gesprochen, dass wir zwei nach Millemerveilles wollen?" wollte Larissa wissen.

"Nein, wir hatten es nur von den Abgrundstöchtern und deren Erbfeinden, den Kindern Ashtarias und wie einer, der bisher nicht zu diesen Kindern gehört hat doch noch eins geworden sein kann", sagte Peggy.

"Und?" hakte Larissa nach.

"Na ja, da wir und ja auch sie irgendwie Erfahrungen im Wiedergebären und Wiedergeborenwerden haben gehen sie und ich davon aus, dass Julius Latierre für eine gewisse Zeit in einer Art magischer Projektion Ashtarias eingehüllt gewesen sein muss, bis diese beschlossen hat, ihn wieder freizugeben, also neu zur Welt kommen zu lassen."

"Dann ist an diesen Legenden um diese weißmagische Übermutter doch was dran", vermutete Larissa. "Wenn Ashtaria nicht in die Nachtotwelt eingekehrt ist, sondern durch eine starke Magie zu einer transvitalen Entität wurde, kann sie in bestimmten Situationen eine dreidimensionale Form annehmen. In diese hat sie den Jungen wohl eingeschlossen und vor irgendwem oder irgendwas beschützt, bis die Gefahr vorbei war. Ich vermute mal, sie hat ihm dann die Wahl gelassen, entweder immer in ihr zu bleiben oder sich aus ihr hinauszuwagen, um weiterzuleben."

"Ich weiß, dass du dich mit postmortalen Erscheinungsformen besser auskennst als ich, Larissa. Dann wird es wohl so und nicht anders abgelaufen sein", sagte Peggy.

"Ja, aber wenn Julius deshalb jetzt ebenfalls zum zweiten Mal lebt, dann wohl nur zu dem Preis, dass er diesen Ashtaria-Kindern beitritt und damit auch deren Aufgaben übernimmt. Wenn die wirklich so erpicht darauf sind, nur die hellen Kräfte zu wirken, dürfte er gegen uns noch mehr Abneigung empfinden. Du hättest ihn irgendwann vorher mal fragen sollen, ob er nicht mit uns in Kontakt treten will."

"Du weißt, dass wir das nicht dürfen, Larissa. Es wäre höchstens gegangen, wenn er wie du damals unter einem progressiven Fluch gelitten hätte und er sich bereiterklärt hätte, dein kleiner Bruder zu werden. Aber deine Geburt hat schon genug Gerede verursacht, auch wenn es mir irgendwie gefallen hat, dich zu tragen und zu kriegen", erwiderte Peggy.

"Das hätte der Bursche wohl abgelehnt. Dafür hat er jetzt selbst schon eine kleine Tochter. Und wie ich die Sippschaft der Latierres und Southerlands kenne, bearbeitet seine Frau ihn wohl schon, mit ihr das zweite Kind in die Welt zu setzen."

"Das kann er mir ja gerne erzählen, wenn wir ihn besuchen", sagte Peggy. Larissa fragte leicht verunsichert, ob es denn stimme, dass ehemalig den dunklen Künsten zugetane Träger von Zauberkräften in Millemerveilles willkommen geheißen würden, wenn sie entweder noch einmal geboren wurden oder selbst Mutter eines Kindes wurden.

"Tja, in Zaubereigeschichte des europäischen Festlandes bin ich dir offenbar überlegen", grinste Peggy. "Irgendwie muss Sardonia bei der Errichtung ihrer Feinde abweisenden Käseglocke etwas angestellt haben, dass eine Feindin, die ein Kind mehr geboren hat als sie Menschen getötet hat, wieder Zugang erhält und ein Feind oder eine Feindin, der oder die den ersten Körper verloren hat und wiedergeboren wird von allen vorigen Untaten freigespült ist. Aber das kriegen wir zwei raus, wenn wir am neunzehnten Juli rüberfliegen. Wenn uns Sardonias Käseglocke nicht umbringt stimmen meine Informationen. Wenn nicht weist sie uns hoffentlich nur zurück." Larissa nickte bestätigend.

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Es war keine verbotene Tür, durch die Camille hindurchtrat, sondern nur die Tür zu einem begehbaren Kleiderschrank mit sündteuren Umhängen, Mänteln, Schuhen und Unterwäsche. Camille hatte schon das Wort "Dekadenz" auf der Zunge, als sie eine strahlend weiße Robe aus purem Einhornfell sah, die mit einem Rotfuchskragen besetzt war. Sie hatte ihre Großmutter nie in dieser ganze Eimer voller Gold schluckenden Aufmachung zu sehen bekommen. Auch die Stiefel aus scharlachrotem Seeschlangenleder wirkten unbeschreiblich protzig. Camille dachte daran, daß ihre Eltern sie nie so prunksüchtig hatten werden lassen, ja dass sie eine gewisse Abscheu gegen übermäßiges Prahlen mit Gold besaß. Sie hielt ihren Heilsstern behutsam an die Stiefel, die sofort einen Satz nach hinten machten. Offenbar mochten sie die Aura des silbernen Pentagramms nicht, das Camille seit dem körperlichen Ende ihrer Mutter tragen durfte. Also mochte in diesen Stifeln etwas bösartiges lauern. Am Ende waren diese sündteueren Protztreter noch irgendwie beseelt wie Aiondaras mächtiger Muschelkrug. Da hörte sie eine verärgerte, hohl klingende Stimme aus dem rechten Stifel: "Wage es nicht noch mal, uns damit zu kommen, kleine Gartenhexe!" Camille sah sich in ihrer Befürchtung voll bestätigt. Doch sie fing sich und hielt den Stern an den linken Stiefel. "Wer bist du oder wer seid ihr?" fragte sie. Da sprang der stiefel hoch und flog aus Camilles Reichweite. Die beiden Stiefel hüpften in einen aufklappenden Schrank, der sofort mit lautem Knall zuschlug. Die anderen Kleidungsstücke reagierten nicht auf die Annäherung mit dem Heilsstern Ashtarias.

"Das kriege ich noch raus, wer hier in diesem Raum so überteuertes Zeug verstaut hat", knurrte Camille. Dann sah sie noch eine lindgrüne Tasche, die wohl auch aus Seeschlangenhaut gemacht worden war. Auf sie sprach das Pentagramm nicht an. Doch Camille fühlte trotzdem eine starke Aura, die dieses tragbare Gepäckstück einhüllte. Behutsam griff sie nach der Tasche ... und konnte sie ohne weiteres vom Boden anheben. Dabei fühlte sie jedoch einen kurzen Hitzeschauer im Unterleib, als dringe jemand mit einem ofenwarmen Gegenstand in ihre Geschlechtsorgane ein. Sie erschauerte. Einerseits war das unheimlich. Andererseits fühlte sie sich lustvoll angeregt, als habe Florymont sich gerade ganz nah mit ihr verbunden. Dieser teils unheimliche, teils wonnige Schauer verging erst nach drei Sekunden. Dann hielt Camille die Tasche so, als wenn sie sie immer schon besessen hätte. Als Camille sie wieder hinstellte erklang ein leicht enttäuscht klingendes Seufzen. Als Camille dann alle hier bereitgehaltenen Kleidungs- und Gepäckstücke begutachtet hatte wollte sie noch einmal an den Schrank drangehen, wo die beiden verhexten Stiefel hineingesprungen waren. Doch dieser knurrte. Dann erklang eine wütende Frauenstimme: "Lass meine Töchter in Ruhe, du undankbares Balg!" Camille wollte schon nach dem Heilsstern greifen. Doch dieser fühlte sich unter ihren Fingern eiskalt an, so dass sie erschrocken die Hand wieder fortzog. "Wer seid ihr?" wollte Camille wissen.

"Du bist keine geborene Binoche. Daher steht dir nicht zu, mich und meine Töchter zu kennen", erfolgte aus magischer Quelle, die unmittelbar bei dem verzauberten Schuhschrank lag, die Antwort der wütenden Frauenstimme. Camille argwöhnte jedoch, dass der Schrank und die darin geborgenen Stiefel wahrhaftig mit dunkler Magie belegt und beseelt waren. So wandte sie sich zum gehen und trat an die Tür heran. Als sie diese geöffnet hatte, hörte sie ein leises Klatschen. Dann fühlte sie einen leichten Windstoß, und ehe sie sich's versah, hängte sich die grüne Seeschlangenhauttasche über ihre Schulter und drückte sich von selbst an ihre rechte Seite. Camille erkannte nun, warum manche Räume in diesem alten Zaubererhaus verschlossen blieben. Sie versuchte, die Tasche wieder abzulegen. Doch mit einem verärgerten Schnauben, das auch irgendwie weiblich zu klingen schien, blieb die Tasche an ihr kleben. Die Trageriemen zogen sich sogar schmerzhaft eng zusammen. Camille tastete wieder nach Ashtarias Erbstück. Das Pentagramm fühlte sich jetzt handwarm an. Sie zog es frei und drückte es gegen den ihre Schulter einschnürenden Trageriemen. Doch nichts geschah. Weder veränderte der silberne Fünfzackstern sein Aussehen, noch seine Temperatur oder sein Gewicht. Auch die Tasche blieb an ihr kleben wie sie war. Sollte sie die mächtige Formel rufen, die die ganze Kraft des silbernen Sterns entfesselte? Doch wenn diese verhexte Tasche da nicht durch dunkle Magie so war wie sie war, brachte die Formel sie wohl auch nicht dazu, von ihr abzulassen. So blieb Camille erst einmal nur, den Raum wieder zu verlassen. Die Tür schwang zu. Da entspannte sich der Trageriemen. und die bis dahin wie angewachsen an Camilles rechter Seite klebende Tasche löste sich und baumelte nun harmlos wie eine ganz gewöhnliche große Handtasche. Camille drückte noch einmal die Türklinke. Da zog sich der Trageriemen der Tasche wieder schmerzhaft eng zusammen, und die Tasche selbst haftete unverrückbar an Camilles Seite. Die Kräuterhexe von Millemerveilles und Erbin von Claire Binoche stand einen Moment irritiert da. Hatte sie bereits zu viel gewagt? Dann fühlte sie, wie etwas sie beruhigte, das nicht in ihr selbst aufkam, sondern von außen in sie einströmte. Sie drehte sich von der Tür fort. Die Tasche wurde wieder locker und harmlos. Camille konnte sie sogar ablegen. Also doch kein Anhängselfluch. Sie hatte durchaus davon gehört, dass es Dinge gab, die auf bestimmte Personen geprägt werden konnten und immer von ihnen getragen oder zumindest berührt werden mussten. Doch wenn es ein Fluch gewesen wäre, hätte der Silberstern diesen von ihr ferngehalten. Aber was war es dann? Camille wagte es und ergriff die Tasche, um sie wieder in den Raum hineinzubringen. Doch kaum dass sie die Tür auch nur berührte, erklang ein sehr ungehaltener Laut aus der Tasche. Dieser hielt Camille davon ab, die Tür zu öffnen. Sie ließ die Tasche davor liegen und prüfte die anderen Türen.

Die zweite führte in einen dunklen Gang hinein. Camille nahm ihren Zauberstab und dachte "Lumos!" Doch statt nur ihren eigenen Zauberstab aufleuchten zu lassen bewirkte ihr Zauber, dass Dutzende von Fackeln entflammten. Jetzt war der Gang nicht mehr so dunkel. Er endete jedoch an einer nach unten führenden Wendeltreppe. Camille folgte der Treppe und erreichte einen weitläufigen, angenehm kühlen Keller mit mehreren Türen, die alle gemeinsam hatten, dass auf ihnen Weinfässer und goldene Reben abgebildet waren. Camille wusste, dass sie die Tür in ihrer Kinderzeit nie aufbekommen hatte. Hier war jedoch auch keine körperliche oder anderswie fühlbare Wechselwirkung eingetreten.

Hinter den Türen lagen gewaltige Fässer, standen Regale mit verschlossenen Krügen und Schränke mit goldenen und silbernen Kelchen und Pokalen. Über einem mannshohen Weinfass prangte ein direkt auf die Wand gemaltes und bezaubertes Bild, das eine Gruppe von tanzenden Mädchen mit freiem Oberkörper zeigte, die auf Flöten spielten und wilde, für Camille schon anzügliche Bewegungen ausführten, während sie um eine dickbäuchige Statue tanzten, die jeden zweiten Takt einen Krug anhob und den Tänzerinnen zutrank. Bockshörnige Männer warfen sich den tanzenden Mädchen in die blanken Arme, küssten Münder und Brüste der ungezügelten Ballerinen. Camille verstand nicht, was diese schon archaisch zu nennende Szenerie sollte, bis sie die in das Eichenholz des Fasses eingebrannte Schrift las. Es waren aber keine lateinischen Buchstaben, sondern griechische, wie Camille sie in den Schriftrollen von Phyllophilos Anaxadendros von Samos gesehen hatte. Der vor zweieinhalb tausend Jahren lebende Zauberer galt als Urvater der magischen Herbologie und war der Ziehsohn einer Dryade gewesen. Er hatte die seltene Fähigkeit besessen, mit magischen und nichtmagischen Pflanzen geistigen Kontakt aufzunehmen und sie seine Anweisungen ausführen zu lassen. Ebenso hatte er verstehen können, was sie benötigten oder woran sie erkrankt waren. Konnte sie die Schrift noch lesen? Die Buchstaben kannte sie wohl noch. Aber wenn das griechische Buchstaben waren, dann war der Text wohl auch griechisch, ja womöglich altgriechisch. Außer die Teile davon, die zum Verstehen alter Zauberformeln wichtig waren, kannte Camille nur noch jene, die zur Benennung und Einordnung magischer Lebewesen nötig waren. Diese wenigen Sprachkenntnisse reichten jedoch nicht aus. Sie entzifferte nur etwas von unerschöpflich und das Wort Eros, was sinnliche Liebe hieß. War in dem Fass womöglich ein hochpotenter Liebestrank enthalten, und das Bild darüber zeigte, zu welchen Ausschweifungen er führen konnte. Dann schlug sie sich vor den Kopf. Warum hatte sie Florymont nicht um eine seiner Omnilexbrillen gebeten. Damit konnten alle von Menschen geschriebenen Schriften entziffert und verstanden werden, solange kein dem entgegenwirkender Verhüllungs- oder Verwirrungszauber darauf gelegt worden war. Sie prüfte mit dem Heilsstern, ob das Fass mit dunkler Magie erfüllt war, auch auf die Gefahr hin, dass es ihr um die Ohren flog. Tatsächlich vibrierte das Fass, als der Heilsstern es berührte und der Stern leuchtete blutrot. Doch mehr geschah nicht. Das rote Leuchten erregte die Aufmerksamkeit der herumtollenden Tänzerinnen auf dem Wandbild. Die Männer mit den Bockshörnern fielen vor ihren Gespielinnen auf die Knie. Camille dachte einen Moment, es mit einem Wandbild der Muggel zu tun zu haben, so starr war die gemalte Szenerie gerade. Erst als sie den Silberstern wieder fortnahm und das rote Leuchten erlosch, geriet die stumme Schar auf dem Bild wieder in Bewegung. Die knienden Männer wurden so zu boden gedrückt, dass sie auf ihre Hände aufkamen. Dann sprangen die barbusigen Tänzerinnen über sie hinweg. Erst als jede über jeden der gehörnten Männer hinweggehüpft war, konnten sie sich wieder erheben, und der ausgelassene Tanz ging weiter.

Von der sichtbaren, wenn auch folgenlosen Reaktion des Heilssterns auf das große Eichenfass angetrieben prüfte Camille die anderen zwanzig Fässer. Doch diese enthielten keinerlei Bezauberung oder magisch wechselwirkende Inhalte. Als Camille diesen Weinkeller wieder verließ wartete die grüne Umhängetasche, die sie oben an der Tür hatte liegen lassen auf sie. "Och nöh!" stöhnte Camille. Sie ließ das ihr nachgekommene Gepäckstück liegen und betrat den zweiten Weinkeller. Auch hier waren Fässer gestapelt, ebenso wie Trinkgefäße. Im dritten Keller, auf dessen Tür jedoch keine Rebe, sondern ein Blütenkelch mit goldenen Staubfäden abgebildet war, meinte Camille, in einem riesenhaften Bienenstock gelandet zu sein. Tatsächlich hörte sie, kaum dass sie den Raum betreten hatte, ein leises Summen, wie sie es bei Madame L'Ordoux, der Imkerin von Millemerveilles, immer zu hören bekam, wenn sie deren Bienenbestand aufsuchte. Auch hier reihten sich mehrere dutzend Fässer, allerdings nicht am Boden, sondern in sechseckigen Vertiefungen, die den Brut- und Vorratswaben der Bienen glichen. Auch auf dem Boden fand sich ein Wabenmuster. Camille meinte, wie auf Wolken zu gehen. Dann sah sie auf der der Tür gegenüberliegenden Seite ein weiteres Wandgemälde, das eine gigantische Bienenkönigin zeigte, die fleißig goldene Eier legte. Als die Mutter eines gigantischen Bienenvolkes die Besucherin sah wandte sie ihr die großen, schwarzen Facettenaugen zu. Dann verformte sich ihr Gesicht, wurde zu dem einer Menschenfrau. Dann hörte Camille eine sanfte, tiefe Stimme: "Ah, endlich beehrt eine diesem Haus geborene unseren Vorratsraum. Genieße von dem, was deine Vorfahren aus unserem Honig gemacht haben! Denn zum nur so da herumliegen ist er wahrlich zu schade." Als die Bienenkönigin das gesagt hatte, wurde ihr Gesicht wieder das eines überdimensionierten Insektes. Camille wollte noch mehr wissen. Doch mehr als goldene Eier in sich auftuende Waben zu legen fiel der gemalten Bienenkönigin nicht ein. Allerdings konnte Camille keine Arbeiterinnen sehen, die das Gelege übernahmen und sortierten. Aber ihr war klar, dass die Fässer wohl Met enthielten, wenn nicht sogar naturbelassenen Honig. Gut, Nach einer Runde Met ohne Mittrinker war ihr gerade nicht zu Mute. Deshalb verließ sie den Honigfasskeller wieder. Die grüne Tasche lag immer noch im Gang zwischen den Kellern.

Als Camille den Weinkellertrakt wieder verließ klatschte ihr die grüne Tasche wieder an die Seite und machte sich an ihrer linken Schulter fest. Camille konnte sie erst wieder loswerden, als sie durch die Zugangstür zurück in die Eingangshalle trat.

Durch eine der Türen kam sie nicht durch, weil diese sie einfach nicht durchließ. Auch der dagegengedrückte Stern half ihr nicht weiter. Die dritte Tür hingegen führte erneut in einen weitläufigen Keller, der sogar noch tiefer lag als der Trakt mit den Wein- und Metfässern. Hier boten sich links und rechts je zehn und vor ihr eine große, zweiflügelige Tür zum Vordringen an. Camille ging auf die zweiflügelige Tür zu und betrachtete sie im Licht der beim Eintreten von selbst aufflammenden Fackeln. Die Tür war eindeutig aus Metall. Es schimmerte rosig. Camille erkannte, dass es dasselbe Metall war, mit dem der Muschelkrug Aiondaras überzogen war, den sie aus dem Atlantik geborgen hatte. Das war Orichalk, das legendäre, in der Gegenwart nur noch dem Namen nach bekannte Metall, mit dem die Bewohner des alten Reiches gearbeitet hatten. Es galt als für bleibende und machtvolle Zauber ideales Material. In die beiden Türflügel waren zwei Figuren und eine mehrzeilige Inschrift eingraviert. Die beiden Figuren stellten einen Mann und eine Frau dar, beide völlig unbekleidet und, soweit es die zweidimensionale Darstellbarkeit zuließ, haarfein detailliert verarbeitet. Die beiden hielten einander an den Händen und blickten die Besucherin einladend an. Camille trat auf die Tür zu. Ihr Heilsstern erwärmte sich, eigentlich ein Zeichen für gutartige Magie, wusste Camille. Doch was das rosarote rhythmische Leuchten zu bedeuten hatte begriff sie nicht. Sie prüfte die Tür auf Klinken, Griffe oder Schlösser. Doch sie fand nichts dergleichen. Camille wusste, dass Orichalk, wenn es einmal bezaubert war, durch keinen anderen Zauber beeinflusst werden konnte. Ob es mit magielosen Mitteln wie Hitze, Säure oder Werkzeug zu verändern oder zu zerstören war wusste sie nicht. Jedenfalls wusste sie, dass ihr Schmuckstück hier nichts bewirken würde. Es reagierte nur auf die in dieser Tür gespeicherte Zauberkraft. Sie betrachtete die beiden Gravuren und versuchte, die Schrift darunter zu lesen. Doch diesmal waren es weder lateinische noch griechische Buchstaben. Vielleicht, so vermutete Camille, war es gar die Sprache des alten Reiches selbst, die sich hier in diesem Haus über Jahrtausende bewahrt hatte. Camille wusste aber von ihrer Mutter, dass die Villa der Binoches gerade einmal fünfhundert Jahre alt war. Doch mochte es sein, dass sie auf den geheimen Kerkern einer wesentlich älteren Ansiedlung oder Heimstatt errichtet worden war? Camilles Entschluss, mit Julius Latierre noch einmal herzukommen stand nun felsenfest. Vor allem, wenn sie sah, wie die beiden Reliefs in der Tür sich bei den Händen hielten hatte sie den nicht so ganz abwegigen Gedanken, dass sie als einzelne Hexe hier nicht hineingelangen würde. Womöglich durfte auch kein einzelner Zauberer in den dahinterliegenden Raum. Jetzt war nur die Frage, ob Hexe und Zauberer Geschwister, Ehepartner oder gute Bekannte sein mussten. Sicher verriet es die fremdartige Schrift auf der Tür, wer hier Einlass finden würde. Konnte eine Omnilexbrille diese Inschrift lesbar machen, oder überlagerte ein Verhüllungszauber die magische Entschlüsselung, so dass nur ein der alten Schrift kundiger lesen konnte, was hier stand? Jedenfalls kam sie hier erst einmal nicht weiter.

Die anderen Türen führten zu Laborräumen, in denen badewannengroße Kessel und Utensilien standen. Ebenso gab es hier unten eine Werkstatt, die der Florymonts alle Ehre machte. Zudem wurden hier Geräte und Einrichtungsgegenstände aufbewahrt, die sicher dem Hirn und der Zauberfertigkeit mächtiger Thaumaturgen entsprungen waren. Zumindest aber gab es keine nachteilige Wirkung des Heilssterns. Dann fand Camille noch einen Raum, den sie am liebsten nicht gesehen hätte. In großen und kleinen Glasbehältern schwammen in einer durchsichtigen Flüssigkeit verschiedene vollständige Tiere wie blaue Riesenseesterne, silbern schimmernde Kugelfische, zwölfarmige giftgrüne Kreaturen, die wie eine Mischung aus Krake und Qualle aussahen, aber auch haarlose Wirbeltiere, ja sogar konservierte Föten von Säugetieren konnte sie hier sehen. Sie erschauerte. Sie erkannte einmal mehr, dass die Studien von tierischem Leben und die fortgeschrittene Zaubertrankkunde nicht ihre Sache waren. Als sie dazu noch einen mehr als badewannengroßen rotbraunen Sack sah und erkannte, dass es ein aus dem Körper eines riesenhaften Tieres gelöstes Herz sein musste, rang sie sehr mit einem Würganfall. Sie wandte sich schnell wieder ab und gönnte der in einer fünfzehn Meter langen Vitrrine liegenden grünen Risenschlange mit dem augenlosen Kopf keinen weiteren Blick als nötig. Sie fragte sich jetzt, wessen Blutlinie sie da entstammte, wenn das alles von Vorfahren ihres Großvaters eingesammelt, präpariert und verstaut worden war. Steckte in ihr womöglich das Erbe eines dunklen Magiers vom Range des Unnennbaren? Sie hoffte es nicht. Jedenfalls beeilte sie sich, den Raum mit den eingelegten Tieren und Organen wieder zu verlassen. Sie stieß einen lauten Schrei aus, als sie durch die dicke, mit dunkel angelaufenen Silberplatten beschlagene Tür hindurch hechtete und ihr ohne Vorwarnung etwas an den Körper klatschte und sich wie mit dünnen Gummiarmen an ihr festklammerte. Dann erkannte sie, dass es wieder diese irgendwie doch verwünschte Tasche war, die sich zu ihr hingezogen fühlte. Der Erkenntnis folgte eine unvermittelte Beruhigung, als sei Camille weder in Gefahr noch habe sie gerade albtraumhafte Dinge zu sehen bekommen. Die Tasche wurde so warm wie Camilles Körper, und auch der Heilsstern sendete wohlige Wärmeschauer aus. Camille fand wieder zu Atem, und ihr wild wummerndes Herz beruhigte sich und glich sich im Takt den wohligen Wärmestößen aus dem Heilsstern an. "Ich will langsam mal wissen, wer dich gemacht und als letzter gehabt hat", raunte Camille, während sie über die geschmeidige, warme Umhängetasche streichelte, was ein wohliges Schnurren hervorrief, als liebkose sie gerade eine Katze oder einen Kniesel. Mit einem nicht zu erklärenden Gefühl, dass ihr nichts passieren könne, solange sie diese Tasche bei sich trug, stieg Camille wieder die Kellertreppe hinauf.

Zurück in der Eingangshalle nahm sie die Wendeltreppe in die oberen Regionen. Hier kannte sie sich noch aus, auch wenn sie seit damals mindestens einen halben Meter größer geworden war und daher alles irgendwie kleiner auf sie wirkte, als sie es in Erinnerung hatte. Im ersten Obergeschoss waren die vier Salons, der grüne, der blaue, der violette und der erdbeerrote. Dann war da noch die große Küche, wo alles noch so stand, als warte es darauf, für die Zubereitung eines reichhaltigen Abendessens benutzt zu werden. Sie fand die Speisekammer, die vier Conservatempus-Schränke enthielt. Doch in den Schränken waren nur noch langlebige Vorräte wie Reis, Zwieback und große Tonkrüge mit Honig. Alles verderbliche war zu Asche zerfallen. Camille erinnerte sich, dass ihre Mutter erwähnt hatte, dass die Schränke eine Sicherheitsbezauberung hatten, verdorbene Lebensmittel wie in einem Brennofen einzuäschern. An den großen Esssaal konnte sie sich auch erinnern. Er lag so, dass die Sonne ihn morgens, mittags und abends großflächig erhellen konnte. Darüber hinaus gab es einen vierundzwanzigarmigen Kronleuchter, in dem sogar noch ganze Kerzen steckten. An dem runden, gerade ungedeckten Tisch konnten bis zu zwanzig Personen auf hochlehnigen Stühlen sitzen. Geschirr und Tischwäsche wurden in einem Schrank aufbewahrt, der schon ein kleiner, fensterloser Raum für sich sein konnte.

Die zweite Etage bot zwei Ehepaarschlafzimmer, fünf Einzelbettzimmer und drei große Bäder. Allerdings waren hier noch zwei Räume, in die Camille bei ihren wenigen Besuchen nie hineingelangt war. Der eine lag im Osten der herrschaftlichen Villa. Seine Tür schimmerte mauvefarben, wie viele Umhänge der Beauxbatons-Schulleiterin und Camilles früheren Saalvorsteherin Blanche Faucon. Als Camille auf die Tür zuging fühlte sie sich so, als riefe jemand nach ihr, diesen Raum zu betreten. Sie konnte die Türklinke niederdrücken. Durch ihren Körper ging ein Wärmeschauer, der sich an ihrem Unterleib und ihren Brüsten konzentrierte. Das Zimmer hinter der Tür war mit allerlei Stoff und weichem Material ausgekleidet und enthielt neben drei großen Spiegeln und zwei weißen Schränken eine Kommode, einen Tisch und einen bequemen Stuhl mit rosaroten Polstern, die wie dicke Federkissen wirkten. Als Camille jedoch nur noch einen Meter von dem Stuhl entfernt war, wechselte dessen Farbe in ein mittleres Grün. In die Kissen waren Muster wie von Kleeblättern und sommergrünen Laubbäumen eingestickt. Camille trat wieder zurück. Doch der Stuhl blieb in der Farbe. Da meldete sich eine sanfte, aus magischer Quelle dringende Frauenstimme: "Setz dich, meine rechtmäßige Erbin!Mein Rückzugsort ist nun dein Rückzugsort." Camille erstarrte. Das war nicht die Stimme ihrer Mutter. Nein, das war die Stimme von Claire Binoche, ihrer Großmutter. In dem Moment, wo die Stimme erklungen war, nahmen alle Dekorationen in diesem Raum Farbe und Form frischer Pflanzen an. Der Duft von frischem Gras mengte sich mit dem pflückreifer Blumen und Kräuter. Camille hatte einen Moment die Empfindung, in ihrem eigenen Garten zu sein. Fehlten nur die Vogelstimmen, die wärmende Sonne auf der Haut und das Säuseln des Windes in den Baumwipfeln. Camille starrte noch einmal auf den Stuhl. Der Eindruck, sich hinzusetzen und zu rasten kam in ihr auf. Doch sie verdrängte ihn. Sie fühlte, dass die grüne Tasche, die sie die ganze Zeit federleicht mit sich herumgetragen hatte, noch leichter geworden war. Camille legte sie auf den Tisch. Dann überwand sie sich und verließ das Zimmer. Sie schloss die Tür von außen. Erst war sie darauf gefasst, die grüne Tasche wieder an den Körper klatschen zu fühlen. Doch diesmal blieb das verwünschte Ding wo sie es hingelegt hatte. Vielleicht hatte sie es auch genau dort untergebracht, wo es hingehörte, so dass es sie nicht weiter behelligen würde.

Die früher ebenfalls unaufschließbare Tür befand sich im Süden der Villa. Camille ging auf die Tür zu, die in einem sanften Samtbraun gehalten war und eine schwere Eisenklinke besaß. Diesmal empfand sie nichts, ob sie hier willkommen war oder nicht. Auch der Heilsstern Ashtarias reagierte nicht. Camille erreichte die Tür und drückte auf die Klinke. Doch diese ruckte und rührte sich nicht. Überhaupt wirkte die Tür wie fest zugemauert. Die Berührung mit dem Heilsstern erbrachte auch keinerlei Auswirkung. Damit stand für Camille fest, dass sie nicht in diesen Raum hineingelassen werden würde. Sollte sie es mit einer Apparition versuchen? Dann fiel ihr jedoch siedendheiß ein, dass auch einzelne Räume gegen das Apparieren abgesichert werden konnten. So blieb ihr nur noch der Aufstieg ins dritte und höchste Obergeschoss, wenn sie mal von den noch drei Stockwerke höher ragenden Türmen absah. Hier oben befand sich die umfangreiche Bibliothek. Die wirklich wertvollen Bücher standen in magisch überdeckten Regalen und konnten nur von denen herausgezogen werden, die als rechtmäßige Eigentümer des Hauses anerkannt waren, hatte Camilles Mutter erzählt. Denn sie hatte vor dem Tod ihrer Mutter immer wieder versucht, für sie interessante Bücher auszuborgen und war meistens mit unangenehmen Rückprellzaubern für ihren Vorwitz bestraft worden. Ob Camille jetzt als legitime Hauserbin an die Bücher kam und/oder ob der Heilsstern Ashtarias ihr diese Barriere aus dem Weg räumen würde? Sie trat auf ein Regal zu, das mit einer weit verzweigten Pflanzengravur gekennzeichnet war. Hier standen Kräuterkundebücher. Viele davon hatte sie selbst schon. Einige waren uralt und wohl in ebenso alten Sprachen geschrieben. Das Regal mit einem eingravierten Kessel und einer Waage beherbergte Literatur zur Alchemie. Ein Drachenkopf auf einem weiteren Regal wies dieses als Sortierpunkt für magizoologische Bücher aus. Ein Regal mit einem Totenschädel mit zwei gekreuzten Knochen beherbergte wahrhaftig Bücher über die dunklen Künste, nicht nur, wie sie abgewehrt werden konnten. Das letzte Regal war mit einem stilisierten Stundenglas mit je vier Körnern Sand im oberen und unterem Kolben gekennzeichnet. Camille fand hier die Geschichten verschiedener magischer Begebenheiten, so wie die zehnbändige Familienchronik. Sie nahm den zehnten Band hervor. Nichts passierte. So schlug sie ihn ehrfürchtig auf und blätterte sehr behutsam die hauchdünnen Pergamentseiten um. Sie staunte, wie umfangreich die Chronik geführt worden war. Noch mehr erstaunte sie, als sie nach dem ersten Drittel des Buches nachlesen konnte, dass sie, Camille Dusoleil geborene Odin, am zweiten Mai 1998 ihre vierte Tochter namens Chloé geboren hatte, ja auch Jeannes Zwillinge waren in dieser Chronik erwähnt. Ein sich selbst weiterschreibendes Buch. Florymont würde sich sicher dafür interessieren, das Geflecht von Zaubern zu entwirren, welches diesen Vorgang ermöglichte. Sie las weiter und staunte nur noch. Denn auf den letzten beschriebenen Seiten war in sachlicher Formulierung niedergeschrieben, dass sie am 19. Mai 2001 zusammen mit dem als Adrian Moonriver wiederaufwachsenden Sohn Ashtarias dem aus Ashtarias Obhut wiedergeborenen Julius Latierre mit der Kraft Ashtarias beigestanden habe. Camille fühlte ein leichtes Zittern in den Händen. Das war unheimlich und ebenso faszinierend, anziehend und abstoßend. Hier in der Villa Binoche gab es ein Buch, in dem ihr Leben aufgeschrieben wurde, ohne dass jemand hier wohnte, um dies zu tun. Schon unheimlich, dachte Camille. Irgendwann, hoffentlich in sehr ferner Zukunft, würde jemand wieder herkommen und in dieser Chronik, vielleicht sogar dem nächsten Band, nachlesen können, wann und woran sie, Camille Dusoleil, gestorben war. Dann kam ihr die Idee, dass womöglich auch die Leben der vorausgegangenen Familienangehörigen in dieser Chronik aufgezeichnet waren. Sie wunderte sich nur, das dieses Buch sich nicht weiterschrieb und beispielsweise festhielt, dass sie gerade in diesem Buch las. Dann stellte sie jedoch fest, dass nur die herausragenden, lebensbeeinflussenden Ereignisse notiert wurden, wie zum Beispiel ihre Hochzeit mit Florymont, aber auch das Betrauern ihrer Mutter Aurélie und ihrer Tochter Claire. Was wirklich mit den beiden geschehen war stand da nicht. Womöglich erfasste der Selbstschreibzauber nur die Sachen, die jeder nachlesen durfte. Camille blätterte mehrere Dutzend Seiten zurück und las über die Geburt ihrer Mutter nach, dass sie fast einen Tag lang gebraucht hatte, um ans Licht der Welt zu gelangen. Sie blätterte weiter zurück und las von der Hochzeit ihrer Großmutter mit Lucian Binoche. Dieses Ereignis wurde mit folgendem Kommentar ergänzt:

So vertraute sich die erhabene Linie von Aurélius Bonifatius Binoche mit der uralten Linie der mesopotamischen Urmutter Ashtaria. Somit besteht nun eine aus beiden alten Linien vereinte Blutlinie fort.

Camille blätterte weiter zurück und erfuhr, dass Lucians Urgroßmutter väterlicherseits jenes Boudoir eingerichtet und bezaubert hatte, dass dort erstens nur voll erblühte Hexen hineingelassen wurden und diesen zweitens ihre Lieblingsdekoration und Duftkompositionen bereitgestellt wurden. Darüber hinaus war Lucians Urgroßmutter Geneviève Lucine Binoche Kräuterkundlerin und Heilerin mit Schwerpunkt auf Hebammenkunst gewesen. Sie habe sich ihre ganz eigene Heilertasche aus Seeschlangenhaut und dem Saft von weiblichen Alraunen, die bereits Nachwuchs hervorgebracht hatten so wie eigenem Monatsblut hergestellt und so bezaubert, dass sie ihr immer beistehen und alles von ihr gerade benötigte bereitstellen würde. Ihre Zauberkenntnisse sollten so groß gewesen sein, dass behauptet wurde, sie habe eine magische Symbiose mit ihrer Tasche hergestellt und wäre nicht wie andere Menschen gestorben, sondern kurz vor dem letzten Atemzug in ihre Tasche hineingezogen worden. Versuche, sie tot oder lebendig wieder hervorzuholen waren gescheitert. Denn die Tasche war mit Schließe und Halteringen aus dem Urstoff der Magie, dem Himmelsbergerz gefertigt worden. Lucians Urgroßtante, eine eifersüchtige Matrone, habe die Tasche dann in jenes Zimmer gestellt, in dem sie und ihre zwei bösartigen Töchter gewohnt hatten. Dort hinein sei nur gelassen worden, wen die drei für ihr Vergnügen hätten haben wollen. Lucians Großvater habe sie darauf hin mit einem Fluch belegt, dass sie nicht ins Totenreich einkehren dürften, sondern als Geister an die Dinge gebunden sein sollten, die ihnen am wichtigsten waren. Camille nickte erkennend. Damit erklärte sich das verhexte Stiefelpaar und der Schrank, in dem es hineingehüpft war. Jetzt wußte sie auch, wem die viel zu protzige Einhornfellrobe gehört hatte. Aber was hieß das jetzt für Geneviève Lucine Binoche? Lebte diese noch in einer Art magischer Starre oder war sie gestorben und dadurch ganz und gar mit ihrer selbst hergestellten Tasche geworden. Was hatte Florymont immer gerne erzählt, wenn es um die von ihm teilanimierte Kommode gegangen war? Eine den Tod fürchtende Großtante habe sich in diese Kommode verwandelt. Julius hatte damals so ausgesehen, als kaufe er das unwidersprochen ab. Jetzt musste Camille sich fragen, ob das wahrhaftig hinkommen konnte. Deshalb war diese bezauberte Tasche wohl auch sehr froh gewesen, wieder in ihr angestammtes Zimmer zurückgetragen worden zu sein und nicht mit ihrer eifersüchtigen, prunksüchtigen Schwester und deren Töchtern im selben Raum bleiben zu müssen. laut der Chronik war Geneviève Lucine Bewohnerin des zitronengelben Saales gewesen, auch wenn sie bei der Zuteilung durchaus auch im kirschroten oder dem grasgrünen Saal hätte untergebracht werden können. Camille las außerdem, dass Genevièves Tasche ursprünglich hsonnengelb gewesen war, wie sie überhaupt gerne sonnengelbe Sachen getragen habe. Doch als Camille die Tasche zum ersten Mal gesehen hatte war diese grün gewesen, ein schönes, mittelhelles Grün, wie sie es von allen Grüntönen am meisten liebte. Hatte dieses Ding sich schon auf sie eingestimmt, als sie den Raum noch gar nicht betreten hatte? Das Zimmer hatte es ja auf jeden Fall. Auch wusste sie nun, dass sie unbedingt mit Julius Latierre wieder herkommen würde. Denn da gab es ja noch die beiden Räume, in die sie nicht hineingelassen worden war. Sicher gab es hier auch noch etwas, was für ihn sehr wertvoll sein mochte.

Camille stellte die Crhronik wieder in das dafür vorgesehene Regal zurück und überflog noch einmal die Auswahl in der Bibliothek. Sicher, in Beauxbatons gab es sicher einiges mehr an Büchern. Aber hier schienen noch Bände zu stehen, die dort nicht bereitgestellt werden konnten. Da fiel ihr auf, dass im Regal mit dem Stundenglas ganz oben ein Buch zu fehlen schien, als habe es jemand herausgezogen und nicht mehr zurückgestellt. Da dämmerte ihr, dass sie im Haus von Julius und Millie in dem für die beiden alleine zugänglichen Schrank nicht nur ein Denkarium und den Pokal der Verbindung gesehen hatte, sondern auch ein dickes Buch. "Du wirst deine Gründe gehabt haben, es mir nicht zu geben, Maman", grummelte Camille, der klar war, dass nur ihre Mutter das Buch aus dem Regal genommen und in den geheimnisvollen Zeittresor gelegt hatte, aus dem Julius die letzten Erbstücke herausgezogen hatte. Damit war für sie hier im Moment nichts neues zu holen. Sie besuchte nur die von den Etagen oberhalb der großen Eingangshalle zugänglichen Türme. Von diesen aus genoss sie noch die Aussicht auf den Tannenwald, konnte sogar weit über das Weinanbaugebiet von Bordeaux hinwegblicken. Doch, es war eine schöne und ruhige Lage, und wenn Sie, Millie oder Julius es nicht weiterverrieten, wo die Villa der Binoches lag, dann waren sie hier sogar genauso sicher wie unter der schützenden Glocke von Millemerveilles.

Als Camille die Villa wieder verlassen wollte ploppte es laut, und eine ihr nun nicht mehr ganz so unbekannte grüne Umhängetasche hängte sich blitzschnell über ihre Schulter und drückte sich gegen ihren Körper. "Ich dachte, du wärest da, wo ich dich hingelegt habe glücklich", grummelte Camille, die schon fürchtete, dass Geneviève Lucines magische Wundertasche nun immer da sein wollte, wo sie war, am Ende noch im Schlafzimmer. Doch es half nichts. Die Tasche ließ sich nicht losmachen und fortlegen. Offenbar hielt sie sogar eine Art Gedankenverbindung zu ihr. Ja, sie konnte sogar apparieren oder wie das bei belebten Zaubergegenständen auch genannt werden sollte. Half also nichts. Sie musste die Tasche mitnehmen. Doch wenn sie sie nicht aufmachen konnte war sie für sie wertlos. Als sie das dachte klickte es, und die Umhängetasche sprang auf. Camille sah in eine rubinrote Tiefe, die schon eher ein Schacht sein mochte. Die gruselige Vorstellung, dass dieses Ding einen ganzen erwachsenen Menschen eingesaugt und unauffindbar gemacht hatte hielt Camille eine Sekunde davon ab, in die Tasche hineinzugreifen. Doch dann überkam sie das Gefühl der absoluten Sicherheit, dass ihr nichts böses geschehen würde. Sie tauchte ihre Hand in die grüne Tasche hinein. Das Innere fühlte sich warm an, als hauche jemand ihr rhythmisch seinen oder ihren warmen Atem auf die Hand. Dann fühlte sie etwas zwischen ihren Fingern und hielt es fest. Sie zog und förderte ein dickes Buch zu Tage: "Fünf exzellente Anwendungen von Alraunensaft von Geneviève Lucine Binoche", las Camille halblaut. Dann ließ sie das Buch wieder in der offenen Tasche verschwinden. Sie fischte noch einmal hinein und fühlte, wie sich handwarm etwas rundes, glasartiges in ihre Hand schmiegte. Sie griff zu und zog es frei. Als sie es ansah hielt sie eine fast handtellergroße Halbkugel aus einem mit rubinrotem Rauch gefülltem Kristall in der Hand. "Und was mach ich damit?" fragte Camille mit dem Mund über der offenen Tasche, als säßen dort irgendwelche Ohren. Da wusste sie ohne ein gedankliches Wort zu vernehmen, dass dies der erste Vorläufer des Einblickspiegels zur Untersuchung lebender Organe und ungeborener Kinder war. "Nett, aber ich bin Kräuterkundlerin, keine Heilerin und Hebamme", erwiderte Camille und versenkte die Halbkugel wieder. Sie versuchte, die Tasche zu schließen. Doch sie blieb sperrangelweit offen. Als Camille dann noch einmal hineinlangte fühlte sie etwas trockenes, nachgiebiges in der Hand. Sie zog es hervor und hielt ein Pergament in der Hand. Sie las:

An dich, die ich dich als meine würdige Erbin erkannt und erwählt habe:

Sei unbesorgt! Ich werde dich nur helfend begleiten, dir und den deinen nichts zu Leide tun. Doch wisse, dass wer meine Erbin ist, weil sie vier Töchter gebar, die mag auch mein vollständiges Vermächtnis erfüllen und dort Heil bringen, wo Heil benötigt wird. Wenn neues Leben in die Welt zu treten drängt, so werde ich dir beistehen und dir ohne Umweg der Worte künden, was zu wissen du benötigst. Trage mich ruhig mit dir. Sei unbekümmert, wenn du dich zur Ruhe legst. Ich werde dort ruhen, wo du mich zur Ruhe bettest. Doch bitte ich dich, dich nicht mehr als Rufweite von mir zu entfernen. Denn wir gehören jetzt zusammen. Ich werde dir immer geben, was du benötigst. Du musst nur alles, was du je benötigst in mich hineinlegen. Es wird sicher verwahrt, bis du es brauchst. Doch sei gewarnt: Lass nicht zu, dass neugier oder Zerstörungssucht versucht, mich zu ergründen oder zu zerstören. Ich werde jeden, der dies tut und meine Warnungen missachtet verschlingen und solange einbehalten, bis keiner sich mehr seiner oder ihrer erinnert und ihn oder sie erst dann wieder freigeben. Selbes mag auch dir widerfahren, wenn du es mit freiem Willen erlaubst, dass jene, die kein Heil geben wollen mich erhalten, in dem du mich ihnen übergibst. Meine Schwester war eine von Dunkelheit besessene Hexe, schlimmer als Sardonia und Anthelia zusammen. Ich habe daher Mittel und Wege gefunden, mich solcher wie sie war zu erwehren. Kehre nun wieder dorthin zurück, wo du dein Zuhause hast!

Geneviève Lucine Binoche geb. Bonfils

Kaum hatte Camille die Unterschrift gelesen, pflückte ein starker Sog ihr den Zettel aus der Hand. Er verschwand in der unergründlichen Tiefe der magischen Umhängetasche. Diese schnappte mit lautem metallischen Klick zu. "Toll, jetzt habe ich eine Fusion aus Hebamme und Handtasche am Hals", knurrte Camille und wandte das Lied des inneren Friedens an. Doch als sie versuchte, die ihr wörtlich zugeflogene Tasche in das Hexenzufluchtszimmer zurückzutragen, klammerte und drückte sich diese so fest, dass Camille schon fürchtete, die Tasche würde ihr Rippen und Schlüsselbein brechen.

"Dann soll es eben so sein", grummelte Camille und verließ die Villa. Sie saß auf ihrem Besen auf und flog über den Tannenwald hinweg weit genug, dass sie gefahrlos disapparieren konnte. Sie landete punktgenau vor der äußeren Begrenzung von Millemerveilles. Sie saß wieder auf dem Besen auf und flog nun nach Hause. Dort verstaute sie die neue Umhängetasche in ihrem Ausrüstungsschrank. Sie fragte sich, was Hera Matine dazu sagen würde, wenn Sie, Camille, von einer harmlos aussehenden grünen Umhängetasche dazu genötigt wurde, ihr Konkurrenz zu machen? Sie hielt den Text auf dem Zettel nicht für eine Anregung, sondern für eine verbindliche Festlegung, eine Bedingung, unter der sie das Erbe ihrer Urururgroßmutter benutzen durfte.

Wieder zu Hause erfuhr sie, dass Julius seine Gästeliste nun vollständig hatte. So wollte sie ihm am Vormittag des 20. Juli bei der Gartendekoration helfen.

"Also, ich war mit den fünfen auch noch mal bei Millie und Julius", sagte Jeanne, als sie Chloé und Philemon auf ihrem fliegenden Teppich heimgeflogen hatte. "Die beiden Goldmädchen können im September zu uns. Goldschweif hat sie wohl gut entwöhnt, und sie fangen jetzt auch an, kleine Nagetiere zu jagen. Den Copernicus möchte Tante Uranie haben, hat Philemon gesagt. Woher er das hat weiß ich nicht. Frag sie bitte, bevor da was verkehrt ausgehandelt wird!"

"Die heißen doch alle nach irgendwelchen Sternenguckern", grinste Camille mit dem Gedanken an die fünf Söhne der Kniesel Queue Dorée und Stardust.

"Klär das bitte, ob das bei euch geht. Brunos Cusine Charline hat schon bei den Latierres angefragt, ob sie auch ein Männchen des ersten Wurfes bekommen kann."

"Ich frage deine Tante. So, und ihr zwei da geht bitte rein, wascht euch gründlich und geht an den Tisch! Gleich gibt's Abendessen!" rief Camille ihren jüngsten Hausbewohnern zu. Diese trollten sich. Camille spielte mit dem Gedanken daran, Jeanne von ihrem Ausflug zu erzählen. Doch sie ließ es dann doch bleiben. Denn erst wollte sie mit Julius in die Villa zurückkehren. Hoffentlich bekam der nicht auch noch was angehängt, was ihm überall hin verfolgte!

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Bald gehört er ganz mir. Dann wird er meine Augen, meine Hände und mein Mund in der Welt der Körperlichen sein", frohlockte Iaxathan, der in seinem eigenen mächtigen Spiegel gefangene Geist des letzten großen Königs der dunklen Künste von Altaxarroi vor dem Untergang. Ein gehässiges Kichern antwortete auf seinen geistigen Triumphruf.

"Wenn ich weiß, wer es ist, wecke ich eine meiner auf der Erde herumlaufenden Mitschwestern der Nacht und lasse sie ihn leersaugen. Du willst ein Reich der Finsternis? Ich auch, aber nur, weil dort Kinder der Nacht herrschen werden und nicht irgendwelche Marionetten eines frauenhassenden Möchtegerndämons."

"Ich finde heraus, wie ich dich aus dem mächtigen Stein wieder herausquetschen kann, den ich geschaffen habe, um dich und deine Art zu lenken. Denn ich habe euch erschaffen. Mir habt ihr zu dienen", schimpfte Iaxathan. Dass Lamia mit allen in sie eingeflossenen Seelen entleibter Vampire seinen Mitternachtsdiamanten übernommen hatte war die größte Niederlage, noch vor der Vernichtung von Skyllians Zepter. Das war klar, dass es Unglück bringen musste, wenn ein ehemaliges Hexenweib den mächtigen Stein ausgerechnet dort hin stopfte, wo sie sonst ihre Jungen ausbrütete. Da musste der Stein doch verderben. Doch er, Iaxathan, hatte ihn geschaffen. Er würde ihn auch wieder vernichten. Wenn erst sein treuer Knecht in seinen Dienst antrat, so würde die ganze Welt aus den Angeln springen und dorthin eilen, wo sie schon längst wieder hingehörte. Aus dem dunklen stammte alles ab. Dort musste es auch wieder hin.

"Plärr nicht so rum, du eifersüchtiger Kerl. Du hättest doch ruhig in dieser unersättlichen Spinnenschlampe vergehen können, dann hättest du keine Sorgen mehr und wärest schon längst in deiner geliebten alles endenden Dunkelheit", feixte die gedankliche Stimme von Lamia, die sich in ihrer neuen Rolle nun Gooriaimiria, die große Nachtmutter, nannte.

"Die wird auch noch erleben, was es heißt, mich derartig zu beleidigen", gedankenknurrte iaxathan. Dann schwiegen beide wieder. Zeit war für beide, die keinen lebenden Körper mehr besaßen, völlig bedeutungslos. Iaxathans Vorbereitungen liefen. Der auserwählte war bereits unterwegs. Diesmal würde er jedoch nicht auf der größeren von zwei Inseln auftreten wie jener, den sie dort Voldemort genannt hatten. Doch die ganze Welt würde von ihm hören und unter ihm leiden und sich wünschen, alles zu beenden.

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Jetzt war es schon ein ganzes Jahr her, dass seine Frau und er viele Leute aus Millemerveilles und anderswo eingeladen hatten, die Ankunft seiner und Millies Tochter Aurore zu feiern. Wo war die Zeit nur geblieben? Wenn Julius seine kleine Tochter ansah, wie sie bereits erste Silben nachbrabbelnd durch das Haus krabbelte und sich auch immer wieder an Stühlen und Tischbeinen festhaltend die ersten Schritte ihres hoffentlich sehr langen Lebens tat, wusste er wirklich nicht, wo die Zeit abgeblieben war. Er war jedoch froh, dass die kleine Aurore Béatrice hier in Millemerveilles aufwachsen durfte und dass sie hier sehr sicher war. Wenn er daran dachte, dass sie von einer gefährlichen Kreatur in Menschengestalt bedroht worden war und dass er fast sein eigenes Leben verloren hätte, war er dreifach froh, dass er das miterleben durfte, wie das kleine Wunder mit dem rotblonden Wuschelkopf sein Leben erkundete. Immer wieder krabbelte und tapste Aurore ins Freie in den Garten hinein. Vor allem die dort herumlaufenden jungen Kniesel faszinierten sie. Julius sah Goldschweif, die sehr genau aufpasste, was seine Tochter mit ihren Kindern vorhatte. "Nur streicheln, Aurore!" rief Julius, als das kleine Mädchen auf Gallileo, einen von Goldschweifs jüngsten Söhnen, zukrabbelte. Die Kleine war sehr flink unterwegs, wenn sie was sah, was sie unbedingt genauer begutachten wollte. Der kleine Kniesel sah das auf ihn zukommende Menschenmädchen und hielt sich bereit, entweder schnell wegzuspringen oder anzugreifen. Julius lief zu seiner Tochter und den kleinen Kniesel mit dem mondlichtfarbenen Fell hin. Der für erwachsene Menschen winzig wirkende Knieselkater sah ihn mit seinen grünen Augen aufmerksam an. Über ihnen hockte Goldschweif auf einem dünnen, sie wohl gerade noch aushaltenden Kirschbaumast. "Ganz langsam. Nicht zu schnell. Sonst kriegt er Angst und kratzt oder beißt", sagte Julius leise und eindringlich zu seiner Tochter, die Anstalten machte, den kleinen Kniesel mit der rechten Hand zu berührren. Gallileo erbebte kurz. Doch dann saß er still da. Aurore streckte ihre kleine rosige Hand aus und legte sie langsam auf den mit dunkelgrauen Tupfen gesprenkelten Rücken des Jungkniesels. "Feieiei..." klang es aus Aurores kleinem Mund, als sie das glatte, samtweiche Fell unter den Fingern hatte. Zumindest versuchte sie nicht noch einmal, irgendwas von ihm in den Mund zu stecken. Die vielen Haare, die sie beim Versuch, Aurigena auf die Stirn zu küssen ausgespuckt und ausgehustet hatte waren ihr wohl sehr nachhaltig in Erinnerung geblieben. Vorsichtig streichelte sie Gallileo, der sich zusehens entspannte und ihr sogar den Kopf hinhielt, damit sie ihm darüberstreichen konnte. Goldschweif zog sich einige Zentimeter weiter auf ihrem Ast zurück und beobachtete das wiederholte Zusammentreffen zwischen Julius' Kind und einem ihrer eigenen Kinder. Julius hörte Aurore leise Laute der Begeisterung ausstoßen. Gallileo begann zu schnurren.

"Julius, Camille will wissen, ob das mit morgen früh geklappt hat!" rief Millie durch ein offenes Fenster aus der Wohnküche im dritten Stock des gemeinsamen Hauses, das wie ein zwölf meter großer, orangefarbener Apfel mit grünem Stiel aussah.

"Meine Vorgesetzte hat mir den Morgen freigegeben, um ein paar von den zwanzig Überstunden abzufeiern, die ich in den letzten zwei Monaten eingesammelt habe!" rief Julius zurück. Aurore erschrak, weil er plötzlich so laut war. Dann sah sie ihre Maman durch das Fenster gucken und winkte mit dem Arm, mit dem sie gerade noch Gallileo gestreichelt hatte. Dem kleinen Kater gefiel das wohl nicht, dass sie ihn nicht weiterstreichelte und maunzte quängelig. Millie bestätigte dann, dass sie es Camille weitergeben würde. Julius fragte sich, warum Camille ihn nicht direkt anmentiloquiert hatte. Seitdem er durch das Unglück, bei dem er seine erste Verlobte Claire verloren hatte, ein Sohn Ashtarias geworden war, konnte er mit ihr besonders gut gedankensprechen. Vielleicht ging es ihr aber auch darum, dass Millie in die Planung für morgen einbezogen wurde.

Die beiden goldfelligen Schwestern Gallileos huschten herbei, als sie sahen, dass ihr Bruder sich gerade Streicheleinheiten abholte. Die beiden waren die quirligsten und sich am schnellsten entwickelnden aus dem Wurf von gleich sieben jungen Knieseln, den Goldschweif von Dusty bekommen hatte. Sie konnten schon jagen, mal einzeln, mal im Zweiergespann, wobei die eine die Löcher von Feldmäusen ausgrub und die kleinen Nager in Panik durch angelegte Fluchtlöcher ins Freie huschten, wo aber schon die zweite Schwester lauerte, um die Fliehenden zu erlegen. Sie turnten schon durch die Bäume und scheuchten Vögel auf. Dass sie dabei junge Vögel aus den Nestern holten fand er zwar nicht so toll. Aber er musste akzeptieren, dass es die Natur dieser Tierwesen war und genauso zu ihrem erfüllten Leben gehörte, wie ein leckeres Hühnercurry und Steaks für ihn zu einem erfüllten Speiseplan gehörten. Allerdings würden die beiden arge Probleme bekommen, wenn ihre künftige Mitbewohnerin Mademoiselle Rubinia doch mal eine Madame Rubinia sein und eigene Junge aufziehen wollte. Eurasische Feuerraben waren noch intelligenter als ihre Vorfahren, die reinrassigen Kolkraben. Das wollte schon was heißen. Außerdem konnten sie ähnlich wie Drachen Feuer und Funken versprühen, wenn auch nicht so schlagartig zerstörerisch, wie es die Drachen konnten. Da sollten die beiden goldenen Schwestern besser das Nestrauben aufgeben.

"Gegenaa!" brabbelte Aurore, als eine der zwei Goldfellknieselschwestern sich handgerecht vor Aurore ausstreckte, um auch gestreichelt zu werden. Ihre Pfoten waren mit Blutstropfen gesprenkelt, und zwischen den Krallen lugten winzige Daunenfedern hervor. Offenbar hatte sie sich vor wenigen Minuten ihr Mittagsgeflügel gekrallt, dachte Julius. Dann erkannte er die etwas breiteren Ohren, die sich behutsam bewegten, um die Umgebungsgeräusche einzuordnen. "Das ist Chrysie, Aurore. Aurigena ist die andere", sagte Julius und deutete auf die zweite goldfellige Knieselin, die sich nun neben ihre Wurfschwester hinlegte, um in Reichweite der streichelnden Kinderhände zu kommen. Aurigena hatte etwas schmalere Ohren als ihre Schwester. Auch war ihr Schwanz mindestens zwei Zentimeter länger als der Chrysaoras. Beide streckten ihre nicht mehr so kurzen und dicken Beine aus und warteten auf Streicheleinheiten. Gallileo quängelte wieder, weil Aurore nun das Fell von Chrysaora liebkoste und ihn dafür ausließ. Julius streichelte den kleinen Kater dafür. "Die sind alle drei müde vom Jagen", hörte er eine mittelhohe Frauenstimme über sich. Das war Goldschweif. Seitdem er den Trank der Bindung mit ihr zusammen eingenommen hatte konnte er ihre mit Geräuschen geäußerten Gedanken wie gesprochene Worte wahrnehmen. Vielleicht sollte er sie beim nächsten Wurf fragen, ob sie ihm auch etwas von ihrer Milch ließ, um über den Pokal der Verbundenheit nicht nur sie, sondern auch ihre Blutsverwandten verstehen zu können. Doch im Moment erschien ihm das nicht so wichtig.

"Lauernde Weibchen auf fliegendem Ast!" zischte Goldschweif unvermittelt. "Alle zu mir!" stieß sie dann noch aus. Die drei gerade gestreichelten Knieselkinder hoben ihre runden Köpfe und richteten ihre Ohren in Horchstellung. "Alle zu mir hin!" fauchte Goldschweif. Dann plumpste sie vom Baum herunter und rannte auf ihre Kinder zu. Aurore stieß einen leisen Schreckenslaut aus, weil die drei Kleinen von ihrer Mutter angesprungen wurden. Julius nahm seine Tochter schnell in die Arme. Ihm war egal, dass er dabei Gartenerde und Grasflecken von ihrem Spielanzug auf seinen Freizeitumhang bekam. Wen meinte Goldschweif mit den lauernden Weibchen auf fliegendem Ast?

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Sie hatten es eigentlich schon längst tun wollen, nach Millemerveilles zu reisen, um sich dort umzusehen, ja und um die alte Überlieferung zu prüfen, ob eine Hexe, die mehr Kinder geboren hatte als sie Menschen mit eigener Kraft getötet hatte oder durch Fluch oder Segenszauber zu einem zweiten Leben gelangte Zauberer in das Magierdorf in Südfrankreich eingelassen wurden, obwohl eine Glocke aus zum Teil finsterer Zauberkraft jeden dunklen Magier und jede bösartige Hexe verdrängte. Heute war es mal Zeit, dachten Peggy und Larissa Swann. Peggy dachte daran, dass sie bisher im Leben keinen Menschen umbringen musste und auch nicht tätig mitgeholfen hatte, Menschen zu töten. Dennoch hätte sie Sardonias Abwehrglocke sicherlich abgewiesen, weil sie mitgeholfen hatte, eine Vorherrschaft der Hexen auf Erden mit nicht wirklich zulässigen Mitteln durchzusetzen. Doch seitdem sie Larissa bekommen hatte und dem Weg der rigorosen Machtergreifung abgeschworen hatte, hoffte sie darauf, dass dies ihr helfen würde, nach Millemerveilles hineinzukommen. Larissa setzte einfach darauf, dass sie ihr erstes Leben ja hatte aufgeben müssen und jetzt als neuer Mensch heranwuchs, auch wenn sie alles früher erlebte noch im Gedächtnis behalten hatte.

Das Luftschiff schaukelte wenige Meter über dem Boden. Über eine Strickleiter kletterte Peggy nach oben. Larissa war zusammen mit Peggys großem Reiserucksack auf dem Rücken ihrer Mutter festgebunden. Zwar hatte Larissa gebeten, selbst die Strickleiter hinaufturnen zu dürfen. Doch ihre Mutter war da unerbittlich gewesen. Da Larissa die Rolle der Vierjärigen durchhalten musste, beließ sie es nur bei einem verärgerten Quängeln und Brummeln. Dann waren die beiden im Luftschiff. Sie reisten zusammen mit Monsieur Pierre, dem für Sicherheitsfragen zuständigen Dorfratsmitglied aus Millemerveilles. Er wirkte nicht gerade begeistert. Peggy wagte nicht zu fragen, ob es an ihr und Larissa lag oder an etwas anderem. Sie wollte keinen schlafenden Drachen kitzeln.

Die überschallschnelle Überfahrt war für Larissa ein einziges Abenteuer. Allein der Sonne entgegenzurasen und damit einen halben Tag in einer Stunde zu durchleben war schon faszinierend. Auch der Überflug über den Atlantik und das Betrachten der weit weit unter ihnen dahintreibenden Wolken gefiel Larissa. Sie deutete immer wieder auf winzige Punkte auf der das Sonnenlicht hellblau widerspiegelnden Wasseroberfläche. Peggy nahm ihren kleinen Feldstecher hervor und besah sich, was Larissa so begeisterte. Da durchpflügten Riesentankschiffe das Meer, gewaltige Frachter, auf deren Deck es viele lange Metallkisten gab und sogar ein dreimastiges Segelschiff mit weißen Segeln. Als sie die Kanaren überflogen konnte Larissa mit Moms Fernglas auch den Teide, den höchsten Berg der Inselgruppe und wegen der Staatszugehörigkeit auch höchsten Berg Spaniens sehen. "Kann mich noch gut erinnern, wie ich mit Almalinda Granmonte Mondego auf den Berg raufgekrackselt bin", schickte Larissa ihrer zweiten Mutter eine Gedankenbotschaft.

"Tja, die würde sich sehr wundern, wenn sie dich heute sehen würde", mentiloquierte Peggy zur Antwort. Dann war das magische Überseeluftschiff auch schon über die Kanaren hinweg und steuerte das europäische Festland an.

"Wen genau wollen Sie in Millemerveilles besuchen", sprach Monsieur Pierre die beiden Mitreisenden im britischen Englisch an. Peggy Swann hörte den gewissen Argwohn aus der Stimme des Zauberers heraus und lächelte ihn freundlich an. "Nun, ich gedenke sowohl Monsieur Dusoleil in meiner Eigenschaft als Zauberkunsthandwerkerin aufzusuchen als auch den Tierpark von Millemerveilles aufzusuchen. Mich interessieren die europäischen Zaubertiere, auch wenn ich gelesen habe, dass in ihrem Tierpark ein Blitzerfisch in einem viel zu kleinen Aquarium gehalten wird."

"Ach, auch so eine", grummelte Pierre auf Französisch. Larissa sah ihn mit ihren großen Kinderaugen an. Peggy tat so, als habe sie ihn nicht verstanden, obwohl sie fließend Französisch sprechen konnte. Dass sie auch an den Farbensee zu einem gewissen Julius Latierre wollte verriet sie Pierre jedoch nicht.

Als das Luftschiff zur Landung ansetzte fühlte Peggy einen Wärmeschauer. Es war, als glitten Dutzende von Händen über ihren Körper, umschlössen ihren Kopf und hielten sie einen Augenblick fest. Sie fühlte, wie etwas in ihren Unterleib hineinglitt und dort zu einem kurzen, schmerzhaften Schauer wurde. Dann ergoss sich ein kurzer Wärme- und Kälteschauer von innen in ihren ganzen Körper. Peggy musste schon sehr aufpassen, sich die körperlichen Auswirkungen dessen nicht anmerken zu lassen, was ihr gerade passierte. Larissa hatte da offenbar mehr Selbstbeherrschung oder empfand nichts wirklich unangenehmes.

Larissa fühlte beim Anflug auf Millemerveilles, wie mehrere unsichtbare Hände über ihren Körper strichen. Dann meinte sie, von einer warmen Decke eingehüllt und fest umschlungen zu werden, bis diese Empfindung schlagartig verschwand. In diesen Momenten sank das Luftschiff durch die unsichtbare Glocke aus Zauberkraft. Unter ihnen erschien die weitläufige Ansiedlung, in der nur Hexen und Zauberer leben konnten, weil eine Abwehrmaßnahme Sardonias den Ort für Muggel nahezu unbewohnbar machte. nur wer täglich einen bestimmten Trank einnahm konnte auch ohne eigene Magie in dieser Ansiedlung leben.

"Madame und Monsieur, wir sind soeben in Millemerveilles gelandet", klang die Stimme des ersten Piloten des Luftschiffes wie aus leerer Luft durch die Passagierräume. Larissa quängelte nicht mehr, als Peggy sie wieder auflud und mit zwei gepolsterten Gurten um ihren Rucksack und Rücken schnallte. Sie atmete sichtlich auf, dass es wirklich geklappt hatte, Millemerveilles zu betreten. Kein Panikanfall, keine wie auch immer gegen sie wirkende Abwehr peinigte sie. Auch Larissa war offenkundig von den Abwehrzaubern dieses Ortes akzeptiert worden, weil sie ihr vergangenes Leben aufgegeben hatte, um Peggys jungfräuliches Kind zu werden.

Die Einreiseformalitäten waren für Peggy eine lästige, aber am Ende doch schnell abgehandelte Angelegenheit. Sie erwähnte, dass sie bis morgen Früh hierbleiben würde und im Gasthaus Chapeau du Magicien übernachten würde. Mit dem Nachmittagsluftschiff würde sie dann wieder nach Viento del Sol zurückkehren. Monsieur Pierre beobachtete, wie die alleinerziehende Mutter mit ihrer Tochter auf einem aus dem Rucksack gezogenen Familienbesen aus der Besenwerkstatt Bronco davonflog. Er ärgerte sich ein wenig, keinen eigenen Besen mitgenommen zu haben. Andererseits war allein der Umstand, dass das Mutter-Tochter-Gespann unbehelligt in Millemerveilles herumfliegen konnte, eigentlich eine beruhigende Erkenntnis. Doch irggendwie missfiel es ihm, wie sorglos und selbstsicher diese Hexe damit umging, unverheiratet ein Kind bekommen zu haben und es ohne dessen Vater großzuziehen. Doch war das ein Grund, ihr zu misstrauen? Er beschloss, zu seiner Frau heimzuapparieren, die wohl schon darauf hoffte, gegen Ursuline Latierre im kommenden Schachturnier zu siegen. Seitdem diese Übermutter und Schachmeisterin zum ersten Mal bei dem Turnier mitgespielt hatte, hatte die einen goldenen Zaubererhut nach dem anderen abgeräumt. Es schien, als sei ihr niemand wirklich gewachsen, selbst der hochbegabte Julius Latierre und seine jetzt in den Staaten lebende Mutter nicht.

Peggy Swann machte erst einmal das, was alle mit eigenen Besen angereisten Besucher in Millemerveilles machten. Sie flog erst einmal kreuz und quer über das Magierdorf hinweg, um sich anzusehen, was es hier so alles gab. Dort, wo es sich lohnte, genauer und mit mehr Ruhe nachzuforschen, landete sie. So betrachtete sie den Teich in der genauen Dorfmitte, um den zwölf Bronzenachbildungen magischer Wesen standen, die sowohl Richtungsweiser wie Zeitanzeiger sein mochten. Vor allem der mit seinem Maul nach Süden weisende Drache imponierte den beiden Hexen. Auch das mit seinem Horn nach Westen zeigende Einhorn gefiel vor allem Larissa. Sie machte sogar Anstalten, es zu besteigen, als sei es ein lebendes Pony. "Neh, Larissa, das lass besser mal!" lachte Peggy. "Nachher sind die Figuren alle bezaubert, dass sie jeden abwerfen, der meint, auf ihnen reiten zu wollen." fügte sie noch hinzu. Doch Larissa wollte es offenbar selbst herausfinden und kletterte über das linke Hinterbein nach oben auf die Kruppe des bronzenen Einhorns. Von dort aus schob sie sich auf die Mitte des Rückens. Natürlich waren ihre Beine noch zu kurz, um den Bauch des Einhorns umschließen zu können. Doch sie thronte auf dem Einhorn wie eine Prinzessin auf ihrem Lieblingspferd. Peggy erkannte, dass die hier aufgebauten Zaubertiere keine abwehrenden Zauber enthielten. Sie kramte ihre Kamera aus dem Rucksack hervor und machte gleich vier Fotos von ihrer auf dem Einhorn thronenden Tochter. Aus der Schenke, die ebenfalls am Zentralteich stand, kam ein Zauberer in fleckiger Schürze heraus. Erst dachte Peggy, der Zauberer würde sie und Larissa gleich ausschimpfen. Doch er lachte. "Wie meine Tochter", lachte der Zauberer. "Die musste auch andauernd auf das Einhorn raufklettern, seitdem sie fünf war." Peggy musste erst ein leises Grinsen verbergen, weil der provencale Dialekt des Zauberers für ihr auf Pariser Französisch geprägtes Sprachengedächtnis komisch klang. Doch dann erwiderte sie ohne Anflug von Akzent: "Meine kleine Tochter ist vier Jahre alt, Monsieur. Öhm, sind Sie Monsieur Renard, der Inhaber und Betreiber dieses Gasthauses?" Der Zauberer nickte bestätigend und verneigte sich. Denn die Frage der ihm noch Fremden deutete unmissverständlich darauf hin, dass sie in seiner Herberge übernachten wollte. "Das trifft sich gut. Denn ich möchte gerne für eine Nacht hierbleiben, falls Sie ein Zimmer freihaben."

"Das ist kein Problem, Madame ... öhm, wie heißen Sie bitte?"

"Peggy Swann aus Viento del Sol, Kalifornien. Die kleine Einhornreiterin da ist meine Tochter Larissa."

"Angenehm", erwiderte der Wirt des Chapeau du Magicien berufsmäßig lächelnd. Dann fragte er, ob Peggy die für eine Übernachtung nötigen Formalitäten jetzt schon erledigen wollte. Es gebe noch vier freie Zimmer und ob sie mit einem Einzelbettzimmer mit hineingestellter Schlafcouch auskäme. Peggy nickte und fragte, ob sie Larissa vom Einhorn herunterrufen müsse. Monsieur Renard räumte ein, dass dies wohl besser sei, da andere Bewohner von Millemerveilles es nicht so gerne sahen, wenn jemand auf den Bronzefiguren herumkletterte und hockte, auch wenn bei einem Kind immer ein Auge zugedrückt wurde. So pflückte Peggy Larissa von ihrem einfachgehörnten Bronzeross herunter und stellte sie auf ihre zwei Füße. Larissa grummelte. Doch Peggy blieb unerbittlich.

Nachdem sie ein kleines aber gemütliches Dachzimmer bezogen und sich ordentlich im Gästebuch eingetragen hatten, ging es auf dem Besen weiter durch das Dorf, über den magischen Tierpark und die Freilandbeete und Gewächshäuser der grünen Gasse hinweg bis zum See der Farben, der deshalb so hieß, weil er eine bunte Unterwasserpflanzenwelt bot. Peggy spielte mit dem Gedanken, sich ein wenig Dianthuskraut zu beschaffen und im See zu tauchen. Larissa dachte wohl auch daran. Denn sie mentiloquierte ihrer zweiten Mutter: "Wenn du mir mal für eine halbe Minute den Zauberstab in die Hand geben würdest könnten wir zwei mit Kopfblasenzauber mal zu den Wasserleuten da unten hintauchen."

"Netter Versuch, Larissa", schickte Peggy zurück. "Aber du kriegst erst einen Zauberstab in die Hand, wenn du deinen eigenen haben darfst, vorher nicht."

"Denk an diese Worte, wenn mal was ist, wo ich mit meinen Zauberkenntnissen mehr ausrichten kann als du", gedankenschnarrte Larissa.

"Die Absprache gilt, Larissa. Du bist die Tochter, ich die Mutter. Also gib das Nölen dran!" gedankenmaßregelte Peggy die körperlich gerade erst wieder vier Jahre alte Hexe hinter sich.

"Ob der Junge dein Geschenk annimmt?" wechselte Larissa das Thema. Peggy erwiderte nur für ihre Tochter wahrnehmbar: "Ich werde ihm nicht auf die Nase binden, dass wir von den Sorores silenciosae beschlossen haben, ihm zu helfen, nachdem klar wurde, dass er sich mit diesen Abgrundstöchtern und anderen Dunkelwesen dauerhaft verfeindet hat. Ich werde ihm auch nicht auf die Nase binden, dass Lady Roberta uns beauftragt hat, ihn dort heimlich zu unterstützen und zu überwachen, wo er in unserer Reichweite ist. Soweit ich weiß haben die französischen Mitschwestern das ja auch beschlossen. Aber das soll dann Lady Roberta mit der hiesigen Sprecherin abstimmen."

"Da bin ich ja mal gespannt", erwiderte Larissa auf rein geistigem Weg. Auch wenn sie gerade mehr als hundert Meter über Grund flogen und mitten über dem Farbensee dahinglitten waren sie beide auf der Hut vor heimlichen Mithörern. Das lag wohl auch daran, dass sie es von ihrer Heimat aus so kannten, vor den magischen Ohren der Reporterhexe Linda Knowles auf der Hut zu sein.

"Das Haus soll nicht weit vom Seeufer entfernt sein. Ich fliege mal weiter und weiter ausgreifende Kreisbahnen", legte Peggy fest, nachdem sie einmal quer über den See geflogen waren. Auf diese Weise fanden die beiden tatsächlich ein in einer künstlichen Waldlichtung angelegtes Grundstück mit großem Garten, dessen Zentrum ein orangerotes, apfelförmiges Bauwerk war. Peggy wusste, dass sie ihre Angelegenheit mit den Bewohnern dieses runden Gebäudes noch an diesem Nachmittag regeln sollte, bevor Julius seinen neunzehnten Geburtstag mit vielen geladenen Gästen feiern würde. Ihr lag nicht daran, auf Hera Matine oder gar Blanche Faucon zu treffen. Mochte es sein, dass die beiden wussten, dass sie und Larissa in Millemerveilles waren. Doch es darauf anzulegen, der einen oder der anderen zu begegnen, sah Peggy nicht ein. Larissa war da fein raus. Sie konnte die Rolle des unschuldigen Hexenmädchens spielen.

Als die beiden auf ihrem Besen auf das runde Grundstück mit dem Apfelhaus im Zentrum zusegelten hörte Peggy mehrmals ein weitreichendes Miauen wie von einer hungrigen oder wütenden Katze. Dass Julius Sternenstaub bei sich wohnen hatte war ja schon in ganz VDS herum. Auch dass er der Vertraute der Knieselin Queue Dorée XXVI. war wussten Peggy und Larissa längst. Von der Tonlage des fordernden Miauens her war es wohl die Knieselin, die sie auch gerne als Mrs. Stardust ansprechen mochten. Sicher hatte der für seine Fruchtbarkeit berühmt-berüchtigte Knieselkater schon seine erste Ladung neuer Kniesel mit ihr aufgelegt.

"Schönes Haus. Oh, noch ein kleiner Fliegenpilz?" gedankenfragte Larissa und wies auf das kleinere Gebäude am Rand des kreisrunden Grundstückes hin, das wie ein überdimensionierter Fliegenpilz aussah.

"Wird wohl ein Geräteschuppen sein, damit nicht alles Werkzeug im Haus herumliegen muss, wie bei uns auch", gedankenantwortete Peggy. Dann landete sie am Rande des Grundstückes. In dem Moment ertönte gerade ein ihr vertrautes Glockenspiel. Dann erkannte sie die gerade zwei Meter hohe Miniatur des berühmten Uhrenturms von Viento del Sol. Es war gerade vier Uhr nachmittags.

Peggy sah zuerst fünf huschende Schemen, die in einem runden Bau wie ein Baumstumpf verschwanden. Dann sah sie den Hauseigentümer, wie er gerade aufstand, dabei seine kleine Tochter in den Armen haltend. Julius Latierre sah die gerade am Rande seines Grundstückes gelandeten Hexen an. Peggy konnte nicht genau sagen, ob er mit ihrem Besuch einverstanden war oder nicht. Denn er beherrschte seine Gesichtszüge sehr gut. Offenbar schien er jedoch zuerst zu überlegen, womit er diese Ehre verdient hatte. Dann winkte er den beiden zu. "Wollten Sie zu mir, Ms. Swann?" fragte er in seiner Muttersprache. Peggy Swann nickte und rief zurück, dass sie ihn nur kurz besuchen wolle, weil sie gehört habe, dass sein Haus ja auch so exotisch war wie ihr Haus. Julius nickte und winkte den beiden, näherzukommen.

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Millie stand in der Küche und kochte Nachmittagskaffee. Außerdem hatte sie den hölzernen Badezuber mit warmem Wasser aufgefüllt. Denn wenn Aurore im Garten herumkrabbelte ging das nie ohne Erde in Gesicht und Haaren aus. Immerhin war Aurores Spielanzug gegen Schmutz und Spucke sicher. Als Sie jetzt aber fühlte, wie angespannt ihr Mann Julius war, ließ sie den Kaffeekessel für einige Augenblicke unbeaufsichtigt und blickte durch das offene Küchenfenster hinaus. Dann erkannte sie, dass eine rotblonde Frau mit einem kleinen Mädchen angekommen war. Sie dachte erst an eine ihrer Verwandten. Doch die wären sicher durch den Verbindungsschrank in der Bibliothek oder den Kamin herübergekommen und nicht auf einem Besen geflogen. Dann erkannte sie aber, wer da gekommen war und warum ihr Mann sich so angespannt fühlte. Sie blickte schnell auf den kochenden Kessel. Ja, jetzt konnte sie das Wasser umfüllen. Sie schüttete das siedende Wasser vorsichtig durch den Filteraufsatz auf der gleichwarm bezauberten Kanne und verfolgte, wie das Wasser durch den gemahlenen Kaffee hindurch in der Kanne verschwand. Erst als sie den Kessel restlos umgefüllt hatte, konnte sie sich um das was draußen ablief kümmern. Sie stieg die Wendeltreppe in der Senkrechtachse des Apfelhauses hinunter. Gerne wäre sie vor die Tür appariert. Doch ihre Tante und Hausheilerin Béatrice hatte es ihr verboten, in dieser Phase ihrer zweiten Schwangerschaft zu häufig zu apparieren. Nur wenn die Entfernung größer als einen Kilometer war oder es mit dem Besen zu lange dauern würde, durfte sie einmal hin- und wieder zurückapparieren. Doch sie wollte unbedingt wissen, was dieses verlogene Hexenweib mit ihrer vaterlosen Tochter von ihrem Mann und womöglich auch von ihr wollte.

Millie prüfte, ob sie ihren goldenen Haustürschlüssel dabeihatte. Dann verließ sie das Apfelhaus und ging in ihrer Küchenschürze hinüber zu Julius, der gerade mit Peggy Swann sprach.

"... und dann sind Sie mit dem Luftschiff hergekommen, nur um mal zu sehen, was hier in Millemerveilles so alles steht?" hörte sie Julius gerade fragen. Es klang lässig. Doch Millie fühlte über den mit ihm geteilten Herzanhänger, dass er auf der Hut war. Sicher, die beiden waren hier in Millemerveilles. Normalerweise konnte niemand, der bereits bewusst und nicht, um jemandem etwas beizubringen böses getan hatte, länger als eine Minute unter Sardonias Zauberglocke aushalten. Aber was war in der Zaubererwelt schon normal?

"Ich wollte mir ansehen, was an den Tiraden deiner angeheirateten Cousine Brittany Brocklehurst dran ist", erwiderte Peggy Swann grinsend. Dann deutete sie auf den kleinen Uhrenturm und freute sich, dass er die berühmten Glockenschläge ihres Heimatortes auch hier hören konnte. Dann sah Larissa Mildrid Latierre. Ihre Küchenschürze verhüllte sie gut genug. Im Moment war ihr auch so noch nicht anzusehen, dass sie im Februar das zweite Kind erwartete.

"Na hallo", tat Millie höchst erfreut, das kleine Mädchen zu sehen. "Seid deine Mom und du schön mit dem ganz schnellen Luftschiff zu uns geflogen?" fragte sie noch. Larissa strahlte sie an und nickte wild. "Ganz schnell geflogen, ganz hoch!" erwiderte die äußerlich gerade vier Jahre alte Hexe begeistert. Millie rang sich ein freundliches Schmunzeln ab. Sie dachte jene wiederkehrenden Worte, die Julius ihr beigebracht hatte, um ihre Selbstbeherrschung zu bewahren. Denn offiziell durfte sie nicht zeigen, was sie von Larissa und ihrer Mutter hielt, wenngleich sie wussste, dass Larissa wusste, dass Julius seiner Frau von ihrer wahren Natur erzählt hatte. Doch Peggy wusste das wohl nicht und sollte das auch nicht vermuten.

"Wie lange möchten Sie mit ihrer Tochter in Millemerveilles bleiben?" machte Julius weiter Konversation. Peggy erzählte, dass sie nur diesen einen Tag bleiben wolle und morgen Nachmittag schon wieder abreisen wolle. Millie nickte. Julius fragte dann, ob er Peggy und Larissa das Haus zeigen durfte. Millie hätte fast gesagt, dass sie das nicht wollte. Doch andererseits würde sie damit nur dumme Nachfragen herausfordern. Außerdem war es unhöflich, jemanden vor der Tür stehen zu lassen, der einen schon selbst einmal ins Haus eingeladen hatte. So führten Millie und Julius Peggy und Larissa ins Apfelhaus. Von Goldschweif und ihren Kindern war nichts zu sehen.

Peggy lobte die innere Architektur und die Komforteinrichtungen. Millie war froh, dass Julius die beiden nicht ins Elternschlafzimmer führte, sondern nur in die auch für andere Gäste zulässigen Räume und den Wintergarten, wo Peggy natürlich sofort die astronomische Ausrüstung auffiel, die Julius hier aufgebaut hatte. Vor allem die große Glaskugel, in der die Sterne der Galaxis frei schwebend leuchteten imponierte Mutter und Tochter Swann. Irgendwie, so erschien es Millie, hatte Peggy auf genau diese Gelegenheit gewartet. Denn sie sagte: "Ich bin sehr froh, dass du deine Begeisterung für das uns umgebende Universum noch weiterpflegst. Dann habe ich doch nicht das falsche Geschenk gekauft." Mit diesen Worten zog sie aus ihrem Rucksack ein kleines Paket hervor. Julius streckte seine Hand aus und nahm es entgegen. "Es ist für euch drei und jeden, der oder die noch bei euch dazukommt", sagte Peggy Swann. Julius wiegte das Paket in den Händen und schien auf etwas zu lauschen. Dann fragte er, ob er es erst morgen öffnen sollte oder heute schon. "Das bleibt dir überlassen", sagte Peggy Swann wohlwollend lächelnd, während Larissa sich an der galaktischen Glaskugel festgeguckt hatte und wohl versuchte, ihr bekannte Sterne zu finden. Aurore wuselte inzwischen durch den Wintergarten, zog sich an Stühlen und den genau die runden Innenwände nachzeichnenden Bänken hoch und kletterte sogar auf die Sitzfläche der im Westen verlaufenden Bank. Millie wollte schon tadeln, dass Aurore mit ihren schmutzigen Schühchen nicht auf das grüne Polster steigen durfte. Doch im Moment war ihr wichtiger, was in diesem Paket drin war. So ging sie selbst zu ihrer Tochter und hob sie von der Bank herunter. Natürlich gefiel es Aurore nicht, mal so weggeholt zu werden. Sie quängelte. Doch Millie zischte ihr leise ins Ohr und sprach leise aber unerbittlich auf sie ein, dass sie nicht schmutzig auf die Bank sollte. Julius indes wickelte das Paket aus und fand drei Sachen in einer Schachtel, ein dickes Buch in mitternachtsblauem einband, eine einen halben Meter lange Metallrolle, in der wohl ein zusammengerolltes Pergament oder Leinwandstück steckte und drei goldene Kerzenleuchter ohne Kerzen. "Die kleinen Leuchter sind speicherlampen, Julius. Sie können das durch die Fenster einfallende Sonnenlicht aufnehmen und für ein Drittel der Zeit, die sie Sonnenlicht aufnehmen konnten, einen Raum tageshell ausleuchten, ohne zu blenden", sagte Peggy. "Ich habe die drei Lampen nach den Vorgaben meiner Urgroßmutter Rheia angefertigt, so ähnlich wie die Decken in meinem Haus bezaubert sind. Da ich das Patent auf dieses Verfahren geerbt habe kann dein Nachbar Monsieur Dusoleil das ruhig sehen. Nachbauen und verkaufen darf er es nicht, sofern ich nicht noch ein Lizenzabkommen mit ihm treffe."

"Aha, also doch nicht die reine Touristin", musste Millie dazu einwerfen. Julius nickte ihr andeutungsweise zu. Offenbar hatte er dasselbe gedacht wie sie.

"Ich bin Amerikanerin. Privates Vergnügen und geschäftlicher Erfolg müssen sich nicht grundsetzlich ausschließen oder streng getrennt bleiben."

"Das denken meine britischen Verwandten auch. Allerdings überlegen sie schon gut, welche Auswirkungen privates Vergnügen haben darf." Peggy verzog das Gesicht. Offenbar war das, was Julius ihr mal soeben untergejubelt hatte wirklich da angekommen, wo es ihr unangenehm war. Doch sie behielt ihre freundliche Art bei und erwiderte, dass das zu den Erfahrungen gehörte, um die ein erwachsener Mensch nicht herumkäme. Damit war der Knut gewechselt, dachte Millie.

Bei dem Stück Leinwand in der Rolle handelte es sich um eine verkleinerte Ausgabe des Bildes von Peggys Urgroßmutter Rheia, wie es in ihrem silbernen Pfannkuchenhaus in Viento del Sol hing. Millie wollte es gerade schon fragen, als Julius ihr zuvorkam: "Ach, steht diese Ausgabe mit der größeren Ausgabe in Verbindung?" Peggy Swann nickte verhalten. "Meine Urgroßmutter hat fünf Porträts von sich malen lassen und mit ihren eigenen Händen belebt. Ich hatte noch zwei übrig. Eines wird Larissa erhalten, wenn sie dem Warmen Nest entfliegt. Da ich wohl so schnell kein zweites Kind bekommen werde und meine Urgroßmutter es mir vorgeschlagen hat, möchte ich dir und deiner Familie das zweite Vollporträt von ihr überlassen. Das Buch ist übrigens eines, dass vor kurzem erst erschienen ist. "Wanderer um fremde Sonnen", heißt es und beschreibt die ersten nachgewiesenen Planeten, die um andere als unseren Heimatstern ihre Bahnen ziehen. Ich erfuhr, dass die Muggel sich auch nun sehr intensiv mit der Suche und Beschreibung von extrasolaren Planeten befassen. Darin wird auch abgebildet, wie unsere Heimatsonne von anderen Planeten aus zu finden wäre, könnten wir zu diesem Planeten hinreisen."

"Danke schön", sagte Julius mit der gebotenen Höflichkeit. Sicher hätte er das Buch und die Lampen selbst als sehr willkommenes Geschenk begrüßt. Aber das Bild bereitete ihm wohl gewisse Bauch- und Kopfschmerzen. Millie konnte sich auch ihren Teil denken. Dennoch wies Julius das Bild nicht zurück. Er sagte nur, dass er sich einen geeigneten Platz dafür aussuchen wolle und das erst übermorgen machen wolle, da er morgen im Familienkreis feiern wolle.

Da die beiden noch Zeit hatten nahmen Peggy und Larissa die Einladung zum Nachmittagskaffee an. Als sie beim Fünf-Uhr-Schlag der verkleinerten Turmuhr auf den Bronco-Familienbesen stiegen und davonflogen, wartete Julius eine volle Minute. Dann sagte er leise zu seiner Frau: "Die weiß genau, dass ich weiß, dass über Ableger von gemalten Hexen und Zauberer nicht nur Kontakt gehalten sondern auch ausgekundschaftet werden kann. Das ist echt schon dreist, mir dann so ein Bild zu schenken."

"Ja, aber jetzt haben wir die silberhaarige Sonnenanbeterin mit den blauen Zauberaugen an der Backe. Was machen wir damit?" wollte Millie wissen.

"Aufs Klo hängen geht nicht. Aber wir können es in die kleine Abstellkammer auf dem ersten Obergeschoss hinhängen. Bild-Ichs im Dunkeln werden nur wach, wenn sie angesprochen werden."

"Nur, dass das vertauschte Mutter-Kind-Duo dann fragt, warum wir das Bild nicht so hängen, dass es nicht zu private Sachen mitkriegt aber alles andere gut mitbekommt", zischte Millie. Julius nickte. In den Gerätepilz konnte er es wegen seiner eindeutigen Magieausstrahlung nicht hinhängen. Dann sagte er, dass er sich das eben noch einmal überlegen wollte. Millie stimmte ihm zu.

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Julius wurde am Morgen des zwanzigsten Juli von einem Chor aus mindestens zwanzig Sängern und Sängerinnen geweckt. Zu den Sängern gehörten alle Dusoleils über vier Jahren, Madame Faucon und Catherine Brickston, sowie Hippolyte Latierre mit ihren Töchtern Martine und Miriam. Julius bedankte sich sehr erfreut für das nette Geburtstagsständchen und wünschte den Angetretenen einen angenehmen Morgen und dass sie alle gerne um vier Uhr zur Feier eintrudeln durften. Camille Dusoleil kündigte an, um neun Uhr wiederzukommen, um den Latierres bei der Gartendekoration zu helfen. Julius bestätigte das. Madame Faucon freute sich, dass es der kleinen Aurore so gut ginge, dass sie so lebhaft und aufmerksam sei. "Bei uns in Beauxbatons fragen sich viele, vor allem die jungen Damen, wie es euch als junge Eltern ergeht", sagte die gestrenge Schulleiterin, die heute aber als liebevolle Großmutter und Chorsängerin auftrat.

"Meine Frau und ich führen unabhängig voneinander Tagebuch und halten Aurores Entwicklung in Fotos und kurzen Kommentaren fest. Was nicht zu privat ist können wir gerne den interessierten Damen und Herren mitteilen", sagte Julius.

Nach dem Frühstück um neun kehrte Camille von ihrem Frühstück zu Hause auf das Grundstück des Apfelhauses zurück. "Ich hoffe, mein Mann stellt mit der alleinerziehenden Mutter nichts an, für das ich ihm böse sein müsste", scherzte Camille. "Aber so hat er eine gewisse Beschäftigung und ich kann mit dir was bereden, was dich sicher sehr interessiert und dir auch sicher sehr wichtig ist", fügte sie noch hinzu. Julius bat darum, erst einen Rundumabhörschutzzauber unter freiem Himmel aufzubauen. Mit "Muffliato Totalum" und einer über dem Kopf ausgeführten Kreisbewegung seines Zauberstabes baute er ein magisches Kugelfeld auf, das alle nach außen gehenden Geräusche und Worte zu einem unerkennbaren Geraune und Murmeln verfremdete. So konnte Camille ihrem entfernten Verwandten erzählen, was sie im Elternhaus ihrer Mutter gefunden und erlebt hatte. Julius hatte natürlich schon die grüne große Umhängetasche bemerkt, die ihn an die Heilertaschen Aurora Dawns und Hera Matines erinnerte. Als Camille ihm erzählte, dass diese Tasche ihr förmlich zugeflogen war und ein darin steckender Zettel ihr mitgeteilt hatte, dass sie nun die Erbin ihrer Urururgroßmutter sei, musste Julius lachen. "Ach, du auch! Ich dachte nur, ich bekäme alles mögliche unerbeten aufgeladen", stieß er aus.

"Hmm, ist leider nicht so von der Hand zu weisen. Jedenfalls kann ich das Ding nicht einfach zu Hause rumliegen lassen", sagte Camille. "Ich habe es auch schon mit dem Lied des inneren Friedens probiert, sie von meinen Absichten abzulenken. Resultat: Kaum hatte ich das Lied gedacht, klatschte sie mir gegen den Körper, egal wo ich war. Wenn ich aus dem Haus hinausapparierte, ohne sie mitzunehmen, kam sie mir nachappariert. Ich weiß nicht, ob sie mir auch durchs Flohnetz folgen kann oder an der Glocke Sardonias abprallt. Ich weiß nur, dass sie nicht weiter von mir fort sein will, als wie mein lautester Ruf dringt. Da ich die Warnung auf dem Zettel sehr ernst nehme möchte ich auch nicht, dass Florymont die Tasche untersucht. Nachher saugt die ihn in sich ein und lässt ihn solange in einem mir nicht bekannten Abstellraum herumliegen, bis keiner mehr lebt, der sich an ihn erinnern kann. Da er ja den goldenen Hammer gewonnen hat, könnte das tausend Jahre dauern, bis dieser Fall eintritt."

"Von der Verarbeitung her erinnert mich die Tasche an eine andere Tasche, in der eine stabile Wohnung mit allen Einrichtungsgegenständen mitgeführt wurde. Die wurde mit der Beschützernatur einer Feuerlöwenmutter bezaubert. Aber dein Täschchen ist nicht mit dunkler Magie aufgeladen, weil die sonst Krach mit deinem Stern bekommen hätte." Camille nickte. Julius durfte die grüne Tasche auch einmal anfassen. Er hoffte nur, nicht in so einen außerdimensionalen Abstellraum gezogen zu werden, wie ihn die Wandelraumtruhen nutzten, wenn sie Gegenstände nur für bestimmte Personen aufbewahren sollten.

"Schon gruselig, in so einen tiefroten Schacht zu gucken. Hat wirklich was von einem gierigen Schlund an sich." "Ja, oder wie ein Geburtskanal, durch den wichtige Dinge ans Licht der Welt gelangen", erwiderte Camille. Auf jeden fall konnte sie einen vollständig ausgestatteten Geräteschuppen Gartenwerkzeuge in dieser Tasche versenken und bei Bedarf die Sachen hervorholen, die gebraucht wurden, wie zum Beispiel den Gartenschmuck, den sie und Julius zwischen den Bäumen ausspannten.

Am Nachmittag trudelten die Brocklehursts und Merryweathers schon um zwei Uhr ein. Julius Mutter und ihr zweiter Mann hatten zur Feier des Tages die lauten Lassospringer mitgebracht. "Wir wollten zwar die ganzen Mittagströter mitnehmen. Aber Dotty und Bläänch haben sich geweigert, in das Luftschiff zu klettern", lachte Lucky Merryweather, der zu Julius' Geburtstagsfeier einen quietschbunten Smoking mit einer orangen Fliege trug. Darin machte er sich gut neben Madeleine L'eauvite, die zusammen mit den Brickstons und ihrer jüngeren Schwester Blanche Faucon eintraf. Dann kamen noch die Latierres aus dem Sonnenblumenschloss. Kevin und seine Frau Patrice trafen gegen halb vier mit Gloria, Pina und den Hollingsworth-Zwillingen ein. So war der große Festplatz vor dem Haus schon gut besucht. Patrice verkündete stolz, dass sie im Januar des kommenden Jahres auch ein Baby haben würde.

Als Laurentine zusammen mit den Dorniers auch noch aus dem Kamin purzelte war die Gesellschaft vollständig. Julius hatte zwar behauptet, nur im Familienkreis zu feiern. Doch das war nur für die Swanns gewesen. Gegen sechs Uhr abends durfte er alle Geschenke auspacken, die in der roten Truhe gelandet waren, die je nach Geburtstagskind Name und Datum auf dem Deckel zeigte. So konnte Julius seine Bibliothek noch weiter auffüllen, bekam aber auch Dinge wie eine Omnilexbrille und eine weitere Sammlung von wertvollen Heiltränken und Cremes. Aurora Dawn hatte heute leider nicht zur Feier kommen können, da sie für eine Kollegin deren Niederlassung mitverwalten musste. Offenbar hatte ihre oberste Chefin Laura Morehead es nicht verwunden, dass Julius nicht zu den Heilern gegangen war, dachte er mit gewissem Bedauern. Sie hatte ihm aber zusammen mit Béatrice Latierre eine umfangreiche Hausapotheke zusammengestellt und noch eine Flasche mit dem breitbandgegengift AD 999 gefüllt. Luckys Mutter hatte dem nicht nachstehen wollen und Millie und Julius einen Einblickspiegel und ein Vergrößerungsglas zugeschickt, so dass die beiden auch ohne ständige Assistenz ihrer ausgewählten Geburtshelferin die Entwicklung des zweiten Kindes vor und nach der Geburt verfolgen konnten. Béatrice meinte dazu:

"Kann dann passieren, dass meine Nichte noch weit vor mir erfährt, dass sie irgendwann Zwillinge oder noch mehr auf einmal trägt."

"Warum nicht?" erwiderte Lucky Merryweather, der im Namen seiner Mutter dieses Geschenk überreicht hatte. "Sie freut sich, dass sie eine so junge Urgroßmutter ist."

"Vielleicht wird sie ja auch noch mal Großmutter", musste Ursuline Latierre dazu einwenden. Martha Merryweather wollte das nicht konkret ausschließen, erwähnte jedoch, dass sie erst einmal zusehen wollten, in ihrer neuen Heimat das erste Jahr zu überstehen. Julius fragte sie später, ob was sei, dass sie nicht mehr so sicher wäre, dass das mit Lucky halten würde. Sie sagte dazu nur: "Mit meiner Schwiegermutter komme ich sehr gut aus und mit Lucky auch. Aber seine Anverwandten und auch die im US-Zaubereiministerium sind wirklich lästig. Vor allem das Ministerium fällt mir damit lästig, dass ich "gefälligst" auch für dieses zu arbeiten hätte, wenn ich schon in den Staaten "leben dürfe", als sei ich eine Einwanderin aus einem armen Land, die einen reichen US-Bürger bezirzt hätte, sie pro Forma zu heiraten, um ihr eine Aufenthaltsgenehmigung in den Staaten zu verschaffen. Ich sage das deshalb so, weil mir ein gewisser Mr. Vane bereits entsprechende Briefe geschickt hat, dass ich als ausländische Hexe, noch dazu eine, die wegen ihrer Muggelweltvergangenheit erst noch lernen müsse, in der Zaubererwelt zurechtzukommen, damit leben müsse, nur geduldet sei und nach den Vorkommnissen mit fremdländischen Hexen ein erhöhtes Sicherheitsbedürfnis bestehe, was für mich so viel heißt, dass die mich unter Beobachtung halten wollen und ich ihnen doch bitte den Gefallen tun sollte, mich ihnen wohl noch mehr auszuliefern, weil ich ja nun einmal eine postnatal erwachte Hexe und geborene Britin und zeitweilige Französin sei, was mich für diesen offenkundigen Berufsparanoiker in den Dunstkreis von so Leuten wie diesem Voldemort und Anthelia rückt. Ist schon sehr unverschämt, und Lucky hat diesem Herren daraufhin einen Heuler zugeschickt, dass er eine Dienstaufsichtsbeschwerde einreichen würde, wenn der mir noch einmal solche Unterstellungen und Anfeindungen schreiben würde. Amerika sei ein freies Land, wo jeder willkommen sei, der die Freiheit seiner Mitmenschen achte und deren Leben respektiere. Aber schon schmerzhaft, zu fühlen, dass längst nicht jeder mit einem einverstanden ist. Ich kann zumindest nachempfinden, wie es dir in Hogwarts mit diesen inzüchtigen Reinrassigkeitsfanatikern ergangen ist und wie heftig es für dich gewesen ist, dass dieser Psychopath Voldemort dort schalten und walten ließ, wie er wollte."

"Wichtig ist für dich, dass Lucky und du euch versteht und füreinander da seid", erwiderte Julius ernst dreinschauend. "Solange das klar ist können dich die anderen mal kreuzweise." Martha Merryweather verzog das Gesicht über Julius' Ausdrucksweise. Doch dann nickte sie ihm zu.

Abends wurde unter freiem Himmel getanzt bis es kurz vor Mitternacht war. Dann verabschiedeten sich die in Millemerveilles wohnenden Gäste von denen, die diese Nacht im Apfelhaus schlafen würden. Die Latierres flohpulverten ins Sonnenblumenschloss zurück. Ursuline erwähnte vor ihrer Abreise: "Deinen zwanzigsten und euren fünften Hochzeitstag und das zweite Baby feiern wir dann bei uns im Château Tournesol. Da gilt keine Sperrstunde für Feiern unter freiem Himmel."

"Das klärst du dann bitte mit Camille und Madame Faucon, Oma Line", erwiderte Julius.

"Das brauche ich nicht zu klären, das steht für mich fest, mon Cher", erwiderte Ursuline, bevor sie Julius noch einmal in eine innige Umarmung schloss und dann per Flohpulver in ihr Heimatschloss überwechselte.

Julius untersuchte noch einmal das Buch, dass Peggy Swann ihm geschenkt hatte. Zwischen den Seiten über die ersten von Zauberern nachgewiesenen Exoplaneten fand er einen kleinen Pergamentzettel. Als er diesen freizog leuchtete dieser blutrot auf und erwärmte sich. Dann fühlte er sich wieder ganz normal an. Allerdings stand nun mit blutroten Buchstaben geschrieben:

Lieber Julius Latierre,

leider darf ich dir nicht schreiben, wie ich heiße, weil ein Kodex, an den auch ich gebunden bin verbietet, außenstehenden meinen Rang und Namen zu enthüllen. Da ich weiß, dass du bereits mit einigen von uns Kontakt bekommen hast wollte ich dir nur auf diese Weise mitteilen, dass nun, wo deine Mutter in den vereinigten Staaten wohnt, es sehr praktisch ist, wenn du auch mit Leuten dort Kontakt hältst, die dir und deiner Familie weder eifersüchtig noch mordlüstern gegenüberstehen und gerne verhindern möchten, dass deine Verwandten in den Staaten dazu missbraucht werden, dich in die Gewalt dir und deiner Familie nachstellender Subjekte geraten zu lassen. Weise das bitte nicht so unbedacht zurück! Du weißt genausowenig wie wir, welche Gefahren dir im Leben noch begegnen. Mir ist bekannt, dass du auch Kontakt zum Laveau-Institut hattest. Da aber die von mir sehr hoch geschätzte Mrs. Jane Porter leider nicht mehr unter uns weilt, und weil das LI sich trotz aller Eigenständigkeitsbeteuerungen am Ende doch mit dem Zaubereiministerium zusammentut, wenn es gilt, Sicherheitsrisiken auszuräumen, solltest du dein Schicksal und das deiner Familie nicht nur auf diese schwankende Säule stellen, sondern dich auch Leuten anvertrauen, deren Beweggründe du nicht immer enthüllt bekommst, die dir aber aus zugegeben auch eigennützigen Motiven beistehen werden, ohne sich mit dem wankelmütigen Beamtenapparat des Zaubereiministeriums abstimmen zu müssen. Durch die Erlebnisse mit den Abgrundstöchtern sind womöglich Interessengruppen auf dich aufmerksam geworden, mit denen du bisher noch nichts zu tun hattest, die jedoch deine Feinde sind, ohne dass du ihnen irgendetwas getan hast. Daher habe ich dafür gesorgt, dass du diese Nachricht und das Porträt einer sehr begabten Hexe erhältst, mit deren Abbild ich ebenfalls Kontakt zur Außenwelt halte. Es liegt denen, die ich vertrete und mir persönlich nichts daran, deine Familie und dich auszuspähen und ständig überwacht zu halten. Wäre uns daran gelegen, so hätten wir sicher nicht so durchsichtige Mittel wie den Mehrling eines Zaubererbildes aufgeboten. Es geht lediglich darum, Kontakt zu bekommen. Auch wenn du mich wohl nicht persönlich zu sehen bekommen wirst, so hoffe ich darauf, dass du genug Vertrauen entwickeln wirst, mich dann um Hilfe zu bitten, wenn du von anderer Seite keine Hilfe erwarten kannst. Ich weiß auch, dass deine Frau wegen der Geschichte ihrer Vorfahren sehr abweisend ist, was gewisse Gruppen und Vereinigungen betrifft. Mir liegt nichts daran, ihren Argwohn auszuräumen und sie zu überreden, sich der von mir vertretenen Vereinigung zuzuwenden. Doch komme ich leider nicht daran vorbei, auch sie hinzuweisen, dass sie dadurch, dass sie sich zu einem Leben an deiner Seite und zu der Rolle der Mutter deiner Kinder entschlossen hat ebenfalls von feindlichen Interessengruppen belauert und bedroht werden könnte. Dies soll keine Drohung unsererseits sein, sondern nur eine unangenehme Feststellung darstellen, dass ihr dadurch, dass deine Natur als hochbegabter Zauberer ohne geborene Zauberereltern und dein Kontakt zu einer uralten Vereinigung, die sich die Kinder Ashtarias nennen lässt, dich zu einem geborenen Feind jener Mächte gemacht hat, die zum einen einen tödlichen Hass auf magisch begabte Kinder ohne magische Eltern pflegen und zum anderen aus reiner Macht- und Zerstörungssucht gegen jeden vorgehen, der ihnen durch Begabung, Kenntnis oder Umfeld gefährlich werden mag. Ich gehe mal davon aus, dass dir zumindest die für Kinder aufbereitete Nacherzählung von Kipplings Dschungelbuch bekannt ist. Da war es auch so, dass der im Urwald Indiens aufgewachsene Junge der Todfeind des Tigers Shir Kahn war, weil dieser nicht wollte, dass der Junge eines Tages in den Besitz von Feuer und Feuerwaffen kommen könnte. Deshalb lehne bitte nicht ab, dass wir ebenso um dich und deine Lieben bangen und besorgt sind, wie jene, die dein Vertrauen bereits erworben haben! Wie erwähnt liegt uns selbst viel daran, dass niemand deine Fähigkeiten gegen die überwiegend friedliche Menschheit ausnutzen kann. So bringe bitte das dir überreichte Porträt von Rheia dort an, wo du oder deine Frau es jederzeit ansehen können! Meinetwegen kannst du gerne einen Vorhang davor hängen, damit es euch nicht bei privaten Tätigkeiten zusehen kann. Bitte nutze die dir von uns gebotene Kontaktmöglichkeit aus! Denn du weißt nie, auf wen du in deiner Zukunft vertrauen musst.

Mit meinen besten wünschen zu deinem Geburtstag und eurem Hochzeitstag

Jemand, dem ihr wichtig seid

Julius wollte den Zettel schon fortwerfen, als dieser zu Staub zerfiel. Er konnte sich denken, wer diesen Brief geschrieben hatte. Zwar kannte er nicht ihren Namen, aber er wusste, dass es nur die Sprecherin der nordamerikanischen Gruppe der schweigsamen Schwestern sein konnte. Konnte er sie wirklich so unbedacht zurückweisen? Allein seine Entführung aus Upper Flagley hatte gezeigt, wie schnell er oder jemand aus seinem Freundes- und Verwandtenkreis in Gefahr geraten konnte. Wenn Camille nicht die in der Nähe wohnende Trägerin des Heilssterns gewesen wäre ... hätte Millie dann zwar immer noch über Antoinette Eauvive und ihre eigene Verwandtschaft Hilfe für ihn gefunden. Doch wenn es drauf ankam waren viele Kontaktmöglichkeiten und ausgefeilte Netzwerke womöglich doch sehr wichtig. Ja, und seine Mutter lebte, trotzdem das LI ihr Haus mit wirksamen Schutzbannen umgeben hatte, in ständiger Bedrohung, von Anthelia oder jenen Leuten angegriffen zu werden, die das dunkle Erbe Altaxarrois wiederbeleben wollten. Da musste er sich erst einmal drüber im klaren sein, wie wichtig der Kontakt zu einer ihm bisher nicht vorgestellten Person in den Staaten war. Doch vorher, das hatte er mit Camille Dusoleil verabredet, wollte er der Villa der Binoches seinen Besuch abstatten. Wenn Camille recht hatte, dann konnte er die für sie unbetretbaren Räume betreten. Auch der Raum, wo womöglich nur eine Hexe und ein Zauberer zugleich eingelassen wurden interessierte ihn sehr. Es war sicher kein Zufall, dass er zum Geburtstag eine Omnilexbrille geschenkt bekommen hatte. Er hoffte nur darauf, nicht auch eine eigenwillige Tragetasche an den Hals gehängt zu bekommen, die ihm womöglich noch einzugeben trachtete, das unerfüllte Leben eines längst zu Staub zerfallenen Zauberers fortzusetzen. Er hatte schließlich schon genug altes Erbe aufgeladen bekommen.

"Leg dich hin und schlaf dich aus, Julius! Erfreue dich daran, dass du gerade in Frieden und Sicherheit leben darfst!" hörte er eine wie ein sanft angestrichenes Cello klingende Gedankenstimme in seinem von dem Brief aufgewühlten Bewusstsein. Das war Artemis/Darxandria, zu der er durch vier verschiedene Verbindungszauber einen beinahe verschmelzenden Geistes- und Seelenkontakt hielt. Julius stimmte seiner räumlich weit entfernt wachenden Vertrauten zu und legte sich zu seiner Frau ins Bett. "Morgen kannst du mal nachsehen, ob du unser Kleines schon gut erkennen kannst", wisperte Millie und strich sich über den noch flachen Bauch. Julius erwiderte, dass er sich darauf freue, das Gesicht seines zweiten Kindes als erster sehen zu können. Millie grummelte dann, dass sie das leider erst könne, wenn das Baby auf der Welt war. "Aber zumindest wissen wir bald, ob Aurore eine kleine Schwester oder einen kleinen Bruder bekommt. Bin mal gespannt, wie sie damit klarkommt."

"Sie ist gerade erst ein Jahr und zwei Monate alt, Mamille. Könnte sein, dass das für sie was ganz normales ist, dass da noch wer dazukommt. Du hast ja auch Chloé und Viviane gesehen, das die von Aurore immer noch hellauf begeistert sind."

"Ja, das ist wohl wahr. Und Brittany hat mich heute wieder so eifersüchtig angesehen, als wäre ich es Schuld, dass sie noch kein eigenes kleines Bündel Leben in sich herumkullern durfte. Aber jetzt schlafen wir besser mal, damit wir morgen wieder unser Leben weiterführen können."

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Selene strahlte in ehrlicher Freude, als sie an ihrem zweiten Wiedergeburtstag neben neuen Kleidungsstücken und einer flauschigweichen bunten Schlummerdecke auch eine kleine Panflöte von ihrer Ururgroßmutter Eileithyia Greensporn bekam. Offenbar hatte sich die fast einhundertzwanzig Jahre alte Geburtshilfeexpertin und Sprecherin der nordamerikanischen Heilzunft erkundigt, was Selene in ihrem ersten, wahrhaftig eine ganze Welt entferntem Leben für Musikinstrumente beherrscht hatte. Zwar war die Flöte eher ein Spielzeug aus minderem Material, nicht aus Bambusholz wie die, die sicher schon längst von den Verwaltern ihres Nachlasses weiterverkauft worden war. Doch wenn sie hineinblies kamen tatsächlich schöne, schwebende Töne heraus. Behutsam, dann immer beschwingter, spielte sie die ersten Töne auf ihrem kleinen Musikinstrument. Die erwachsenen Gäste ihrer Geburtstagsfeier sahen sie zum Teil auffordernd, zum teil argwöhnisch an, womöglich, weil sie darauf gefasst waren, dass sie mehr schräge Töne als klangvolle Melodien hervorbringen würde. Weil sie unbedingt die Rolle der gerade zwei Jahre alten Hexentochter durchhalten musste, blies sie nach den ersten sechs sauberen Tönen auch mehrere schief und schrill klingende Melodieteile. Allerdings nahm sie sich vor, dann, wenn die sie argwöhnisch beobachtenden Leute weg waren, ihr bekannte Melodien nachzuspielen, soweit dieses gerade zwanzig Töne hervorbringende Erstlingsinstrument das zuließ.

Sie war froh, als ihre zweite Mutter, die selbst schon das zweite Leben erlebte, die Feier kurz vor sechs ausklingen ließ, weil, so ihre Begründung, Selene nach dem langen und aufregenden Tag ihren Schlaf nötig hatte. Tatsächlich fühlte sich Selene Hemlock sehr erschöpft. Ihr wieder neu aufwachsender Körper brauchte wahrhaftig viel Kraft. Außerdem war sie froh, dass diese leidige Feierei ein Ende nahm. als bis auf ihre Ururgroßmutter Eileithyia Greensporn alle Gäste per Flohpulver oder Disapparieren verschwunden waren, setzte Selene ihr klingendes Wiedergeburtstagsgeschenk noch einmal an und blies behutsam eine Melodie, jene, die Theia Hemlock auf der Harfe gespielt hatte, bevor Selene auf die Welt gekommen war. Die beiden körperlich ausgewachsenen Hexen sahen die neu heranwachsende Hexe selig an. "Du hast ihr wirklich eine große Freude gemacht", sagte Theia zu ihrer offiziellen Urgroßmutter. Diese nickte und erwiderte lächelnd:

"Ich wusste, dass Selene was wichtiges vermisst hat. Ich lasse euch beide jetzt auch in Ruhe. Wenn was ist ruf mich ruhig!" Theia Hemlock bedankte sich für das Angebot und sah zu, wie die altehrwürdige Heilerin im smaragdgrünen Flohpulverfeuer verschwand.

"Schön, dass du dich an die Melodie erinnerst, Selene", sagte Theia sehr wohlwollend. "Es stimmt also doch, dass sich Kinder auch die Sachen einprägen können, die sie vor der Geburt häufig genug gehört haben."

"Wenn sie alles richtig hören können", erwiderte Selene, die jetzt, wo kein Gast mehr im Haus war, die Kleinkindmaske fallen lassen konnte.

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Seitdem er wusste, dass es in England zu einem Zwischenfall mit jener schwarzen Riesenspinne gekommen war, als die die unverwüstliche Wiederkehrerin nun auch auftreten konnte, lauerte Tony Summerhill förmlich auf Schlagzeilen, wann es zur ersten echten Konfrontation zwischen dieser Spinnenhexe und dem Ministerium Cartridges kommen würde. Sicher ging er davon aus, dass Milton Cartridge nicht gleich einen riesigen Funkenwirbel machen würde, dass das suspekte Stillhalteabkommen erledigt war. Aber die blitzschnellen Reporter vom Kristallherold und der Stimme des Westwinds, allen voran die scharfohrige Linda Knowles, würden trotzdem das eine oder andere aufdecken, bevor Cartridge einen tonnenschweren Deckel drauflegen konnte. Im Grunde langweilte er sich. Seit etwas mehr als zwei Jahren atmete er wieder frei. Seit fünf Monaten konnte er frei laufen, und seit drei Monaten konnte er sogar mit dem Löffel essen, ohne zu kleckern. Immer wieder dachte er daran, ob es wirklich so eine gute Idee gewesen war, mit Tracy Summerhill diesen Wiedergeburtszauber zu machen, damit seine Tante zu seiner zweiten Mutter wurde. Er hätte doch genauso den Tod hinnehmen können. Doch er hatte Rache gesucht, Rache an dieser widerlichen Wiederkehrerin. Doch als er nach der für ihn wie für Tracy so schmerzhaften Wiedergeburt einige Monate lang ihr süßer kleiner Säugling gewesen war, hatte er den Gedanken an Rache vergessen, besser, seine Mutter hatte sich gewünscht, dass er in Frieden aufwachsen sollte. Er hatte ein schlechtes Gewissen bekommen, dass diese Hexe ihn da nicht eine volle Schwangerschaft lang ausgetragen und auf die Welt zurückgezwengt hatte, um ihm dann doch beim Sterben zusehen zu müssen, weil er diese Anthelia jagte und bekämpfte. Dann war das Stillhalteabkommen, eigentlich eine geheime Sache zwischen Cartridge und dieser vermaledeiten Sardonianerin, durch die Zeitung gegangen. Offiziell war es von keiner Seite bestätigt oder abgestritten worden. Doch es war auch zu keinen wie auch immer gearteten Auseinandersetzungen zwischen den beiden mehr gekommen. Nur die Feuerskelette, die auf Alexandra Pabblenuts stinkendem Drachenmist gewachsen waren, hatten für Schlagzeilen gesorgt und die Vampire Nocturnias mit ihrem verteufelten Gift, das Menschen auch ohne mit einem Vampir in Berührung zu kommen in diese sonnenallergischen Blutsauger verwandeln konnte. Von den Vampiren war in den letzten Monaten kein Wort mehr erwähnt worden. im Westwind stand mal was von einer offenbar von einem dunklen Zauber oder Wesen besessenen Weltraumfliegerin, die von Cartridges Leuten und Davidsons Laveau-Institut gejagt wurde. Dann war die Sache mit dem Ruster-Simonowsky-Zauberer Julius Latierre in Upper Flagley passiert, die sich zu einer hahnebüchenen Geschichte ausgewachsen hatte, dass der Bengel nämlich zum zweiten Mal auf eine dieser Abgrundstöchter getroffen war, ja angeblich auch die, mit der er es schon mal zu tun gehabt hatte. Zu gerne hätte er, Anthony Summerhill, diese Sache weiterverfolgt. Wäre er noch der erwachsene Lucas Wishbone gewesen, er hätte eine Ministerkonferenz erwirkt, um die Angelegenheit zu klären, vor allem was die Behauptungen anging, der junge Zauberer, den sie schon ganz früh mit einer der Latierre-Töchter verkuppelt hatten, sei von Kindern einer gewissen Ashtaria gerettet worden. Von solchen hatte er noch nie was gehört. Das hieß zwar nicht, dass es sie nicht gab. Doch er hatte sich nie damit abgefunden, nur Aussagen aus zweiter oder dritter Hand als Tatsachenerwähnung anzuerkennen. Sicher, jetzt konnte er ohne die lästigen, wenn auch mal nützlichen Windeln zurechtkommen. Für seine zweite Mutter ging das womöglich zu schnell, wie er seine Fertigkeiten "wiederfand". Doch sie hatte bis auf die zweite Halloweenfeier seines zweiten Lebens kein Wort darüber verloren, dass er erst mit drei oder vier Jahren vollkommen sauber zu sein hatte. Allerdings ließ sie ihn zwischendurch noch an ihren Brüsten saugen, auch wenn er schon alle ersten Zähne im Mund hatte. Das gefiel ihm noch, zumal es ihn nicht nur in diesem Leben mit ihr verband, sondern auch irgendwie noch an sein erstes Leben erinnerte, wo er die Schwester seiner ersten Mutter als heimliche Geliebte besessen hatte, oder sie ihn, was er immer wieder mit gewissem Unbehagen einräumte. Offenbar fühlte sie sich dadurch immer noch ganz eng mit ihm verbunden, und er genoss es. Sie hatte ihm auch mal erzählt, dass selbst vierjährige in ganz frühen Zeiten noch gestillt wurden, wenn es gerade mal genug zu trinken gab, um Mutter und Vater zu versorgen. Also warum nicht?

"Nichts neues?" wollte Anthony am 22. Juli wissen, nachdem seine Mutter die Zeitungen durchgelesen hatte. Sie erwähnte, dass es in Merida, Mexiko, zu einem Bandenkrieg gekommen sei, bei dem Zeugen von wilden Wölfen, die selbst unter einem Hagel von Schnellfeuergeschossen unverletzt blieben, eine ganze Rauschgifthändlerbande ausgelöscht hatten. "Die Lykos wollen jetzt wohl die Nocturnianer beerben", schnaubte Tracy Summerhill. Anthony schielte auf die tagesfrische Ausgabe des Kristallherolds. Doch diesmal gewährte ihm seine zweite Mutter keinen Einblick in die Zeitung.

"Und was macht der nette Onkel Zaubereiminister?" wollte Anthony Summerhill wissen.

"Der freut sich über seine kleine Tochter Ariella Bonita. Seine treusorgende Gattin hat sich und die Kleine von Linos Bilderknecht fotografieren lassen. Was südlich der Staaten los ist scheint ihn nicht zu betreffen."

"Das ist unser Hinterhof. Dieser Flubberwurm tut so, als ginge uns das nichts mehr an, was da abgeht", schnaubte Tony Summerhill. Seine zweite Mutter räusperte sich und mahnte ihn, dass er ja wohl selbst schuld sei, dass das Zaubereiministerium der vereinigten Staaten so unbedeutend, ja regelrecht vertrauensunwürdig geworden sei und Cartridge alles dreimal überdachte, bevor er es öffentlich machte, was er vorhatte. "Er wartet sicher auch auf einen Hilferuf aus Ciudad de México", fügte sie noch hinzu.

"Bis diese Pelzwechsler auch bei uns durch die Städte marodieren", knurrte Tony Summerhill. Seine Mutter fragte ihn, ob er das auch einfacher sagen könne? "Gut,Mom, bis die bösen Werwölfe auch hier rumlaufen und Leute beißen oder totmachen", grummelte Tracys vaterlos empfangener Sohn. Sie nickte und bekräftigte einmal mehr, dass er mit zwei Jahren noch keine so hochtrabenden Wörter zu können hatte. Denn wenn er irgendwo mal mit wem sprach und dann so sprach, würde vielleicht wer glauben, er sei kein echtes Kind. Da fiel Anthony Summerhill wieder ein, dass er nicht wollte, dass er seiner zweiten Mutter weggenommen wurde, ja dass sie Angst hatte, dass man ihn ihr wegnehmen könnte. Das wollte er dann ja doch nicht und entschuldigte sich für seinen zu weit entwickelten Wortschatz.

"Was macht Selene?" wollte er wissen. Seine Mutter erwiderte, dass über Selene Hemlock nichts mehr in den Zeitungen stand, seitdem sie ihren ersten Geburtstag gefeiert hatte. Das war jetzt schon wieder ein Jahr und zwei Tage her. Der Wiedergeborene interessierte sich für das Mädchen, das zwei Monate nach ihm zur Welt gekommen war. Die Umstände, unter denen es damals im schützenden Schoß seiner Mutter nach Amerika getragen worden und hier gemäß Bodenrecht als US-Bürgerin zur Welt gekommen war, gefielen ihm nicht. Das grundsätzliche Misstrauen war immer noch da, dass Cartridge sich hatte verladen lassen und womöglich einer Spionin dieser Wiederkehrerin oder einer anderen Hexenbande Bürgerrechte zuerkannt hatte. Doch die Zeitungen schienen sich nicht mehr für Daianiras Tochter und deren Tochter zu interessieren. So würde es wohl an ihm hängenbleiben, herauszukriegen, ob an der Sache mehr dran war, wenn er zusammen mit Selene Hemlock nach Thorntails ging. Aber was machte er in den neun Jahren, die noch bis dahin vergehen mussten? Die Frage wagte er nicht zu stellen. Denn die Antwort war klar: Er sollte weiterhin das kleine, unverhoffte Glück von Tracy Summerhill spielen, den Sohn des ach so früh abberufenen Ministers Lucas Wishbone. Er ärgerte sich, dass niemand mehr an einen Mordanschlag durch die Wiederkehrerin glaubte. Denn zu viele Hexen und Zauberer hatten mit verdammt unbestreitbaren Argumenten dargelegt, dass es einer anderen Hexengruppe gelegen gekommen war, die Sardonianerin als Mörderin von Wishbone zu bezichtigen, womöglich diese rasch aufgetauchte und ebenso rasch wieder ausgerottete Liga rechtschaffender Hexen Alexandra Pabblenuts. Was unangenehmeres hatte nicht passieren können, um den fragwürdigen Ruf der Wiederkehrerin nicht mit einem Ministermord zu verschlimmern. So blieb ihm, Anthony genannt Tony Summerhill nur, darauf hinzuwachsen, das Rätsel von Daianiras Tochter und Enkeltochter zu lösen, wenn man ihn ließ.

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Urlaub bis zum zehnten August. Julius hätte wohl auch arge Probleme bekommen, wenn er im Zeitraum zwischen dem 23. und 28. Juli nicht freibekommen hätte. Doch zum einen hatten der Minister sowie Julius' direkte Vorgesetzte Ornelle Ventvit ihm nach der Sache mit Ilithula und Hallitti empfohlen, zumindest drei Wochen Urlaub zu nehmen, um sich vom ersten Jahr Ministerialtätigkeit zu erholen. Zum anderen waren beide Schachspieler und wussten, dass Julius am Schachturnier in Millemerveilles teilnehmen würde. Dass Julius den 23. Juli als ersten Urlaubstag genommen hatte lag daran, dass er am Morgen dieses Tages gerne zum Gemeindefriedhof hinausfliegen wollte, um zu sehen, wie der Apfelbaum auf Claire Dusoleils Grabhügel gewachsen war. Seine heimliche Hoffnung, dort auch die überirdische Zweiseelentochter Aurélie Odins und Claires wiederzusehen, erfüllte sich nicht. Er hätte Ammayamiria, wie die mehr als ein Geisterwesen beschaffene Daseinsform hieß, gerne noch über ihre Hilfe beim Kampf gegen Ilithula und die in ihr eingekehrte Hallitti befragt. Doch Ammayamiria erschien nicht, weder Julius noch Millie, noch Aurore. Aurore liebte den Apfelbaum. Julius fühlte, dass dieser eine beruhigende, ja friedlich stimmende Ausstrahlung besaß. Er konnte sich auch gut vorstellen, dass seine und Millies Tochter diese unsichtbare Aura als verwandte des guten Zaubers wahrnahm, der ihre Wiege und das runde Apfelhaus umhüllte. Jedenfalls waren die drei Latierres alles andere als betrübt, diesen Ort besucht zu haben. Auch wenn Julius ein wenig enttäuscht war, dass Ammayamiria nicht erschienen war, sah er diesen Besuch als wichtige Handlung, um Frieden mit sich und seiner Vergangenheit zu halten. Millie unterstützte ihn dabei, weil sie ganz genau wusste, dass er ohne Claire Dusoleil sicher nicht so gut in Beauxbatons hineingefunden hätte und damit letztendlich auch zu ihr hingefunden hatte.

Irgendwie, so meinte Millie, sei das Schachturnier recht langweiligt geworden. Ihre Großmutter Ursuline, die während des Turniers mit ihren vier jüngsten Kindern, ihrem Mann und ihrer heilkundigen Tochter Béatrice im Apfelhaus zu Gast war, hatte es im Finale mit Eleonore Delamontagne, der Ratssprecherin und leidenschaftlichen Schachspielerin von Millemerveilles zu tun bekommen. Julius war knapp im Halbfinale an seiner Schwiegergroßmutter gescheitert. Diese hatte ihm danach mit leichtem Tadel gesagt, er solle langsam vergessen, sich ihr unterlegen zu fühlen, weil das längst nicht mehr stimme. Auch wenn es ihr gefiel, wieder ins Finale gekommen zu sein wünschte sie sich doch, dass Julius endlich mal wieder das Turnier gewann. "Das sage aber bloß nicht der gutgenährten Madame Delamontagne!" hatte sie ihm danach noch mit verschmitztem Lächeln zugeflüstert. Am Ende hatte Ursuline es geschafft, Eleonore Delamontagne nach fünfzig Zügen in eine Lage zu bringen, in der ein Schachmatt nicht mehr zu vermeiden war. Die Sprecherin des Dorfrates hatte es hingenommen, dass Ursuline ihren Titel zum wiederholten Mal verteidigt hatte.

Während des Sommerballs von Millemerveilles am Abend des 28. Juli verabredeten Camille und Julius, am 30. Juli in die Villa der Binoches zu reisen, um die letzten verschlossenen Türen zu öffnen. Julius hoffte nur, dass er das Öffnen dieser Türen nicht bitter bereuen würde. Immerhin hatte Camille es ihrer neuen, unheimlich selbstständigen Umhängetasche beigebracht, dass ein Tanzabend kaum geeignet war, sie überall dabei zu haben. "Ich fürchte, dieses Täschchen ist wahrhaftig beseelt und nicht nur mit Animierzaubern belegt", hatte sie ihm bei einem schwungvollen Foxtrott zumentiloquiert. Julius konnte es nicht grundweg ausschließen. Er kannte bereits verschiedene beseelte Gegenstände, sowohl gut- wie bösartige, je nach der darin geborgenen Seele ihres Schöpfers oder der Schöpferin. Er selbst hatte ja Ailanorars silberne Flöte in seinem Haus, weil die von dem alten Windmagier erschaffenen Vogelmenschen sie nicht in ihrer weit über der Erde fliegenden Himmelsburg behalten wollten. Ohne Millie hätte er den Kampf um dieses Instrument nicht gewonnen. Außerdem war er sich sicher, dass Camille den magischen Muschelkrug Aiondaras in ihren Besitz genommen hatte, der von den vor Martinique lebenden Meerleuten als von einer mächtigen Wassergöttin bewohntes Heiligtum verehrt worden war. Dann kannte er noch Beggy, die magische Handtasche von Grace Craft, die zum Teil mit den Instinkten einer Feuerlöwin erfüllt war und ihre Schutzbefohlenen in sich aufnehmen und in Sicherheit bringen konnte. Er musste nur immer daran denken, dass solche beseelten Gegenstände eben auch ihre eigenen Absichten haben mochten. War es die Absicht von Geneviève Lucines Umhängetasche, dass Camille ihren bisherigen Beruf aufgab und Heilerin wurde? Darüber war Camille sich nicht ganz sicher. Zumindest hatte sie neben nützlichen Gartengeräten auch Heiltränke und Salben in die für Camille grün gewordene Tasche gesteckt, die trotzdem leicht wie eine Feder sein konnte, wenn das, was sie belebte, dies für richtig hielt.

"Hast du über meinen Vorschlag nachgedacht, die Anstellung im Ministerium aufzugeben und den Kindern zwischen sechs und elf Jahren wichtige Sachen aus der Muggelwelt beizubringen?" fragte ihn Sandrine Dumas' Mutter, die die Grundschule von Millemerveilles leitete. Julius erwiderte behutsam, dass er sich vertraglich für fünf Jahre verpflichtet habe und ja gerade mal ein Jahr davon verstrichen sei.

"Das ist kein Hindernis. Ich kann jederzeit ein amtliches Hilfsgesuch an das Ministerium stellen, dass ich für die Schule gut ausgebildetes Personal benötige, vor allem, wenn es sich um ordentliche Bürger von Millemerveilles handelt. Nach dem ganzen Unheil mit diesen beängstigenden Abgrundstöchtern wäre es für dich auch eine Sicherheit, nicht noch einmal in solch gefährliche Situationen hineinzugeraten", versuchte Geneviève Dumas, den jungen Zauberer herumzukriegen, zum Mitglied ihres Lehrkörpers zu werden. Julius erwiderte, dass er gerade deshalb im Ministerium angefangen habe, um die Zaubererwelt vor so gefährlichen Geschöpfen zu schützen und dass er durch seine hohen Zauberkräfte eine gewisse Verantwortung habe, diese auch für alle Hexen und Zauberer und die so genannten Muggel einzusetzen, weil mit großer Macht auch große Verantwortung verbunden sei.

"Das ist der Unfug, den dir Blanche und der Zaubereiminister eingeredet haben, um dich für Sie zum Feueraustreter zu kultivieren", schnaubte Madame Dumas niedergeschlagen. "Aber ich muss zumindest zur Kenntnis nehmen, dass du die Zeit brauchst, um deinen wahren Platz im Leben zu finden. Aber meine Ankündigung steht, Monsieur Latierre. Sollte sich ein Engpass in meinem Lehrpersonal auftun, werde ich der Abteilung für magische Ausbildung und Studien ein Ausbildungsbeihilfeersuchen zukommen lassen und klar begründen, weshalb ich an einer Unterstützung durch Sie sehr interessiert bin, wo Sie der einzige sind, der im selben Umfang vorgebildet ist wie Ihre Frau Mutter." Julius nahm diese förmlich vorgebrachte Ankündigung ohne ein Wimpernzucken hin. Sollte Geneviève Dumas doch ihren Hilfsantrag stellen. Was wusste sie schon von der geheimen Vereinbarung mit dem Minister, Catherine Brickston, ihrer Mutter und den anderen, denen er die vier mächtigen Abwehrzauber der Altaxarroin beigebracht hatte? Er war sich sicher, dass er sich nicht unter der schützenden Zauberkraftglocke von Millemerveilles verkriechen durfte, wenn ein dunkles Erbe aus der alten Zeit ans Licht zurückkehrte. Das Gefühl, das ihn zum Jahreswechsel nach 2001 beschlichen hatte, war trotz der überstandenen Gefahr mit den Abgrundstöchtern nicht ganz verschwunden. Irgendwie meinte er, dass diese Auseinandersetzung mit den beiden Töchtern Lahilliotas nicht das schlimmste war, was in diesem Jahr passieren sollte. So konnte er die Bitten und Verlockungen von Geneviève Dumas nur als hilflose Versuche abtun. Das wollte und durfte er ihr natürlich nicht sagen.

Als Roseanne Lumière, die Dorfrätin für kulturelle Veranstaltungen, zur Verkündung der drei besten Tanzpaare dieses Abends kam, wurde es für Julius wieder spannend. Vielleicht konnte er auch mit seiner Frau die goldenen Tanzschuhe gewinnen. Tatsächlich erreichten Jeanne und Bruno die Bronzewertung. dann wurden Camille und Florymont auf die Bühne gebeten, um die silbernen Tanzschuhe entgegenzunehmen. Alle Augenpaare richteten sich auf Julius und Millie, die diesmal neun von zehn Tänzen zusammengewesen waren. Als Roseanne Lumière dann ausrief, dass er und Millie auf die Bühne kommen sollten, weil sie in purer Vollendung getanzt hatten, fühlte er die überschwengliche Freude seiner Frau durch den unter seinem Festumhang pulsierenden roten Herzanhänger auf ihn überfließen. Auch er freute sich, obwohl er früher nie was für Auszeichnungen empfunden hatte. Doch das hier war ihm wichtig gewesen, seitdem er zusammen mit Claire Dusoleil zum ersten Mal an diesem Ball teilgenommen und auf Anhieb die goldenen Tanzschuhe gewonnen hatte. Insgesamt dreimal hatte er diese Auszeichnung mit Claire errungen, ja hatte sogar gesehen, wie sie mit ihrem goldenen Tanzschuh von 1996 zur ewigen Ruhe gebettet worden war. Jetzt hatte er es tatsächlich geschafft, auch mit seiner Frau Mildrid diese hohe Auszeichnung zu holen. Klar, dass sie nun dachte, endgültig aus Claires Schatten herausgetreten zu sein, obwohl sie für Julius schon wesentlich mehr getan hatte und bereits auf das zweite Kind von ihm wartete.

Nachdem die Dusoleils und Latierres ihren Triumph ausgekostet hatten kehrten sie in ihre Häuser zurück. Millie hörte sich im Bett noch einmal an, wie Geneviève Dumas, die Mutter ihrer gemeinsamen Pflegehelferkameradin Sandrine, nun hinter Julius als Dorfschullehrer her war. "Die Arme hat keinen Dunst, wer und was dir alles so was aufgeladen hat. Wenn du der gesteckt hättest, dass eine Latierre-Kuh namens Artemis darauf besteht, dass du das helle Erbe dieses untergegangenen Reiches bewahren sollst, hätte die womöglich nach einem Heiler gerufen, der dich auf deinen Geisteszustand untersuchen sollte", scherzte Millie.

"Ja, und dass diese benannte Latierre-Kuh und ich ein ähnliches Schicksal haben wie die ehemalige Abwehrzauberlehrerin Austère Tourrecandide und die aus zwei starken Hexen zu einer noch stärkeren Hexe verbackene Anthelia oder Naaneavargia", fügte Julius noch hinzu.

"Stimmt, das ist zu abgedreht", grummelte Millie. "Deshalb muss das ja auch keiner wissen. Die Kiste mit dieser Windsbraut und der in die reingerutschten Feuerfurie Hallitti war schon heftig genug."

"Ich hoffe nur, dass mir in Aurélies Elternhaus nicht noch was abgedrehteres und heftigeres aufgeladen wird", warf Julius ein. Seine Frau hoffte, dass das Erbe der Binoches nicht auch so etwas überheftiges war. Das konnte Julius aber nur herausfinden, indem er nachsah, was in der Villa der Binoches verborgen war.

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"Wie?! Ich soll das sein lassen, verdächtige Hexen zu überprüfen?!" schrillte Lorne Vane, der Leiter der magischen Strafverfolgungsbehörde des US-amerikanischen Zaubereiministeriums, als er seinem obersten Vorgesetzten, Zaubereiminister Milton Cartridge, persönlich gegenüberstand. "Sie ersuchen mich allen Ernstes, die Suche nach Anhängerinnen dieser Spinnenhexe aufzugeben?!" stieß der kleinwüchsige Zauberer aus. Cartridge blieb jedoch ruhig, obwohl sich Lorne Vane hier in seinem Büro unangebracht laut betrug. Als er nach nur fünf Sekunden Schweigen antwortete, bekam Vane jedoch mit, wie entschlossen der Minister sein konnte, ohne selbst laut zu werden.

"Mr. Vane, auch wenn meine Ohren lautes Geschrei gewohnt sind, so dulde ich dieses nur von meiner Tochter, weil die es noch nicht anders hinbekommt, ihre Bedürfnisse zu artikulieren. Sie hingegen sind kein Säugling mehr und auch kein kleiner Junge, der noch lernen muss, seinen Missmut zu zügeln, nur weil ihm wer was angeblich nur für ihn gedachtes abstreitet. Glauben Sie allen Ernstes, mit lautem Geschrei meine Ansichten ändern zu können? Nicht nur, dass Sie durch diese überlaute Ausdrucksform unüberhörbar klarstellen, dass Ihnen vernünftige Argumente fehlen, um mich zum Widerruf meines Beschlusses zu veranlassen, sondern gleichzeitig auch verdeutlichen, wie wenig Respekt Sie für mich als Ihren Vorgesetzten empfinden. Ich habe Sie damals zum Leiter der Strafverfolgungsbehörde ernannt, weil ich einen unerschütterlichen und kundigen Beamten brauche, der sich keine Angst einjagen lässt, weder von Vampiren, noch von Werwölfen, noch von menschengroßen schwarzen Spinnen, die gegen fast alles immun sind, was wir mit und ohne Magie aufbieten können. Mein Entschluss, eine offene Jagd nach uns missfallenden Hexen zurückzustellen, kommt auch nicht daher, dass ich mich von dieser Spinnenhexe einschüchtern oder um den kleinen Finger wickeln ließe, wie Sie es mir durch Ihren Auftritt hier und jetzt zu unterstellen wagen. Mir liegt daran, nicht noch einmal die ganze magische Bürgerschaft der vereinigten Staaten gegen uns aufzubringen. Ihre Unternehmung, alle Hexen zu einer Befragung und Ausforschung vorzuladen, stiftet jedoch mehr Unfrieden, als sie Sicherheit bringt. Das sollten Sie langsam begreifen, Mr. Vane. Falls es stimmt, dass Sie versucht haben, diese Anthelia mit einer Feuerzauber-Briefbombe aus der Welt zu schaffen, woran ich nach Ihrem lautstarken Aufbegehren hier und jetzt leider nicht mehr zweifeln kann, dann haben Sie das Zaubereiministerium in eine sehr prekäre Lage gebracht. Denn jetzt kann diese Person jederzeit einen Vergeltungsschlag ausführen und sich darauf berufen, dass wir von uns aus das Abkommen mit ihr gebrochen haben. Mein Vorhaben, die irregeleiteten Bundesschwestern dieser Spinnenhexe zur Umkehr zu bewegen, gerät durch Aktionen wie der Ihren zur Unmöglichkeit. Wenn Sie jetzt noch zur offenen Jagd auf alle nur ansatzweise verdächtigen Hexen blasen, haben wir nicht nur die uns wahrhaftig feindlich gesinnten Hexen gegen uns, sondern alle anderen Hexen auch. Wohin das führen kann haben wir doch erlebt, als diese Fanatikerinnen Pabblenuts von dieser selbst in brennende Skelette verwandelt wurden und damit zu einer noch größeren Bedrohung für uns zu werden ansetzten als die Vampire Nocturnias oder die gerade in Mexiko wütenden Werwölfe dieser dubiosen Mondbruderschaft. Wenn wir jetzt wieder den Eindruck vermitteln, dass eine Hexe schon auf Grund ihres Geschlechtes verdächtig sei, springen uns wichtige und kundige Mitbürgerinnen ab und könnten noch leichter zu uns ablehnenden Gruppierungen überwechseln, gemäß dem Motto: "Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich's völlig ungeniert." Wenn Sie genau das wollen, muss ich einen schweren Fehler eingestehen, nicht deshalb, weil ich versucht habe, mit diesen fehlgeleiteten Hexen der Sardonianerin einen gewissen Burgfrieden zu wahren, sondern weil ich einen unbedachten Draufgänger wie Sie zum Leiter der wichtigsten Ministerialabteilung gemacht habe." Er zog eine Schublade seines Schreibtisches auf und entnahm dieser einen Packen Briefe. "Hier, das sind noch die gemäßigten Anfragen aus der magischen Bevölkerung. Nancy Gordon spielt mit dem Gedanken, das Ministerium endgültig zu verlassen und ihre Muggelweltkenntnisse dem Herold oder dem Westwind zur Verfügung zu stellen. Mrs. Ross aus Denver wirft mir offen vor, genauso auf ein Feindbild versessen zu sein, wie sie es dem auf merkwürdige Weise zum US-Präsidenten gewordenen George W. Bush unterstellt und fragt in einer an Heuchelei grenzenden Besorgtheit an, ob es mir an innen- und außenpolitischer Sachkenntnis und Einfühlungsvermögen fehle, wenn ich Zitat "einen so laut kläffenden und um sich beißenden Terrier wie Lorne Vane" Zitat Ende auf alles losließe, was weiblich und zauberkräftig sei. Dann müsse ich, so die besorgte Familienmutter aus Colorado weiter, auch meiner eigenen Gattin, ja meiner gerade erst drei Wochen alten Tochter nicht über den Weg trauen, ja müsste sogar davon ausgehen, dass meine eigene Tochter bereits pränatal gegen mich intrigiert hätte, indem sie sich von mir hätte zeugen lassen, um meine finanzielle Bewegungsfreiheit einzuengen. Auch wenn diese Art der Argumentation unter die Gürtellinie zielt kann ich leider die Aussage dieses Briefes nicht komplett als unzutreffend abschütteln. Bedenken Sie bitte, dass die Eheleute Ross sehr nützliche Mitarbeiter sind und trotz der Wirrungen um meine Amtsvorgänger Pole und Wishbone bisher keinen Anlass hatten, ihre Tätigkeit für uns zu beenden. Alexis Ross gehört da wohl zu den mutigen, die sich mit ihrer Meinung weit vorwagen. Ich muss davon ausgehen, dass es hunderte von Hexen gibt, die ihr schweigend zustimmen, auch wenn sie nicht zu den schweigsamen Schwestern gehören mögen, gegen die Ihre Campagne abzielt. Falls es stimmt, was mir Anthelia zugetragen hat, dass Sie ihr eine Falle mit Zauberfeuer gestellt haben, so ist es nun beinahe unmöglich geworden, ihre Anhängerinnen dauerhaft zu einer friedlichen Koexistenz zu bekehren. Sie haben mit Ihrem Alleingang einen schlafenden Drachen gekitzelt und aufgeweckt. Wenn Sie jetzt noch Ihre Campagne zur Befragung aller Hexen weiterführen, die zudem noch viel Gold kostet, rufen Sie diesen geweckten großen Drachen auch noch dazu auf, unser Land zu verwüsten. Diese Spinnenhexe kann nun ganz frei auf neue Mitglieder ausgehen, selbst wenn wir ein neuerliches Arbeitsverbot für Hexen innerhalb des Ministeriums durchsetzen. Bevor sie mir noch einmal die Ohren vom Kopf zu schreien wagen und ich sie deshalb in Windeln wickeln und Ihnen einen unausspuckbaren Schnuller zwischen die Zähne stopfen lassen muss, überdenken Sie gefälligst, dass jeder Generalverdacht genau das heraufbeschwört, was Sie in Ihrem Amt eigentlich verhindern sollen. Wir sind ein freies Land, wo jeder ungeachtet von Geschlecht, Hautfarbe und Glaubensrichtung arbeiten darf, solange er oder sie sich nicht gegen die Gesetze vergeht, die die Freiheit der Mitbürger erhalten. Deshalb bleibt es bei meinem Beschluss, die von Ihnen angesetzte Generalbefragung aller erwachsenen Hexen zu beenden, bevor sie noch mehr Unmut hervorruft. Falls Sie mir deshalb Unentschlossenheit oder gar Feigheit vor der Feindin zu unterstellen wagen sollten, steht es Ihnen frei, Ihre Vorgehensweise, und zwar in allen Einzelheiten, den Bürgerinnen und Bürgern zu präsentieren und das Verständnis der magischen Mitbürger zu erbitten. Ich werde dann sehr gerne der magischen Öffentlichkeit begründen, warum ich Ihre Maßnahmen beschränken muss, um den Frieden innerhalb der unbescholtenen Zauberer- und Hexengemeinschaft der vereinigten Staaten zu gewährleisten. Wir können uns keine Paranoia leisten, wo wir schon genug wirkliche Feinde haben, Mr. Vane. Ich ging davon aus, dass Sie sich dieser Tatsache bewusst waren oder sind. Wenn Sie jetzt weiterhin hier herumschreien wollen, dass ich eine angeblich große Erfolgschance verderbe, dann ist diese meine Ansicht über Sie widerlegt, und ich werde mit großem Bedauern einen neuen Strafverfolgungsleiter berufen. Haben Sie das verstanden, Mister?"

"Ich habe verstanden, dass Sie die nötige Auseinandersetzung scheuen, weil Sie durch die Maßnahmen von Pole und Wishbone eingeschüchtert sind und lieber einen fragwürdigen Frieden wollen, als klare Verhältnisse zu schaffen", fauchte Lorne Vane. "Sie lassen sich die Initiative aus den Händen nehmen und sehen zu, wie machtgierige Wergestalten und intrigante Hexenschwesternschaften unser aller Leben bestimmen dürfen. Unter diesen Umständen kann und werde ich meine Arbeit nicht erfolgreich fortsetzen können. Sie zum Rücktritt aufzufordern steht mir nicht zu. Das sollen dann die Mitglieder der magischen Gemeinschaft fordern, wenn herauskommt, dass Ihre Stillhaltetaktik mehr Schaden verursacht als Frieden stiftet."

"Mit anderen Worten, Sie bitten um Freistellung?" fragte der Minister ungerührt der trotzigen Antwort seines Strafverfolgungsleiters.

"Wenn ich die Aufgaben erfüllen darf, die zu erfüllen sind kann ich nichts anderes tun, Herr Minister", fauchte Vane.

"Gut, dann erwarte ich Ihren Antrag auf Entlassung oder vorübergehende Freistellung von Ihrem Amt im Laufe des kommenden Tages. Bis dahin prüfen Sie bitte, inwieweit wir in der Angelegenheit der in Mexiko marodierenden Lykanthropen ohne direktes Hilfsersuchen der dortigen Kollegen tätig werden dürfen, bevor die Lykanthropen meinen, auch bei uns Fuß fassen zu dürfen."

"Was die Werwölfe angeht kennen Sie meine Meinung, Herr Minister. Alle hier lebenden Werwölfe müssen unter Überwachung gestellt werden, um jede Kontaktaufnahme zwischen diesen und der selbsternannten Mondbruderschaft aus Europa zu entdecken und zu vereiteln. Aber davon wollten Sie ja auch nichts wissen, weil Sie meinen Einwand, dass die Lykanthropen hier weitestgehend unbescholten sind, und diese wegen ihrer Erkrankung nicht gleich zu Kriminellen erklärt werden dürfen, ein Recht auf größtenteils freie Lebensführung besitzen. Aber vielleicht kann ich den Kollegenin der mexikanischen Strafverfolgungsbehörde dazu überreden, ein ordentliches Hilfsgesuch einzureichen, damit wir diese Lage bereinigen können."

"Ja, aber dann nicht so ohrenbetäubend laut, Mr. Vane", erwiderte der Zaubereiminister. Sein Noch-Strafverfolgungsleiter zuckte mit den Schultern. Dann stand er da, darauf wartend, dass der Minister ihn an seine Arbeit zurückschickte. Der Minister wartete einige Sekunden. Dann sagte er:

"Sollten Sie es sich mit dem Antrag auf Freistellung oder gar Entlassung noch einmal überlegen, Lorne, so brauchen Sie mir keine Eule zu schicken. Wenn ich morgen um diese Uhrzeit nichts von Ihnen vorliegen habe, bleiben Sie im Amt. Aber dann führen Sie es auch so, dass kein unbescholtener Bürger darunter leiden muss!"

"Sie kriegen meinen Antrag schon in zwei Stunden, wenn ich den Kollegen in Mexiko davon überzeugt habe, uns um Hilfe zu bitten", knurrte Vane verdrossen. Der Minister nickte ihm unbeeindruckt zu. Dann erlaubte er ihm, an seinen Arbeitsplatz zurückzukehren. Lorne Vane brachte gerade genug Selbstbeherrschung auf, die Bürotür leise hinter sich zu schließen.

Ich hätte ihn nicht in dieses Amt berufen dürfen, dachte der Minister. Dann fragte er sich, ob er soeben die Entstehung eines neuen Feindes miterlebt hatte. Vane würde nach einer Entlassung alles tun, um seine Auffassung von einer sicheren Zaubererwelt durchzusetzen. Womöglich würde er sich zu Cartridges Herausforderer um das Amt des Zaubereiministers aufschwingen. Eigentlich wollte Cartridge nach der laufenden Amtszeit nicht mehr kandidieren. Vielleicht stimmte es auch, dass er in der Angelegenheit mit den Spinnenschwestern zu zurückhaltend auftrat. Andererseits hatte er durch die fragwürdige Übereinkunft mit Anthelia, die ihm selbst gewisse Magenschmerzen bereitet hatte, mehr als ein Jahr inneren Friedens erwirkt, weil es keine Übergriffe auf unbescholtene Hexen und Zauberer gegeben hatte. Das durfte doch nicht einfach als Versagen abgetan werden. Jetzt, wo die kleine Ariella Bonita auf die Welt gekommen war, wäre es vielleicht besser, wenn er sich auf einen weniger wichtigen Posten zurückzog oder vielleicht sogar ganz aus dem Ministerium ausschied. Doch konnte er die Zaubererwelt einem Hitzkopf wie Lorne Vane überlassen? Am Ende brachte der es fertig, einen offenen Krieg mit dieser Spinnenschwesternschaft heraufzubeschwören. Vielleicht hatte er das bereits, wenn stimmte, was deren Anführerin behauptet hatte. Immerhin stimmte, dass Semiramis Bitterling die jahrzehntelange Dienerin der Abgrundstochter Ilithula gewesen war. Also war sie eine klammheimliche Widersacherin aller freien Zauberer und Hexen, ja hatte womöglich auch Muggel entführt, um sie ihrer wahren Meisterin auszuliefern. Was hätte noch alles passieren können, wenn ihre dämonische Herrin nicht hinter dem Ruster-Simonowsky-Zauberer Julius Latierre her gewesen wäre?

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Vane war wütend. Hatte dieser Schwächling und Taktierer doch echt von ihm verlangt, zurückzutreten. Er wusste, dass er so nicht weitermachen konnte. Wollte er keine interne Revolte vom Zaun brechen und bei einem Scheitern in Doomcastle einziehen, so musste er die Angelegenheit mit der schwarzen Spinne noch heute erledigen. Klappte es, würde er seinen Rücktritt widerrufen. Verlor er, war er zumindest als mutiger Zauberer in Erfüllung seiner Pflicht gestorben und bekam ein ehrenvolles Begräbnis in der vor fünfzig Jahren tief unter Arlington errichteten Nekropole ehrenvoll dahingeschiedener Ministerialbeamter und Helden der nordamerikanischen Zaubererwelt. Er wollte es dieser Anthelia endgültig heimzahlen. Wo genau seine Eule mit der Feuerballfalle hingeflogen war bekam er nicht heraus. Doch er hatte eine Verdächtige, die er als Köder nutzen konnte, Romina Hamton. Schon lange vermutete er, dass sie zu Anthelias Hexenbande gehören mochte. Als er dann vor ihrer Muggelweltbleibe apparierte und an der Tür läutete hatte er auch den Grund für seinen Besuch.

Romina hamton blickte den kleinwüchsigen Strafverfolgungszauberer überrascht an, ja sogar ein wenig ertappt dreinschauend. Lorne Vane hob den Zauberstab und zielte auf die Hexe, die gerade ansetzte, ihrerseits den Zauberstab freizuziehen. "Maneto!" zischte Vane. Romina Hamton erstarrte mitten in der Bewegung. Vane schob sie in die Wohnung hinein. Als er im mit allen möglichen Muggelweltgerätschaften eingerichteten Wohnzimmer einen Klangkerker aufgebaut hatte zischte er: "So, junge Dame. Die Sache mit der Höhle war der eine kleine Fehler, den Sie sich nicht hätten leisten dürfen. Als unsere Internetsucher im Zusammenhang mit dieser verfluchten Höhle auch eine so genannte IP-Adresse fanden, über die die Suche nach Informationen lief bekamen wir heraus, dass der damit verbundene Elektrorechner von hier aus gesteuert wird. Na, wollen Sie mir nicht besser gleich verraten, wo ich Ihre achtbeinige Anführerin finden kann?" Da ploppte es leise hinter ihm. Er fuhr herum und berührte seinen oberen Kragenknopf. Vor ihm stand eine höchst ansehnliche Frau im scharlachroten Zweiteiler. Schulterlanges, dunkelblondes Haar umrahmte das blaßgoldene Gesicht mit den grünblauen Augen. In der rechten Hand hielt die andere einen silbergrauen Zauberstab. "Wenn Sie mich hier und jetzt angreifen, teuerste, sind Sie und ihre kleine Handlangerin morgen entweder in Doomcastle oder füttern Würmer", schnaubte Vane, der sich keineswegs überrumpelt oder gar unterlegen fühlte.

"Auch wenn du deine Gedanken verhüllst, kleiner Lorne, so habe ich von deinen letzten Aktionen her doch nichts anderes erwartet als einen Alarmzauber, der bei magischen Gefechten Zeitpunkt, Ort und Angriffsart weitermeldet. Sonst wärest du ja wohl nicht so dreist gewesen, meine werte Mitschwester ganz alleine ohne Schutzmannschaft aufzusuchen, nicht wahr?" fragte die unverhofft eingetroffene mit einer tiefen, unheimlich verlockenden Stimme.

"Sie wissen, dasss Sie in den Staaten nicht mehr geduldet werden. Uns liegt eine dringende Aufforderung des britischen Zaubereiministeriums vor, Sie und Ihre Helfershelferinnen dingfest zu machen", erwiderte Vane mit seiner hohen Stimme.

"So, tut es das? Nichts für ungut, Halbzwerg, aber wenn der wackere Arthur Weasley wirklich einen derartigen Antrag gestellt hätte wüsste ich das längst. Aber er hadert immer noch damit, dass er über Jahre hinweg die achso kompetente Semiramis Bitterling, bei der er selbst Unterricht hatte, nicht als Dienerin einer verwerflichen Kreatur erkannt hatte und erst so jemand wie ich oder der junge Monsieur Latierre kommen mussten, um Bitterlings wahre Verbundenheit zu enthüllen. Ich würde es nicht probieren, mich anzugreifen, Lorne Vane!" Doch Lorne Vane dachte nicht daran, die da vor ihm stehende Hexe weiterreden zu lassen und zielte blitzschnell auf sie. Doch sie wich noch schneller aus. Verdammt, in diesem Weib steckte auch die Gewandtheit einer Spinne. Er durfte es aber nicht zulassen, dass sie sich verwandelte. Dann war sie so gut wie unbesiegbar. "Maneto!" dachte er. Doch die andere hielt ihren Zauberstab ruhig nach unten. Er sah ein Flimmern um die Hexe. "Erdfriedenszauber, kleiner Lorne. Alles was nicht so mächtig ist wie mein Zauber wird unschädlich um mich herum in die Erde geleitet, wie die Blitze von jener praktischen Erfindung eines gewissen Benjamin Franklin. Oder dachtest du ernsthaft, ich würde mich dir so einfach ausliefern?"

"Sie sind verhaftet, Ms. Anthelia Nachname unbekannt!"

"Brüll nicht so hier herum, Lorne, die Nachbarn könnten meinen, meine werte Schwester triebe es mit kleinen Kindern!" raunte Anthelia.

"Das war ein Wort zu viel!" schrillte Vane. "Avada Ked..." Die letzten zwei Silben des Todesfluches bekam er nicht über die Lippen, weil unvermittelt ein schweres Buch aus dem Wohnzimmerregal herausschoss und ihm punktgenau den Zauberstab aus der Hand prellte. Vane tippte sich gegen den zweiten Kragenknopf. Ein leises Knacken erklang. Er hoffte, der Schildzauber würde jetzt reichen. Er sprang vor und tauchte nach unten, um den ihm entwundenen Zauberstab wieder aufzuheben. Doch dieser stieg gerade nach oben und landete auf dem breiten Schirm der fünfstrahligen Deckenlampe. Lorne Vane schnaubte laut und stieß sich ab, mit seiner überragenden Stärke hatte diese Hexe da nicht gerechnet. Er flog so hoch, dass er fast mit Wucht gegen die drei Meter hohe Decke knallte. Er grabschte nach dem Zauberstab. Doch dieser machte sich wieder selbstständig und segelte in Anthelias linke Hand. "Nur direkt auf dich einwirkende Zauber können verraten werden", hörte er Anthelia triumphieren. Ja, das stimmte. Wenn sie ihn mit einem Fluch angriff hätte sein Alarmrufknopf seine Leute punktgenau an den Einsatzort geholt. Gegen telekinetisch in Bewegung versetzte Gegenstände half ihm das nicht. Jetzt wusste er, warum dieses Weib sich so selbstsicher geben konnte. Doch noch hegte er die Hoffnung, der Jäger und nicht die Beute zu sein. Er hielt die Luft an und dachte: "Schlafsand!" Auf diesen Gedankenbefehl reagierte sein linkes Schulterpolster. Laut knallend zerplatzte es und setzte eine unsichtbare Gaswolke frei, die jeden, der davon einatmete, unverzüglich bewusstlos machte. Ohne es zu planen hatte er genau die Gasmischung benutzt, die am 19. Mai von Semiramis Bitterling verwendet worden war, um die Teilnehmer der Konferenz zu betäuben und Julius Latierre in ihre Gewalt zu bringen. In seiner Nase steckten die passenden Filterpfropfen, die genau auf diese Zusammensetzung abgestimmt waren. Als er mit seinen Füßen wieder auf festem Boden landete, sah er, wie Romina überkippte und fiel. Anthelia stand jedoch noch aufrecht und nieste einmal und dann noch mal. "Ich dachte, du ... Hatschi! wärest ein Kämpfer", knurrte Anthelia und nieste erneut. Vane erstarrte. Außer ihm hätte niemand dieses Betäubungsgas überstehen dürfen. Dann überkam ihn die Wut. Er duckte sich und rannte auf die andere zu, dabei daran denkend, dass er nur in die magische Aura der anderen hineinstoßen musste, um doch noch den Alarmrufzauber auszulösen. Anthelia schaffte es gerade so, dem wie ein kleiner Rammbock auf ihren Bauch zustoßenden Kopf Vanes auszuweichen. Lorne Vane krachte in ein Regal mit diesen in flachen Plastikschachteln steckenden silbernen Musikscheiben. Das Regal zerbrach. Dessen Inhalt prasselte auf ihn herab.

"Du gehst aber forsch ran, Kleiner", spottete Anthelia. "Wusste gar nicht, dass du so darauf brennst, in meinen Schoß einzudringen. Aber ich fürchte, da haben sie dich falsch aufgeklärt. Auf die art ist das nicht nur brutal, sondern höchst unbefriedigend."

"Du wirst mich töten müssen, Sabberhexe", schnarrte Vane und zog ein Messer. "Das hier ist mit einem Contramotus-Zauber dauerhaft untelekinierbar und aus mit Blutfeuerzauber behandeltem Gold. Das übersteht deine kleine Handlangerin nicht. Und wenn du mich tötest, egal wie, nehme ich dich und alle hier in der Wohnung mit ins Vergessen!"

"Verstehe. Ich soll also wohl meinen Zauberstab ablegen und dir deinen wiedergeben und dann zulassen, wie du mir Ketten anlegst oder mich sonst wie bewegungsunfähig machst?"

"Am besten wäre es, du würdest dich selbst töten", knurrte Vane. Anthelia musste darüber laut lachen. "Dann hat sich das nicht zu dir herumgesprochen, was ich deinem Dienstherren geschrieben habe? Mich ums Leben zu bringen würde mich mächtiger machen, als du und jeder Feind es wünscht. Eigentlich hätte ich es drauf ankommen lassen sollen, dass du den Todesfluch gegen mich vollbringst. Doch zum einen hätte ich mich wohl in dem Moment, wo du die letzte Silbe gerufen hättest, in meine Tiergestalt verwandelt und zum anderen, wenn er mich doch getötet und niedergestreckt hätte, hätte ich mich in etwas verwandelt, was keinen so nützlichen wie beglückenden Körper mehr gehabt hätte."

"Ja, eine Leiche", knurrte Vane. Anthelia musste wieder laut lachen. Dass immer noch das Gas in der Luft herumwaberte störte sie offenbar nicht mehr weiter.

"Eine Leiche wärest du dann geworden, wenn ich wirklich aus meinem Körper herausgerissen worden wäre, Kleiner."

"Du Sabberhexe nennst mich nicht kleiner", schrillte Vane. Das brachte das ockergelbe Leuchten, das Wände, Boden und Decke im Wohnzimmer auskleidete zum flimmern. Anthelia erzitterte. Einen Moment verkrampfte sie sich. Vane meinte, die Ansetze von Tastorganen aus der Stirn der Hexe hervorlugen zu sehen und eine Dunkelfärbung ihres schönen Gesichts zu erkennen. Doch dann stand die Hexe wieder so vor ihm, wie sie sich unter Menschen trauen konnte. Sie fauchte: "Du wolltest haben, dass alle Hexen sich dir zum Verhör stellen, sich erniedrigen, und entwürdigen lassen. Gut, töten will ich dich nicht, Lorne Vane. Aber ich werde mir deinen blindwütigen Halbzwergenaktionismus nicht weiter bieten lassen. Nur weil deine Mutter dich nach deiner Geburt verstoßen hat, weil du die Brut eines betrunkenen Zwerges warst, ist das keine Erlaubnis, alle Hexen zu schikanieren und ..." Vane brüllte auf und rante auf Anthelia zu. Diese wich wieder aus. Da knallte Vane mit dem Kopf gegen die Wand. Das Wohnzimmer erzitterte wie unter einer Explosion. Der Strafverfolgungsleiter fiel halb benommen zu boden. Die in der Nase steckenden Gasfilter fielen aus seinem Mund heraus. Nun nicht mehr vor dem freigesetzten Gebräu geschützt half ihm auch die hohe Gifttoleranz nicht mehr lange, die der der Spinnenführerin immer noch weit nachstand. Eine Viertelminute verging, bis Vane vollkommen besinnungslos war. Anthelia lachte erneut. "Wie symbolträchtig, Kleiner. Mit dem Kopf durch die Wand wollen und dann in die für mich gegrabene Gasgrube hineinfallen. Das erspart mir Zeit und Verdruss!" Sie ging zu ihm hin und zog ihm eigenhändig alles aus, was er am Körper trug. Ein Beobachter hätte erkennen können, wie geübt und flink sie darin war, jemanden zu entkleiden. Es vergingen keine dreißig Sekunden, bis sie Lorne Vane völlig nackt über ihre Schulter warf und disapparierte.

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Minister Cartridge war schon seit vier Stunden in seinen gut gesicherten Privaträumen, als sein Sicherheitsbeauftragter bei ihm anklopfte. Godiva Cartridge hatte die kleine Ariella Bonita gerade unter einer Stillschürze zurechtgelegt, damit sie ihre Abendmilch bekam. Der Minister ging zur Tür, um den Sicherheitstruppler abzuwimmeln. "Was immer es ist, wenn wir nicht unmittelbar angegriffen werden oder wieder mal Dämonsfeuer im Ministeriumsgebäude wütet bitte schriftlich!" rief er.

"Sir, soeben sind drei Uhus im Posteingang für magische Personenregistrierung, Familienfürsorge und Ausbildung gelandet. Sie haben einen Binsenkorb getragen, in dem ein wohl gerade erst ein paar Tage alter, ziemlich klein geratener Säugling steckt. Öhm, das Baby behauptet, Lorne Vane zu sein."

"Es behauptet ... Infanticorpore-Fluch?" stieß Cartridge aus. Er konnte sich denken, dass sich Vane wahrhaftig übernommen hatte.

"Noch schlimmer, Sir. Öhm, das Baby ist ein kleines Mädchen."

"Contrarigenus? Der geht bei einem Halbzwerg?" entschlüpfte es Cartridge. Dann wurde ihm klar, dass Vane auf eine sehr heftige Weise bestraft worden war. Vorausgesetzt, die beiden Körperumwandlungsflüche ließen sich nicht wieder umkehren. Er warf seiner Frau einen bedauernden Blick zu. Unter seiner Schädeldecke hörte er ihre Gedankenstimme: "Wenn es wirklich Vane ist gib ihn oder sie oder wie immer an die Ammen im Honestus-Powell-Krankenhaus!" Offenbar dachte Godiva daran, sie müsste die Amme für einen auf Babygröße zurückgeschrumpften Untergebenen ihres Mannes geben.

Milton Cartridge ließ sich den Korb und den in grobe Windeln gewickelten Inhalt zeigen. Per Gedankensprechen erfuhr er, dass es wirklich jemand war, der früher gedacht hatte, Lorne Vane zu sein. Bei dem abgelieferten Säugling war noch ein Zettel:

Sehr geehrter Herr Minister,

ich war gezwungen, Ihren übereifrigen und blindwütig vorgehenden Strafverfolgungsleiter eine sehr gründliche Lektion zu erteilen, da er versucht hat, mich in eine Falle zu locken und dann noch versuchte, mich zu töten. Wie in meinem letzten Brief an Sie erwähnt nehme ich Angriffe auf Hexen, die durchaus meine Mitschwestern sein oder werden könnten oder mich persönlich nicht mehr unvergolten hin. Da mir nicht daran gelegen ist, den Ruf einer skrupellosen Mörderin an Ministeriumsleuten wiederzubeleben, den Ihr Vorgänger Wishbone mir anhängen wollte, entschloss ich mich, den gegen alle Hexen geführten Privatkrieg Ihres Mitarbeiters hier und heute zu beenden, ohne den Körper zu töten. Vielmehr habe ich beschlossen, dass er sein vertanes Leben noch einmal von vorne beginnen soll, allerdings mit Wissen um seine besser ihre Vergangenheit, jedoch ohne die Ehre, von mir oder einer meiner Mitschwestern neu aufgezogen zu werden. Vielleicht kann Lorna Vane aus ihrem neuen Leben auch was gewinnbringendes für sich und ihre Mitmenschen schöpfen. Daher lege ich ihr Leben in die bewährten Hände Ihrer Familienstandsbeauftragten sowie einer fürsorglichen Ziehmutter. Auch wenn Sie nun davon ausgehen müssen, eine Handhabe gegen mich zu haben, mich offen jagen zu lassen können Sie mir wenigstens nicht vorwerfen, Mitarbeiter von Ihnen in Erfüllung ihrer Pflicht ermordet zu haben.

Mit noch nicht ganz erstorbener Hochachtung

Die schwarze Spinne

P.S. Ich habe die gnädige Einberufung in die großartige Gruppe der Hexen vor der Wiederverjüngung durchgeführt. Da der Zeitpunkt der Wiederverjüngung nicht von mir enthüllt wird wird es nicht gelingen, das Findelkind in einen blindwütig herumtobenden männlichen Halbzwerg zurückzuverwandeln.

"Sie schreibt zumindest nicht, dass er oder sie mit meiner Tochter zusammen aufwachsen soll", grummelte der Minister. Dann sah er auf das winzige Wesen, gerade mal dreißig Zentimeter lang und doch vollkommen lebensfähig. "Ich habe Sie vor überheftigen Aktionen gewarnt, Vane", grummelte Cartridge. Da hörte er eine vom Klang her nicht mehr geschlechtlich zuteilbare Gedankenstimme: "Ich hätte dieses Biest fast erwischt. Dann wurde ich ohnmächtig und bin so wieder aufgewacht. Ich weiß nicht mehr, wer ich eigentlich bin. Bin ich jetzt Lorne Vane oder wer oder was? Dieses Weib gehört zerflucht!!"

"Besser nicht", schickte der Minister zurück. Denn was Vane nicht wusste und der Minister auch keinem erzählen durfte: Seine Frau hatte ihre ganz eigenen Kontakte bemüht, näheres über die schwarze Spinne zu erfahren. Seitdem wusste erst sie und dann er, dass es fatal wäre, Anthelia zu töten. Mit einem unberechenbaren, rachsüchtigen Aeromorphen hundertfacher Stärke würden sie nicht fertig werden. So blieb ihm nur, den über seine Eigenmacht gestolperten Ex-Strafverfolgungsleiter in die Obhut der Heilerinnen zu geben. Denn seine Frau hatte es unmissverständlich klargestellt, dass sie die nun als Lorna Vane neu aufwachsende Neubürgerin nicht mit Ariella Bonita zusammen aufziehen würde. Weil er ähnliche Aktionen wie die Vanes nicht herausfordern wollte stellte er Vanes Wiederverjüngung als gescheiterten Angriff gegen eine ihm verdächtige Hexe hin, die er für eine der Spinnenschwestern hielt. Leider stimmte nämlich, dass man einen erst durch den Geschlechtsumwandlungsfluch Contrarigenus verzauberten und dann erst infanticorporisierten, dessen genauen Geburts- und Wiederverjüngungszeitpunkt unbekannt war, nicht vollständig zurückverwandeln konnte. Immerhin schaffte es Cartridge, eine Übereinkunft mit der Heilerin Eileithyia Greensporn zu treffen, dass von Vanes Personenstandswechsel kein Zeitungsbericht herausgegeben wurde.

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Sie standen in mitten der hohen Tannen, in denen sich leise säuselnd der Sommerwind fing. Julius Latierre löste seine Hand vom linken Arm Camille Dusoleils. Er blickte nach vorne. Dort auf dem mit Tannen bewaldeten Hügel sollte die Villa der Binoches stehen. Als er daran dachte, sah er, wie die dichten Tannenreihen auseinanderglitten und zwischen ihnen ein von einer hohen Mauer umfriedetes Landhaus mit vier Ecktürmchen entstand. Der Anblick war sowohl faszinierend wie verstörend. Denn es sah ganz so aus, als würde das Haus aus der Mitte heraus in die Breite gezogen und schöbe dabei alle benachbarten Bäume zur Seite. Es war nichts zu hören. Keine Bodenerschütterung zeigte an, dass hier mal eben ein ganzes Grundstück aus dem unberührten Wald heraus Raum griff. Der Vorgang dauerte nur wenige Sekunden. Julius fragte seine Begleiterin, ob sie mit dem silbernen Stern Ashtarias nicht auch gleich durch alle Apparierabweisungen hindurchgedrungen wäre.

"Ianshira hat mir die Worte verraten, unsichtbare Sperren zu durchbrechen. Aber sie hat mir auch geraten, dies nur dann zu tun, wenn es eine Notlage gäbe, die das erfordere. Bei Adrian und dir war das eine Notlage, weil ihr zwei nicht wissen konntet, ob Bitterlings Haus ihren Tod länger als eine Stunde überstehen würde. Wir hingegen haben aber Zeit, und es besteht keine unmittelbare Gefahr, die uns ins Haus hineintreibt", erwiderte Camille. Julius erinnerte sich daran, was Dumbledores Cousine Sophia Whitesand über die Schmuckstücke Ashtarias gesagt hatte. Sie durften nicht dazu benutzt werden, um sich über alle vernünftigen Verhaltensregeln hinwegzusetzen, hochmütig aufzutreten und die durch sie verliehene Macht zu missbrauchen. In einen gegen das Hineinapparieren gesicherten Bereich hineinzuapparieren, weil man es konnte konnte leicht als überheblich ausgelegt werden. Womöglich funktionierte es auch nicht, jene silberne Lichtspirale zu erschaffen, wenn der Träger eines Erbstückes Ashtarias keine Angst um sich oder andere fühlte. Er dachte daran, dass Maria Valdez' Silberkreuz sich in seinen Händen in einen Mehrling von Camilles und Adrians Silberstern verwandelt hatte und ihm als einzigen Zugriff auf den mit Blutfrieden gesicherten Schrank Semiramis' Bitterlings ermöglicht hatte, Adrian hingegen aber weit von dem Schrank ferngehalten wurde. Als er Maria Valdez ihr Erbstück zurückgegeben hatte, war aus dem Pentagramm wieder ein christliches Kreuz geworden, das, woran sie glaubte und dessen Schutz sie erhoffen konnte. Es gab bestimmt noch eine Menge Geheimnisse um Ashtarias sieben Kinder und die von ihnen gefertigten Talismane. Vielleicht fanden sie hier und heute ein paar weitere Antworten.

"Wir können jetzt in das Haus hinein", sagte Camille und ging voran. Julius folgte ihr, wobei er seine Neugier zügelte, nicht weit vorauszueilen. Am Ende durfte er nur dann in das Haus hinein, wenn die legitime Erbin des Grundstückes ihn an der Hand hielt. In den mittlerweile acht Jahren in der magischen Welt war er auf alles gefasst.

Sie durchschritten das Tor in der Mauer und stiegen die Treppe zum Eingangsportal der hochherrschaftlichen Villa hinauf. Camille hatte Julius nur erzählt, dass die Eingangshalle sehr groß war. Wie groß das war erkannte er erst, als er, ohne Camilles Hand halten zu müssen, hinter ihr die Villa Binoche betrat und sich umsah. Ja, das war schon sehr groß, schon eher eines Palastes würdig, dachte Julius. Sicher, im Vergleich mit den gigantischen Gebäuden in der versunkenen Stadt Khalakatan war diese Halle winzig. Doch Julius fühlte sich unter der vier Meter hohen Decke doch irgendwie klein. Dann sah er den Treppenaufgang und die links und rechts davon angeordneten Türen. Camille sagte ihm in gedämpfter Lautstärke, dass die Türen rechts von der Treppe zu weiteren großen Räumen wie einem Ballsaal und einem Speisesaal für mehr als hundert Gäste führte. "Meine Großmutter Claire hat hier ihre Hochzeit gefeiert. Es waren dreihundert geladene Gäste hier. Die einen konnten essen, die anderen konnten im benachbarten Saal tanzen. Meine Mutter wollte aber nicht hier feiern, weil sie ihren Schulfreunden nicht als Erbin einer reichen Familie vorkommen wollte und sie ja am Mittsommertag geheiratet hat, wo es, so ihre Worte, eine Schande gewesen wäre, in einem geschlossenen Raum zu feiern, wo es unter freiem Himmel wesentlich schöner war."

"Am Mittsommertag hat deine Mutter geheiratet?" fragte Julius. Camille nickte und sagte dann noch: "Wenn du mir jetzt damit kommst, dass die Hochzeitsnacht dann aber viel zu kurz war, mein Junge, darf ich dir gerne verraten, dass meine Eltern nicht auf die Nacht warten mussten, um einander zu lieben. Abgesehen davon wollten sie beide den längsten Tag des Jahres feiern, eben um das Sonnenlicht voll und ganz auszunutzen."

"Ich habe doch nichts gesagt", erwiderte Julius unschuldig dreinschauend. Camille musste jedoch grinsen und sagte, dass er so verwegen gelächelt habe, als er gefragt hatte, dass jedes Wort überflüssig gewesen sei. Darauf wagte Julius keine Erwiderung. Statt dessen deutete er auf die Türen links von der Treppe. Er war gespannt auf den Keller mit der doppelten Tür. Da wo Camille ihre grüne Tasche gefunden hatte musste er nicht hin. Dort waren wohl nur die Sachen von Geneviève Lucines verschwendungs- und prunksüchtiger Schwester verstaut. Nachher hängte sich noch dieser Einhornfellumhang an ihn dran, weil er mit seinen Beziehungen sicher viel Gold verdienen mochte. Darauf konnte er locker verzichten. Doch was hatte Camille ihm erzählt? Der Schrank in diesem Raum konnte durchaus vom Geist von Genevièves Schwester beseelt sein. Auch das musste er nicht unbedingt genauer erkunden.

Zwei Türen hatte Camille aber nicht aufbekommen. Offenbar war sie als Hexe nicht in den dahinterliegenden Räumen erwünscht. War Julius es, weil er ein Zauberer war? Er ging an die erste dieser Türen und berührte vorsichtig die Türklinke. Sie erwärmte sich kurz. Julius fühlte, wie ihm etwas in den Schritt tastete, als wolle jemand nachfühlen, ob er wirklich ein Mann war. Da rasselten Verriegelungen, und die Tür ging auf. Julius sah Camille fragend an. Diese deutete aus sicherem Abstand auf die Tür und nickte ihm zu. Er nickte zurück und betrat den Raum hinter der Tür.

Julius vermeinte, in einem Tresorraum zu stehen. Links und rechts reihten sich große Metallschränke die fensterlosen Wände entlang. Der Boden war mit einer glänzenden Metallschicht bedeckt. Julius staunte. Das rosige Metall kannte er sehr gut. Woher hatten die Binoches echtes Orichalk? Hatte es von jenem mysteriösen Metall aus dem alten Reich noch anderswo Vorräte gegeben? Oder war es am Ende eine auf magische Weise erzeugbare Substanz, deren Herstellungsrezept von den Überlebenden des Endzeitkrieges bewahrt und überliefert worden war? Jedenfalls waren der Boden, die Decke und die Schränke mit jener magisch so starken Metallform überzogen. Julius wusste, dass das rosige Metall pro Raumeinheit mehr Zauberkraft aufnehmen konnte als Gold. Das wollte schon was heißen. Vor allem aber war ein einmal mit Zaubern belegter Gegenstand aus Orichalk nicht mehr mit Magie und wohl auch mit keinem anderen Gewaltmittel zu verändern. Daher wurden nur die Sachen damit hergestellt, die wirklich mächtige Zauber aufnehmen und bewahren sollten. Während Julius in diesem Raum herumging und dabei auf mögliche magische Schwingungen lauschte, fragte er sich, was es so wertvolles gab, das in den Schränken enthalten war. Er führte mit seinem Zauberstab einen höheren Magieerspürungszauber aus, der über das einfache Anzeigen magischer Kraftquellen hinausging. Tatsächlich erspürte er auf diese Weise starke Strömungen, die sowohl aus dem Boden in die Decke als auch um die Schränke herumführten. Julius wünschte sich, einen verlässlichen Anzeiger wie das Pflegehelferarmband dabei zu haben, um die Ausrichtung dieser Zauber zu bestimmen. Der Umstand, dass Flucherkennungszauber nicht anschlugen beruhigte ihn nicht. Wenn der Boden und die Schränke mit einer Orichalkschicht überzogen waren, so konnte die gefährliche Magie sich ausschließlich darin konzentrieren, ohne eine Spur von Ausstrahlung zu äußern. Dennoch wollte Julius es wissen. Er zog sich mit Fluchabwehrzaubern belegte Handschuhe an, wie er sie auch in der Himmelsburg benutzt hatte, um Ailanorars Flöte aus dem magischen Würfel zu holen. Damit betastete er den Schrank gleich neben der Tür. Er fand kein Schloss und keinen Griff. Dann klopfte er vorsichtig gegen den Schrank. Er klang massiv, eher wie ein fester Metallkörper. War das vielleicht kein Schrank? Julius wendete den Hohlraumerspürungszauber an, den er im sechsten Schuljahr im Zusammenhang mit Erdelementarzaubern erlernt hatte. Dieser wurde jedoch regelrecht verschluckt. Damit wusste Julius genausoviel wie vorher. Sollte er es riskieren, die Handschuhe abzunehmen? Sicher war er nur, dass der Öffnungszauber Alohomora ebenso versagen würde wie ein Reducto-Fluch. Er konzentrierte sich, um eine Gedankenfrage an Temmie zu richten. Die in der geflügelten Riesenkuh Artemis vom grünen Rain wiederverkörperte Lichtmagierin Darxandria konnte ihm sicher raten, was er ... Ein stechender Schmerz durchzuckte seinen Kopf, als er sich auf sie einzustellen versuchte. Diese Art von Mentiloquismussperre kannte er noch nicht. Er versuchte, Camille in Gedanken zu erreichen. Doch wieder durchzuckte ihn ein heftiger Kopfschmerz. Dabei meinte er sogar, eine Salve Blitze vor seinen Augen aufflammen zu sehen. Einen Moment lang sah er alles um sich herum leicht verschwommen. Sein Atem ging stoßweise. Erst nach fünf weiteren Sekunden klärte sich seine Sicht wieder. Von den Kopfschmerzen war nichts mehr zu fühlen. "Das ist schon heftig. In Beaux wurde Melo nicht so abgeblockt", grummelte Julius. Vielleicht sollte er es mit dem Herzanhänger versuchen, Millie zu erreichen. Doch als er diesen unter seinem Umhang hervorholen wollte, meinte er, ein lautes Dröhnen direkt im Kopf zu hören. Er ließ das pulsierende Herz also da, wo es war. Vielleicht konnte Millie ihn von außen anmentiloquieren. Doch was, wenn der Abwehrzauber dagegen dann noch heftiger zuschlug? Julius war auf sich allein gestellt. War er das? Er ging zur Tür und versuchte die Klinke zu drücken. Doch die Tür ging nicht auf. Ja, er war auf sich allein gestellt. Denn er war absolut sicher, dass kein Laut aus diesem Raum hinausdringen konnte. Aber was konnte und musste er hier jetzt tun? Er wusste, dass er hier nicht so lange herumstehen durfte, bis er verhungerte. So riskierte er es, die fluchsicheren Handschuhe auszuziehen. Darauf bedacht, die Hand sofort zurückzuziehen, wenn er ein fremdartiges Gefühl verspürte, näherte er die Finger seiner linken Hand der Tür. Da flammte es um ihn herum golden auf. Seine Hand wurde von einer unsichtbaren Kraft zurückgedrängt. Gleichzeitig fühlte Julius wieder jenes Tasten zwischen den Beinen, ja sogar etwas wie einen sich immer enger um seine Geschlechtsteile verkrampfenden Griff. Erst als er den ihm dabei zugefügten Schmerz nicht mehr verdrängen konnte hörte diese unangenehme Behandlung auf. Das goldene Licht um ihn herum blieb jedoch. Der vor ihm stehende Schrank erzitterte. Für einige Sekunden meinte Julius, einen leuchtenden Schlüssel zu sehen, der jedoch nur einen Sekundenbruchteil stabil blieb, bevor er sich in helle Funken auflöste, die vom Schrank aufgesaugt wurden. Offenbar fand eine magische Wechselwirkung statt, wobei die eine Kraft den Schrank zugänglich machen sollte, die andere aber genau dagegenhielt. Julius kannte den goldenen Strahlenkranz um seinen Körper. Das war die sonst unsichtbare Siegelaura Darxandrias, die ihm in der Festung des alten Wissens aufgeprägt worden war und garantiert durch Ashtarias Astralkörper verstärkt worden war. Sicher hatte sein letztes großes Abenteuer in der Höhle Ilithulas diese magische Energieumhüllung noch weiter aufgeladen. Hieß das, dass er deshalb den Schrank nicht anrühren konnte, weil er von einem Energieschleier weißer Magie eingehüllt wurde? Die magische Wechselwirkung ebbte ab. Der Schrank blieb verschlossen. Auch die weiteren zwanzig Schränke verweigerten ihm den Zugang. Immer wieder erzitterten sie, und um Julius' Körper flirrte für wenige Sekunden die goldene Aura. Der schmerzhafte Griff der unsichtbaren Hand an seinen Weichteilen blieb jedoch diesmal aus. Julius wollte nur noch den breiten Schrank am Ende des Raumes untersuchen. Vielleicht konnte er zumindest herausfinden, ob es nur an Darxandrias Siegelaura lag oder noch an etwas anderem. Als er sich dem Schrank näherte war er schon auf das goldene Leuchten gefasst. Doch es blieb aus. Als er die Hand ausstreckte und die Tür berührte, erzitterte diese. Mehr geschah nicht. Julius stand nun wie der Ochse vor dem Berg da. Sicher, wenn er nicht berechtigt war, an einen der Schränke zu gelangen, musste er sich eben damit abfinden. Womöglich waren die auch nur auf männliche Erben der unmittelbaren Binoche-Blutlinie abgestimmt, und in seinen Adern floss kein Binoche-Blut. Emil Odin könnte womöglich hier an die Schränke, dachte Julius. Doch Camille hatte eindeutig klargestellt, dass nur er, seine Frau Mildrid und sie über die Villa bescheid wissen sollten. Selbst wenn Camille ihrem Bruder eher über den Weg traute als dessen untreu gewordener Frau Cassiopeia hatte sie die letzte Botschaft ihrer Mutter so ausgelegt, dass nur Julius und womöglich sie als Trägerin des Heilssterns Ashtarias die letzten Geheimnisse der Vorfahren wissen durften. Sonst hätte Aurélie Odin ihre wertvollsten Erbstücke ja gleich an ihre beiden Kinder weitergegeben, erkannte Julius. Er betrachtete noch einmal die Schränke, suchte nach Verzierungen oder gar Inschriften. Doch er sah nichts dergleichen. Seine Enthüllungszauber verpufften unwirksam. Auch der altaxarroi'sche Illusionszerstreuungszauber Katarash brachte nichts zum Vorschein. Er musste davon ausgehen, dass das, was er hier sah, hörte und anfassen konnte die Wirklichkeit war und keine magische Täuschung. Julius befand nach insgesamt fünfzehn Minuten in diesem Raum, dass er hier nichts mehr erreichen mochte. Er ging zur Tür und drückte die Klinke. Wieder meinte er, jemand fasse ihm mit unsichtbarer Hand in den Schritt. Die Klinke erwärmte sich. Dann gab sie dem Druck seiner Hand nach. Die Tür ging auf. Julius verließ den Raum mit den Metallschränken, die ihm nichts von ihrem möglichen Inhalt preisgeben wollten. Vielleicht, so dachte er, war das auch gut so. Er versuchte nun, mit Temmie zu mentiloquieren. Es gelang. Als sie fragte, was er vorgefunden hatte und erfuhr, dass er abgewiesen worden war schickte sie ihm zurück: "Jener, der den Raum eingerichtet hat mag zur Glaubensgemeinschaft der Saimirianin gehören, einer Gruppe von Trägern der Kraft, die ausschließlich männlichen Trägern der Kraft Zugang zu ihrem Wissen gewähren wollten und ebenso die Macht nur in die Hände von männlichen Trägern der Kraft legen wollten, was Wissenund Reichtümer anging. Meine Siegelaura stört die Bewahrer der Habseligkeiten wohl, weil es eben die Siegelaura einer Königin ist. Hinzu kommt, dass du im Kampf mit Ilithula das Erbstück einer Tochter Ashtarias benutzt hast. Deshalb wurdest du geprüft, ob du ein natürlicher Mann bist oder nicht doch eine durch Verwandlungskraft umgestaltete Frau, die Zugang zu diesem Raum gesucht hat." Julius stimmte seiner fernen Gedankensprechpartnerin zu. Damit erklärte sich auch, warum etwas verhindert hatte, dass er mit ihr oder seiner Frau mentiloquierte. Dieser Raum durfte nur Männern erläutert werden. Sobald jemand daran dachte, eine Frau zu erreichen oder sie um Erlaubnis oder Rat zu bitten, wurde er schmerzhaft davon abgehalten. Als er Camille seine Erkenntnisse mitteilte sagte diese:

"Dann weiß ich was in dem Raum ist, Julius. Meine Mutter hat mir mal erzählt, dass die Binoches lange Zeit kein Verlies in Gringotts hatten, weil meine Vorfahren den Kobolden nicht trauten. Dann haben die wohl diesen Raum mit den Schränken eingerichtet, um das Familiengold aufzubewahren. Insofern könnte stimmen, dass du auch deshalb nicht an die Schränke durftest, weil du kein geborener Nachfahre der Binoches bist. - Aber bevor du es auch nur vorschlägst, mein Junge, ich werde deshalb nicht vor meinem Bruder hintreten und ihm sagen, dass wir jetzt wissen, wo das Haus seiner und meiner Großeltern steht. Er könnte darauf verfallen, dass dieses Haus nur ihm allein gehören darf, und er das bestimmt noch vorhandene Vermögen, das hier liegt, nur für sich beanspruchen. Er könnte sogar so tun, als gäbe es hier nichts mehr, selbst wenn ich im Namen seiner Tochter Melanie auf eine lückenlose Aufstellung aller hier enthaltenen Goldvorräte bestehen dürfte. Dann soll das Binoche-Gold bleiben wo es ist."

"Bist du dir da ganz sicher, Camille?" fragte Julius nach. Er kannte den Spruch vom Blut, das dicker als Wasser war. Camille nickte so heftig, dass ihr schönes, schwarzes, leicht gewelltes Haar in ihr Gesicht wehte. "Meine Mutter hat dir den Schlüssel zu diesem Haus in die Hand gedrückt und wohl auch darauf gesetzt, dass du nur mir, ihrer wahren Erbin, davon was erzählst oder überlassen möchtest. Sie hätte Emil ja sonst schon vor ihrem zu frühen Abschied von der Welt einweihen können."

"Ich sehe ein, dass dich die Sache mit dem Erbe deiner Mutter wohl noch gut umtreibt", seufzte Julius. Er fragte sich aber, ob er einem Geschwister, mit dem er Krach bekommen hatte, die Tür zu viel Geld aufmachen würde, wenn dieses Geschwister sich als sehr raffgierig gezeigt hätte. Mit Monsieur Emil Odin hatte er zwar keinen Streit und sah ihn eher als eine Art Pantoffelhelden an, der unter der Fuchtel seiner früheren Frau gestanden hatte. Aber sowas, das wusste er jetzt aus eigener Erfahrung als Ehemann, suchte sich jemand irgendwie auch so aus. Also stimmte er Camille in ihrem Entschluss zu, dass nur sie beide in diesem Haus herumlaufen sollten. Allerdings war jetzt fraglich, ob sie beide in jenen Raum hineingelangten, der durch eine Flügeltür mit einem Mann und einer Frau darauf verschlossen war. Sie wollten es aber auf jeden Fall versuchen.

Die zweite für Camille nicht zu öffnende Tür blieb auch Julius verschlossen. Auch wenn er immer wieder versuchte, die Klinke niederzudrücken rührte sich das Türblatt nicht. "Okay, dann kommt eben keiner hier hinein", bemerkte er dazu. Camille nickte nur.

Julius besah sich die verschiedenen Weinkeller. In dem Raum mit der Wandmalerei, die eine freizügige Feier darstellte setzte er seine Omnilexbrille auf. Auch Camille hatte sich ein so nützliches Instrument mitgenommen. Julius sagte ihr nur, dass es besser sei, die Schrift auf dem Fass leise zu lesen. Wenn es nämlich eine Zauberformel war, sollte diese besser nicht laut ausgesprochen werden. Zwar bangte er darum, dass bei seiner Ruster-Simonowsky-Begabung auch das Denken an eine Zauberformel reichte, um den damit bewirkbaren Zauber zu entfesseln. Doch dagegen konnte er was machen. Er dachte einfach das in Khalakatan gelernte Lied des inneren Friedens, das seinen Geist nach außen hin verschloss und somit gegen Gedankenhörer und Beeinflussungszauber schützte. Als er die griechischen Buchstaben auf dem Weinfass durch die Omnilexbrille betrachtete, erzitterten diese. Dann zerliefen sie sogar und verschwanden im Fass, das nun glatt und unverziert dalag. Die stumm auf dem Wandgemälde mit ihren lustvoll an ihnen hängenden Gespielen tanzenden Mädchen erstarrten. Alle gemalten Gestalten blickten auf Camille und Julius. Sie wirkten nun starr wie unmagisch gemalte Wandbilder, wie sie auch in alten Kirchen an Wänden und Decken zu finden waren. Erst als die beiden ihre besonderen Lesebrillen wieder abgenommen hatten, kehrte die ins Fass geschnitzte Schrift wieder zurück, und die ausschweifende Feier auf dem Wandgemälde ging weiter.

"Also kannte man damals schon Zauber, um unbekannte Schriften zu entziffern und hat eine Abwehr dagegen aufgeboten", sagte Camille. Julius fügte dem noch hinzu, dass sie froh sein konnten, dass die Abwehr sie nicht geblendet hatte, weil sie versuchten, ein Geheimnis zu ergründen, das ihnen nicht zustand. Camille sagte dazu: "Dagegen hat Florymont wiederum was in die Brillen eingebaut. Sobald ein gegen dieAugen zielender Zauber entsteht, verdunkeln sich die Gläser und spiegeln den auf die Augen gerichteten Zauber auf den Ursprungsort zurück. Das soll so schnell gehen, dass der Benutzer es womöglich gar nicht mal merkt, dass seine Brille für kurze Zeit verdunkelt war. Mein Mann kennt genug gemeine Zauberfallen." Julius stimmte ihr erleichtert zu. Von einer Verdunkelung seiner Brille hatte er nichts mitbekommen. Er musste nur grinsen, weil er an die gefahrenempfindlichen Sonnenbrillen aus "Per Anhalter durch die Galaxis" denken musste. Als Camille ihn fragte, was ihn so plötzlich amüsierte beschrieb er ihr jene ominösen Sehhilfen, die bei drohender Gefahr vollständig dunkel wurden, damit ihr Träger die Gefahr nicht ansehen und davon geschockt werden musste. "Hast du diese kuriose Geschichte noch als Buch da, Julius?" fragte sie. Ihr Begleiter bejahte es, allerdings habe er nur eine englische Ausgabe davon. "Das macht nichts. Mit der Omnilexbrille kann er die auch lesen und verstehen", grinste Camille. Dann deutete sie wieder auf das Fass. "Es ist dir sicher aufgefallen, dass die halbnackten Tänzerinnen da sofort erstarrt sind, als der Leseabwehrzauber im Fass in Kraft trat." Julius bestätigte das und vermutete: "Womöglich kann mit dem, was auf dem Fass steht irgendwas gemacht werden, was unmittelbar auf das Bild wirkt. Ich frage mich nur gerade, was das für eine Szene sein soll, irgendeine uralte Fruchtbarkeitsfeier oder was?"

"Möglich ist es. Am Ende kann jemand mit hilfe des Fasses noch etwas bewirken, dass er eine Art Aura-Veneris-Fluch um sich herum erzeugt oder in die dargestellte Szene eintauchen, wie Antoinette und du mit dem Intrakulum in die gemalte Welt übertreten könnt."

"Oder die gemalten da in unsere Welt hinüberrufen. Ähm, hast du mit dem Stern schon geprüft, ob das Bild mit schwarzer Magie geladen ist?"

"Dazu müsste ich über das Fass klettern. Von hier aus habe ich wenigstens keine Reaktion mit dem Heilsstern hervorgerufen. Aber im Fass selbst steckt ein Zauber, auf den der Heilsstern reagiert." Sie berührte das Fass mit ihrem Talisman. Dieser leuchtete blutrot auf. Sofort fielen die gemalten Tänzer vor ihren Partnerinnen auf die Knie und erstarrten. Erst als Camille den Silberstern wieder fortzog kehrte das lautlose Leben in die gemalte Festgesellschaft zurück. "Genau die Reaktion hatte ich beim ersten Mal schon", bemerkte die Gartenhexe aus Millemerveilles.

"Schon heftig, was deine Vorfahren so alles hier eingebaut haben", musste Julius nun doch loswerden. Zwar hatten sie bisher nichtswirklich erschütterndes gefunden. Doch das konnte noch kommen.

Julius fühlte eine gewisse Beklommenheit, als er mit Camille in dem summenden Raum mit den wabenförmigen Nischen war, in dem Fässer gelagert waren. Doch weil hier außer der gemalten Bienenkönigin nichts wirklich besonderes war und die Fässer auch keine weitere Bezauberung besaßen blieben die beiden nur wenige Minuten. Dann besuchten sie die unterirdischen Laboratorien und Lagerstätten, wo in Konservierungslösung schwimmende Organe und Tierkörper aufbewahrt wurden. Julius, der mit Laboratorien keine Probleme hatte, bestaunte die eingelegten Tierpräparate. Er vermutete wie Camille, dass hier Kreuzungsversuche gemacht worden waren. Ob die dabei entstandenen Lebewesen Misserfolge oder Erfolge waren konnte wohl keiner mehr sagen. "Das Ministerium würde sofort alles hier konfiszieren", seufzte Julius. Er dachte daran, dass er bei seiner Einstellung einen Vertrag unterschrieben hatte, alle mit magischen Wesen verbundenen Vorkommnisse zu melden. Andererseits lagen die Experimente hier sicher schon mehr als hundert Jahre zurück. Wenn das bis heute keinem wichtig war, das Ministerium zu informieren, dann musste es auch weiterhin nichts davon wissen. Denn die hier eingelagerten Tierkörper waren sicher tot. Sonst hätte wer auch immer sie sicher anders aufbewahrt, in einer Art Zeitverzögerungsfeld, um sie nur alle zehn Jahre füttern zu müssen oder dergleichen.

Endlich standen sie vor der Doppeltür, auf deren einer Hälfte eine Frau und auf der anderen ein Mann abgebildet war. Die Tür bestand wahrhaftig aus Orichalk. Camille und Julius ergriffen sich bei den Händen und näherten sich der Tür. Da leuchtete die Tür in einem purpurnen Licht auf, und ein Duett aus einer Frauen- und einer Männerstimme sagte zur selben Zeit:

"Vereint im Lied die rechten Worte, öffnen wir euch gern die Pforte. Doch nur frei und rein, lassen wir euch ein." Julius fühlte sich an das großzügige Geschenk der Bewohner Millemerveilles erinnert, als Millie und Er zu seinem sechzehnten Geburtstag das Grundstück am Farbensee und das Apfelhaus erhalten hatten. Auf dem Etui mit den Schlüsseln stand ein ähnlicher Spruch. Welches die richtigen Worte waren ergab sich wohl aus der Schrift unter den beiden Figuren auf der Tür. Julius versuchte noch einmal, mit Temmie zu mentiloquieren, um sie als Übersetzerin einzuspannen. Doch da verblasste die Schrift. Jetzt waren nur noch die beiden Figuren auf den Türflügeln erkennbar. Temmie meldete sich jedoch auf Julius' Gedankenruf und teilte ihm mit, dass sie diese Art von Tür aus ihrer alten Heimat kannte. "Die Pforte der Einheit, Julius. Sie gewährt wirklich nur einem Träger und einer Trägerin der Kraft Zugang. Sie kann so sein, dass nur ein Paar Liebender dort eingelassen wird, die Eltern mindestens eines gemeinsamen Kindes oder Tochter und Sohn desselben Elternpaares. Jedenfalls mussten die, die durch so eine Tür gehen wollten zeitgleich ein Lied singen, dessen Worte in die Tür eingeschrieben wurden. Außerdem kann verfügt sein, dass nur bestimmte Dinge hinübergelassen werden. Frei und rein kann heißen, dass ihr keine nicht aus euch wirkenden Gegenstände mit der Kraft bei euch tragen dürft oder alle Kleidung ablegen müsst und reinen Herzens sein sollt, also nicht gegenseitig von euch verlangt, dort hineingelassen zu werden."

"Super, Camille und ich sind nicht verheiratet, haben kein gemeinsames Kind und sind auch nicht die Kinder derselben Elternteile. Und wenn die echt wollen, dass wir alles ausziehen und alles hier vor der Tür lassen weiß ich nicht, ob Camille dann noch in diesen Raum rein will", schickte Julius zurück. Temmie erwiderte, dass er die Worte wohl nur lesen und nachsprechen könne, wenn er eine Grundbedingung erfüllt habe, sonst hätte sie, Temmie die Schrift sicher lesen dürfen. Das leuchtete Julius ein. Er erzählte Camille, was er von seiner gehörnten und geflügelten Vertrauten erfahren hatte.

"Wir hätten sie mit herbringen sollen", meinte Camille. "Aber dann hätten wir deiner Schwiegertante erzählen dürfen, wofür wir sie wieder benötigen." Julius erwiderte, dass Temmie ihren eigenen Kopf hatte und sich nicht drum scherte, was seine Schwiegertante für richtig hielt. "Ich möchte auf jeden Fall wissen, was hinter der Tür liegt, Julius. Wir sind beide schon verheiratet und erwachsen. Wenn du dich nicht für deinen Körper schämen musst, ich muss es auch nicht", fügte Camille noch hinzu und deutete auf die Tür. Julius sah noch einmal hin. Die beiden dargestellten Personen waren als nackte Menschen abgebildet. Das mochte schon der Hinweis sein, nichts künstliches am Körper zu tragen. Vielleicht ließ sich das noch genauer klären, dachte Julius. Dann wandte er sich von der Tür ab. Wenn er nicht wusste, was er hier sprechen oder singen sollte kamen sie eh nicht weiter. Immerhin hatte die Tür verraten, dass sie schon mal zu zweit und wohl Hand in Hand hindurchgelassen würden. "Wenn euch das nicht erlaubt wäre, überhaupt durch diese Tür zu gehen, würde sie für euch nicht sichtbar", mentiloquierte Temmie an Julius. Er gedankenfragte zurück, wie sie darauf käme. "Weil die beiden Abbilder noch zu sehen sind. Wäret ihr beiden nicht berechtigt, wären sie genauso wie die Schrift verschwunden", erhielt er Temmies mentiloquierte Antwort. Also galt es nur, herauszufinden, wie die beiden durch die Tür hindurch konnten. Julius scherzte, dass die Tür genauso empfindlich auf die ihm aufgeprägte Aura Darxandrias und Ashtarias reagieren konnte. Darauf erwiderte Temmie, dass die Tür bei zwei geschlechtsgleichen Menschen unsichtbar würde. Da Camille und er die Tür jedoch noch sehen konnten, wurde Julius von ihr als Mann anerkannt.

"Hier kommen wir ohne weitere Information auch nicht durch", sprach Julius aus, was beide wussten. "Dann möchte ich mir diesen einen Raum ansehen, in den du nicht hineinkonntest. Wenn da nichts ist, was uns irgendwie weiterbringt, hast du eben nur ein neues Handtäschchen geerbt."

"Nur ist gut, Julius", entgegnete Camille Dusoleil leicht verdrossen. Julius glaubte aber selbst nicht daran, dass sie hier außer einer bezauberten Tasche nichts anderes finden oder erfahren würden. Er hatte sogar den Verdacht, dass das Haus schon bereit war, seine verborgenen Geheimnisse zu verraten, allerdings eben erst, wenn bestimmte Grundbedingungen erfüllt worden waren. Hier unten fand sich aber wohl nichts, was diese Grundbedingungen verriet. So stiegen die beiden Besucher der Binoche-Villa die Treppen hinauf und verließen den Keller. Über die Treppe in der Empfangshalle ging es hinauf in die Obergeschosse. Camille zeigte Julius, wo die für sie unpassierbare Tür war und wandte sich dem Raum zu, der sie als seine neue Erbin anerkannt hatte. Irgendwie meinte sie, dort hineingehen zu müssen. Das konnte ein Zauber sein, der von der mitgeführten grünen Umhängetasche ausging oder von dem Raum selbst ausstrahlte. Julius indes ging nun aufrecht und ohne Angst auf die für Camille verschlossene Tür zu. Kurz vor der Tür flimmerte es um ihn herum golden. Erneut meinte er, jemand greife ihn an seine Genitalien. "Schon nervig, von einem Unsichtbaren so betatscht zu werden", schnaubte Julius. "Wer sagt, dass es ein Unsichtbar-er ist?" fing er Temmies amüsierte Gedankenfrage auf. Julius musste darüber grinsen. Dann stand er vor der Tür und legte die Hand auf die Klinke. Diese erwärmte sich angenehm. Dann gab sie dem Druck seiner Hand nach. Die Tür ging nach innen auf. Unangefochten überquerte er die Türschwelle. In dem Moment verging auch das an Julius' Geschlechtsteilen rührende Tasten.

Julius erstarrte auf dem Punkt, während die Tür hinter ihm wieder zufiel. Er stand in einem Arbeits- oder Studierzimmer. Links und rechts reihten sich Bücherschränke mit gläsernen Türen. Vor einem breiten Fenster stand ein zwei Drittel Raumbreite einnehmender Schreibtisch mit links und rechts je acht Schubladen. Der Boden war mit einem dicken, weißen Teppich ausgelegt, der Julius an das Fell eines erwachsenen Einhorns erinnerte. Allerdings reichte der Teppich gerade zwei Meter bis zum Schreibtisch hin. Hinter dem Schreibtisch, die Rückenlehne dem großen Fenster zugekehrt, stand ein hochlehniger Stuhl. Die Füße und die obere Kante der Rückenlehne waren mit jenem rosigfarbenen Metall überzogen, dass Julius wie kein zweites mit dem alten Reich verband. Doch was ihn so heftig hatte erstarren lassen war, was sonst noch auf dem Schreibtischstuhl hockte: Er blickte genau in die von innen her in sanftem Rot erglühenden Augenhöhlen eines von Orichalk überzogenen Totenschädels mit vollständigem Gebiss. Der Schädel saß auf ebenso mit dem magischen Metall aus Altaxarroi überzogenen Halswirbeln. Vor Julius Latierre saß ein vollständiges rosigfarben glitzerndes Knochengerüst, die schmalen Knochenhände parallel zueinander auf der Schreibtischplatte. Julius erkannte am schmalen Becken des Skelettes, dass es das Knochengerüst eines Mannes war. Das sanfte Glühen in den Augenhöhlen des Gerippes verstärkte sich. Julius fühlte, wie etwas ihn wie warmer Wind überstrich. Und da umfloss ihn wieder jene goldene Aura, das Siegel der Herrscherin Darxandria, aufgeladen durch die Passage des energetischen Geburtskanals von Ashtarias transvitalem Körper. Er hörte eine Männerstimme sprechen und dachte erst, sie käme aus dem Schädel des Knochenmannes:

"Sei willkommen, Würdiger. Dich umfließt eine starke Aura der hellen Kräfte, die dir nicht angeboren wart, aber doch verliehen und durch neuerliches werden verstärkt wurde. So trete näher, um zu vollenden, weshalb du dieses Gemach betratest!" Julius sah, wie das Glühen in den Augenhöhlen des Skelettes erlosch. Er traute sich, zwei Schritte näher an den Schreibtisch heranzutreten. Da verschwand das Skelett laut- und übergangslos. Es war einfach nicht mehr da. Julius sah noch einmal auf den Schreibtisch. Dieser war staubig. So konnte er die Abdrücke der beiden Knochenhände deutlich erkennen. Außerdem sah er auf der Sitzfläche die Abdrücke des Steißbeins und der Oberschenkel und entlang der Rückenlehne den Abdruck der Wirbelsäule wie der Schulterblätter. Als er den nun völlig unbesetzten Stuhl so ansah, kam in ihm der Wunsch auf, sich darauf zu setzen. Aus dem Wunsch wurde ein regelrechter Drang. Julius fürchtete, es mit einer Falle zu tun zu haben und dachte die ersten Worte des Liedes des inneren Friedens, um den fremden Einfluss abzuschütteln. Da erklang die Stimme von eben, diesmal lauter und mit drohendem Unterton: "Weise nicht von dir, was dir geboten oder werde verbannt in die Ruhestatt des ewigen Hüters!" Julius geriet aus der Konzentration. Der Drang, sich auf den Schreibtischstuhl zu setzen, war ein wenig schwächer geworden. Doch ganz verschwunden war er nicht. Julius versuchte, nun körperlich gegen diesen Drang anzukämpfen, in dem er sich zwang, sich der Tür zuzuwenden. Da dröhnte die geheimnisvolle Stimme von eben erneut, noch lauter, unmissverständlich drohend: "Weise nicht ab, was dir geboten oder finde dich in der Ruhestatt des ewigen Hüters wieder, wo deine Undankbarkeit verwehen wird!!" Julius erkannte, dass die Falle bereits zugeschnappt hatte. Wenn er es schaffte, die Tür zu erreichen und anzufassen, würde ein Versetzungszauber ihn wohl dahin teleportieren, wohin das Skelett auf dem Stuhl verschwunden war. Doch was war, wenn er sich wie aufgedrängt auf den Stuhl setzte? Hatte er jetzt noch eine Wahl? Er könnte versuchen, zu disapparieren. Doch irgendwas in ihm warnte ihn, dass das ganze Haus gegen unerwünschtes Apparieren abgesperrt war. Die Flucht in die Disapparition würde ihm wohl als Undankbarkeit ausgelegt. Julius fragte sich, ob Aurélie Odin das vorausgesehen hatte, dass er in diese Lage geriet. War es am Ende vielleicht so, dass sie ihm nur deshalb den genauen Standort der Binoche-Villa verraten hatte, damit er diesen Raum betrat, den sie ihrem Sohn nicht zu betreten gestatten wollte? Julius hoffte darauf, dass Ammayamiria, in der Aurélies Geist aufgegangen war, ihn rechtzeitig gewarnt hätte, wenn eine wirkliche Gefahr für ihn bestand, sobald er das Haus der Binoches betrat. So gab er dem wortlos erteilten Befehl nach, sich auf den Stuhl zu setzen. Ein wenig mulmig war ihm schon zu Mute, weil er sich dorthin setzen wollte, wo vielleicht über Jahrzehnte ein mit Orichalk überzogenes Gerippe gesessen hatte. Doch jetzt blieb ihm wohl nichts anderes übrig. Er umging den Schreibtisch und ließ sich ohne weiteren Gedanken auf den Stuhl sinken. Sofort fühlte er, wie Sitzfläche und Rückenlehne sich erwärmten. Erst dachte er, der Stuhl sei zu klein und zu schmal für ihn. Doch dann merkte er, wie das Möbelstück sich in die Breite zog und die Beine länger wurden, so dass Julius in bequemer Schreibhaltung hinter dem schweren Tisch saß, die Tür genau im Blick. Als er sich gegen die Rückenlehne sinken ließ, fühlte er, wie diese sich seinem Körper genau anpasste. Auch die Sitzfläche formte sich geringfügig um, so dass er weder im Schritt noch am Po übermäßigen Druck fühlte. Dann erklang die geheimnisvolle Stimme aus dem Nichts erneut: "Damit hast du nun das Erbe übernommen, in diesem gegen bösen Zauber und böse Seelen mit und ohne Leib geschützten Raum zu wirken, die hier enthaltenen Schriften zu studieren und neue Erkenntnisse niederzuschreiben. Pergament und Tinte wird dir immer zur Verfügung stehen. Doch kannst du nichts hier geschriebenes aus diesem Raum mitnehmen. Erst mit deinem Tod wird der ewige Hüter dieses Gemach erneut besetzen und auf den nächsten Würdigen Träger der Kraft warten." Julius fragte: "Wer bist du?" Doch er erhielt keine Antwort. Da wusste er, dass er es nicht mit einem wachenden Geist, sondern mit vorgeprägten, automatisch aufeinander folgenden Zaubern zu tun gehabt hatte. Die hier wirksame Magie war einzig auf diesen Vorgang ausgerichtet gewesen. Nur weil er gegen den Drang, sich hinzusetzen gekämpft hatte, waren die Warnungen erklungen, ähnlich wie bei einem Computerprogramm, wenn jemand etwas unzulässiges eingab oder im Begriff war, Daten zu löschen und darauf hingewiesen wurde, dass er gerade Daten löschen wollte und ob er das wirklich tun wollte. Nichts anderes war das hier gewesen. Nicht so was wie eine lebendige Umhängetasche oder von garstigen Hexengeistern beseelte Stiefel oder Schränke. Er konnte hier alles aufschreiben, wonach ihm war. Er konnte nur nichts hier geschriebenes aus dem Raum hinausbringen. Konnte er das wirklich nicht? Sein Practicus-Brustbeutel schirmte seinen Inhalt gegen von außen wirkende Zauber wie den Aufrufezauber ab. Er fasste an den Griff einer Schublade und zog sie mühelos auf. Dabei fühlte er eine leichte Erwärmung in der Hand und in seinem Hinterteil. Offenbar war nicht nur der Stuhl, sondern auch der Tisch auf ihn persönlich abgestimmt. In der Schublade lagen Pergamentrollen. In der darunter verschiedengroße Schreibfedern. In der Schublade darunter lagen zwei große Tintenfässer und eine Streusandbüchse um die auf das Pergament geschriebene Tinte schneller zu trocknen. Richtig wie in einem Schreibbüro aus dem Mittelalter, dachte Julius. Sicher waren die Sachen hier alle Ortsgebunden. Sowas ging, wusste Julius aus diversen Zauberkunstbüchern. Doch was war mit eigenem Pergament und seiner Flotte-Schreibe-Feder? Er holte beides aus dem Brustbeutel und stand auf. Denn er vermutete, dass das Pergament sofort dem Ortsverharrungszauber unterworfen würde, wenn es auf dem Schreibtisch beschrieben wurde. Julius ging nun unangefochten in Richtung Tür und hielt das Pergament so, dass die Feder problemlos darüber hinweggleiten konnte. Er nuckelte kurz an der Schreibfeder und setzte sie auf. Sie stand kerzengerade aufgerichtet, nur ganz sacht zitternd. Sie war schreibbereit: "Dies ist ein Test, ob wahrlich nichts geschriebenes diesen netten Raum verlässt" diktierte Julius der Feder. Diese schrieb gehorsam nieder, was er sagte. Er konnte sogar lesen, dass er, Julius Latierre, mit einem gewissen Ingrimm diese Worte gesprochen hatte. Dann legte er die Feder in den Brustbeutel zurück und legte auch das beschriebene Pergament in den praktischen Tragebeutel. Er verschloss diesen sorgfältig. Dann ging er auf die Tür zu und versuchte, die Klinke zu drücken. Da war ihm, als drücke eine unsichtbare Faust von der Tür her gegen seinen Brustkorb. Er schaffte es weder, die Klinke zu drücken, noch näher an die Tür zu treten. "Nichts in diesem Raume niedergeschriebenes darf ihn verlassen", erklang noch einmal die magische Männerstimme, und Julius vermeinte, eine Spur Verärgerung herauszuhören. Der junge Zauberer holte das kleine Stück Pergament aus dem Brustbeutel und hielt es der Tür entgegen. Da zog ihm etwas den Arm nach unten, bis das Stück Pergament selbst immer schwerer wurde. Selbst mit seiner durch Halbriesenblut und Schwermachertraining überragenden Kraft konnte er das Pergamentstück nicht länger als eine halbe Minute festhalten. Es segelte ihm aus der Hand und glitt wie magnetisch angezogen auf den Schreibtisch zu, wo es leise raschelnd auf der staubigen Platte landete. Damit stand für Julius fest, dass der Zauber nicht auf die Möbel, sondern auf die Tätigkeit des Schreibens selbst ausgerichtet war. Sicher war der Schreibtisch der materielle Fokus dieser Magie. Doch es war egal, ob jemand auf ihm etwas schrieb oder es in diesem Raum kurz vor der Tür niederschrieb. Wer immer diesen Raum eingerichtet hatte war wohl davon überzeugt, dass die Notizen und Gedanken des Zutrittsberechtigten nicht in falsche Hände geraten durften. Allerdings, was brachten Notizen, wenn man sie nicht mitnehmen und anderswo nachlesen konnte? Dann fiel Julius ein, warum das hier so und nicht anders eingerichtet war: Hier sollten die männlichen Hausvorsteher ihre Gedanken für die Erben hinterlegen, ihr brisantes Wissen nur denen zur Verfügung stellen, die es auch besitzen durften. Julius war zutrittsberechtigt, obwohl er kein Binoche-Geborener war. Sicher, es gab Emil Odin. Der hätte durchaus noch Anspruch auf dieses Haus und diesen Raum gehabt. Aber seine Mutter hatte es anders verfügt. Denn Julius war sich sicher, dass es nur einen lebenden Zutrittsberechtigten zur gleichen Zeit geben durfte. Aber was, wenn ein eifersüchtiger Verwandter oder Schwager dem Berechtigten das Recht abjagte, indem er ihn ermordete, um an die geheimen und unter Verschluss bleibenden Aufzeichnungen zu kommen? Julius überlegte nur kurz. Die Magie dieses Raumes hatte auf seine aufgeprägte Aura reagiert. Vielleicht konnte das Geflecht von Zaubern sogar erspüren, wenn ein durch Mord zum Erben gewordener versuchte, diesen Raum zu betreten. Was hatte Harry Potter vor der Verhandlung gegen Dolores Umbridge zu ihm gesagt? Voldemort hatte durch die Ermordung von Menschen seine Seele gespalten und die einzelnen Teile, die jedes für sich wie ein ganzes wirkten in jene Gegenstände eingebettet, die seine fragwürdige Unsterblichkeit erhalten sollten. Konnte die hier wirksame Magie eine derartig gespaltene Seele erkennen? Warum sich mit Fragen plagen, dachte Julius. Hier standen jede Menge Bücher und im Schreibtisch lagerten sicher viele Aufzeichnungen, die hier angefertigt worden waren, um dem Erben wohl alles zu verraten, was er über sein neues Erbe wissen musste. So ging Julius wieder an den Schreibtisch und setzte sich. Er prüfte die Schubladen und fand gleich in der ersten obersten linken eine Pergamentrolle in einem Holzring. Julius las die in roter Tinte geschriebene Überschrift: "An meinen würdigen Nachfolger von mir, Lucian Binoche". Dann las er, dass Lucian im Jahre 1890 das Testament seines verstorbenen Vaters befolgend in diesen Raum eingetreten war, der ihm bis einen Monat nach dem Tod seines Vaters unbetretbar war. Hier hatte er die Aufzeichnungen von Aurélius Bonifatius Binoche gefunden, welche dieser im Buch "de fundatione mansionis Binochae" niedergeschrieben hatte. Julius las die in kurzen auf Französisch abgefassten Stichpunkten, dass der Gründer der Binoche-Familie im Jahre 1303 die Ruinen eines uralten Tempels oder Festgebäudes entdeckt habe. Als Zauberschmied waren ihm sofort die Türen aus Orichalk aufgefallen. Als er dann noch in einer kleinen Höhle unter dem Gewölbe der Bienenkunst eine Schmiedewerkstatt und fünf Kopfgroße Barren Orichalk fand, beschloss er, diese Stätte zu kaufen, bevor noch andere davon wussten und errichtete auf dem angeblich wertlosen Hügel sein Landhaus, die Bastion der Binoches. Er pflanzte Tannen um das Haus, die von seiner Frau Ambrosiana mit Zaubertränken und Hexensprüchen für ein langes gedeihliches Wachstum zu unverwüstlichen Wächtern gemacht wurden. In einem nur für einen Mann betretbaren Raum habe er den ewigen Hüter gefunden, ein Skelett in Orichalk eingefasst. Dieses habe mit magischer Stimme zu ihm gesprochen und ihn angewiesen, in seinem neuen Haus einen Raum zu erschaffen, in dem es auf einem körperanpassenden Stuhl zu sitzen kommen und den Raum für einen Würdigen Nachfolger bereithalten sollte. Aurélius Binoche hatte dann mit dem gefundenen Orichalk die magisch zu sichernden Türen und Räume ausgekleidet, darunter den Raum der Mutter des Erben, die nur eine Trägerin der Kraft einließ, welche den Binoches bereits einen Sohn geboren hatte, wie auch die camera divitiarum, die Kammer des Reichtums, wo das erworbene Gold und wertvolle Waffen verborgen werden sollten. Allerdings, so Lucian, habe sein Urahne wohl mit den Ansichten einer alten Bruderschaft sympathisiert, die nur den Männern Macht und Reichtum gestatteten. So sei der Raum nur für einen Mann betretbar, der ohne Beeinflussung durch Frauengeistund Frauengier an das Vermögen rühren dürfe. Julius grummelte bei dieser Textstelle: "Echt finsteres Mittelalter." Immerhin erfuhr er noch, dass der bereits vorgefundene Raum mit der Doppeltür eine Hexe und einen Zauberer passieren ließen, die das Lied der Sonnenhochzeit singen konnten. Hierbei könnten sie sich auf eine zum Textrhythmus passende Melodie einigen. Um den Raum zu betreten müssten sie jedoch alle künstlichen Sachen ablegen, die sie gerade am Leib trugen. Vor allem magische Gegenstände und Zauberstäbe dürften nicht in den Raum hineingetragen werden. Doch seien sie gewarnt, dass sie hinter der Tür in Versuchung geführt werden würden, nicht nur ihre Gedanken, sondern auch ihre Körper miteinander zu vereinigen, denn dies sei der Raum der heiligen Hochzeit, wo die Kraft der Körper- und der Seelenliebe wirke. Allerdings halte der Raum auch eine große Belohnung bereit, zwölf Freundschaftsarmbänder, die Aurélius Bonifatius mit Hilfe des Orichalk und Silber den bereits in Beauxbatons bekannten Verständigungs- und Wegeöffnungsbändern der Heilhelfer nachempfunden hatte. Diese Bänder würden nur mit denen Verbindung ermöglichen, die denen, die sie weitergäben, in Liebe und Freundschaft verbunden seien. Sie kehrten sofort in den Raum der heiligen Hochzeit zurück, um auf einen neuen würdigen zu warten. Außerdem erwähnte Lucian für alle, die der lateinischen und altgriechischen Sprache nicht mehr mächtig sein sollten, dass in dem Weinkeller mit dem Fest der Sinnenfreuden ein immervolles Fass mit flüssiger Glückseligkeit und Erfolg bereitgehalten würde. Doch dieser Trank, der nicht mit Felix Felicis identisch sei, habe einen üblen Nachteil. Je länger seine Wirkung andauere, desto länger müsse der ihn trinkende nach Abklingen der Wirkung am gemalten Fest der Sinnenfreuden teilnehmen, wobei die Gefahr bestand, dass er oder sie dabei sein Wissen um Herkunft und Verpflichtungen verlöre und deshalb nicht in die angestammte Welt zurückkehren könne. Wer es schaffe, den Text auf dem Fass aus eigenem Wissen heraus zu lesen und auszusprechen, könne aus dem Fass schöpfen. Aber dann müsse er oder sie bereit sein, den geforderten Preis zu zahlen. Lucian vermutete, dass dieses Fass von dunklen Magiern erschaffen und gefüllt worden sei, da ihm, Lucian, von Felix Felicis her keine solche Gegenleistung bekannt sei. Er vermutete jedoch, dass es viele Zauberer und Hexen gegeben habe, die ganz gezielt auf diesen Trank ausgegangen seien, um ihrem trüben oder nicht mehr lange währenden Leben zu entfliehen und zu ewigen Tänzerinnen und Tänzern zu werden, immer feiernd, immer den Sinnenfreuden verfallen. "Das mag für den einen das Paradies sein, für mich aber eher jenem Ort gleichkommen, den die Abrahamiten als Hölle bezeichnen. Wer vergisst, wer er oder sie war, verliert seine Seele. Und wer nicht in die Welt der Toten hinübergehen kann, der ist ärmer als ein halb verhungerter Straßenbettler", las Julius Lucians Bemerkung. Damit stand für Julius fest, dass er diese großzügige Gabe in dem verzauberten Fass nicht nötig haben würde. Jetzt wusste er, dass die scheinbar abgemalten Tänzerinnen und Tänzer in Wahrheit gefangene Seelen waren, die jedoch in der ständigen Illusion lebten, gesunde und ausdauernde Körper zu haben und keiner Verhaltensregel mehr zu unterliegen. Ja, das konnte auch zur Hölle werden, ewig mit hunderten oder tausenden von Frauen Sex zu haben, ohne diese Frauen zu lieben und sich ihnen verbunden zu fühlen, am Ende nicht einmal zu wissen, wer man selbst war. Dann las er noch, wo das Lied von der Sonnenhochzeit aufgeschrieben stand und las erneut, dass die, die durch die Tür gelassen wurden, eine sehr gute Selbstbeherrschung haben sollten, um nicht den Drang zur körperlichen Vereinigung zu verfallen. Gut, dagegen konnten Julius und Camille was machen, entweder durch den Devoluptus-Zauber, der jeden Trieb für eine Zeit niederhielt oder durch das Lied des inneren Friedens, mit dem er dem Einfluss einer reinrassigen Veela hatte widerstehen und die geistige Ausforschung durch die Abgrundstochter Ilithula von sich fernhalten konnte. Da sie zudem weder Zauberstab noch Schutzartefakte mit hinübernehmen konnten waren sie ganz auf ihre Selbstbeherrschung angewiesen. Aber die zwölf Armbänder waren es wert, dort hineinzugehen. Er dachte an Pina, Gloria, Brittany, Aurora Dawn, die Hollingsworth-Zwillinge, Kevin Malone ... Halt, wenn Camille mit ihm dort hineinging, dann hatte sie wohl auch ein Recht, ihr freundschaftlich verbundene Leute damit zu beschenken. Zwar würde sie wohl kein Problem damit haben, der australischen Heilerin und Kräuterkundekollegin Aurora Dawn ein Armband zu überlassen, aber so hatte Julius nur fünf Armbänder zu verteilen. Das sechste musste ja er dann wohl anziehen. Er las den einfachen Text des Liedes der Sonnenhochzeit. Damit war nicht gemeint, dass zwei Sonnen heirateten, sondern dass eine Jungfrau im Licht der Sonne von ihrem auserwählten zur Frau gemacht wurde. Irgendwie schienen die Altaxarroin doch eine Art Sexkult aufgezogen zu haben, dachte Julius mit gewisser Belustigung. Dann verstand er auch, warum Temmie keine Probleme damit haben mochte, demnächst von einem anderen Latierre-Stier als Perseus das zweite Kalb zu empfangen. Dann dachte er daran, dass erst die Eingottreligionen die freie Liebe verteufelt hatten, während sie in anderen Religionen noch als heilige Kraft und erhabenes Ritual gefeiert wurde. Aber wenn er an die Armbänder heranwollte musste er mit Camille oder einer anderen Hexe durch die Tür. Sollte er Millie fragen? Nein, er und Camille würden das schon hinbekommen, ohne ihre Ehepartner betrügen zu müssen, selbst wenn sie dies nicht freiwillig tun würden. Dann dachte er daran, warum diese Aufzeichnungen in einem gegen den Zutritt von Frauen und Kindern gesichertem Raum bleiben mussten. Offenbar hatte der Gründer der Bastion Binoche schon daran gedacht, wie verführerisch es war, ganz ohne Hemmungen in einem Raum zu verweilen, bis alle Ausdauer aufgebraucht war. Wissen war macht, das erkannte Julius wieder einmal. Er lernte den Text auswendig. Das Lied ließ sich sicher auch gut rappen. Doch ob diese Art von Liedvortrag im alten Reich so angesagt war wusste er nicht, wo er einen Teil der komplizierten Musik kennengelernt hatte, die damals gemacht werden konnte. Als er sicher war, jedes Wort aussprechen zu können warf er noch einmal einen Blick in das von Aurelius Bonifatius Binoche geschriebene Buch "de Fundatione Mansionis Binochae", um seine Lateinkenntnisse an den ihm nun bekannten Textabschnitten zu testen. Er musste jedoch feststellen, dass hier nicht das klassische Latein aus der Römerzeit, sondern das im Mittelalter verwendete Mittellatein der Kirchen, Klöster und Amtsstuben verwendet wurde, das doch deutliche Abwandlungen aufwies, wie sich das neue Englisch von der ursprünglichen Sprache der Angelsachsen unterschied oder das moderne Französisch eben von der westfränkischen Ursprache. Interessant war es aber dennoch, ein Buch zu lesen, dass fast siebenhundert Jahre auf dem dunkelblauen Einband hatte. Was hatte ihm Blanche Faucon nach seinem Vortrag vor dem Zauberwesenseminar in Beauxbatons geraten? Er möge alles lernen, was mit seiner neuen Verpflichtung zu tun habe und die dafür nötige Zeit aufwenden. Wohl wahr, dachte er. Insofern konnte er Lucian Binoche danken, dass er die ganze Übersetzungsarbeit bereits erledigt hatte. Er legte das Pergament wieder zurück in die Schublade, wo er noch einen Text fand: "Der Schrecken der Vierschatten". Julius war sich sicher, dass er diese Schrift unbedingt lesen musste. Doch dazu brauchte er Bicranius Mixtur der mannigfachen Merkfähigkeit. Denn sich schriftliche Notizen zu machen ging ja nicht. So vertagte er diesen Abschnitt der neuen Studien auf später und verließ unangefochten das Studierzimmer der würdigen Erben. Draußen im Flur fand er Camille, die ihn fragte, warum er so lange in diesem Raum gewesen war. Julius erklärte ihr, was er herausgefunden hatte. Als er den Weinkeller erwähnte meinte Camille: "Ja, hat mir meine neue große Gönnerin auch per Handzettel mitgeteilt. Ich saß in ihrem Damenzimmer und habe mir die dortigen Bücher angesehen. Da ging die hier auf", wobei sie auf ihre neue Umhängetasche deutete "und blies einen großen Pergamentbogen heraus. Darauf stand was, dass wenn ich es geschafft hätte, einen erwachsenen Mann zu dem Raum der würdigen Erben zu bringen, ich sicher auch interessiert sei, in den Raum mit der Doppeltür zu gelangen. Ich müsste mit dem Begleiter nur alles gerade am Körper getragene ablegen und Hand in Hand vor der Tür stehen und ein Lied der Sonnenhochzeit singen, das bei der Gelegenheit auch mit auf dem Zettel stand. Vom Rhythmus her ist es fast wie "So gehe auf, o guter Mond", was du sicher auch schon gelernt hast. Julius schlug sich vor den Kopf. Er kannte dieses Wiegenlied, das nicht im Walzer- sondern Viervierteltakt gesungen wurde. Camille nickte und sagte dann noch: "Ich sollte mir aber darüber im klaren sein, dass wenn ich in den von dieser Tür versperrten Raum hineinginge, unter Umständen die nächsten Monate nicht mehr alleine herumlaufen würde." Julius nickte heftig und erklärte seiner Begleiterin, wie das gemeint war. "Das müssen wir dann ja nicht haben, dass Florymont und Millie uns beide in die Verbannung jagen, wo Millie immer wieder klargestellt hat, dass nur sie die Mutter deiner Kinder sein darf und Florymont sich verschaukelt fühlen könnte, weil ich ihm bisher vier Töchter und keinen Sohn geboren habe und er finden könnte, ich hätte es nötig, mir einen anderen Kindsvater auszugucken. Danke, nein, brauchen wir nicht. Aber wie kriegen wir es hin, dass wir in dieser Höhle der Wolllust nicht übereinander herfallen?"

"Das Lied des inneren Friedens müsste wirken", vermutete Julius.

"Und wenn dort drinnen was ist, was nicht über die Gedanken, sondern direkt über die Sinne und die inneren Abläufe im Körper wirkt?" wollte Camille wissen.

"Oha, dann geht nur Devoluptus. Der blockiert alle Lustgefühle, macht einen sozusagen gefühlskalt", wandte Julius ein. Camille erwiderte, dass sie diesen Zauber jedoch nie gelernt habe, da der ja wohl nur für Heiler und Ministeriumszauberer und -hexen erlaubt sei. Das konnte Julius nicht abstreiten. Er hoffte nur, dass es doch irgendwie gehen würde.

"Du kannst den?" fragte Camille und musste lächeln. "Natürlich kannst du den. Madame Rossignol wird ihn euch sicher mal beigebracht haben." Julius nickte aufmunternd. Als sie sich gegenseitig die fünf wiederkehrenden Zeilen des Liedes vorgesprochen und tatsächlich auf der Melodie von "Nun gehe auf o guter Mond" hatten nachsingen können hörte Julius noch Temmies Gedankenstimme: "Wenn das ein Raum der Hochzeit ist wendet besser vor der Tür noch einen Lustsenkenden Zauber an, sonst kommt ihr vielleicht nicht mehr dazu!" Julius interpretierte es so, dass sie innerhalb des Raumes wohl keine Sekunde Zeit hatten.

"Dieses Weinfass in dem sinnlosen Sinnesfreudenkeller könnte ich glatt dem guten Ranunculus empfehlen", scherzte Camille. Julius stutzte. Das meinte die doch nicht echt? Sie grinste. Nein, sie meinte es nicht echt.

Vor der Doppeltür legte Camille als erste ihre Kleidung ab, wohl auch, um ihrem Begleiter zu zeigen, dass sie sich nicht zu genieren brauchte und er daher auch nicht. Julius zögerte erst. Doch dann überwogen seine Neugier wie sein wissenschaftlicher Verstand. Er musste sich für seinen Körper nicht schämen. Seine Statur war im Moment ideal, und er hielt sich in guter Form. Außerdem war Camille schon verheiratet und noch keine Witwe. So schlüpfte er ebenfalls aus seinen Sachen. Jetzt trugen sie aber noch die bezauberten Gegenstände. Julius löste die Weltzeituhr vom Handgelenk und streifte sich die Kette mit dem rubinroten, pulsierenden Herzanhänger über den Kopf. Camille legte auch den silbernen, an den Enden abgerundeten Fünfzackstern auf den Boden. Nun standen beide so da, wie sie der in ihren Körpern ablaufende Bauplan geschaffen hatte. Julius erkannte, dass er Camille bewunderte, wie gut sie sich gehalten hatte. Sogesehen konnte sie glatt als Jeannes nur wenige Jahre ältere Schwester durchgehen. Er fühlte, dass er sich auch ohne magische Beeinflussung durchaus für sie erwärmen konnte. Deshalb ging er kein Risiko ein und versuchte, Camille mit dem Devoluptus-Zauber zu belegen. Dabei merkte er jedoch, dass Ashtarias Heilsstern offenbar weiter reichte und auch gerade nicht umgehängt jeden den Körper oder den Geist beeinflussenden Zauber von seiner Trägerin abwehrte. Erst nach drei rein optisch sehr herrlichen bunten Leuchtkaskaden, die um Camilles Körper herumtobten gab Julius es auf. Als er sich selbst damit belegen wollte fiel ihm erst wieder ein, dass dieser Zauber nur auf einen anderen als den eigenen Körper wirkte. Wer ihn gegen sich selbst anzuwenden versuchte vergaß die zweite Hälfte der vierteiligen Zauberformel, bis er oder sie den Zauberstab wieder fortsteckte. "Nicht so gut, hätte ich eigentlich wissen sollen, dass Devoluptus vom Körper des Ausführenden instinktiv abgeblockt wird. Das ist genauso, wie der tödliche Fluch nur in einem von zehn Fällen als Selbstmordmethode brauchbar ist, weil der Anwender gegen seinen eigenen Selbsterhaltungstrieb ankämpfen muss, um sich zu töten und der Fluch nur wirkt, wenn das Ziel wirklich sterben soll. Madame Rossignol könnte ihr tolles Empfehlungsschreiben widerrufen, wenn sie das mitkriegt, dass ich da wohl nicht richtig aufgepasst habe."

"Solange Hera nicht dein drittes Kind aus meinem Schoß hervorholen muss wird dir das keiner nachtragen", sagte Camille. Dann nahm sie Julius bei der Hand und ließ ihn vorzählen. Als sie beide dann das Lied der Sonnenhochzeit sangen und von Wiederholung zu Widerholung immer besser aufeinander eingestimmt waren, glühte die Schrift unter den beiden Figuren auf. Jede Silbe, die nun erklang wurde von einem lauten Klicken untermalt. Offenbar sprangen in die Tür verbaute Riegel auf. Nach der fünften Wiederholung schwangen die beiden Türflügel nach außen auf. Hinter den Türen lag ein großer Saal, der mit gepolsterten niedrigen Bänken und mehreren Springbrunnen ausgestattet war. Julius konnte Zierpflanzen erkennen, die wie unter einem durchsichtigen Überzug standen und von einer sonnenhellen Lichtquelle beleuchtet wurden. Leises Vogelzwitschern und das Rauschen der Fontänen klang zu ihnen heraus. Julius fühlte sich auf einmal so, als sei er endlich an den Ort gelangt, zu dem es ihn immer hingezogen hatte. Er fühlte, wie er immer lockerer wurde, wie die Angst und die selbst auferlegte Einschränkung von ihm wichen. Hier war ein Ort für das Zusammensein. Hier galt es, die Natur des Lebens in seiner schönsten Ausprägung zu feiern. Er erschrak. Er hatte vergessen, das Lied des inneren Friedens zu denken. Er kämpfte gegen dieses Verlangen an, sich diesem Ort hinzugeben, um seine Wirkung zu fühlen. Camille hielt ihn fest an der Hand. Offenbar fühlte sie auch was. Julius versuchte, das erste Wort des Liedes zu denken. Aber hier brauchte er es nicht. Hier würde ihm nichts passieren, was er nicht wollte. Ohne es zu merken, war er mit Camille ganz durch die Türöffnung getreten. Mit metallischem Klong fielen die beiden Türflügel wieder zu. Da verschwanden sie, und Julius sah nur noch einen mit farbigen und weichen Möbeln eingerichteten Raum, Möbel, die einluden, sich auf ihnen niederzulassen, darauf zu legen und dann ... Er sah Camille an. Dieser in hellbraune Haut getönte Körper, vom Kopf bis zum Rücken von schwarzem, gewellten Haar umflossen, regte ihn sachte an. Aber sowas wollte und durfte er nicht zulassen. Doch warum auch nicht? Jetzt, wo er Camille ansah, wie sie da so stand, wie die Natur sie hatte wachsen lassen, brauchte er sich nicht zu schämen. Camille sah Julius sehr erfreut an. im Blick der dunkelbraunen Augen glomm jenes Feuer auf, dass Julius sonst bei seiner Frau sah, wenn sie ihn wollte. Dann fiel ihm wieder ein, dass diese Hexe da trotz der vier Jahrzehnte Lebenszeit noch sehr anziehend aussah. Er dachte an Claire, wie sie vor dem Corpores-Dedicata-Zauber mit ihm ihre Schulmädchenkleidung abgelegt hatte. Ihre Mutter hatte sich supergut gehalten. Ja, sie könnte vom Körper her glatt als Claires große Schwester durchgehen, erkannte Julius. Dass sie schon vier Kinder bekommen hatte war ihr auch nicht anzusehen. Die kleinen Speckröllchen um die Hüften wirkten er einladend als abschreckend. Dann sah er sie noch genauer an, während Camille langsam Anstalten machte, sich ihm zuzuwenden. Er sog den Duft ihrer Haut und ihrer Haare in seine Nase ein und sah, dass auch sie selig Luft holte. Sein Blick verfing sich an ihrem Oberkörper. Er dachte daran, dass dort vier schöne Mädchen ihre Nahrung der ersten Lebensmonate erhalten hatten und deshalb so gut gewachsen waren. Dann glitt sein Blick über ihren Bauchnabel. Dort war sie mit ihrer Mutter Aurélie verbunden gewesen, bis sie auf die Welt gekommen war. Schon erhaben, sie einmal so zu sehen, aber vor allem sehr anregend. Als er dann noch sah, wo Jeanne, Claire, Denise und Chloé hergekommen waren fühlte er, dass er sich nicht mehr zurückhalten würde. Sie wollte ihn. Sie streckte den freien Arm aus, um ihn zu umfassen. Er fühlte seine eigene Erregung. Wenn Camille ihn jetzt dort anfasste, wo es ihn am meisten anregte, gehörte er ihr. Dann jedoch meldete sich sein Gewissen. Diese Frau, so anziehend sie auch war, so fruchtbar sie sich ihm zeigte, gehörte nicht ihm und er gehörte nicht ihr. Er kämpfte gegen den Wunsch, mit einem immer mehr fordernden Teil seiner Selbst dort hinzugelangen, wo seine erste große Liebe auch schon einmal gewesen war. Aber nein, er gehörte nicht dieser Frau. Und diese Frau gehörte nicht ihm. Sie erkannte wohl auch, dass sie gerade auf dem besten Weg war, jemanden zu sich zu nehmen, der ihr nicht zustand. Warum eigentlich nicht? Millie wollte nur seine Kinder haben. Das konnte sie doch weiterhin. Sie wollte nur mit ihm schlafen und er ... Er dachte das Lied des inneren Friedens. Auch wenn er keinen Grund sah, sich hier angegriffen zu fühlen dachte er das Lied. Es gelang ihm sogar. Jetzt schlug sein Verlangen in Schuldgefühle um. Wie hatte er sich derartig hinreißen lassen können, wo er selbst wusste, wie verloren er sich fühlte, wenn er magisch unterworfen wurde. Camille versuchte gerade, ihn ganz zu umklammern. Wenn sie ihn mit sich zusammenbrachte konnte er sie nur noch mit Gewalt von sich wegstoßen. Er öffnete den Mund. Camilles Mund näherte sich ihm. Dann, keine zwei Millimeter voneinander entfernt, wo beide die Wärme des jeweils anderen fühlten, hielt sie inne und zog sich behutsam zurück, ohne Julius von sich wegzustoßen. Sie tätschelte nur kurz seine Wange und drehte ihn so, dass er neben ihr stand. Er wagte es nicht, an sich hinunterzusehen. Wie hatte er sich derartig locker austricksen lassen? "Dieses Zimmer ist tückischer, als ich dachte", sagte Camille. "Ich habe echt daran gedacht, dich für mich allein zu behalten und hier mit dir zu bleiben", sagte Camille. Offenbar hatte sie auch das Lied des inneren Friedens gedacht.

"Hier wirkt Ashtarias Magie nicht mehr hin", seufzte Camille. "Machen wir, dass wir die Armbänder holen, bevor ich am Ende doch noch mit dir auf einer dieser Bänke da lande und Ammayamiria sich darüber amüsiert, dass sie uns zusammengebracht hat."

"Besser nicht", erwiderte Julius und erkannte jetzt erst, dass er sich missverständlich ausgedrückt hatte. "Öhm, ich meine, wenn wir hier nicht bis zum Lebensende bleiben wollen, weil dein Mann und meine Frau uns sonst umbringen würden, wenn es echt zwischen uns passiert, holen wir besser die Armbänder. Aber wo sind die?"

"Hier ist kein Schrank oder ähnliches", sagte Camille Dusoleil, die den Beinahe-Ausrutscher lockerer verkraftete als Julius. Dann deutete sie auf die Zierpflanzen, die gerade von ihrer durchsichtigen Verhüllung befreit wurden. Julius argwöhnte, dass diese bunten Gewächse da anregende Duftstoffe absondern konnten, gegen die ein reiner Geistesschutzzauber nicht mehr ausreichte. Dann sah er die Springbrunnen. Es waren genau sechs, die zu einem Sechseck zusammengestellt waren. Zwölf Armbänder sollten hier liegen. Wenn die zwei Eingelassenen je sechs mitnehmen durften, warum nicht aus den Brunnen? Julius wusste nicht, ob er Camilles Hand loslassen durfte. Deshalb deutete er auf den ersten Brunnen. Gleichzeitig fühlte er, wie es ihn danach verlangte, Camille über den Körper zu streicheln. Sofort dachte er erneut das Lied des inneren Friedens. Camille sah ihm an, dass er voll konzentriert war und erkannte im gleichen Moment, dass sie wieder daran dachte, den jungen Zauberer, den ihre zweite Tochter begehrt und verehrt hatte, mit sich zu vereinigen, ihn zu spüren und seine Stärke auszukosten. Sie schaffte es noch, ebenfalls das Lied des inneren Friedens zu denken. Damit bekam sie ihren Kopf wieder klar. Sie erkannte aber wie Julius die Gefahr durch die Pflanzen. "Wir haben vielleicht nur noch fünf Minuten, dann sind wir zwei wohl nicht mehr zu halten", seufzte sie. Julius stimmte ihr zu.

Über den weichen, warmen Boden liefen die beiden zum ersten Brunnen. Julius betrachtete ihn konzentriert. Er meinte, dass ihn das von Camilles Körper ablenkte. Doch dieser vermaledeite Brunnen war so geschwungen wie Camilles Becken. Doch im Moment hielt seine Abwehr noch. Er wusste, dass das nicht auf Dauer klappen würde. Deshalb suchte er rasch. Da sah er es auf dem Grunde des Brunnens silbern glitzern. Es waren nur siebzig Zentimeter Wassertiefe. Er warf sich vor und angelte mit dem freien Arm in den schäumenden Brunnen hinein. Dabei hielt er mit der anderen Hand Camilles Hand ganz fest, damit sie nicht auf andere Gedanken kam. Ja, er ergriff etwas metallisches, das trotz des kalten Wassers handwarm war und zog es frei: Ein hauchdünnes Armband. Dann griff er noch einmal hinein. Die Kälte des Wassers kühlte seine Leidenschaft gut herunter. Doch als er das zweite Armband ergriffen hatte dachte er daran, wie warm es sich anfühlen würde, wenn er mit seiner Begleiterin zusammenfand. Die Vorstellung, dass ein Teil von ihm dort sein durfte, wo einmal Claire im ganzen gewesen war ... aber dann konnte er seine Frau Mildrid nicht mehr ansehen, nicht mehr mit ihr ehrliche Liebe und Leidenschaft erleben, ohne daran zu denken, dass er auch mit Camille Dusoleil ... Er dachte wieder an das Lied des inneren Friedens. Warum hielt das hier nicht so lange vor wie in Ilithulas Höhlenversteck? Die einzig logische Antwort war, dass Ilithula ihn dort nicht wirklich hatte beeinflussen wollen außer mit ihrer Lüge, sie sei ihre Schwester Itoluhila und wolle nicht, dass Ilithula zu mächtig würde. Hier strahlte die das blanke Verlangen ohne Verbundenheit aufputschende Magie pausenlos auf ihn ein. Wenn jetzt noch irgendwelche Pflanzenpheromone dazukamen würde er nichts mehr machen können. Camille sah, dass im Brunnen kein drittes Armband mehr war und zog Julius mit sich weiter. Er erkannte, dass sie auch dagegen ankämpfte, ihren Mann zu betrügen. Sicher stellte sie sich zwischendurch auch vor, das von ihm zu kriegen, was Claire nicht bekommen hatte. Warum halfen ihnen eigentlich nicht Temmie und Ammayamiria? Hoffentlich fanden sie aus dieser Halle der Versuchung wieder heraus.

Camille schaffte es, zwei Armbänder aus dem Brunnen zu holen. Dann zog Julius sie zum dritten Brunnen weiter, wo er wieder zwei Armbänder herausfischte. Die bereits geborgenen hängte er sich um den Oberarm. Brunnen Nummer vier gab seine zwei Armbänder wieder an Camille ab. Julius fühlte wieder, dass er diese Hexe da neben sich haben wollte und dachte daran, dass sie ihn endlich auch haben wollte. Vielleicht hatte ihr gemeinsames Schicksal es gewollt, dass sie hier und heute Mann und Frau wurden und sich in dieser Halle der heiligen Hochzeit einander anvertrauten. Da musste Julius wieder daran denken, wie unrecht er Millie tat, wenn er sich mit einer anderen einließ. Millie hatte ihm das Leben gerettet, nicht nur einmal. Sie wollte, dass er an ihrer Seite blieb, um Aurore großzuziehen und sie nicht ausgerechnet dann betrügen, wo sie mit seinem zweiten Kind schwanger war. Dieses Baby würde er dann nie zu sehen bekommen. Diese Erkenntnis half ihm, das Lied des inneren Friedens wieder anzustimmen. Seine Gedanken klärten sich wieder. Doch ein gewisser Schwindel stellte sich ein. Offenbar kamen jetzt auch die Duftstoffe der Pflanzen durch. Dagegen konnte er dann nichts tun. Vielleicht durften sie auch nur dann wieder hinaus, wenn sie sich hier geliebt hatten. Lucian hatte da zwar nichts von geschrieben. Aber was wusste Julius wirklich von den Bräuchen des alten Reiches. Am Ende musste er mit Camille noch ein Kind auf den Weg bringen, um hier wieder hinausgehen zu dürfen. Doch er wollte nicht aufgeben. Er lief mit Camille zum fünften Brunnen und zog zwei weitere Armbänder hervor. Nun hatte er seine sechs Armbänder zusammen. Jetzt wollte er Camille endlich ganz nahe sein, ihre Wärme spüren, den Duft ihrer Haut in sich hineinsaugen. Nein! Er hatte eine Frau zu Hause, die ihm alles geben konnte, was sein Körper und seine Seele verlangte. Er hatte eine kleine Tochter, die ein Anrecht darauf hatte, keine zerstrittenen oder gar geschiedenen Eltern zu haben. Wie weh das tun konnte, wenn die Eltern sich nicht mehr verstanden wusste er doch selbst zu gut. Außerdem würden Camille und er das Thema Nummer eins in Millemerveilles, wenn er sich nicht endlich mal für mehr als eine Minute zusammennahm, verflixt noch eins! Endlich waren sie am sechsten Brunnen. Julius spürte schon wieder das Verlangen. Er fühlte sich förmlich ausgehungert. Kunststück, wo Millie und er seit April nicht mehr miteinander geschlafen hatten.

"So, Julius, bevor ich dich doch noch dahin vordringen lasse, wo meine vier Töchter mühsam durchgezwengt wurden sehen wir zu, wieder hier rauszukommen", trieb Camille ihren Begleiter an. Sie keuchte, ob vor Anstrengung oder vor krampfhaft unterdrücktem Verlangen wusste Julius nicht. Erst als er sah, wie erregt Camille war und dass er ihr darin nicht nachstand begriff er, dass ihr Kampf so gut wie verloren war. Wieso Kampf? Warum sollte er es nicht hier und jetzt darauf anlegen, mit einer Hexe in den besten Jahren eine leidenschaftliche Stunde oder zwei zu erleben? Dann dachte er daran, was Millie sagen würde, wenn Camille ein Kind von ihm tragen würde. Sie mochte darauf bestehen, es aus ihrem Leib heraus in ihren eigenen Leib übertragen zu bekommen. Dann wären Camille und Millie sicher Todfeindinnen und das ungewollt gezeugte Kind wäre ein ewiger Zankapfel ohne Chance, ein friedliches Leben zu führen. Und er, Julius, wäre schuld daran. Nein, nein! Das wollte er nicht. Camille kämpfte wohl auch mit ihrem Gewissen. Doch sie hatte mehr zu verlieren als Julius, dachte dieser. Ihre ganze heile Familie, ihr hohes Ansehen in Millemerveilles, alles wäre verloren, wenn sie sich nicht beherrschte. Damit sie das konnte musste er sich auch beherrschen. Noch einmal dachte er das Lied des inneren Friedens. Da fühlte er erste Wärmeschauer durch seinen Körper jagen. Offenbar kam jetzt die biochemische Keule über sie, die von den Pflanzen ausströmenden Pheromone. Er dachte an die Batman-Gegenspielerin Poison Ivy, die auf diese Weise gestandene Ordnungshüter benebeln konnte. Er lief mit Camille dorthin, wo sie die Tür vermuteten. "Noch mal das Lied!" rief Julius und zählte an. Sie sangen das Lied der Sonnenhochzeit. Erst klang es disharmonisch, weil sie beide zu erregt waren, um kontrolliert zu atmen. Doch nach der zweiten Wiederholung der fünf Textzeilen fanden sie in ihre gelungene Übereinstimmung zurück. Die Luft vor ihnen flimmerte. Dann erschienen die beiden Türflügel. Nach der vierten Wiederholung sprangen sie auf und taten sich auf. In dem Moment fegte ein kalter Wind von außen herein und blies die sie umwehenden Duftstoffe in den Raum zurück. Schnell liefen die beiden durch die offene Tür, das Lied der Sonnenhochzeit noch einmal singend. Dann atmeten sie auf. Sofort tauchte Julius nach seinem Zauberstabfutteral und zog den Zauberstab frei. Camille griff ebenfalls nach ihrem Zauberstab. Keine zwei Sekunden später standen beide wieder statthaft bekleidet da. Nun konnten sie in Ruhe ihre magischen Habseligkeiten auflesen und wieder umhängen. Julius hoffte, dass Millie nicht merkte, wie knapp er davorgestanden hatte, sie mit einer älteren Hexe zu betrügen. Die Gartenhexe von Millemerveilles hängte sich den Heilsstern wieder um, der mit keinr Veränderung andeutete, dass er eine unerwünschte Magie verdrängen musste. Als dann zum Schluss noch jene grüne Tasche zu Camille hinflog und sich von selbst umhängte, musste Camille sogar lachen. "Selbst Geneviève Lucine konnte sich nicht gegen diesen Raum wehren. Sie ist traurig, keine lebende Frau mehr zu sein." Julius betrachtete Camille in ihrem blattgrünen Reiseumhang. Er musste sich arg beherrschen, sie nicht mit seinem Blick auszuziehen. War er jetzt für alle Zeiten verdorben? Nein, denn er wusste, wen er in nur noch fünfzehn Minuten ansehen konnte, um sich für die überstandene Tortur dieses tückischen Raumes zu entschädigen. Es würde aber dann wohl nur beim Angucken bleiben. Zumindest hatten sie beide ihre Belohnung erhalten, die jeweils sechs Armbänder hingen ihnen an den Oberarmen und warteten darauf, an würdige Träger und Trägerinnen weitergegeben zu werden, die sie dann solange tragen durften, wie die Freundschaft, die Liebe oder allerbestenfalls das Leben dauerte.

"Also, wir zwei hätten auch ein schönes Paar abgegeben", meinte Camille, als sie beide sich von diesem Raum erholt hatten.

"Das einzige, was mich davon abgehalten hat, mit dir eines der vielen da bereitstehenden Lager zu teilen war der Umstand, dass ich nicht wollte, dass du alles verlierst, was du in deinem Leben erreicht hast und ich nicht wollte, dass unser gemeinsames Kind zum Streitobjekt zwischen Millie und dir geworden wäre."

"Ist ja schön, dass du an mich gedacht hast", schnurrte Camille und streichelte Julius über die rechte Wange. Diese Berührung elektrisierte ihn regelrecht. Konnte er diese Hexe da jemals wieder ganz locker umarmen? "Ich habe daran gedacht, dass ich dich in arge Schwierigkeiten gebracht hätte, weil ich nun einmal die ältere bin und daher mehr Verantwortung zeigen muss. Ja, komischerweise musste ich auch daran denken, dass ich nicht wegen eines von dir empfangenen Kindes lebenslang mit Millie verfeindet sein wollte. Du hast mit ihr einen so großen Rückhalt und Antrieb erhalten, nachdem Claire leider nicht mehr bei uns sein konnte, dass ich das nicht kaputtmachen wollte, auch wenn es mich schon gereizt hätte, mich mit dir auszutoben. Aber jetzt haben wir das hinter uns."

"Florymont muss der glücklichste Mann von Millemerveilles sein, dass er dich bekommen hat und mit dir richtig lange leben darf", versuchte Julius sich in Komplimenten.

"Das hoffe ich für deine Frau auch, dass sie ein ganzes langes Leben lang glücklich mit dir ist", gab Camille das Kompliment zurück. Dann schlug sie vor, dass sie und Julius noch einmal auf die vier Türme stiegen.

Von oben sah der Tannenwald wie ein grünes wogendes Meer aus. Julius konnte aber auch die Weinberge erkennen. "Schön zu sehen, wo ein paar der guten Weine herkommen, die wir noch im Keller haben", sagte Camille. Julius konnte ihr da nur beipflichten.

Als sie die Villa hinter sich ließen waren sich beide einig, dass sie diese geheime Zuflucht bewahren wollten. Auch wenn Millemerveilles im Moment sicherer war als mancher anderer Ort, so war es doch sehr beruhigend, noch einen Zufluchtsort zu haben, wohin sie ihre Familien bringen konnten. Dann sagte Camille: "Die Armbänder verbinden jeden von uns, der ein ähnliches Band trägt. Darf ich dann eines der Bänder an Aurora Dawn weitergeben?" Julius überlegte nicht lange. Er erlaubte es sofort. Somit würde er noch fünf Bänder haben, die er wohl weltweit verteilen konnte, eines zu den Brocklehursts, eines für seine Mutter, eines für Gloria, eines für Pina. Wem er das fünfte Armband geben sollte wusste er im Moment nicht. Es musste auf jeden Fall eine Hexe oder ein Zauberer sein. Millie brauchte keines der Armbänder. Wenn er nicht gerade wieder irgendwo war, wo sein Herzanhänger nicht geduldet wurde, stand er immer mit ihr in Kontakt, an jedem Punkt der Welt.

Wieder zurück in Millemerveilles fragte Millie ihn danach, was er erlebt hatte. Julius sprach mit ihr in einem provisorischen Klangkerker. Aurore schlief friedlich in ihrer langsam zu klein werdenden Wiege. Als Julius erzählte, dass er wohl nur deshalb nichts mit Camille angestellt hatte, weil er nicht wollte, dass sie und Millie sich stritten grummelte Millie erst. Dann fragte sie, ob Camille sich wirklich so gut gehalten habe. Dann sagte sie: "Gut, wenn es echt passiert wäre und sie von dir ein Baby getragen hätte hätte ich nicht gewusst, ob ich es vor oder nach der Geburt von ihr hätte haben wollen. Aber irgendwie wäre das ein komischer Gedanke gewesen, Claires Halbgeschwister in mir herumzuschleppen oder anzulegen. Das hätte sie mir wahrscheinlich nicht durchgehen lassen. Andererseits finde ich es schön, dass du wirklich weißt, zu wem du hingehen möchtest, wenn du etwas brauchst, was über Essen und Trinken hinausgeht. Insofern hattest du wohl noch Glück, dass du mit Camille in diesen wuschig machenden Raum reingegangen bist und nicht mit Blanche Faucon oder Hera Matine. Die erste hätte das sicher zum Anlass genommen, Catherine ein kleines Geschwisterchen auszubrüten und die zweite hätte ihren Willen gekriegt, zumindest eins deiner Kinder auf die Welt zu bringen."

"So heftig scharf wie dieser Zauber mich in diesem Raum gemacht hat hätte ich auch mit Cassiopeia Odin rumgemacht, Mamille."

"Ja, und die hätte das auch sofort drauf angelegt, um klarzustellen, dass du mit keiner anderen mehr was anfängst, weil du dabei immer an sie denken müsstest. Komm, die hat mit den zwei kleinen Törtchen genug für das Bäckereihandwerk getan. Aber Olympe Maxime wäre sicher auch noch in deinem Sinne gewesen, nicht wahr, Monju?"

"Als Mutter meiner Kinder oder als Traumgeliebte?" wollte Julius wissen.

"Stimmt, sie ist ja immer noch deine große Schwester", grummelte Millie, der ihr eigener Scherz nicht mehr so gefiel. Julius bestätigte das. Erst einmal wollte er zusehen, so diskret wie möglich die vier ersten Bänder zu verteilen. Bei seiner Mutter würde es schwierig werden. Denn die befand sich jetzt mit ihrem Mann Lucky auf einer ausgedehnten USA-Rundreise und würde erst Mitte September nach Santa Barbara zurückkehren. Da sie überwiegend in der Muggelwelt herumreisten konnte er sie nicht mal eben per Flohpulver besuchen. Außerdem hatte sie ja ihr Mobiltelefon. Das musste bis zum Ende ihres Urlaubs reichen.

Als er in der Nacht träumte traf er Ammayamiria auf jener Blumenwiese, die Claires aus dem Körper gerissener Geist ihm kurz vor ihrer Vereinigung mit Aurélie Odins Seele gezeigt hatte. Sie strahlte ihn an. Er fühlte sein schlechtes Gewissen. Als sie das merkte sagte sie ihm: "Du musst meinetwegen kein schlechtes Gewissen haben, nur weil du fast mit der Frau zusammengekommen wärest, die ich zweifach liebe, Julius. Ich habe sie als Tochter geliebt und war auch glücklich, sie zur Mutter gehabt zu haben."

"Auf jeden Fall bin ich froh, diese Reise hinter mir zu haben", sagte Julius.

"Das war sicher sehr anstrengend für dich. Aber es hat dir sicher auch geholfen, zu wissen, wo du jetzt hingehörst", erwiderte Ammayamiria. Julius nickte. "Dann lebe weiter und denke immer daran, dass die die dich lieben immer mehr sind als die, die dich hassen!" gab ihm die rotgoldene Lichtgestalt mit den dunklen, von goldenen Funken durchwehtem Haar noch mit. Julius stimmte ihr da vollkommen zu.

ENDE

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